Tamino - Diskussion: Viele Wege führen ans Ziel

  • Alle Wege führen nach Rom - so lautet das Originalzitat (das aber angeblich auch aus einem anderen abgeleitet wurde)


    In unserem Fall möchte ich mich auf die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zur Klassischen Musik, bzw auf die verschiedenen Möglichkeiten darüber zu schreiben beziehen
    Auf die Idee zu diesem Thread kam ich durch eine Aussage von Helmut Hofmann, der da schrieb:

    Zitat

    Ich möchte micht icht abbringen lassen von der Überzeugung, dass man auch über Musik rational diskutieren und kommunizieren kann.


    Und damit hat er zweifelsohne Recht.
    ABER - es gibt auch andere Möglichkeiten über musikalische Themen zu schreiben.
    Natürlich nicht an Stelle einer rationalen Diskussion - sondern parallel dazu.
    Another "point of view" gewissermaßen.
    Das hat natürlich nichts mit unreflektierten vorgefassten Meinungen zu tun, sondern mit Fragen des Geschmacks und der Weltauffassung, bzw. der Auffassung der "musikalischen Welt" und ihrer Wertesysteme-


    Ich werde versuchen das an Hand eines Beispieles zu illustrieren.


    Wie erkläre ich die Beschaffenheit und den Sinn der Welt ?


    Aus der Sicht der Naturwissenschaft ?
    aus jener der Philosophie ?
    oder jener der Religion ?


    Genauso ist es mit (als Beispiel) Schuberts Winterreise.
    Ich kann versuchen den textlichen Inhalt zu analysieren und mir eine Meinung darüber zu machen, inwieweit die Vertonung dem Text gerecht wird.
    Ich kann darüber nachdenken, ob der (angeblich!!!) so schwache Text überhaupt eine Vertonung durch Schubert verdient hat.
    Ich kann mich damit befassen welche Stimmlage für den Zyklus am geeignetsten sei - bzw ob es hier überhaupt Präferenzen gäbe...
    Ich kann darüber referieren, welcher Sänger die mutmaßliche Absichten von Dichter und Komponist am ehesten umgesetzt haben...
    ...oder ich kann einfach sagen welche Aufnahme aus Gründen des Timbres des Sängers meiner Meinung nach die "schönste" ist....
    .................
    Das ist nur eine kleine Auswahl an Möglichkeiten - und sie gilt eigentlich mehr oder weniger für alle Themenkreise des Forums. Manche Forianer sind zueinander nicht kompatibel - das hat nicht viel zu bedeuten, weil das im realen Leben ebenso ist. Gebraucht werden indes ALLE, weil nur die Vielfalt ein interessantes Forum zustandebringt.
    Weder Physik, noch Medizin, noch Religion, noch Philosophie, etc. vermochten die Fragen nach Ursprung und Sinn des Lebens zufriedenstellend zu beantworten. Dennoch haben sich Wissenschafter aller Disziplinen - sowie Künstler - und Laien durch all die Jahrtausende damit befasst - und manch interessante Gedankengänge gesponnen, von denen uns ein Teil sogar schriftlich überliefert ist. Der Weg ist das Ziel...
    Genauso kann und soll es bei Tamino sein - Viele Wege führen ans Ziel...


    mit freundlichen Grüßen
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    völlig richtig!


    Es gibt so viele Blickweisen auf die Musik:


    - vom Standpunkt des Komponisten: Wie ist das Stück aufgebaut, instrumentiert, gegliedert, wo liegen die Besonderheiten der kompositorischen Entscheidungen?
    - vom Standpunkt des Historikers "aus der Vogelperspektive": Wie ordnet sich das jeweilige Werk ein in epochenübergreifende Zusammenhänge?
    - vom Standpunkt des Historikers "mit lokalem Blickwinkel": Was wurde fünf oder zehn Jahre vorher komponiert, was ist anders, was ist gleich?
    - vom Standpunkt des Biografen: Wie passt das Stück ins Leben des Komponisten?
    - vom Standpunkt des Interpreten: Welche Schwierigkeiten bietet es, was wollte der Komponist sagen/vermitteln, wo ist es schwach und ich muss "nachhelfen", wo ist es gut und ich muss aufpassen nichts kaputt zu machen?


    Diese Standpunkte setzen ein recht hohes Maß an Auseinandersetzung voraus, eigentlich braucht man die Noten des Werkes. Diese Zugänge sind auch eher analytisch/kopfbetont.


    Ohne Frage gibt es völlig andere legitime Zugänge zur Musik, und Helmut Hofmann hat sich ja schon für den nichtintellektuellen Zugang Hermann Prey stark gemacht und mit Recht betont, dass auf diesem Wege Erkenntnisse (das ist eigentlich das falsche Wort ... eher "gefühlte Wahrheiten" oder so) erzielt werden können, von denen der reine (Lied-)Analytiker nichts weiß.


    Der Zugang könnte beispielsweise über die Fragestellungen verlaufen:


    - welche Gefühle löst diese Musik bei mir aus?
    - was assoziiere ich damit?
    - an was erinnert mich diese Musik?


    Oder über Gegensatzpaare (ich zitere aus: Stefan Schaub, Erlebnis Musik, Bärenreiter 1993, 3. Aufl. 1997, S. 243ff.):


    Beim Hören dieses Werkes fühle ich mich
    entspannt - angespannt
    deprimiert - heiter
    kraftlos - kräftig
    ausgeliefert - geschützt
    vertraut - unheimlich
    aggressiv - friedvoll


    Oder: Diese Musik finde ich
    aktiv - passiv
    fließend - stockend
    farbig - blass
    chaotisch - strukturiert
    klar - verschwommen
    zurückhaltend - aufdringlich


    Eine Facette des großen Reichtums unseres Hobbys Musik liegt eben darin, dass es Struktur und Gefühl, Mathesis und Emotio bietet und beide Zugänge bietet. Und in den meisten von uns sind ja auch beide Zugänge gegeben. Ich kann eine Bachsche Fuge vom strukturellen Standpunkt hören - oder als Charakterstück (wie es Schumann berichtet, obwohl ihm die Struktur eine Fuge natürlich bestens vertraut war). Dasselbe gilt übrigens für Schönberg - natürlich kann man dessen Werke von op. 4 bis etwa zum späten Streichtrio bestens analysieren (ich meine keine Zwölftonanalyse für die dodekaphonen Werke), aber man kann sie auch "naiv" hören - Schönberg selbst hat darauf mehrfach hingewiesen.


    Meine Erfahrung ist, dass ein zunächst struktureller Zugang später beim wiederholten Hören auf der emotionalen Ebene belohnt wird. Man hört und erlebt mehr, wenn man die Struktur kennt und das Gehörte sozusagen auf einen vorbestellten Boden fällt. Ich behaupte: Wir alle hören die 3. Sinfonie von Brahms heute mit mehr Gewinn als beim ersten Hören.


    Natürlich diente Musik auch immer zur sozialen Differenzierung: Man hört eine bestimmte Art von Musik, weil die eigene peer-group (Clique, Bekannte) diese Musik hört und sich damit identifiziert. Das ist bei bestimmten Jugendlichen grundsätzlich genau dasselbe wie bei bestimmten Operngängern ("Erlesene Menschen hören erlesene Musik"). Auch das ist ein Zugang zu Musik.


    Ein verwandtes Thema war das der verschiedenen Hörertypen.

  • Alles wunderbar. Leider fehlen hier die Worte lustvoll und frech. Daszu hat Carlos Kleiber bei Veröffentlichung von Beethovens Vierter etwas gesagt. Interessant und nachzulesen auf der CD von Orfeo.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Hallo Alfred,


    super Beitrag.


    Für mich fehlt das Wörtchen "staunen".


    Ich höre Beethoven`s Musik und bin faziniert von dem Ideenreichtum seiner Kompositionen, ein Detailreichtum, der mein Leben bereichert. Für mich ist es in den Interpretationen wichtig, wie die Akteure diese Details spielen, in`s ganze Einarbeiten, einen Zusammenhang bilden, die Details zusammenführen.


    Beethoven ruft aber bei mir keinerlei direkten Emotionen hervor. Ich lasse mich weder vom marcia funebre aus der Eroica deprimieren oder breche in Trauer aus noch von der Mondscheinsonate in romantische Gefilde leiten. Aber; Das darf doch jeder für sich erleben. Es gibt doch kaum einen Berich im Leben, wie in der Musik, in dem ich meine Individualität ausleben kann. Jedes Dogma ist unzulässig.


    Ich kann wohl schreiben, das eine Interpretation meine Erwarungshaltung an das Werk nicht erfüllt. Auch wenn eine große Gruppe der selben Meinung ist, muss ich dem einzelnen zugestehen, das er eine andere Meinung vertritt.


    Viele Grüße Thomas