Alex Ross in Bayreuth 2011

  • Alex Ross ist der kundige Musikkritiker des New Yorker; sein Buch "The Rest Is Noise" wird hier im Forum auch besprochen. In der aktuellen Nummer des "New Yorker" gibt er einen Bericht über seinen diesjährigen Bayreuth - Besuch. Ich finde, dass so eine Sicht von außen uns immer gut tut, vor allem, wo Alex Ross weder ein traditioneller Kritiker noch ein Anhänger des Regisseurstheaters ist. Ich gebe einfach mal einige seiner Einschätzungen wieder, wobei ich der Einfachheit halber (fast) alles gleich übersetzt habe.


    Er blickt zurück auf den Schlingensief - "Parsifal" 2004. Dies findet er die "unfokussierteste, chaotischste Inszenierung einer Oper, die ich je gesehen habe".


    Das setting des Tannhäusers habe er nicht begriffen, genausowenig, wie er schreibt, eine ganze Reihe von deutschen Liebhabern moderner Inszenierungen. Das komme eben dabei herum, wenn man eine Oper in eine schon bestehende Kunstinstallation einbaue. Ich glaube, hier sieht er einen wichtigen Punkt, den ich auch immer als Maßstab nehme: passt sich die Inszenierung dem Stück an oder liegt vorher schon ein Prokrustesbett vor, in das die Oper dann gezwängt wird. Musikalisch ist sein Urteil vernichtend: "This production fell below Bayreuth standards!" Orchester, Chor und Dirigenten nimmt er dabei aus.


    Im Verlauf der Besprechung kommt dann ein Satz, den ich als Schlüsselsatz zur Kritik einer Operninszenierung überhaupt empfinde und den ich als Kriterium sehr geeignet finde. Viele Verfechter hier im Forum des Regisseurstheaters wie Wolfram oder Amfortas fordern von uns ja immer genaue Kriterien der Ablehnung. BITTE SEHR! Most problematic, Wagner´s music becomes an ironic soundtrack rather than the source of the drama!" Das ist es: ist die Musik lediglich der soundtrack zu den Ideen des Regisseurs oder gibt sie die Richtung an.


    Der "Lohengrin" von Hans Neuenfels kommt bei ihm erstaunlicherweise gut weg - Neuenfels "befreit die Oper vom Kitsch und wendet sie in ein Märchen zwischen den brüdern Grimm und Kafka." Besonders lobt er Klaus Florian Vogt, gerade wegen seines mehr lyrischen Lohengrin ("a dreamlike performance") und den Dirigenten Andris Nelsons.


    Der Schlusssatz: "Great Wagner performances such as this give the sensation of looking down at the world from a sadly omniscient height, like an empathic scientist observing rats in a cage."

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • s

    Zitat

    Der "Lohengrin" von Hans Neuenfels kommt bei ihm erstaunlicherweise gut weg - Neuenfels "befreit die Oper vom Kitsch und wendet sie in ein Märchen zwischen den brüdern Grimm und Kafka." Besonders lobt er Klaus Florian Vogt, gerade wegen seines mehr lyrischen Lohengrin ("a dreamlike performance") und den Dirigenten Andris Nelsons.

    Was für Alex Ross spricht..
    :hello:

  • Lieber Dr. Pingel,


    ganz herzlichen Dank für Deinen sehr lesenswerten Beitrag!


    Viele Verfechter hier im Forum des Regisseurstheaters wie Wolfram oder Amfortas


    Es ist vermutlich hoffnungslos, es zum x-ten Mal zu wiederholen, aber sei's drum: Ich bin kein Verfechter des Regietheaters. Ich bin Verfechter guten Theaters, sei es konventionell oder auf neuen Wegen.


    Das ist es: ist die Musik lediglich der soundtrack zu den Ideen des Regisseurs oder gibt sie die Richtung an.


    Diesem Kriterium kann ich mich anschließen! Ich möchte nur vorsichtig zu bedenken geben, dass es außer der Musik ja noch so etwas wie eine Handlung gibt (und sei sie so abstrus wie im Troubadour oder in der Macht des Schicksals oder in der Zauberflöte) - und in manchen Fällen konterkariert die Musik ja sogar die Handlung. Ich meine, zumindest in diesen Fällen sollte die Musik nicht unbedingt der einzige Richtungsweiser sein. Aber grundsätzlich stimme ich zu!


    Der "Lohengrin" von Hans Neuenfels kommt bei ihm erstaunlicherweise gut weg


    Na, das ist doch mal was Nettes!

  • Lieber Wolfram, danke für deine Antwort. Ich habe sie mir mal ausgedruckt, weil wir da in allem (auch, was deine anderen Einwände betrifft, die ich sehr bedenkenswert finde) so ziemlich auf einer Linie sind.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Most problematic, Wagner´s music becomes an ironic soundtrack rather than the source of the drama!"


    Das ist, wenn überhaupt, ein abgewandeltes Adornozitat, lange vor dem Regietheater angewendet auf Richard Strauss und die "Frau ohne Schatten", deren Partitur den Musikphilosophen über weite Strecken an die illustrative Begleitmusik der Kinodramen erinnerte.


    Man sieht, daß die polemische Spitze auch nach hinten losgehen kann. Die Schilderung der Münchner "Walküre" in Thomas Manns "Wälsungenblut"-Novelle macht es umgekehrt und trennt die Musik von der (historisch korrekten) Szene, als sei diese eine Art plump-degoûtanter Begleithandlung, die mit der dekadenten Hocherotik der Musik nicht das geringste zu tun hätte:


    Hunding kam, bauchig und x-beinig wie ein Kuh.


    "The source of the drama" ist eine sehr gute, aber eben auch vieldeutige Formel für die Funktion der Musik. Partitur und Szene zu trennen oder, je nachdem, zu verschmelzen, liegt offenbar ebensosehr im Auge des Betrachters als in dem begründet, was die Regie anrichtet. Angesichts der Diagnose, beides passe nicht zusammen, kommt es mir sehr billig vor, zu behaupten, ohne eine solche Regie hätte alles zueinander gestimmt.


    Der Schenk-Ring der MET etwa, den Knusperhexe via youtube empfiehlt, empfinde ich ("Selige Öde auf wonniger Höh`") wie eine Verballhornung des konventionellen Theaters, an ironic stage setting rather than an enfolding area of poetry.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!