"Klassisch" verstandene Klassik vs. "zeitgemäss aktualisierte " Klassik - welcher Weg ist eigentlich der richtige?

  • Warum betrieb bzw. betreibt der Mensch überhaupt Kunst(musik)?


    Weil diese Kunst ihm eine Ausdrucksmöglichkeit für sein Lebensgefühl, seine Gedanken und Emotionen vielfältigster Art gab und gibt.
    Wenn es sich um grosse Kunst handelt, dann hat diese immer auch zwei Ebenen:
    Zunächst ist sie natürlich ein Ausdruck und Spiegel ihrer Entstehungszeit. Sie nutzt die Ausdrucksmittel und -Stile ihrer Zeit aus und erweitert sie in vielen Fällen auch.
    Bei der zweiten Ebene geht es dann um jene Aspekte, die "für alle Zeiten" Gültigkeit haben, weil sie etwas beinhalten, was bei Menschen immer gleich bleiben wird, weil die Komponisten vergangener Generationen genau wie wir auch der Gattung Mensch angehören.


    Nun hat Nikolaus Harnoncourt schon Anfang der 80er-Jahre in seinem Buch "Musik als Klangrede" im Einleitungskapitel "Die Musik in unserem Leben" auf ein Dilemma hingewiesen, in der sich "die Klassik" schon lange vor den 1980er-Jahren befand und mehr denn je bis heute befindet. Seine Thesen und viele der hier stattfindenden Threads ( von allen Regietheaterthemen angefangen , über "heile Welt", Schuberts Kunstlied - hier die Frage, ob man die Musik möglichst aus dem "Geist" der Romantik hören und musizieren sollte- bis zu den Themen über Interpretationsmoden bzw. ob früher alles besser war) haben mich auf einige allgemeine Gedanken gebracht, die ich hier gerne teilen möchte bzw. die ich zur Diskussion stelle.


    Hier zunächst eine Situationsbeschreibung aus Harnoncourts Einleitungskapitel:


    " ...solange die Musik wesentlicher Bestandteil des Lebens war, konnte sie nur aus der Gegenwart kommen.
    Sie war die lebendige Sprache des Unsagbaren, sie konnte nur von den Zeitgenossen verstanden werden.
    Die Musik veränderte den Menschen - den Hörer, aber auch den Musiker.
    Sie musste immer wieder neu geschaffen werden, so wie die Menschen sich immer wieder neue Häuser bauchen mussten - immer wieder der neuen Lebensweise, der neuen Geistigkeit entsprechend.
    So konnte man auch die Alte Musik, die Musik der vergangenen Generationen, nicht mehr verstehen und nicht mehr gebrauchen; man bewunderte gelegentlich ihre hohe Kunstfertigkeit."


    Wenn wir also heute etwas von Schütz oder Wagner hören, dann ist das immer auch "Alte Musik", die wir dann, aufgrund ihrer allgemein anerkannten ausserordentlichen Qualität mit dem allgemeinen Begriff "Klassik" versehen.
    Verglichen mit der kulturellen Situation der Entstehungszeiten betreiben wir als Teile des "Klassikbetriebs" (also Musiker, Hörer, Taminoschreiber....) immer auch eine Art von Anachronismus, weil wir uns mit längst vergangener Kunst beschäftigen.


    Warum nur, frage ich mich...?


    Bei der Kultivierung unseres Anachronismus hilft uns die rasante technische Entwicklung, die es uns mittlerweile ermöglicht, Ton und Bild in immer besserer Qualität zu konservieren. Wer beim Anblick von historischen Noten aus Archiven oder Bibliotheken keine Musik im Kopf hören kann, muss also nicht verzweifeln, sofern er denn - und hier ist schon ein Knackpunkt- überhaupt an diesen kulturellen Zeugnissen aus vergangenen Jahrhunderten tatsächlich interessiert ist.


    Wenn mich nun einer fragt, welche Musik denn heutzutage ein aktueller Zeitausdruck wäre, dann fielen mir z.B. Sachen aus dem Gebiet anspruchsvoller Electronica- und Tranceproduktionen ein, gerade wenn es um ein urbanes Lebensgefühl geht (z.B. "Peace Orchestra").
    Hier hört man schon eher Klänge und Rhythmen unserer Zeit, nicht jedoch bei Schumann oder Wagner.


    Die historische Entwicklung der Instrumente "unseres" klassischen Orchesters reicht ja mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück.
    Laut Wikipedia gibt es eine frühe Abbildung eines oboenähnlichen Instrumentes aus dem Jahre 3000 v/Chr.
    Warum geben wir uns also immer noch mit so etwas Altem wie Streichern, Holz- und Blechbläsern ab?
    Warum dann noch überhaupt etwas von Mozart, Schubert oder Wagner hören?
    Haben denn deren Konflikte oder auch deren Idyllen noch etwas mit uns heute zu tun?
    Was soll ich denn mit den für mich heute eher sinnlosen Geschichten einer Mozart-Oper, oder mit der Wagnerschen Sagenwelt?
    Was habe ich mit dem Winterreisenden aus Schuberts Liederzyklus gemein?
    Brauche ich denn heute tatsächlich eine Musik, die vor weit mehr als 100 Jahren durch die Vorstellung einer katholischen Pilgerzugs inspiriert wurde (Bruckner 4, Satz 2...) ?


    Wir tun als Klassikhörer- und Musiker heute genau das, was man in den Jahrhunderten der Entstehungszeiten der "Klassik" im Allgemeinen so nicht praktizierte, nämlich eine hauptsächliche Beschäftigung mit vergangenen Inhalten.
    Wir versetzen die kulturellen Erzeugnisse aus vergangenen Jahrhunderten mit Hilfe der existierenden Noten und der technischen Medien in unsere gelebte Gegenwart, worin der Anachronismus "der Klassik" m.E. besteht.


    Basierend auf diesen Prämissen formuliere ich nun meine These:


    Wir sollten diesen Anachronismus anfangen zu akzeptieren und die richtigen Konsequenzen ziehen.
    Warum höre ich die Musik als alten Zeiten?
    Meine Antwort: Weil sie so schön, so gut, so bewegend, so menschlich ist.
    Wir tun gut daran, uns genau damit zu beschäftigen, eben aufgrund der hohen Qualität dieser Musik.
    Die Erfahrung einer vollständig durchgehörten "Romantischen" von Bruckner bereichert mein Leben in allen möglichen Aspekten. Das Wort "Tiefe" möchte ich in diesem Zusammenhang in der Tat aussprechen.


    Ich kann die Musik aus vergangenen Epochen besser verstehen, wenn ich mich auch sowohl stilistisch als auch vom Lebensgefühl her auf die Parameter ihrer Zeit und auch der Gedankenwelt des Komponisten so gut wie irgend möglich einlasse. Auf diesem Wege habe ich meines Erachtens eine Chance, jenes Ziel zu erreichen, nämlich jene menschlichen Aspekte zu erleben, die allgemein und für alle Zeiten Gültigkeit haben werden. Mit "Erleben" meine ich jetzt eine ganzheitliche, sich gegenseitig verstärkende Erfahrung aus Verständnis und Emotion.


    Diese grosse Kunst, die wir als "Klassik" bezeichnen, kann aus meiner Sicht so wie sie ist, für sich alleine stehen. Entweder man gehört zur Minderheit derjenigen, die mit ihr das Bewegende und das Schöne erfahren können, oder man schliesst sich der Mehrheit an, für die mit Namen wie "Bach" ( neulich sagte mir eine junge Dame. "...wie hiess der, den Du da immer hörst? Bass? Was für Lieder hat der denn geschrieben...kenne ich nicht") eben in erster Linie ein "kleiner Fluss" gemeint ist.
    Weil diese Musik für sich so wie sie ist stehen kann, braucht man sie meiner Ansicht nach auch nicht immer wieder neu "mutieren" und in unsere Zeit "übersetzen" um sie ja nicht im "Musealen" "ersticken" zu lassen.
    Wenn man das trotzdem versucht zu tun, dann verkennt man, dass diese Kunst immer auch vom Hörer einen künstlerischen Akt der Auseinandersetzung und des Lernens erfordert und erfordert hat.
    Sollte der Hörer diese allgemeingültigen, bereits in der Musik potentiell vorhandenen Erfahrungen machen wollen, dann muss er sich nun einmal auch bis zu einem gewissen Grad ( nach oben gibt es keine Grenzen...) auf das Niveau der Musik heraufarbeiten ( wie soll man denn sonst die Wendungen bei Schubert, Brahms und Bruckner verstehen...?)
    Umgekehrt wird kein Schuh draus: Man schadet dieser Kunst, wenn man sie durch Mittel der Verfremdungen, Profanisierungen oder gar der Kommerzialisierung in die kulturelle Talsohle des schwer zu definierenden Durchschnitts eines "heutigen Menschen des 21. Jahrhunderts" hinunterdrückt.


    Ich plädiere also dafür, sich der Klassik mit einer "klassischen" Herangehensweise zu nähern bzw. sich darauf zu besinnen.


    Höre ich die "Winterreise" dann versetze ich mich so gut ich kann in die Denkweise der Romantik: Entweder eine idealisierte Glückseligkeit mit der Angebeteten oder absolute Einsamkeit, Trostlosigkeit usw.... Für beide Extremwelten finde ich Beispiele in der Natur: Die bunten Blumen, lustiges Vogelgeschrei oder Kälte, Finsternis und Schreien der Raben usw.


    Wenn ich dann ein geistliches Werk höre, dann versetze ich mich so gut ich kann in die Denkweise und das Fühlen dieser Inhalte. Das Lob Gottes oder Auseinandersetzung mit Christi Kreuz und Auferstehung steht dann im Mittelpunkt.
    Sollte es ein barockes Werk sein, dann versetze ich mich- wieder so gut es nur geht- in das barocke Affektdenken, in die gestisch- rhetorische Klangrede dieser Zeit hinein. Das Verständnis dieser Zusammenhänge steigert auch hier das emotionale Erleben.
    Ein Künstler - wie z.B. Fischer-Dieskau- kann das, unabhängig davon, ob er selbst sehr romantisch nach damaligen Massstäben oder religiös/gläubig ist


    Und wenn ich mir Wagner anhöre, dann tauchen vor meinem inneren Auge schon -ohne dass ich irgendeine Inszenierung sehe- seine sagenhaften inhaltlichen Themen und Motive auf, wie z.B. die Götterwelt, Helden, Tod und Liebe (Tristan...).
    Um ein Werk von ihm zu erleben, versuchen ich mich in seinen Mythos und in all das, was mit ihm in seinem Zeitrahmen zusammenhängt, so gut es geht hineinzudenken und zu fühlen. Sehe ich dann eine Inszenierung, dann soll die den musikalischen Ausdruck ( um den es ja geht, denn die Opernmusik ist hier hier das eigentliche Kunstwerk) unterstreichen und mein Erleben steigern.


    Es geht in allen genannten Fällen um ein Abtauchen in eine andere Zeit und deren Welt, um die musikalischen Kunstwerke aus diesen Epochen im Sinne von Verstehen und Fühlen so intensiv und bewegend wie möglich und vom Kunstwerk vorgegeben zu erfahren.
    Damit erlebe ich die allgemeinen, menschlich immer gültigen und bewegenden Aspekte der musikalischen Kunstwerke meiner Ansicht und Erfahrung nach in heutiger Zeit besonders eindrucksvoll.


    Diese Herangehensweise scheint mir der beste Ausweg aus der Erkenntnis zu sein, mit dem Hören und dem Spielen der Klassik ständig eine Art von Anachronismus zu zelebrieren.
    Man sollte diesen einfach als gegeben anerkennen, aber dann eben auch das Beste daraus machen, indem man auf die allgemein immer geltende menschliche Wirkung des Kunstwerks vertraut und es aus dem Betrachtungswinkel der Entstehungszeit versucht zu verstehen. Das ist nur begrenzt möglich, aber aufgrund der Tatsache, dass die Menschen schon immer menschlich waren, m.E. dennoch die beste Möglichkeit.


    Andere Alternativen wären- extrem ausgedrückt- z.B. sich nicht immer sklavisch an die alten Noten zu halten (warum auch, macht man ja beim Opernlibretto heutzutage auch nicht immer...) sondern radikal zu bearbeiten und im heutigen Stile darstellen. Die klassischen Instrumente könnte man durch indische oder afrikanische Instrumente, oder Softwaresynthis, und den Dirigenten durch einen Sequenzer (DAW) zu ersetzen. Die Frage, warum man dann überhaupt noch die klassische Musik als Basis hernehmen soll, taucht dann schnell auf.
    Hier wäre es tatsächlich besser, gleich eine neue Musik zu machen.
    Das immer wieder von Verfremdungsbefürwortern herangezogene Argument " in der Urform sagt uns das heute nichts mehr" lasse ich nicht gelten.
    Damit wird ja unausgesprochen eingeräumt, dass man offensichtlich an einem Verständnismangel für das jeweilige Kunstwerk leidet.


    Mein o.g. Vorschlag ist daher aus meiner Sicht alternativlos. Ich komme aus dem Dilemma des Anachronismus dann also nicht durch mehr oder weniger radikale Verfremdungen heraus (die man dann gerne "eine frische, aktuelle Neuinterpretation" nennt), sondern dadurch, dass ich mich der Klassik auf klassische Art und Weise - wie oben beschrieben- annähere.


    Immer da, wo es wirkliche Kunst gibt, gibt es auch Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen schafft der Künstler mitunter ein grosses Kunstwerk.
    In der totalen Grenzenlosigkeit gibt es keine Kunst und deswegen hat das dann auch nichts mit der Freiheit derselben zu tun.


    Ich stelle diese meine Auffassungen hier zur Diskussion. Natürlich kann man anhand von Beispielen auf Einzelthemen wie Kunstlied, Interpretationsstile der klassischen Instrumentalmusik oder auch "Regietheater" kommen und sich da verbeissen.
    Für diesen Thread sollte man aber nicht den Bezug zur allgemeinen Frage nach der "Klassischen Klassik" vs. einer "der heutigen Zeit angepassten" Klassik aus den Augen verlieren, weil es ja zu den Einzelfeldern Spezialthreads gibt.


    :angel:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Werter Glockenton,


    vollstes Verständnis für deine Sichtweise.


    Ich habe dagegen kein Bedürfnis aus der Gegenwart zu fliehen oder mich in vergangene Welten zu versenken. Je mehr ich Beethoven höre, begreife ich, wie zeitlos seine Musik ist. Seine Vielfalt, Ausdruckskraft, die Gestaltung durch Form und Gestik ist bis heute unerreicht.


    Die Qualität seiner Kompositionen (bis auf Ausnahmen) fordert noch heute die Musiker. Nehmen wir nur mal seine Fugen, wie will man die in ein Pop- oder Rockkonzept zwingen, wie einen Gesang "einbauen", wie kann man sie populär machen?


    Beethoven ist bis heute, auch unter Rockmusikern, Inspiration, eine Quelle, die zeigt, wie komponiert wird. Aber seine äußerst fragilen Klanggebilde "leben" und entfalten ihre Wirkung mit den natürlichen Instrumenten.


    Die hochstehende Qualität ist gleichzeitig ein Schutz.


    Wie wird denn heute Musik eingesetzt? Als "Abtanzmucke in der Disco", am besten mit einem kleinen Drogenkick, als "Vorgröhl-Lärm"für volltrunkene Ablenkungswütige, Werbegedudel, Filmchen-Hintergrund-Geräusch, aber kaum noch als Substanz, höchstens noch dieser Sprechgesang, in dem die Musiker ihren Frust ablassen und Themen ansprechen, die möglichst viele Frustierte ansprechen. Oder als Heilewelt-Transportierer, als Schmelz- und Sehnsuchtspunkt in einer Sprache, die unverschlüsselt ist.


    Alles keine Welten für Beethoven`s Musik. Natürlich kann man sich beim Hören überlegen, was der Komponist gement haben könnte, verpasst dabei aber locker ein paar Takte,die vielleicht für das wichtigere in der Musik stehen, nämlich der Fortgang im Werk.


    Die Technik macht es heute möglich, Instrumente in einer Qualität zu hören, als wäre man live dabei. Beethoven`s Musik ist in erster Linie Klang und dieser Klang ist unverwechselbar. Natürlich hat sich dieser Klang im Laufe der Zeit verändert, darum ist es für mich auch müßig, darüber nachzudenken, was Beethoven mit der Musik bezwecken wollte. Auch das Aufführen mit historischen Instrumenten wird den inneren Zusammenhang mit der Enstehungszeit nie herstellen, stellen aber eine wichtige Variante in den Interpretationen dar und erweitern deren Vielfalt.


    Viele Grüße Thomas

  • Ein sehr interessanter Thread, der einige sehr interessante Aspekte "klassischer Musik" anspricht.


    Ich werde hier versuchen meinen Standpunkt darzustellen, ohne die Hoffnung zu hegen, daß er von allen akzeptiert werden wird.
    Zunächst bin in sehr vielen Punkten mit Glockenton d´accord, es gibt aber einige subtile Unterschiede in der Betrachtungsweise.
    Ich sehe im Hören von Musik aus vergangenen Zeiten keinen Anachronismus. Es war - wenn auch nicht in der Musik, die lange Zeit in der Tat nur "zeitgenössisch" war (darübernachzudenken warum das so war wäre vielleicht ein weiteres Threadthema) - stets üblich sich in der Kunst auch - wenn nicht vorzugsweise - mit Werken der Vergangenheit zu befassen. Man sammelte antike Statuen und versuchte die Antike wiederzubeleben. Hiebei kam etwas völlig neues zustande, nämlich die Epoche der Renaissance. Auch die Oper verdankt solch einem Rückblick - oder besser gesagt, dem Versuche einse solchen - ihr Entstehen.
    In der Literatur kramte man die alten Griechen und Römer heraus, und wer sie nicht kannte galt als nicht belesen.


    So sehe ich heute auch die "klassische Musik". Das Problem der "zeitgenössischen Klassik" ist, daß sie mehr uder weniger niemandem wirklich gefällt. Darin sehe ich auch kein Problem - man benötigt diese Musik nicht - es gibt (so gut wie) kein Bedürfnis danach. Ich würde sagen, daß im Anschluss an die Klassik der Jazz kam - und danach der Schlager - als "zeitgemäße" und "akzeptierte" - weil seichte und kurzdauernde Musik.


    Ein weiterer Punkt dieses Threads galt der Frage obe "Originalklang" oder "moderner Klang" angezeigt seien.
    Diese Frage lässt sich nicht wirklich allgemeingültig beantworten. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Übergang vom Cembalo zum Hammerflügel und von dort zum heutigen Konzertflügel ein stets gleitender war, und man jubelt über jede (vermeintliche?) Verbesserung.
    Es gibt Werke (Vivaldi, Bach, früher Haydn und Mozart) welchen der "historische" Ansatz gut tut, andere verlieren dabei. (Beethoven) Wer nie Schubert auf einem Broadwood oder anderem zeitgenössischen Instrument gehört hat, dem ist ein Stück Schubert vorenthalten worden, was nicht heisst, daß er nicht auf modernem Konzertflügel ebenfalls beeindruckend klingt...


    BEIDES ist übrigens "historisch - denn auch der "moderne" Konzertflügel hat schon über 100 Jahre am Buckel. Es ist ja nicht so, daß hier plötzlich eine völlig neue Instrumentengeneration aus dem Hut gezaubert wurde, an welche wir uns erst gewöhnen müssen.....


    mit freundlichen Grüßen


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Besonders der Grundsatzbeitrag von Glockenton aber auch die anschließenden Diskussionsbeiträge von Sternberg und Alfred sind tiefgehender Disput auf ganz hohem, lesenswerten Niveau. Die drei Meisterkiskutanten haben die Latte so hoch gelegt, dass ich mich außerstande sehe, spontan zu antworten. Ich muss das alles sacken lassen, gründlich durchdenken, dann bin ich vielleicht in einer guten Stunde zu einem aussagekräftigem Beitrag mit weiterführenden Gedanken fähig.
    Also Anerkennung und Dank für Eure Erarbeitungen. Das ist der Qualitätsstandard, den wir bei Tamino brauchen und anstreben sollten. Bei solchen Diskussionen brauchen wir uns m. E. auch keine Gedanken und Sorgen um neue Leser und Mitglieder zu machen. Veröffentlichungen dieser Klasse sind die beste Werbung.
    Absolut lesenswert. Allen Taminos mit Nachdruck zum Studium - nur lesen ist zu wenig - empfohlen.
    Herzlichst
    der angeregte und bereicherte
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich möchte zunächst auf Einiges aus Alfreds Bemerkungen eingehen:

    Ich sehe im Hören von Musik aus vergangenen Zeiten keinen Anachronismus. Es war - wenn auch nicht in der Musik, die lange Zeit in der Tat nur "zeitgenössisch" war (darübernachzudenken warum das so war wäre vielleicht ein weiteres Threadthema) - stets üblich sich in der Kunst auch - wenn nicht vorzugsweise - mit Werken der Vergangenheit zu befassen.

    So wie ich es sehe, gibt es hier zwischen uns nicht wirklich einen Dissenz. Es gibt vielleicht eine andere Betonung der damals am Kunstbetrieb beteiligten Personen.
    Alfreds Betrachtungsweise betont mehr die kreative Seite, also die Leute, die Kunst herstellten, in unserem Fall also Komponisten und Musiker. Die Trennung von nur ausführendem Musiker und Komponist war ja damals noch nicht so scharf wie heute. Dieser Personenkreis der Fachleute war meines Wissens nach oft "historisch informiert" um diese heute oft in einem etwas anderen Zusammenhang gebrauchte Wort zu gebrauchen. Bach beherrschte den "Stilo antico" sehr gut, Mozart und Beethoven kannten wenigstens etwas von Bach, und Brahms kannte sich durch seine Vorliebe für Noten mit Alter Musik bestens in der Musikgeschichte aus, was man seinen Kompositionen auch anhören kann. Dieses Wissen und das Interesse für die Musik vergangener Epochen gehörte zum Rüstzeug eines gelehrten Musicus.


    Meine Sichtweise bezieht sich sozusagen auf die "Marktseite", also auf das was die Hörer "nachfragten" .Sie wollten zur Zeit Mozarts lieber das Neueste hören und nicht etwa irgendetwas von Schütz oder Monteverdi in historischer Aufführungspraxis.
    Es wäre einmal interessant, sich einige typische Konzertprogramme etwa aus Mozarts Zeit anzusehen.
    Ob das Wort "Anachronismus" in seiner ganzen (oft negativ behafteten) Bedeutung von mir richtig gewählt wurde, will ich gern dahingestellt sein lassen.
    Mir kam es dabei darauf an, dass es im Gegensatz zu heute damals nicht sozusagen eine ausgeprägte "Klassikszene" gab, bei der man nahezu ausschliesslich historische Musik hörte und spielte.


    Was wir also seit vielen Jahrzehnten bis heute betreiben, hat meiner Auffassung nach also eine viel stärkere Rückwärtsgewandheit als es zu den meisten Entstehungszeiten der von uns sehr zurecht bewunderten und geliebten Meisterwerke der Fall war.


    Und wenn das nun so ist: Warum es nicht als gegeben akzeptieren und konstruktive Konsequenzen im eingangs genannten Sinne aus dieser Erkenntnis ziehen? Eine der Konsequenzen wäre: Sich die bekannte Literatur immer wieder mit neuer Frische zu erarbeiten -> ja, aber zwanghaft auf der Suche nach radikal neuen Sichtweisen hauptsächlich Verfremdung und Verstörung anzubieten -> nein
    Dann soll man lieber neue Musik komponieren oder neue Libretti schreiben, wenn man es denn kann.

    Ein weiterer Punkt dieses Threads galt der Frage, ob "Originalklang" oder "moderner Klang" angezeigt seien.

    Nun habe ich da eigentlich weniger die Instrumentenfrage etwa der Wiener Philharmoniker vs. Concentus Musicus Wien angesprochen, als eher die schon provokative Frage, warum man eigentlich immer noch so etwas Altes wie eine Oboe, eine Geige oder eine Trompete statt z.B. irgendwelcher topmodernen Softwaresyntheziser verwendet. Alfred hat ja auch mit Recht darauf hingewiesen, dass auch ein "moderner" Konzertflügel schon längst ein historisches Instrument sei.
    Ausgehend von der Diskussion aus den Regietheaterthreads kam ich leicht ironisch zur hypothetischen Frage, wieso man von den Musikern überhaupt noch erwartet, sich an den Notentext zu halten? Gewisse Ratten- und Biogas-Inszenierer gehen ja unter dem Vorzeichen der künstlerischen Freiheit und der Notwendigkeit der aktuellen "Neuinterpretation" auch - sagen wir- sehr grosszügig mit den eigentlichen Operninhalten um.
    Wenn dass so legitim wäre, dann wären Mendelssohn und Mozart mit ihren Bach- oder Händelbearbeitungen ggf. noch nicht weit genug gegangen und das heutige sklavische Spielen nach Noten würde ggf. gar keinen Sinn mehr machen, weil der heutige Hörer das derart verstaubt weder ertragen noch verstehen könne.
    Ich überzeichne jetzt bewusst ironisch:
    Warum sich denn immer sklavisch an die Noten der g-moll-Sinfonie von Mozart halten? Man könnte das bekannte Motiv rhythmisch radikal verändern, ein eigenes Werk, eine freie Improvisation oder irgendetwas aus den Popcharts kakofonisch hinzusetzen und das ganze neue (Mach)Werk dann in Dur spielen lassen...ja nichts verkrusten lassen ;) , sonst versteht das heute keiner mehr, weil es nur noch für`s Museum interessant wäre...


    Wenn das den Musikern -aus überragend guten Gründen-nicht billig ist, wieso ist es dann einigen Regisseuren recht?


    Zu der von Alfred angesprochenen Frage der Originalinstrumente sei nur nebenbei soviel gesagt:
    Wenn ich eine sprechende Spielweise für ein barockes Werk anstrebe, dann kann ich das mit den originalen Instrumenten oft natürlicher und leichter erzielen. Ähnliches gilt für die dynamische Balance zwischen Soloinstrumenten, dem Tutti und auch der klanglichen Verschmelzung bei Colla-Parte mit den Streichern mitgehenden Oboen. Ein barockes Werk klingt durch den silbrigen Klang der alten Streichinstrumente klarer und transparenter, die Barockoboe klingt farbiger, schalmeienhafter und die Traversflöte feiner und gedeckter als die Böhm-Flöte.
    Sollte ich bei den Instrumenten die Wahl haben, dann wähle ich bei barocker oder noch älterer Musik am liebsten das Originalinstrument, bzw. eine gute Kopie.
    Im Frühjahr dieses Jahres war ich jedoch froh, dass ich bei einer Bachkantatenaufführung die Möglichkeit hatte, mit "normalen" Musikern zu arbeiten, auch wenn die ihre heutigen Instrumente mitbrachten und eben keine Barockspezialisten waren.
    Ich fand deren offenen, undogmatischen und sehr musikalischen Zugang eigentlich sehr schön.
    Die sprechende barocke Spielweise konnte durch vorab eingezeichnete Noteneinträge und durch eine zwar relativ kurze aber intensive Probenarbeit erstaunlich schnell erreicht werden. Heutige junge Musiker sind auch stilistisch wesentlich mehr versiert, als man vielleicht glaubt.Auf der Aufnahme klingt es auch sehr nach Barockmusik auf alten Instrumenten, auch wenn es eigentlich neue waren. Dies Erfahrung zeigt mir, dass es vielmehr auf den Musiker, als auf das Instrument ankommt, wenngleich das alte Instrument und der tiefere Stimmton natürlich noch schöner sein können.


    Bei Haydn oder Mozart sind für mich die Originalinstrumente wesentlich mehr als noch im Barock eine Kann-Alternative. Hier ist die Musik zwar auch noch klangrednerisch aufgebaut, jedoch schon so anders gesetzt, so dass auch die heutigen Instrumente als gleichwertige Alternative eingesetzt werden können. Ein Muss kann ich da nicht mehr sehen, bzw. hören. Ab Schubert will ich dann schon nur noch die heutigen Orchesterinstrumente aus künstlerischen Erwägungen haben. Zu dieser Spezialfrage ist jedoch in anderen Threads bereits viel gesagt worden.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Meine Anerkennung für dieses anspruchsvolle Thema! Alle bisherigen Beiträge sind sehr fundierte und substanzielle Meinungsäußerungen, die dem Taminoforum gut zu Gesicht stehen. Ansonsten bin ich eigentlich nicht für eine Zensurenvergabe.
    Hier wurde gesagt, dass "zeitgenössische Musik" mehr oder weniger niemandem wirklich gefällt. Das ist sehr deutlich und trifft wie man sagen kann, des Pudels Kern. Aber was ist "zeitgenössisch"? Und ist es Anachronismus, wenn man sich nur für die so genannte "klassische" Musik interessiert? Denn im engeren Sinne bedeutet Anachronismus eine veraltete Einstellung, deshalb möchte ich das nicht so übernehmen.


    Das Problem liegt für mich ganz einfach im Verhältnis Tonalität - Atonalität. Das menschliche Ohr ist empfänglicher für Musik die tonalen Ursprungs ist, also auf Tonarten basiert. Töne und Akkorde werden auf einen Zentralton, der wiederum Ausganspunkt einer Tonleiter ist, bezogen. Bei der Atonalität gibt es kein Zentrum, sondern alle 12 Töne stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und da fängt das Unverständnis in der Aufnahme durch den Hörer an. Man wächst mit tonaler Musik auf, es gibt keine atonalen Kinderlieder. Und auch die ersten Hörerfahrungen mit der "E-Musik" sind im allgemeinen sehr tonal. Atonale Musik gibt es spätestens seit Arnold Schönberg und seinen Fünf Orchesterstücken, die bereits im Jahre 1912 uraufgeführt wurden. Das ist ja nun nicht zeitgenössisch. Danach ist sehr viel komponiert worden, Tonales, Atonales und Mischformen. Wobei je mehr man sich der Gegenwart nähert, wirklich tonale Musik von den Jetztkomponisten verpönt wird. Auch wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, so habe ich jetzt im Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin ein Rihm-Stück erlebt, das spätromantische Züge aufwies. Aber im großen und ganzen ist es so, dass eben die zeitgenössische Musik wegen der Abkehr von den Grundlagen der Tonalität beim Gros der Musikhörer nicht ankommen kann. Allerdings wundere mich oft bei Konzertbesuchen über den Beifall des Publikums bei Musik, die sich anhört, als wenn man zwanzig Katzen auf den Schwanz tritt. Vielleicht aber gilt der Applaus den Musikern, die es ja nicht leicht haben, auch die kompliziertesten Taktwechsel und Rhythmensprünge zu bewältigen.


    In Erwartung weiterer Meinungsäußerungen zu dieser Thematik
    mit besten Grüßen


    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Zitat

    Meine Sichtweise bezieht sich sozusagen auf die "Marktseite", also auf das was die Hörer "nachfragten" .Sie wollten zur Zeit Mozarts lieber das Neueste hören und nicht etwa irgendetwas von Schütz oder Monteverdi in historischer Aufführungspraxis.


    Das mag daran liegen, daß damal Musik für die Zeitgenossen gemacht wurde - und demzufolge der Zeitgeschmack bedient wurde. Dem Publikum wurde kein neuer Stil aufgezwungen, sondern er entwickelte sich Quasi von selbst und war der Zeit angepasst. Das was damals komponiert wurde war lange erwartet und wurde dementsprechend geliebt und bewundert.


    Heute will man um jeden Preis beweisen, daß "alles anders ist", bzw alles "originell" ist.
    Ob das dem Publikum gefällt ist dabei Nebensache. Den Hörern wird ein neuer Stil aufgezwungen, der ANGEBLICH unsere Zeit repräsentiert. Das was heute komponiert wird, will kaum jemand hören und wird dementsprechend verabscheut und gemieden.


    Das heutige Publikum flieht deshalb vor den Produkten unserer Zeit und wendet sich Kunstwerken der Vergangenheit zu.
    Auch wenn diese Formulierung vielleicht ein wenig übertrieben klingen mag - im Kern trifft sie ins Schwarze.


    Zitat

    Allerdings wundere mich oft bei Konzertbesuchen über den Beifall des Publikums bei Musik, die sich anhört, als wenn man zwanzig Katzen auf den Schwanz tritt.


    Ein eigenartiges Phänomen - nicht wahr ?
    Ich vermute dahinter lediglich ein "Bekenntnis zur Gegenwart" - man möchte zeigen wie dankbar man für die "Kunst der Gegenwart ist (egal wir abstossend sie auch sein mag) - und daß die Vergangenheit überwunden ist.
    Ich weiß nicht ob ich es als abstoßend oder belustigend sehen soll, wenn Leute, denen der Stumpfsinn schlicht und ergreifend ins Antlitz gemalt scheint, frenetisch ein "Kunstwerk" akklamieren - das an sich offensichtlich wertloser Plunder ist, was jeder hören und sehen kann - wenn er nur will.


    Ein anderer Grund für den Beifall könnte sein - daß er bezahlt ist.
    Ich erwähnte in diesem Forum bereits mehrfach (und geniesse die Erinnerung daran), daß ich in meiner Jugend
    gelegentlich "engagiert" wurde, solch ein Konzert als (applaudierender) Zuhörer beizuwohnen - im Gegenzug erhielt ich Konzertkarten für (beispielsweise) Brendel-Konzerte.......


    Aber zurück zum eigentlichen Thema:
    Ja- der heutige Konzertbetrieb ist mehrheitlich "rückwärtsgewandt" - mangels anhörbaren zeitgenössischen Materials.
    Ich würde darin keinen Mangel und auch keinen Rückgang der abenländischen Kultur sehen.
    Während vergangene Jahhunderte hervorragendes auf dem Gebiet der Malerei und der Musik hervorbrachten, ist unsere Zeit in Bezug auf Naturwissenschaft und Technik ungeschlagen, auch eine Kunstform hat sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt: Der FIlm. Er hat das Theater ein wenig in den Hintergrund gedrängt - wenngleich es auch die letzten Jahrzehnte hervorragendes auf diesem Gebiet gab - ich spreche hier nicht von Inszenierungen, sondern von Stücken.


    Musikwiedergabe war - wenn wir uns die Vergangenheit betrachten - stets von Pragmatismus geprägt - oder sagen wir besser , man hat die Gegebenheiten akzeptiert. Darunter verstehe ich, daß Stücke ganz einfach "uminstrumentiert wurden, wenn das zur Verfügung stehende lokale Orchester gewisse Anforderungen des Komponisten nicht erfüllen konnte.
    Wir müssen uns aber stets vor Augen halten, daß diese Gepflogenheit keinen Vorbildcharakter haben sollte - denn es geht in solchen Fällen IMMER etwas vom Eigencharakter des Stückes verloren.
    Anpassungen jedoch, die angeblich ein Stück heute erst erträglich machen, sollten unterbleiben - da sollte man das Publikum auf andere Art zufriedenzustellen versuchen, beispielsweise mit Rockmusik oder dergleichen.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein sehr interessanter Thread! Alle Aspekte des Eingangsbeitrags zu erfassen und darauf einzugehen, wäre mehr, als in einem Beitrag sinnvoll dargestellt werden kann. - Aber zu einigen Stellen des Beitrags von Timmiju möchte ich doch etwas sagen:


    Das menschliche Ohr ist empfänglicher für Musik die tonalen Ursprungs ist, also auf Tonarten basiert. Töne und Akkorde werden auf einen Zentralton, der wiederum Ausganspunkt einer Tonleiter ist, bezogen.


    Das ist eine sehr europazentrische Sicht. Es gibt - ein Beispiel unter vielen - indische Tonsysteme mit 22 Tönen pro Oktave, die von denen, die damit aufgewachsen sind, als völlig "normal" und "richtig" empfunden werden. Für diese Menschen klingt eine Dur-Tonleiter schräg und verstimmt. Fazit: Vom "menschlichen Ohr" zu sprechen und eine Präferenz für tonale Musik auszusprechen, halte ich für sehr gewagt.


    Bei der Atonalität gibt es kein Zentrum, sondern alle 12 Töne stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und da fängt das Unverständnis in der Aufnahme durch den Hörer an. Man wächst mit tonaler Musik auf, es gibt keine atonalen Kinderlieder. Und auch die ersten Hörerfahrungen mit der "E-Musik" sind im allgemeinen sehr tonal.


    Richtig ist, dass unsere Sozialisation mit darüber entscheidet, welche Musik wir als vertraut empfinden. - Aber warum wird "dem Hörer" hier im allgemeinen das Verständnis atonaler Musik abgesprochen? Das geht mir zu weit. - Dass alle 12 Töne gleichberechtigt nebeneinander stünden, gilt in dieser Schärfe nur für Zwölftonmusik und ihre seriellen Verschärfungen. Es gbt atonale Musik mit gewissen tonalen Zentren, oder erweiterte Tonleitern mit 9 oder 11 Tönen, und und und.


    Ich will nicht sagen, dass ich jedes Zwölftonwerk auf Anhieb verstünde. Aber etwa den Sacré du Printemps - da meine ich, etwas zu verstehen, auch wenn er nicht tonal ist. Oder Berg Violinkonzert. Oder die Klavierstücke op. 11 von Schönberg. Messiaen. Nystedt. Ligeti. Ich meine, es gibt zig Beispiele nicht-tonaler Musik, die man verstehen kann.


    Tonalität ist eine Möglichkeit, sich musikalisch auszudrücken. Eine Möglichkeit unter vielen. Eine in viele Facetten erforschte, in der Kunst der Fuge (einzelne Fugen) und einigen Abschnitten der h-moll-Messe bereits hart strapaziert, in Beethovens "Großer Fuge" op. 133 an ihre Grenzen gebracht, im Tristan nochmals neu erforscht. Viele haben die Tonalität bis an ihre Grenzen ausgereizt, Mahler (10. Sinfonie), Reger (100. Psalm), Liszt (später Klavierwerke), R. Strauss (Elektra), ...


    Atonale Musik gibt es spätestens seit Arnold Schönberg und seinen Fünf Orchesterstücken, die bereits im Jahre 1912 uraufgeführt wurden. Das ist ja nun nicht zeitgenössisch.


    Schönberg war wohl der erste, der den Mut hatte, den von Bach, Beethoven, Liszt, Wagner, Mahler vorgezeichneten Weg an die Grenzen der Tonalität weiter zu gehen. Meines Wissens sind der dritte und vierte Satz seines zweiten Streichquartetts in fis-moll op. 10 die erste atonale Musik, gefolgt von den Klavierstücken op. 11 (man könnte bei Ives nochmal forschen, ob er nicht noch früher war - dem traue ich alles zu - aber selbst wenn, dann das wäre wohl unabhängig von Schönberg).


    Aber im großen und ganzen ist es so, dass eben die zeitgenössische Musik wegen der Abkehr von den Grundlagen der Tonalität beim Gros der Musikhörer nicht ankommen kann.


    Tja. Das alte Sender-Empfänger-Problem. Von Lichtenberg sagte es so: Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl - liegt das allemal am Buch? - Ich beeile mich, mich für das Zitat zu entschuldigen. Ich wll niemanden angreifen oder verletzen oder abkanzeln. Aber wohlwollend gelesen, versteht man sicher, dass da etwas Wahres dran ist. Wenn nur wenige das vierte Streichquartett von Schönberg mögen - liegt das wirklich an Schönberg ... ?


    Vielleicht mag man erwägen, welcher Bruchteil der Bevölkerung die Musik von Brahms, Mahler, Wagner mag. Vielleicht in dem Sinne, dass sie im letzten Jahr Geld ausgegeben haben, um deren Musik zu hören - sei es als Konzert- oder Opernkarte oder als Tonträger. Da sind wir sicher im unteren einstelligen Prozentbereich, wenn überhaupt. Bei Schönberg sind das noch einmal weniger - aber was bedeutet das noch bei so kleinen Zahlen?


    Allerdings wundere mich oft bei Konzertbesuchen über den Beifall des Publikums bei Musik, die sich anhört, als wenn man zwanzig Katzen auf den Schwanz tritt. Vielleicht aber gilt der Applaus den Musikern, die es ja nicht leicht haben, auch die kompliziertesten Taktwechsel und Rhythmensprünge zu bewältigen.


    Na ja, es könnte ja Leute geben, denen diese Musik etwas gibt! Hast Du mal Ligetis erstes Streichquartett gehört? Oder seine Atmosphères? Oder die Bagatellen für Streichquartett von Webern? Oder "Stille - Fragmente. An Diotima." von Nono? Oder die 4. Sinfonie von Tüür? Tolle Musik ...


    Ich gebe zu: Man muss sich Brücken bauen! Das erste, zweite, dritte Stück von Schönbergs op. 16 fünfmal, zehnmal hören. Wie man eine fremde Sprache lernt (denn um nichts anderes handelt es sich). Lieblingsstellen identifizieren, eine interessante Instrumentierung, eine interessante harmonische Wendung, eine unerwartete Dissonanz, ... von diesen Lieblingsstellen ausgehend weiterforschen.


    Man muss sich Zeit lassen, in die Stücke hineinwachsen.


    Was würdet ihr von jemandem denken, der die Eroica einmal hört und dann sagt: "Ich wundere mich über die Konzertbesucher, die applaudieren"? Würdet ihr ihm nicht auch empfehlen, vielleicht mit kleineren Stücken zu beginnen? Beethovens 1., Klaviersonaten, Konzerte?


    Wer uns uns hätte die Eroica beim ersten Hören so erfasst, wie wir sie jetzt hören, nach 20, 30, 50fachem Hören?


    Ich bin überzeugt: Wer bereit wäre, ein anerkanntes atonales Werk so oft zu hören, wie er die Eroica gehört hat, wird diese ganze Diskussion bedeutungslos finden. Weil er weiß: Eine neue Sprache verstehen lernen kostet Zeit und Engagement - doch es lohnt.


    Anders formuliert: Wer glaubt, ein Stück von Stockhausen ohne entsprechende Hörfahrung beim ersten Mal voll zu erfassen, der überfordert sich. Ich behaupte: Die meisten von uns - und ich schließe mich ein - würden da schon bei einem späten Streichquartett von Beethoven scheitern. Ganz zu schweigen von Bruckner-Sinfonien, Tristan, Schuberts Streichquintett.


    Ich bitte die Unsortiertheit meiner Gedanken zu entschuldigen, vielleicht mag jemand einen Ansatzpunkt zum Weiterdiskutieren finden. Zu viele Aspekte auf einmal ...

  • Allerdings wundere mich oft bei Konzertbesuchen über den Beifall des Publikums bei Musik, die sich anhört, als wenn man zwanzig Katzen auf den Schwanz tritt.

    Und ich dachte, ich wäre der Einzige, dem das merkwürdig vorkommt. Für die ausserordentlichen Leistungen, die Dirigent und Musiker vollbringen, wird man wohl immer einen anerkennenden Beifall spenden. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass mehr als nur ein paar einzelne Personen aus dem Publikum irgendetwas bei einem sehr modernen Werk verstehen (muss jetzt leider etwas pauschalisieren).
    Vieles wird den Hören zusammenhangslos und unverständlich vorkommen, nicht nur was die Harmonik anbelangt. Da bin ich mir ziemlich sicher.
    Wenn man schon nicht bei Werken von Bruckner oder Brahms erwarten kann, dass sie einem Hörer, der so etwas noch nie gehört hat, sofort zugänglich sein werden (er sich also selbst auch an die Werke heranarbeiten muss, um wirklich etwas davon zu haben), wie ist es dann bei so manchen modernen Werk? Ohne ausführliche Einführungen geht da m.E. gar nichts. Ob man es dann nach erfolgter Einführung wirklich verstehen mögen kann, hängt dann vom einzelnen Hörer und dem Stück ab. Manchmal fragte ich mich auch, ob ich bei einem solchen frenetischen Applaus eine Zeuge des Märchens von "des Kaisers neuen Kleidern" wurde.Aber ich freue mich ja immer , wenn die Musiker mit Applaus bedacht werden, schliesslich haben sie schwer gearbeitet.


    Ich hatte im Oktober letzten Jahres das Glück, bei einer Aufführung des für mich führenden norwegischen Kirchenmusikkomponisten Trond Kverno mitzuwirken und den Mann auch ein bisschen persönlich kennenzulernen.
    Seine tonalen Kompositionen sind für mich eigentlich die schönsten modernen geistlichen Werke, mit denen ich hier in Kontakt kam.
    Kverno schreibt ausschliesslich tonale geistliche Musik, ist sehr von Renaissance, Barock und Brahms beeinflusst und verfügt auch über eine für mich sehr angenehm zu hörende und irgendwie "kirchlich" klingende Harmonik (das beispielhaft auszuführen würde hier den Rahmen sprengen).
    Besonders edel sind seine Stimmführungen und Harmonisierungen.
    Er hat auch sehr viele, schon als "geniale" zu bezeichnende Sachen für den liturgischen Gebrauch geschrieben.
    Ich erwähne das, weil ich mir nicht vorwerfen lassen will, nur pauschal von "der Moderne" zu reden. Jemanden wie Pärt schätze ich übrigens auch.

    Ja- der heutige Konzertbetrieb ist mehrheitlich "rückwärtsgewandt" - mangels anhörbaren zeitgenössischen Materials.
    Ich würde darin keinen Mangel und auch keinen Rückgang der abenländischen Kultur sehen.

    Sehr einverstanden. Die "Alte Musik" der Klassik ist lebendiger denn je und keineswegs museumsreif. Sie bedarf keine radikalen Umdeutungen, um verstanden zu werden.
    Ich finde auch, dass wir die einzigartige Position die wir in der Postmoderne einnehmen können, nicht nur resignativ als gegeben akzeptieren sollten.Wir können mittlerweile nämlich einen tiefen Blick in die Vergangenheit machen und verfügen als Hörer über eine enorme Repertoireauswahl, die früher nicht im Traum denkbar gewesen wäre, Wir können und sollten vor allem die damit verbundenen Vorteile erkennen und die darin enthaltenen Chancen zu nutzen.
    Harnoncourts pessimistische Schlussfolgerung der 80er-Jahre, dass man sich dann nur noch einige schön klingende Rosinenstücken herauspickt um den grauen Alltag ein bisschen zu behübschen, statt der Musikkunst eine zentrale und bewegende Rolle im Leben zuzugestehen, teile ich heutzutage jedenfalls nicht mehr in vollem Umfang.
    Er konnte sich ja in seiner wichtigsten Zeit an Missverständnissen und falschen eingefahrenen Aufführungstraditionen bei der Barockmusik abarbeiten, bzw. gegen sie anarbeiten. So wie ich es sehe, ist diese Sache nun aber längst"durch".
    Heute gibt es noch einige Ausläufer, die im selben Stil mit Instrumenten der Entstehungszeit und einer historisierenden Spielweise ( ob die bei Brahms wirklich der bessere Weg ist, glaube ich nicht, aber darüber haben wir ja schon an anderer Stelle diskutiert) diesen Ansatz, von dessen Absolutheit Harnoncourt selbst sich schon seit Jahrzehnten verabschiedet hat, bis in den letzten Epochenwinkel durchdeklinieren. Dann gab es bei Bach noch die Rifking-Geschichte mit der ausschliesslich solistischen Besetzung ( wenn man es ausschliesslich so macht, bezweifle ich es auch), einige Neuerungen beim Thema Continuo und bei Beethoven die Einspielungen mit Hammerflügel und Solostreichern, bei Schubert die Sachen mit Hammerklavier ( ich mag es alles eigentlich nicht) etc. ...


    Aber insgesamt meine ich schon, dass die HIP-Sache, die ja so eine Art Korrektur-Motivation mit dem Moment der Neuentdeckung in sich trug, im Grossen und Ganzen bereits "durch" ist ( ich meine damit nicht "erledigt" !)
    Hat denn nun mit dem HIP-Siegeszug die klassische Musik eine zentralere Rolle im Leben der Menschen bekommen? Ich meine eher nicht.
    Bei den meisten Leuten, die hier schreiben, ist das wohl so, und bei vielen anderen Klassikfreunden und Musikern, die ihre Zeit nicht im Internet "verplempern" wird es auch so sein ;), und zwar relativ unabhängig davon, ob sie nun lieber Hogwood oder Karajan hören.
    Dem grossen Rest ist es egal, ob die Streicher Darmsaiten haben, Hammerklaviere oder Steinways gespielt werden, Järvi oder Thielemann da etwas macht...die bleiben dann bei Bohlen oder sonstwo.
    Eine Mehrheitsmusik wie der Chart-Pop wird die Klassik niemals werden, egal wie sehr man es auch entweder durch Absurditäten oder durch Kommerzialisierungen versucht in die Richtung zu bekomme.


    Die Frage im 21 Jahrhundert ist doch: Was kommt eigentlich nach dem HIP-Projekt?
    Und wenn dieser Paradigmenwechsel nun schon Interpretations Geschichte ist( wenn auch eine immer noch lebendige) : Was ist das neue Projekt?


    Ich bin nicht so weit, dass ich Antworten formulieren könne, aber ich plädiere angesichts der Fülle der Lern-und Erfahrungsmöglichkeiten für einen offenen Geist und für offene Ohren. Man kann als Musiker sich Musik aus sehr weit voneinander entfernten Epochen anhören und sie eingehend studieren, ebenso Interpretationen von Furtwängler über Böhm und Bernstein bis hin zu Nagano, Harnoncourt, Thielemann, Rattle, Herreweghe.....etc. (wenn ich jetzt einmal bekannte Dirigenten nennen soll; es gibt ja auch andere bekannte Musiker wie Geiger, Sänger oder Pianisten....)
    Schliesslich blicken wir mittlerweile ja schon auf eine durchaus erstaunlich und umfangreiche Interpretationsgeschichte zurück.


    Für mich ist beim CD-Hören sehr wichtig zu verstehen, warum die es so machen, wie sie es machen, wie sie denken und fühlen. Besonders wenn mir etwas gefällt, frage ich mich das, weil ich gerade diese Dinge adaptieren will.
    Natürlich lernt man zunächst am meisten von seinem eigenen Lehrer/in, bei dem/der man studiert, weil er einen direkt korrigieren und Hilfestellungen leisten kann. Für mich war und ist es aber immer auch ein grosser Vorteil, dass ich sozusagen nebenbei noch einen Fernkurs bei bekannten Spitzenkünstlern absolvierte, womit ich längst noch nicht fertig bin. Ich kenne so manchen Kollegen, der zwar gut spielt usw, aber dessen Klassik-CD-Sammlung doch erstaunlich klein ist, und der auch dementsprechend wenig hört. Zwar respektiere ich das und habe auch -je nach Arbeitintensität- Verständnis dafür, aber mein Weg ist es nicht.
    Es gibt da so viel zu lernen, und zwar auf eine sehr befriedigende Art und Weise. Auch dieses immer wieder neue Nachdenken über Musik im Tamino-Klassikforum ist für auch eine unterhaltsamer Lernprozess.


    Wenn es um die Komponisten geht, so würde ich mir wünschen, dass sie sich vermehrt trauen, tonale Werke zu veröffentlichen.
    Zudem hielte ich es für wünschenswert, wenn Musiker verstärkt in Improvisation, Tonsatz und Komposition unterrichtet würden. Das Verständnis dieser Zusammenhänge hat nämlich auch eine starke Auswirkung auf die Art der Interpretation.


    Anpassungen jedoch, die angeblich ein Stück heute erst erträglich machen, sollten unterbleiben - da sollte man das Publikum auf andere Art zufriedenzustellen versuchen, beispielsweise mit Rockmusik oder dergleichen.....

    Ebenfalls sehr einig. Aus demselben Grund möchte ich ja auch bei Opernmusik die in der Musik einkomponierten Dinge auf der Bühne sehen, und nicht etwas völlig Anderes. Wenn eine Musik pathetisch, würdevoll, strahlend und durchaus auch mit feierlichem Weihrauch daherkommt, dann will ich auch so etwas auf der Bühne oder im Opernfilm sehen, weil ich es ja ohnehin in der Musik höre. Mit den heutigen bühnen- oder filmtechnischen Möglichkeiten könnte man sicher zu sehr überzeugenden und unkitschigen Ergebnissen kommen.
    Eine zwangsläufige Erstarrung im Visuellen befürchte ich da nicht, weil die Spielräume auch bei Inszenierungen, die mit der Musik etwas zu tun haben wollen, sehr sehr gross sein können. Zudem ist die niemals totzukriegende Kraft der Musik aus dem Orchestergraben stark genug, für das, was auch der Bühne statt finde, als Inspirationsquele zu fungieren.
    Und- wie ich schon sagte- die grösste Kunst entsteht m.E. innerhalb von Grenzen (von definierten Parametern), nicht in der völligen Schrankenlosigkeit.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo Glockenton,


    scheitern vielleicht moderne Komponisten an den übergroßen Vorgängern in dem Versuch, neue tonale Musik zu komponieren?


    Die Messlatte liegt ja auch verdammt hoch. Beethoven war ja z.B. der absolute Großmeister im Finden von eingängigen Melodien. Sie bilden jedesmal die Grundlage für seine Ausführungen.


    Heute ist eine ganze Popindustrie damit beschäftigt, Melodien zu entwickeln, die dem Massenpublikum gefallen. Und sie scheitert.


    Eingezwungen in eine Industrie scheitert der kreative Musikgeist.


    Erfolgreiche Musikströmungen sind immer aus einem kreativen Umfeld entstanden, Protest gegen gesellschaftliche Strömungen zum Beispiel. Eine Subkultur entstand, die neue Musik entstehen ließ. Auch Beethoven war in einer solchen Kultur eingebunden, Mozart z.B. hat gezeigt, das man als Musikus in adligen Kreisen verkehren kann, durch die Musik "etwas besseres wird", man durch Kreativität gesellschaftlichen Status erlangt. Das er trotz seines Genies nicht in diese Kreise aufgenommen wurde, war wohl eine seiner bittersten Lebenserfahrungen.


    Und dieses "Statuserlangen" ist auch in anderen Kulturen zu finden, es gibt Kulturkreise, in denen Musiker ein höheres Ansehen genießen als die Machthaber. Und das gibt es heute auch in unserer Gesellschaft. Das Internet bringt (angeblich) neue Musik hervor, über deren Qualität wit hier nicht zu reden brauchen, aber dem Musiker Popularität bringt.


    Und hier kommen wir zu einem springenden Punkt: Die Qualität der Musik und die Popularität des Interpreten gehen heute getrennte Wege. Es gibt keinen Antrieb mehr, über Qualität gesellschaftlichen Status zu erlangen.


    Außer man hört Kassik. Hier bestimmt die Qualität, hier wird vom Interpreten ein Können verlangt, die eine Ausbildung erfordert. Und dieser Weg zum Erfolg wird auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen anerkannt, z.B. im Berufsleben. Die hier Erfolg haben, wollen sich auch nicht von Dilletanten unterhalten lassen. Vielleicht sind es ja auch diese Leute, die die Qualität in der Musik Schönberg`s erkennen und ihr applaudieren, sie erkennen, was das für eine Leistung sein muss, so etwas zu komponieren und zu spielen.


    Unterhaltung durch Können. Und so ähnlich ist es vielleicht mit den Streichquartetten Beethoven`s. Wenn sie gespielt werden, sind sie ruckzuck ausverkauft. Eine musikalische Leistung wird honoriert und das wird immer bestehen.


    Viele Grüße Thomas

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  • Die Frage im 21 Jahrhundert ist doch: Was kommt eigentlich nach dem HIP-Projekt?


    Ich glaube ja nun nicht, dass die Darbietung alter Musik (womit ich jetzt alles meine, was älter als 20 Jahre ist) nochmal eine große Revolution wie HIP oder "Klassik goes irgendwohin" erleben wird. Eine Alternative wäre ein Betrieb mit breiterem Repertoire, also cpo statt EMI auf den Konzertpodien - das wäre auch eine Revolution (nämlich die der Kleinmeister) halte ich aber für sehr unrealistisch.

    Wenn es um die Komponisten geht, so würde ich mir wünschen, dass sie sich vermehrt trauen, tonale Werke zu veröffentlichen.


    Die Frage nach der neuen Musik ist eigentlich OT, lässt sich aber durch den Traditionsbezug der neuen Musik hier einbinden. Im 20. Jahrhundert gab es immer Musik mit starken Bezügen zur tonalen Tradition. Und seit es die Atonalität gibt (ca. 1908 ), ist die Frage danach, ob ein Werk nun tonal sei, oder nicht, mühsam bis (meist) müßig. Hier wurde ja schon Strawinskys Sacre genannt, den man nicht so leicht zuordnen kann. Und selbst der gefürchtete(?) Lachenmann verwendet seit ein paar Jahrzehnten besonders gerne Skalen, also auch tonales Material. Der Dualismus tonal-atonal ist doch seit langer Zeit "durch" - spielt kaum eine Rolle mehr ...

  • Viele Chorleiter auf dem Dorfe, die einmal pro Woche den Toscanini spielen dürfen, schreiben Sätze für ihre Chöre. Gelegentlich war ich auch schon versucht, solches zu tun. Das geht los mit der Auswahl eines Textes - gar nicht so leicht. Aber wie vertonen?


    Jedes C-Dur, jede einfache Kadenz wirkt doch bereits wie ein Zitat ihrer selbst. Wenn ich daran denke, was ich heute und jetzt gerne musikalisch ausdrücken würde, dann denke ich an alles Mögliche, aber nicht an eine Kadenz in Dur, es sei denn ironisierend.


    Wir haben unsere klaren Weltordnungsvorstellungen verloren. Oben und unten gibt es nicht mehr, die Erde ist eine Kugel, sie steht nicht im Mittelpunkt des Weltalls, sie rast mit knapp 30 km/s um die Sonne, welche ihrerseits mit über 200 km/s um das Zentrum der Milchstraße rast.


    Gott wohnt nicht mehr oben im Himmel, weil es kein "oben" und "unten" gibt.Im Kosmos sind alle Richtungen gleich. - Gott ist kein mächtiger alter Mann mehr, sondern genauso Frau und jung und alles zugleich. Es gibt keine Könige mehr, wir sind unglaublich tolerant, alles haben Recht, dürfen jedenfalls behaupten, Recht zu haben, Pluralität überall.


    Was soll uns da noch so ein hierarchisches, wertendes, bestimmte Tonarten und Töne bevorzugendes System wie die Dur/Moll-Tonalität sagen? Ich will nicht auf Zwölftonmusik hinaus - das ist in gewissen Sinne ja eine Diktatur.


    Worauf ich hinaus will: Wenn sich unser Wertekanon und unser Weltbild so drastisch geändert haben, wie dies geschehen ist, muss das dann nicht zwangsläufig seinen Niederschlag in den Künsten finden? Ist denn Atonalität nicht der Ausdruck von etwas, was längst unser Alltag ist?

  • Worauf ich hinaus will: Wenn sich unser Wertekanon und unser Weltbild so drastisch geändert haben, wie dies geschehen ist, muss das dann nicht zwangsläufig seinen Niederschlag in den Künsten finden? Ist denn Atonalität nicht der Ausdruck von etwas, was längst unser Alltag ist?

    Humoristisch, mit Anspielung auf die Machtmaschine Gerhard Schröder gesagt, wäre die Antwort auf Deine Frage : Kakophonie (jeder steuert seinen Senf dazu, keiner weiss was richtig oder falsch, oben, unten oder sonst etwas ist)


    Nun der Versuch einer ernsthafteren Antwort:


    Vielleicht nicht Atonalität, sondern eine schwebende Tonalität, ziemlich entfernt von I - IV- V- I - Sequenzen.
    In manchen Harmonisierungen Chick Coreas habe ich so etwas Innovatives von der Richtung her gehört. Das war dann eigentlich kein typischer Jazz, den er harmonisch gesehen da spielte.
    Oben sprach ich ja Peter Kruder von "Peace Orchestra", dessen elektronische Filmmusik zu Animatrix für mich sehr gut ein modernes, von der digitalen Revolution geprägtes Lebensgefühl ausdrückt, sowohl rhythmisch, harmonisch als auch "melodisch", wenn es so etwas dort überhaupt gibt (eher nicht)


    Dein Beitrag ist für mich aber auch ein gute Hinführung zum eigentlichen Kern dessen, worum es hier gehen soll:
    Ich stimme Deinen Beschreibungen -mit einigen Abweichungen hinsichtlich der Gottesfrage- in groben Zügen zu.
    Wenn es dann also so ist, wieso machen wir es dann nicht Mozarts Zeitgenossen gleich, und hören das, was eben der Ausdruck unserer Zeit ist?
    Wenn es unsere Zeit ihren Niederschlag in der Kunstmusik finden muss, warum regen wir uns dann hier so gerne über Beethoven und Schubertinterpretationen auf?
    Warum denn, bei allem was uns gut und heilig ist, sollte man sich die Symphonie eines -sicher überaus genialen- österreichischen erzkatholischen Organisten und Sonderlings anhören, die 1881 in Wien uraufgeführt wurde?
    Da wird nicht unsere Welt (Burgen, Ritter, Jagd, Weckruf eines Wächters....)beschrieben, und es sind nicht die Klänge unserer Zeit.
    Wäre sie 1981 uraufgeführt worden, dann müssten wir heutzutage immer noch als "Alte Musik" einstufen. So ist es dann schon "Uralte Musik".
    Wie uralt ist dann eigentlich Monteverdi?


    Und doch hören wir es - wenn ich es richtig verstanden habe, im Falle Bruckners beide, und zwar mit grossem Vergnügen, eben wegen vieler menschlich immer gültigen Dinge und wegen der puren Qualität.
    Ja, und wir schreiben nahezu täglich über diese Musik aus längst vergangenen Zeiten...


    Natürlich finde ich, dass wir sowohl mit dem Hören, Musizieren und mit dem Schreiben über diese Musik etwas Richtiges tun, und das nicht vornehmlich aus denkmalpflegerischen Gründen ( obwohl die Bewahrung des Kulturerbes ja überaus wichtig ist)
    Diese gibt uns die Möglichkeit, uns in (Klang)welten zu begeben, bei denen es noch oben und unten, Gesetze, Orientierungen, vielleicht sogar auch "Heile Welt" (z.B. Beethoven 6, Satz 2) usw. gab.
    Offensichtlich sehnen wir uns genau danach. Das müsste dann sogar auch für diejenigen unter uns gelten, die sich als progressiv sehen.


    Interessant finde ich auch folgendes: Manche lehnen die "Verherrlichung" der grossen Alten wie Furtwängler, Böhm, Karajan, Celibidache scharf ab und hören lieber schlanken, schnell gespielten HIP (also gar nicht einmal Harnoncourt, den der hat sich seine eigene Interpretationswelt gebaut)
    Es ist wie eine reflexhafte Abwehrreaktion auf alles, was pathetisch sein könnte.
    Natürlich gibt es immer auch das hohle, in die Lächerlichkeitsgefahr gleitende Pathos, aber ich entdecke in mir schon seit langem eine Sehnsucht nach echtem, gereiftem und geläuterten Pathos sowohl in der Komposition (z.B.Bruckner. Brahms) als auch in der Interpretation (z.B.Celi).


    Nun kann HIP in manchen Spieler- und Hörerkreisen ja sehr gesetzlich, ja dogmatisch werden. Also wenn schon die Alte Musik, dann NUR genau die Instrumente der Entstehungszeit. Wenn eine Aufnahme mit irgendwelchen Lederteilen am Hammerklavier gemacht wurde, und man hinterher feststellt, dass man die zu Beethovens Zeit die nicht benutzte, dann müsste man die Einspielung eigentlich wiederholen....etc.
    Entschlackt, frisch und von Verkrustungen befreit soll es klingen.
    Man will es also ganz genau richtig machen, eben so, wie man es früher gehört hat.
    In einem Radioprogramm auf NRK (Norwegen) hörte ich, wie einige schon die Gesangstechnik mit Resonanz( also mit Kopfklang) als für Bach unhistorisch anzweifeln. Man konnte sogar einige Beispiele für "Bach aus dem Hals" (also mit Bruststimme gesungen) hören. Es klang nebenbei gesagt in meinen Ohren furchtbar.
    Ich empfinde so eine dogmatische Denkweise als einschnürend, als gegen die künstlerische Freiheit gehen, obwohl ich finde, dass durch die historische Aufführungspraxis enorm wichtige und überaus wertvolle Aspekte in die Interpretationsgeschichte eingebracht wurden.


    Interessant wird es dann, wenn ich aus der gleichen Ecke Argumente in der Richtung vernehme, dass eine moderne, befremdende Opernregie notwendig sei, um die eigentlich Werkaussage für die Gegenwart lebendig zu erhalten. Andernfalls würde die Kunstform Oper im Musealen erstarren.
    Das verstehe ich dann immer nicht. Muss man denn, wenn mam HIP bis aufs i-Tüpfelchen richtig machen will, nicht auch mit Perücken in der Mozart-Oper herumlaufen?


    Ausgangspunkt für diesen Thread waren Gedanken über die Verbindungslinien, die ich in einigen hellen Momenten zwischen den immer wieder diskutierten Themen wie "HIP", "die grossen Alten", ob "früher alles besser" war, "neue Kunstliedsänger und Fischer-Dieskau", Libretto-orientierte Inszenierung vs. "Regietheater " glaubte zu erkennen ( oft verliere ich auch wieder den Überblick).
    Es scheint da so eine Art "Alt gegen Neu"-Auseinandersetzung zu geben, wobei komischerweise das besonders eng aufs original "Alte" fokussierte HIP unter "Neu" und progressiv einsortiert wird. Das ist dann eine Erneuerung durch "veralten".
    Wer Furtwängler, Celi und Thielemann mag, der ist dann "Alt", konservativ, vielleicht auch sogar noch politisch einer von denen, gegen die man 1968 (durchaus zurecht, wie ich finde) aufbegehrte.


    Und das alles findet kurioserweise vor dem Hintergrund statt, dass sich sowohl die Progressiven als auch die Konservatien -im Gegensatz zu den Epochen aus denen die Kompositionen sind- vornehmlich mit "Uralter" Musik beschäftigt.
    Meine Konsequenz aus dem Gedankengang wäre, dass man einerseits neue Musik aus der überblickenden Position der Postmoderne mit gleichzeitigem Ausdruck unseres Lebensgefühls und unserer Zukunftssicht komponiert, dann aber bei der Klassik versucht, sie aus ihrer Zeit heraus verstehend für sich sprechen zu lassen ohne sie irgendwie ständig - wie ein Gesundheitssystem- reformieren zu müssen. Radikales Bilderstürmen lehne ich ab, d.h. die Furtwängler-Aufnahme wird weiter in Ehren gehalten und heutige Steinway wird nicht der Abfallverwertung zugeführt.


    "Die Klassik" muss vom Klangbild und der Spielweise her meiner Ansicht nach nicht ständig in etwas Neues mutieren ( in was denn noch auch...?) und der Grund für eine neue Aufnahme muss nicht immer zwangsläufig eine "ganz neue Sicht" sein. Wenn die dann nicht zu hören ist, dann kommen die Hobby-Kritiker, die sich ja im Internet überall kommentierend zu Wort melden dürfen, dann schnell mit der Überschrift "Überflüssig - nicht schlecht gespielt, aber warum diese Aufnahme?" daher, wofür ich kein Verständnis aufbringen kann.
    Ich bin eher dafür, den postmodernen Überblick über die Interpretationsgeschichte zu nutzen und weder das Alte noch das Neue im Sinne eines Lagerdenkens (womöglich auch noch politisch verbrämt) pauschal zu verdammen. Besser ist es, immer die Ohren aufzusperren und von Fall zu Fall eine tiefbegründete und noch tiefer empfundene künstlerische Wahl der Mittel zu treffen. Dafür muss man sich dann aber sehr gut auskennen...


    So wie ich es sehe, machen es die Musiker des traditionsreichen Berliner Philharmonischen Orchesters so oder so ähnlich: Sie können ihren Bach oder Haydn historisch informiert (z.B. Berliner Barocksolisten oder BPO) oder modern und doch davon beeinflusst (BPO + Andras Schiff, Klavier mit Bach) musizieren, aber haben auch eine unglaublich warme und ihrer romantischen Orchestertradition entsprechende Gesamtaufnahme der Brahmssymphonien unter Rattle herausgebracht. Doch sie spielen ja nicht nur Altes oder Uralters, sondern dann auch wieder ganz Neues....
    Wenn es da ein Lagerdenken gibt, dann vielleicht dieses, dass sie immer gerne im Lager für höchste Qualitätsmusik sitzen wollen.
    Und da sitzt nicht unbedingt die Mehrheit, doch ich bin froh, mich diesem Lager zugehörig fühlen zu können.


    :hello:


    Glockenton

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  • Wenn es dann also so ist, wieso machen wir es dann nicht Mozarts Zeitgenossen gleich, und hören das, was eben der Ausdruck unserer Zeit ist?
    Wenn es unsere Zeit ihren Niederschlag in der Kunstmusik finden muss, warum regen wir uns dann hier so gerne über Beethoven und Schubertinterpretationen auf?


    Weil wir es insgeheim gerne so hätten, dass es wieder ein klares "oben" und "unten" gäbe. Weill wir insgeheim wollen, dass der Mond wieder eine romantische Lichtquelle für Verliebte wäre und kein Landeplatz für den Weltraumschrott von morgen. Weil uns die Geschichten von Königen und Königinnen so gut gefallen (die einschlägigen Illustrierten haben viel höhere Auflagen als "FonoForum" oder "Opernwelt"). Weil uns die Erkenntnis nicht schmeckt, die wir nach dem Genuss von den Früchten des Baumes der Erkenntnis haben, aber nicht mehr in den unbewussten Zustand davor zurück können. Weil wir uns in dieser Welt, die wir heute verstehen wie noch nie, nicht wohl fühlen.


    Darum mögen wir auch diejenigen Kunstwerke, die echter, ehrlicher, authentischer Ausdruck unserer Zeit sind, nicht wirklich und hören lieber Mozarts Zauberflöte und Schumanns op. 39 und Bruckners "Romantische" und Tschaikowskys "Schwanensee", als uns Schönbergs "Überlebenden von Warschau" oder Nonos "Canto sospeso" oder Reichs "WTC 9/11" anzuhören. Das ist Ausdruck einer Zeitflucht, wenn nicht gar einer Weltflucht.


    Ich will nicht schon wieder über Regietheater reden, aber es ist klar, was jetzt zu sagen wäre.

  • Die Kunst als Fluchtmöglichkeit in eine bessere Welt....ist das denn nicht auch legitim?
    Müssen wir denn nicht anfangen, das zu akzeptieren uns als Klassikfreunde- und Musiker damit abfinden?


    Wie hiess es denn noch so schön bei Schober/Schubert, der jedes Wort - so meine Überzeugung- aus vollem Herzen mitunterschrieb, überaus herrlich vertonte und dabei doch kreativ war, ohne "museal im Vergangenen steckenzubleiben":


    An die Musik
    Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
    Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
    Hast Du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,
    hast mich //: in eine bessre Welt entrückt://


    Oft hat ein Seufzer, deiner Harf entflossen,
    Ein süsser, heiliger Akkord von dir,
    den Himmel bessrer Zeiten mir erschlossen,
    //: Du holde Kunst, ich danke dir dafür ://



    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Lieber Glockenton,


    ... aber bitte den "Himmel bessrer Zeiten" nicht mit der Metronomangabe verwechseln!


    Meine Sichtweise bezieht sich sozusagen auf die "Marktseite", also auf das was die Hörer "nachfragten". Sie wollten zur Zeit Mozarts lieber das Neueste hören und nicht etwa irgendetwas von Schütz oder Monteverdi in historischer Aufführungspraxis.


    Wenn HIP recht hat, wußte man zu Mozarts Zeiten immerhin noch besser, wie Schütz geklungen hatte; man war ja noch nicht durch die romantische Spielpraxis verdorben.


    Wagner z.B. wurde lange Zeit v.a. nicht aufgeführt, wodurch seine auf Eis gelegte Romantik in die Gründerzeit fiel. - Mit dem Historismus entstanden nicht nur historische Opernstoffe, sondern auch der Repertoirepflege verpflichtete Spielpläne.


    Daß die Komponisten jeweils in ihrer Zeit wirkten, ist eine Binsenweisheit; ebenso daß die Musik immer Ausdruck ihrer Zeit sei. - Tatsächlich ist die Entwicklung zeitgenössischer Sujets, vom bürgerlichen Trauerspiel bis zu Gerhard Hauptmann und Ödön von Horváth, eine komplizierte Angelegenheit; und so lange haperte es auch mit der hier beschworenen Kongruenz. - Der böslich genaue Blick der Kunst wird von der Zensur, Tabus und Dezenzvorschriften in ideale Sphären gelenkt, sehnt sich aber unterschwellig nach Fleisch und Blut, weshalb er die Idealität wieder unterwandert. "Realismus" ist hier nur ein Gesichtspunkt unter vielen.


    Wagners "Tristan"-Partitur z.B. ist ja keine Mittelalter-Oper, sondern steht zum stofflichen Vorwurf in einer unerhörten Spannung, die weder Ausdruck ihrer Zeit ist noch sich den Zeitgenossen restlos erschloß. Diese Unauflöslichkeit stellt sich bis heute als die künstlerische, ästhetische, musikdramatische und bühnentechnische Herausforderung dar, die sie ist. - Ich formuliere hier also dezidiert gegen deine Anachronismus-These.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,

    Wenn HIP recht hat, wußte man zu Mozarts Zeiten immerhin noch besser, wie Schütz geklungen hatte; man war ja noch nicht durch die romantische Spielpraxis verdorben.

    Ja, das glaube ich auch. Ob sie allerdings noch die alten Instrumente wie Dulzian oder Zink "irgendwo `rumliegen" hatten, weiss ich nicht.
    Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass sie an einer Aufführung des Schwanengesangs kein Interesse hatten, weder die Musiker, noch das Publikum.


    Ich formuliere hier also dezidiert gegen deine Anachronismus-These.

    Aber gerne, immer zu ^^ - sonst wird es ja langweilig. Ich habe mir das Recht auf die alleinige Wahrheit ja nicht beim Amtsgericht im Grundbuch eintragen lassen, nicht wahr :). Das was ich hier schrieb nehme ich für mich an und stelle es zur Diskussion. Ob es tatsächlich auch so ist, weiss ich nicht, schon gar nicht in allen Punkten.


    Mit "hier" meintest Du wohl den Tristan. Allerdings finde ich, dass mein Einwand auf Dein obiges Zitat mit Mozart/Schütz dann doch eher meine "Allgemeine Rückwärtsgewandheit der heutigen Klassikhörer-These" stützt...


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Es gibt das Glück der "Spätgeborenen". Sie mußten nicht erleben, erleiden, erdulden, mitmachen, mitverantworten. Analog dazu mag es ein Glück der "Atheoretiker" geben. Sie müssen nicht verstehen, mitlesen, interpretieren, verbessern, begründen, hinterfragen. Sie hören. Und sie urteilen nicht objektiv nachvollziehbar, sondern rein subjektiv, ohne jedweden Anspruch darauf, daß das, was sie sagen, für andere als sie selbst irgendeine Art von Gültigkeit besitzt.


    Ich weiß nicht, warum ich die Musik von Bach mag. Oder von Händel. Oder Tallis, Rheinberger, Pärt, Glass, Liszt, Fauré, Piazzolla, Keith Jarrett, Pink Floyd....


    Und die von Wagner nicht. Oder Haydn.


    Ich zelebriere keine Anachronismen, mir ist egal, wie alt die Musik ist, es macht mir nichts, wenn sie auf anderen Instrumenten gespielt wird als ursprünglich vorgesehen, ich freue mich über interessante Transkriptionen oder darüber, wenn klassische Themen unvermutet im Pop oder sogar im Rap auftauchen, manchmal gefällt mir sogar zeitgenössische Schräg-E-Musik, insbesondere für a-capella Chöre, die menschliche Stimme kann da viele scheinbare Defizite überbrücken. Schönberg konnte ich allerdings in keinem bisher gehörten Fall applaudieren, die Qualität ist für mich unhörbar, und daß die Musik jemand spielt, der eine lange und sorgfältige Ausbildung hinter sich hat, ist leider komplett irrelevant.


    Zitat Glockenton
    "Warum höre ich die Musik als alten Zeiten?
    Meine Antwort: Weil sie so schön, so gut, so bewegend, so menschlich ist."


    So ist es. Ob sie theoretisch "gut" ist, interessiert nicht.


    Der eigentliche Wert Deines Beitrags liegt für mich allerdings hier:
    Zitat Glockenton
    "Immer da, wo es wirkliche Kunst gibt, gibt es auch Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen schafft der Künstler mitunter ein grosses Kunstwerk.
    In der totalen Grenzenlosigkeit gibt es keine Kunst und deswegen hat das dann auch nichts mit der Freiheit derselben zu tun."


    Genau das ist jedenfalls mein Dilemma. Ich akzeptiere, daß es keine Grenzenlosigkeit geben kann. Aber ich kenne die Grenzen nicht. Ich kann keine Prognose abgeben, ob ich eine Musik, die ich bisher noch nicht gehört habe, mögen werde oder nicht. Eine "Diskriminanz-Funktion" wäre instabil und die Ergebnisse nicht signifikant.


    Ich weiß nicht einmal, ob es fixe Grenzen sind, oder ob sie sich mit der Zeit und der Erfahrung verschieben, manchmal meine ich, ich hätte jetzt ein größeres Spektrum von Musik, das ich mag, dann aber kommt immer wieder die viel stärkere Erkenntnis, daß ich die meisten Stücke, die ich früher schon nicht mochte, heute immer noch nicht mag.


    Deine andere "Baustelle" kann ich allerdings nicht so ohne weiteres nachvollziehen.
    Daß die von uns bevorzugte Kunst Kunst vergangener Zeit ist, ist jedenfalls kein Makel per se. Die heutige Literatur tut sich auch schwer, Schiller oder Shakespeare vergessen zu machen, heutige bildende Künstler werden sich in der Regel nicht mit Renoir, Rodin oder van Gogh messen können oder gar Michelangelo und da Vinci. Warum sollten wir in der Jetztzeit auf die Kunstwerke fixiert sein, die heute entstehen? Da hast Du, lieber Glockenton, aus meiner Sicht eine viel zu scharfe und künstliche Abgrenzung zwischen "heute" und "früher" aufgebaut, die eigentlich gar nicht notwendig ist. Und die Begründung, warum man trotzdem "alte" Musik hören sollte, hast Du ja, wie oben zitiert, auch bereits selbst gegeben. Dennoch kommst Du auf den scheinbaren Gegensatz immer wieder zurück (Anachronismus) und baust ein Problem auf, daß aus meiner Sicht gar keines ist.


    Wir sollten eigentlich lieber weiter über Grenzen und ihre Erkennbarkeit diskutieren.

  • Und die Begründung, warum man trotzdem "alte" Musik hören sollte, hast Du ja, wie oben zitiert, auch bereits selbst gegeben. Dennoch kommst Du auf den scheinbaren Gegensatz immer wieder zurück (Anachronismus) und baust ein Problem auf, daß aus meiner Sicht gar keines ist.

    Hallo m-mueller,


    dass ich darauf zurückgekommen bin, stimmt. Vielleicht habe ich mich aber zu unklar ausgedrückt, denn ich habe den Eindruck, dass Du da etwas aus meinen Worten nicht so verstanden hast, wie ich es meinte. Es stimmt nämlich gerade nicht, dass ich da künstlich ein Problem aufbaue.
    Im Gegenteil: Ich beschreibe einfach nur die Situation aus meine Sicht und stelle dann die Frage zur Diskussion, ob diejenigen, die die Interpretation der klassischen Musik ständig eingreifend erneuert sehen wollen (neue CDs bekannter Werke müssen ganz neu und anders klingen, sonst sind sie "überflüssig", den interpretatorischen Ballast der "grossen Alten" möglichst abwerfen, usw.) nicht eigentlich darunter mehr oder weniger bewusst leiden, dass das klassische Repertoire nun einmal immer dasselbe ist und bleiben wird.


    Bach, Mozart, Beethoven, Schubert.....usw....sie weilen ja bekanntlich nicht mehr unter uns, weshalb im nächsten Oktober höchstens eine neue Mozartinterpretation herauskommen wird, aber eben nicht "die neueste Symphonie von Mozart".
    Und meine nächste Frage ist ja unter anderem, ob wir es brauchen, das die musikalischen Kunstwerke der vergangenen Epochen immer wieder "ganz neu" bis "radikal neu" interpretiert werden müssen, weil die Kunst sonst museal würde und stürbe.


    Mein Vorschlag einer Antwort ist:
    "Immer wieder neu" selbstverständlich ja, weil bei jedem künstlerischen Menschen, der sich mit einem Musikstück beschäftigt, immer etwas Individuelles herauskommen darf und soll;
    "Infragestellung von Aufführungstraditionen" (im Sinne von HIP) durchaus ja, aber etwas in Frage zu stellen, heisst ja nicht, dass immer ein kategorisches "Nein" zu dem, "wie man es früher machte", als Ergebnis des neuen Zugangs herauskommen muss.
    "Einem Kunstwerk Gewalt antun": Immer nein.
    Edwin Fischer soll seinem Schüler Brendel den Satz " Belebe die Werke, ohne ihnen Gewalt anzutun" (frei zitiert) mit auf den Weg gegeben haben, den ich unterstütze.


    Durch das Prinzip der ausnahmslosen Infragestellung hat Harnoncourt verdienstvoll zu einem Paradigmenwechsel in der Interpretation der Alten Musik beigetragen, gerade auch im Bereich der Barockmusik.
    Wenn man ihm jedoch genauer zuhört, dann stellt man fest, dass er damit nie meinte, die Interpretationsleistungen der vorhergehenden Generationen gänzlich auf den Müllhaufen der Interpretationsgeschichte zu werfen.
    Für seine Beethoveninterpretationen der Symphonien hat er in einem Interview einmal als Vorbilder die Dirigenten Furtwängler und den jungen Karajan(!) angegeben, obwohl das ja Musiker einer Generation waren, die das "Warum" ihrer Interpretationen nicht zu begründen pflegten. Das hat etwas mit den Generationen zu tun, aber damit, dass sich eine musikalische Interpretationen auch immer selbst erklären kann und muss.


    Es mag sein, dass mein Gedankengang in Bezug auf Komposition und Interpretation" Für Neues offen sein, aber auf Vergangenem aufbauen und es bewahren" sich konservativ anhört, und das ist er wohl auch, wobei ja die Beschäftigung mit der Klassik an sich schon auch eine konservative Handlung (siehe oben) ist.
    Ich finde aber, dass ich als Musiker und Hörer damit künstlerisch gesehen gut, interessant, spannend und bereichert leben kann.


    Das auch meiner Meinung nach interessante Thema, ob Kunst nur innerhalb definierter Grenzen und nicht in völliger Grenzenlosigkeit existieren könne, sollte ggf. in einem eigenen dafür einzurichtenden Thread diskutiert werden.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)