Kritik sagt oft mehr.........

  • ...über den Kritiker oder den Zeitgeist aus, als über die Interpretation.


    Angeregt wurde ich zu diesem Thread, als ich die verschiedenen Kritiken über Sudbin las, die ja recht unterschiedlich ausfielen.
    Aber auch Karajan und Böhm bieten hier genügend Ansatzpunkte, ebenso die neulich erwähnte Elisabeth Schwarzkopf, die alle drei zu Lebzeiten als sakrosankt galten, nach ihrem Ableben aber von diversen feindlich gesinnten Kritikern "zerzaust" wurden.
    Man hat einfach menschliche und politische Aspekte in das Gesamtbild einfliessen lassen - und sie auf die Interpretationen übertragen. Das ist meines Erachtens ein Fehler - und hat in Kritiken nichts zu suchen.


    Aber es gibt auch andere Gründe warum Kritiken unterschiedlich ausfallen können. Zunächst wäre da einmal das Alter des Kritikers und inwieweit er mit Interpretationen der Vergangenheit vertraut ist, sei das aus persönlichem Erleben, sei es durch Tonaufnahmen. Man kann nun einwenden, auch junge Kritiker wären in der Lage sich über Interpretationen der Vergangenheit an Hand von Tonaufzeichnungen ein Bild zu machen.
    Das stimmt einerseits - andrerseits aber nur bedingt. Können wir uns beispielsweise ein Bild von der Aussrahlung eines Enrico Caruso machen ? Ich glaube nicht - uder allenfall in Ansätzen. Vielleicht ist Caruso ein schlechtes Beispiel - Wie stehts mit Callas ?
    Und hinterlässt die Tonaufzeichnung eines Dirigenten, den man live erlebt hat nicht unvergleichlich mehr Eindruck, als eine Studioaufnahme eines Maestro der Vergangenheit? Diese Frage werden vermutlich verschiedene Generationen unterschiedlich beurteilen. Zudem kommt, daß der Rhythmus der Zeit wechselt, heute wird von vielen Werken mehr Aggressivität verlangt als vor 50 oder 100 Jahren, kontemplative Interpretationen werden oft als langweilig abgetan.
    Es konnte auch - schon in meiner Jugend - nie Eingkeit darüber erzielt werde, ob ein sinfonisches Werk analytisch durchsichtig, unter Hervorhebung jedes Einzelinstruments, bzw jeder Instrumentengruppe aufgenommen werden sollte - oder ob diese Perspektive allen dem Dirigenten und seinem Orchester vorbehalten sein sollte , während dem Hörer ein Mischklang (wie in den hinteren Reihen eines Konzertsaals) angeboten wird.
    Es gibt Kritiker, die ihre Kritiken unter Zuhilfenahme einer Partitur schreiben, bzw begründen - andere verlassen sich hingegen auf den sie erreichenden subjektiven Klangeindruck - und geben den wieder.
    Schon weiter oben habe ich vorsichtig die Frage angerissen, inwieweit die Kenntnis vergangener Interpretationen einen Einfluss auf heutige Kritiken ausübt - und ich würde hier sagen: einen gewaltigen.
    Es ergibt sich nun die weitere Frage - inwieweit das Fehlen von Kenntnissen über Interpreten der Vergangenheit ein Manko darstellt. Natürlich tut es das, aber andrerseits verhindern allzu umfangreiches Festkleben an alten Interpretationen den Blick auf die Gegenwart. Viele jüngere Kritiker scheinen deshalb lediglich Vergleichsaufnahmen aus unserer Zeit abzuhören. Dieser Ansatz ist nicht unbedingt ein Fehler, führt aber meines Erachtens dazu, daß ältere Musikfreunde mit deren Kritiken nichts anfangen können. Mit anderen Worten: Nicht nur der Interpret spricht eine bestimmte Zielgruppe an - auch der Kritiker tut es.
    Ich lese daher Kritiken stets mit Vorbehalt - nutze sie nicht als Kaufentscheidung - sondern geniesse den Blick aus anderer Sicht auf ein Werk - oder freue mich, wenn Übereinstimmung herrscht.
    Kritik - wie ich sie sehe - sollte eher die Stimmung beschreiben, die eine bestimmte Aufführung/Aufzeichnung/Interpretation beim Rezensenten hervorgerufen hat, als eine qualitative Bewertung..


    ...von Ausnahmen und Extremfällen mal abgesehen


    mfg aus Wien


    Alfred


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es gibt Kritiker, die ihre Kritiken unter Zuhilfenahme einer Partitur schreiben, bzw begründen - andere verlassen sich hingegen auf den sie erreichenden subjektiven Klangeindruck - und geben den wieder.

    Das mag ja sein, aber wenn ein Kritiker ein Konzert mit Carlos Kleiber rezensiert hat, was will er da mit seiner Partitur. Hatte er eine Kopie der von Carlos Kleiber? Wenn nicht, konnte die Aufführung doch mit seiner Partitur nicht übereinstimmen. Bei anderen Dirigenten war das sicherlich ähnlich. Demnach müsste eine solche Kritik ja schon objektiv negativ ausfallen, oder etwa nicht?


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Kritik - wie ich sie sehe - sollte eher die Stimmung beschreiben, die eine bestimmte Aufführung/Aufzeichnung/Interpretation beim Rezensenten hervorgerufen hat, als eine qualitative Bewertung..


    Ein Kritiker muss mit der Partitur und seinem subjektivem Hörempfinden umgehen können. Nur: Wer schafft das?


    Die Analyse eines Kritikers ist auch nur eine Beurteilung eines Menschen, obwohl einige Kritiker auch auf einen Olymp gehoben werden.





    Das mag ja sein, aber wenn ein Kritiker ein Konzert mit Carlos Kleiber rezensiert hat, was will er da mit seiner Partitur. Hatte er eine Kopie der von Carlos Kleiber? Wenn nicht, konnte die Aufführung doch mit seiner Partitur nicht übereinstimmen. Bei anderen Dirigenten war das sicherlich ähnlich. Demnach müsste eine solche Kritik ja schon objektiv negativ ausfallen, oder etwa nicht?


    Das ist ja genau die Mischung aus Objektiv und Subjektiv die ein Kritiker beherrschen muss. Wenn z.B. Herr Kaiser sagt, das der heute gespielte Beethoven ihm nicht pathetisch genug interpretiert wird, so sagt das höchstens aus, das er durch pathetische Interpretationen geprägt wurde und das diese ihm gefallen.


    Soll ich ihm jetzt einen Vorwurf daraus machen?


    Auf gar keinen Fall. Aber ich kann seine Kritiken durch eine solche Aussage besser verstehen.
    Es gilt Kritiken aufmerksam zu verfolgen und Aussagen zu überprüfen.


    Viele Grüße Thomas

  • Kritiken verantwortlich und mit dem notwendigen Respekt vor dem Werk, den Ausführenden ihren Leistungen zu schreiben, setzt bei dem Kritiker Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten voraus. Er sollte Musik generell und das Werk über das berichtet wird im besonderen kennen. Diese musikalischen Kenntnisse können durch Studium, Ausbildung aber auch durch häufige, analytisch ausgewertete Hörerlebnisse erworben werden. Auch sprachlich sollte er mit Nieveau aber doch allgemein verständlich formulieren können. Musikhistorisches Wissen ermöglicht eine Einordnung in größere Zusammenhänge, Epochen und Stilrichtungen.
    Nun kann ich nur noch die eigene Vorgehensweise bei Abfassung einer Rezension subjektiv darstellen. Ich schaue mir doch die Partitur oder den Klavierauszug an. Berward Gerlach bezweifelt, dass das Partiturstudium wesentliche Erkenntnisse zur Interpretation eines bestimmten Dirigenten bringt.
    Für mich liegt der Gewinn gerade darin festzustellen welche Stellen dieser Dirigent besonders herausarbeitet, wo individuelle Interpretationsansätze zu erkennen sind, wie z. B Tempi gestaltet werden und wo eventuell gestalterisch von der Partitur abgegangen wird. Also was macht Carlos Kleiber anders als z. B. Karajan oder Solti? Deshalb höre ich auch gerne vergleichend Aufnahmebeispiele verschiedener Dirigenten an. Dabei muss man m. E. auf dem Teppich bleiben und höllisch aufpassen, dass die Maßstäbe nicht verschoben werden und ein Provinzorchester oder -chor mit Spitzenaufnahmen der höchsten Klasse verglichen wird.
    Nach diesen Vorbereitungen kommt das entscheidene Hörerlebnis bei der Aufführung. Hier nehme ich die Partitur nicht mehr zur Hand, konzentriere mich voll auf das aktuelle Geschehen und mache nur wenige für mich allerdings wichtige Notizen. Nach der Aufführung versuche ich wenn irgend möglich, noch ein kurzes Gespräch mit dem Dirigenten und Solisten zu führen. Wie war die Grundauffassung und warum wurde an bestimmten Stellen die mich jetzt interessieren so und nicht anders musiziert? Nun habe ich das große Glück, eine kenntnisreiche Frau zu haben. Nach dem Konzert ist
    intensive Diskussion angesagt.. Dann versuche ich möglichst rasch einen Entwurf zu skizzieren, der dann nach noch ausgefeilt wird. Wohl wissend und befürchtend, dass die Redaktion trotz versuchter Einhaltung der Zeilenvorgabe noch streichen wird. Übrigens reich wird man mit dem Zeilenhonorar auch nicht, deshalb gehört, wenn Du kein Starkritiker bist, eine gehörige Portion Idealismus dazu.
    Jegliche Kritik ist eine subjektive Bewertung, in die Persönlichkeiteigenschaften, Einstellungen, Auffassungen und Grundwerte des Rezensenten zwangsläufig einfließen.
    Meine Grundeinstellung ist, dass eine Kritik bei aller Verpflichtung objektiv zu bewerten und auch Schwächen aufzuzeigen grundsätzlich einen konstruktiven, aufbauenden Tenor haben sollte. Hüten sollte sich der Schreibende auch vor allen Tendenzen der Selbstdarstellung oder Herausstellung seiner überlegenen Sachkenntnisse, also Vorsicht vor Kritikernarzißmus!
    Ich habe nun einen Ideallablauf aus meiner Sicht dargestellt. In der Praxis ist dieses gründliche Vorgehen oft nicht möglich. Häufig kommt der Anruf der Redaktion sehr kurzfristig unter dem Motto:"Kannst Du uns heute Abend helfen"? Dann bleibt einem nur noch die Abfassung rein nach Höreindruck. Halt wie so oft der Konflikt zwischen Theorie und Praxis oder Wollen und Können.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Kritik sagt of mehr über den Kritiker oder den Zeitgeist aus, als über die Interpretation.


    Dass eine Kritik etwas über den Kritiker aussagt, ist eine Binsenweisheit. Aber so hat es Alfred ja auch nicht formuliert. Seine These ist: Eine Kritik sagt oft mehr über den Kritiker aus als über die Interpretation. Das ist stark und wäre mit Beispielen zu belegen. Mein erster Gedanke beim Lesen: Wenn das so ist, dann ist etwas falsch gelaufen beim Erstellen der Kritik.


    Es ist gut, wenn anhand der Kritik klar wird, wie das Koordinatensystem der Werte des Kritikers aussieht. Dann kann ich als Leser diese Kritik einordnen. Lese ich z. B. in einer Kritik einer Aufnahme von Mozart-Sinfonien den Satz „ … ist meilenweit von der Klangschönheit entfernt, die Böhm oder Karajan diesen Werken entlockte.“, dann kann ich mir ungefähr denken, welchem Geist er entsprungen sein mag.


    Im Ursprung – Rückversicherung bei Wikipedia – kommt „Kritik“ von „krínein“ = „[unter-]scheiden, trennen“. Wichtig ist mir in diesem Artikel der Satz „Kritik bezeichnet [ … ] eine prüfende Beurteilung nach begründeten Kritierien, die mit der Abwägung von Wert und Unwert einer Sache einhergeht.“


    Darum möchte ich dem Satz


    Kritik - wie ich sie sehe - sollte eher die Stimmung beschreiben, die eine bestimmte Aufführung/Aufzeichnung/Interpretation beim Rezensenten hervorgerufen hat, als eine qualitative Bewertung..


    deutlich widersprechen. Da fehlen die "begründeten Kriterien", es bleibt eine bloße Gefühligkeit. Was, wenn ein Kulturjournalist bei der Besprechung des Kataloges einer kunsthistorischen Ausstellung beschriebe, welche Gefühle dieser Katalog bei ihm hervorgerufen haben mag?


    Ich finde es gut, wenn eine Kritik bei objektiven Gegebenheiten beginnt: Besetzungsgröße, Tempowahl, Intonation, technische Bewältigung. Natürlich ist es dann notwendig, zu Werturteilen zu kommen. Wichtig ist aber auch, dass Konzept bzw. das Ideal hinter der Interpretation zu erkennen und zu beschreiben und bei der Wertung zu unterscheiden zwischen der Angemessenheit des Konzeptes (ist es richtig, Mozart mit einem Wagner-Orchester zu spielen?) und der Umsetzung des Konzeptes zu unterscheiden.


    Es macht schon einen Unterschied, ob einer schreibt:


    „Das Alban-Berg-Quartett spielt Mozart so, als ob es die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis nicht gäbe. Quasi als Hohepriester längst vergangener Musizierideale spielen sie …“


    Oder:


    „Das Alban-Berg-Quartett spielt Mozart aus der Sicht von Beethoven. Ist man bereit, sich auf diesen Zugang einzulassen, stellt man fest, wie prächtig dies gelungen ist: …“


    Die zweite Lösung lässt dem Kritiker genug Distanz, um erkennen zu geben, dass der ABQ-Zugang eventueller nicht sein eigener wäre, dennoch lässt er die Offenheit, das Positive daran hervorheben zu können.


    Ansonsten stimme ich Operus völlig zu in dem Punkt, dass man das Werk selbstverständlich kennen sollte! Sonst kann ich gar nicht sagen, ob bestimmte Besonderheiten auf Eigenwilligkeiten des Dirigenten oder des Komponisten zurück zu führen sein mögen. – Bei der Kritik von Uraufführungen ergeben sich natürlich andere Probleme, hier steht aber eher das Werk im Fokus der Besprechung als die Interpretation.


    Sofern man nicht fünfzig Jahre alte Aufnahmen bespricht und damit zu rechnen ist, dass die Interpreten die Kritik lesen, sollte sie immer ein konstruktives Element beinhalten, das den Interpreten potenziell weiterhelfen könnte – wenn sie es annehmen bzw. nachvollziehen.


    Zum Abschluss eine Reger-Anekdote:


    Max Reger schrieb dem Verfasser einer abfälligen Kritik: “Ich sitze auf dem kleinsten Orte meines Hauses und habe Ihre Kritik vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben! Hochachtungsvoll Ihr Max Reger“

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  • Berward Gerlach bezweifelt, dass das Partiturstudium wesentliche Erkenntnisse zur Interpretation eines bestimmten Dirigenten bringt.

    Hallo operus,


    jetzt hast du mich aber völlig missverstanden. Kleiber hat in der Partitur soviel verändert, auch noch in der seines Vaters, dass diese Fassung mit der des Kritikers nicht mehr übereinstimmte und von daher muss der Rezensent objektiv zu einem anderen Ergebnis kommen, es sei denn, er hat die Kleiber-Kopie. Und wer hatte die schon außer den Musikern, die die Veränderungen morgens früh auf ihrem Pult hatten und stöhnten, er hat wieder Schularbeiten gemacht.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Zitat

    Lese ich z. B. in einer Kritik einer Aufnahme von Mozart-Sinfonien den Satz „ … ist meilenweit von der Klangschönheit entfernt, die Böhm oder Karajan diesen Werken entlockte.“, dann kann ich mir ungefähr denken, welchem Geist er entsprungen sein mag.

    Ich hab immer wieder das Gefühl, daß "Klangschönheit" für deutsche Hörer ein Reizwort darstellt, und daß "konservativ" auf sie abstossend wirkt. Mit ist das schon vor Jahrzehnten aufgefallen, weswegen ich seit vielen Jahren meine Beiträge mit "..aus Wien" signiere. Tatsächjlich ist es ja so, daß Wiener Kritiker und Wiener Publikum (ohne es verallgemeinern zu wollen) andere Wertvorstellungen und andere ästetische Vorstellungen haben als das deutsche Publikum. Es ist hier in Wien beispielsweise eingermaßen schwierig Aufnahmen unter Gielen, Norrington oder Dausgaard zu bekommen. Auch Günter Wand wird man nur gelegentlich finden.
    Was ich jetzt schreibe, liest sich vermutlich wie eine gehässige Replik auf Wolframs oben zitiertes Statement - ist es aber nicht. Den folgenden Satz habe (zitiert aus dem Gedächtnis) ich sinngemäss schon vor Jahren gesagt:
    Wenn ich in einer deutschen Kritik etwa folgendes lese:


    "Unerbittlich legt XY die Struktur des Werkes frei, fegt den modrigen Staub von der Partitur und eröffnet so eine völlig neue Sichtweise auf das Werk, die auch vor Brüchen und Spröden Stellen nicht zurückschreckt.... empfehlenswert - ein Muß"


    dann bin ich solch einer Aufnahme stets in weitem Bogen ausgewichen..... :P


    Wie man sieht - Es ist alles nur eine Sache des Standpunkts.


    mit freundlichen Grüssen aus Wien


    Alfred


    PS: Englische Kritiker sind den österreichischen übrigens näher, als - wie man erwarten sollte - die deutschen.....

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Alfred:

    Solche und ähnliche Sätze, lieber Alfred, habe ich auch schon oft gelesen, vor allem wenn solche "verkaufsfördernden" Kritiker Werke rezensierten, deren Protagonisten nach der Historischen Aufführungspraxis oder der historisch informierten Aufführungspraxis verfuhren. Das ist natürlich völliger Quatsch, dann hätten ja alle Interpreten, die das Stück vorher gespielt, gesungen oder dirigiert hätten, völlig daneben gelegen. Ich glaube, solchen Unsinn erkennt man auch in Deutschland. Und wenn ein solcher Kritiker dann mal konsequent wäre, müsste er ja seinen eigenen Plattenschrank nach einer solchen Kriitk zu 90% entrümpeln.
    Gut, dass wir einen solchen Unsinn nicht glauben, nicht wahr, Alfred?


    Liebe Grüße


    Willi :D

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich hab immer wieder das Gefühl, daß "Klangschönheit" für deutsche Hörer ein Reizwort darstellt, und daß "konservativ" auf sie abstossend wirkt.


    Natürlich kann ich nicht für "deutsche Hörer" im allgemeinen sprechen. Aber da dieser Satz als Antwort auf meinen Beitrag geschrieben wurde, entgegne ich wie folgt:


    Mitnichten stellt Klangschönheit ein Reizwort dar. Nur sagt dieses Wort halt recht wenig aus. Ein Gregorianischer Choral kann ebenso "klangschön" vorgetragen werden wie ein Werk von Arvo Pärt. Die Frage ist doch: Stimmt es mit den Intentionen des Komponisten überein, das fragliche Werk (ich übertreibe: ) mit dem Fokus auf maximaler Klangschönheit zu spielen? Das mag für den langsamen Satz von Beethovens 9. Sinfonie (zumindest stellenweise) angemessen sein. Doch beim Schlusssatz der Appassionata, beim Streichquartett op. 95, ja sogar im Kopfsatz der 5. Sinfonie wäre ich mir nicht sicher, ob es nicht wichtigere Parameter gäbe. - Celibidache hat wahre Klangwunder vollbracht, bei Débussy, Ravel, auch bei Bruckner, Respighi u. v. a. m. Toll! Da schätze ich die Klangschönheit sehr.


    "Unerbittlich legt XY die Struktur des Werkes frei, fegt den modrigen Staub von der Partitur und eröffnet so eine völlig neue Sichtweise auf das Werk, die auch vor Brüchen und Spröden Stellen nicht zurückschreckt.... empfehlenswert - ein Muß"


    Das ist natürlich völliger Quatsch, dann hätten ja alle Interpreten, die das Stück vorher gespielt, gesungen oder dirigiert hätten, völlig daneben gelegen.


    Ich höre hier Schwarz-Weiß-Malerei heraus, die an der Sache vorbei geht. Im (erfundenen, aber gut erfundenen) Satz von Alfred sagt der Kritiker ja nicht, dass alle anderen vorher falsch interpretiert hatten. Er sagt nur, dass durch die fragliche Interpretation andere Aspekte die Werkes wahrnehmbar werden, die früher nicht so recht zur Geltung kamen. -


    Ähnliches stelle ich z. B. beim Beethovenschen Violinkonzert fest, das von Menuhin und Furtwängler sicher wunderbar wiedergegeben wurde - doch mit Zehetmair und Frans Brüggen habe ich andere Aspekte die Werkes wahrgenommen und musste feststellen: Menuhin und Furtwängler bieten eine Sichtweise auf das Werk, die in sich vollkommen wirkt. Doch beim Hören der anderen Interpretation merkt man: Einige Aspekte dieser Musik werden bei Furtwängler und Menuhin verschwiegen. Und umgekehrt! Die beiden Einspielungen bereichern einander, ich möchte beides nicht missen.


    Was mich stört, ist wenn Musik nur noch aus kulinarischen Gründen gehört wird. Als Verhübschung des Alltags. Das wäre aus meiner Sicht einer Degradierung. Aber es wird immer mehr off topic ...


  • Ich empfehle mal, diese beiden Beethoven-Violinkonzerte anzuhören, einmal mit Walter und einmal mit Mitropolus.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Zitat

    Wolfram:
    Im erfundenen (aber gut erfundenen Satz von Alfred sagt der Kritiker ja nicht, dass vorher alle anderen falsch interpretiert hatten. Er sagt nur, dass durch die fragliche Interpretation andere Aspekte des Werkes wahrnehmbar werden, die früher nicht so recht zur Geltung kamen.

    Gut, lieber Wolfram, er sagt vielleicht nicht expressis verbis, dass alle anderen vorher falsch interpretiert haben, aber er meint, dass eben die (meisten) anderen Interpreten die Struktur des Werkes nicht (so) freigelegt haben, im Gegenteil, dass sie das Werk mit modrigem Interpretationsstaub belegt haben- denn wo Staub drauf liegt, kann man die Struktur nicht erkennen. Und er sagt nicht, dass die nun neu sichtbaren Aspekte "nicht so recht" zur Geltung kamen, sondern sie kamen gar nicht zur Geltung bzw. zum Vorschein, denn sie sind ja "völlig neu".
    Im übrigen hat Alfred den Satz nicht erfunden, sondern er und du und ich und viele andere haben den Satz schon häufig, teilweise beinahe wörtlich, auf jeden Fall aber inhaltlich so gelesen.

    Zitat

    Alfred: Ich habe immer wieder das Gefühl, dass "Klangschönheit" für deutsche Hörer ein Reizwort darstellt und dass konservativ auf sie abstoßend wirkt.

    Um noch mal auf dieses Zitat zurückzukommen, könnte ich mir denken, dass Alfred in Wirklichkeit die deutschen Kritiker meint, deren reichlich in diese Richtung gehenden Kritiken ich in den vergangenen Jahren vor allem über Interpretationen des "Großmeisters" des Schönklangs, Herbert von Karajan, zu Hauf gelesen habe, was mich aber nie gestört hat, mir trotzdem seine Aufnahmen zu kaufen, weil ich sehr wohl in seinen Interpretationen die Struktur des jeweiligen Werkes erkannt habe, und er in seinen Interpretationen, nehmen wir zum Beispiel nur mal Beethovens Fünfte, sehr wohl Schönklang und Tiefgang bzw. auch schroffe Stellen in Einklang(!) gebracht hat.
    Erst in letzter Zeit wird dies zunehmend wieder erkannt, wie auch hier in Postings der Taminos zu bemerken ist.


    Du sprichst weiter klangschöne Stellen bei Beethoven an und führst als Beispiel das Adagio aus der Neunten an. Bei Beethoven, aber auch bei Mozart, die ich als die "Großmeister" der Adagios bzw. Andantes ansehen möchte, kommen diese zum "Niederknien" schönen langsamen Sätze zu Hauf vor, in beinahe jeder Klaviersonate, in jedem Klavierkonzert, in vielen Sinfonien usw. Und gerade auch da kann man die Struktur bestens erkennen. Später setzt sich dies fort bei Schubert, teilweise bei Brahms, Bruckner und Mahler.
    Für mich begründen diese "schön" klingenden langsamen Sätze meine Liebe zur klassischen Musik beinahe noch mehr als die dramatischen Sätze, als furiose Brio- und Prestostücke.



    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    wir kommen vom Thema ab. Die Schönheit eines langsamen Satzes bei Mozart kann natürlich durch äußere Mittel wie Klangschönheit, Homogenität usw. usw. dargestellt werden.


    Die Musik hat aber auch eine innere Schönheit, die in ihrer rhetorischen Struktur mit begründet liegt. Wenn ich die rhetorische Gliederung dann mit Überlegato unkenntlich mache, geht diese Schönheit verloren.


    Es ist, als ob man einer intelligenten Frau das Reden verbietet und sie stattdessen schön schminkt. Daran kann man sich durchaus auch erfreuen - hat man enmal bemerkt, wie viel man auf diesem Wege verliert, so hat man das Schminken durchschaut und fühlt sich dadurch manipuliert, ja geradezu abgestoßen. Ich kann das von Euch dargestellte Kritikerverhalten sehr gut nachvollziehen.

  • Man soll hier ja nicht politisieren, ich tu's auch nicht, möchte nur etwas, was meiner Meinung nach hier unerlässlich ist, anmerken:

    Man hat einfach menschliche und politische Aspekte in das Gesamtbild einfliessen lassen - und sie auf die Interpretationen übertragen. Das ist meines Erachtens ein Fehler - und hat in Kritiken nichts zu suchen.


    Das ist aber genau der Punkt, der sozusagen die "Großwetterlage" einer ganzen Generation hinsichtlich dessen wie sie kritisieren und rezensieren will, permanent bestimmt. Diese außermusikalischen - auch zeitgeistigen - Einflüsse auf die Sichtweise, wie in einem bestimmten Abschnitt von Geschichte Kunstwerke gesehen werden wollen und gesehen werden sollen, sind meiner Meinung nach nicht auszuschalten.


    Die geistige Großwetterlage in der Bundesrepublik hat sich seit Ende der 60er Jahre so entwickelt, dass genau diese von Alfred so schön treffend erfundene - aber eigentlich doch wieder nicht erfundene, weil sehr reale - Kritikerzeile, in der der Staub von irgendetwas gefegt werden soll, maßgeblich etabliert.


    Dieses Denken, das die überlieferte europäische Hochkultur nach den grauenhaften historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und dem bürgerlichen Restaurationsmief der Nachkriegsära, in der angeblich alle Verbrechen hinter schönem Schein, also auch schönem Klang, verborgen bleiben sollten, ist absolut konstituierend für den seit den 70er Jahren in der Kunst- und Kulturkritik "wehenden" Wind, es ist - und da hat Alfred schon Recht, ein sehr deutsches Phänomen. (Nur nebenbei: dass die Österreicher dieses "Staub von den Dingen"-Schütteln nicht so ausgeprägt haben, war mir aber eh' klar - kleiner Scherz :D )


    Und in diesem Wind mussten beinahe zwangsläufig Karajan, Böhm etc. zu Vertretern dessen werden, was man lüften und entstauben wollte. Nicht von ungefähr blühte gerade in dieser Epoche das "Historische-Aufführungspraxis-Wesen" massiv auf (auf der Bühne das Regietheater). In den 80er Jahren gehörte es bei jüngeren Anhängern klassischer Musik geradezu zum guten Ton gegen den Stil Karajans zu wettern.


    Und entlang dieser Linien, geprägt durch außermusikalische "Großwetterlagen" bewegen sich auch die Diskussionen hier, wie man deutlich sieht

  • Gerne will ich auf Garagulys Beitrag antworten und ihn in der Grundauffassung unterstützen. Der Kritker lebt doch nicht abgeschottet von der Umwelt in einem Glashaus. Er ist hoffentlich interessierter, wachsamer, vielseitig orientierter Bürger, der sich mit Zeit- und Gesellschaftsströmungen auseinandersetzt ja setzen muss, wenn er halbwegs aktuell bleiben und schreiben will. Diese Einflüsse, die Einstellungen prägen, Meinungen bilden und Handlungen beeinflussen fließen selbstverständlich auch in eine Rezension ein, die beurteilende Auseinandersetzung mit einem Werk und dessen interpretatorischer Realisierung ist.
    Im sehr interessanten Thread "Die Krise in der Gesangskunst Tatsache oder Fiktion" formulieren die daran beteiligten Taminos gerade als eine Erkenntnis, dass jede Zeit ihren Gesangsstil, ihr gegenwärtiges Gesangsideal hat, das sich z. B. auch stark in der Art, wie Gesang gelehrt wird niederschlägt. Wenn dies bereits auf den Gesang zutrifft, der häufig nur ein Teilaspekt ist, um wie viel mehr muss sich der Zeitgeist auf die Beurteilung eines Gesamtkunstwerkes auswirken? Dies heißt natürlich nicht, dass der Kritiker der allgemeinen Meinung folgen muss, aber er muss sie kennen und berücksichtigen, um dann mit begründeten Argumente und Beispielen seine vom Mainstream abweichenden Ansichten und Schlussfolgerungen darzustellen.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Und in diesem Wind mussten beinahe zwangsläufig Karajan, Böhm etc. zu Vertretern dessen werden, was man lüften und entstauben wollte. Nicht von ungefähr blühte gerade in dieser Epoche das "Historische-Aufführungspraxis-Wesen" massiv auf (auf der Bühne das Regietheater). In den 80er Jahren gehörte es bei jüngeren Anhängern klassischer Musik geradezu zum guten Ton gegen den Stil Karajans zu wettern.


    Lieber Garaguly,


    nichts gegen die großartigen Interpretationen eines Furtwängler, Klemperer, Böhm, Karajan. Von jedem der genannten habe ich Schätze im CD-Regal, die ich nicht wieder hergeben würde. (Fu - Beethoven-Sinfonien, Schubert 9, Schumann 4, Brahms-Sinfonien, Tristan, ... Klemperer - Mozart-Sinfonien, Beethoven-Sinfonien, Holländer, Bruckner 6, Brahms-Sinfonien, Mahler 2., 4. ,9., ... Böhm - Jahreszeiten, Tristan, Elektra, FrOSch, Daphne, Vier letzte Lieder, ... Karajan - Beethoven 5 (1961), 9 (1977), Bruckner 4, Meistersinger (stereo), Brahms 2, Sibelius 4-7, Schönberg, Berg, Webern, Honegger 2.+3., Strauss, ... )


    Den vier Vorgenannten ist gemeinsam, dass sie etwa Musik von Richard Wagner mit einem Wagner-Orchester und Wagnerschen Klangvorstellungen spielen lassen - und wie gut! Das ist so in Ordnung.


    Leider lassen Sie auch Mozarts und Beethovens Musik mit einem Wagner-Orchester und Wagnerschen Klangvorstellungen spielen. Das kann überwältigend "schöne" Resultate hervorbringen, geht aber an der Musik leider vorbei. Es ist wie beim Regietheater: Statt Mozart so aufzuführen, wie es Mozart sich vorstellte, spielen sie ihn so, wie Wagner ihn sich vorgestellt hatte. Wie gesagt: Das kann zu überzeugenden Resultaten führen (wie etwa auch bei anderen Genies wie Konwitschny im Falle einer Inszenierung), muss aber nicht.


    Ein Beispiel: Wir alle kennen den "Schwan" aus dem Karneval der Tiere von Saint-Saens. Eine wunderschöne Melodie. Angenommen, ein Gambist würde diese Melodie spielen und so artikulieren, wie es den Regeln des Hochbarock entspricht (ich vereinfache - die Regeln im Hochbarock waren weder zeitlich noch räumlich einheitlich): Die ersten beiden Töne als Seufzer-Motiv (zweite Note leiser und stark verkürzt), die dritte als Auftakt (kurz), 4+5 wie 1+2, dann 6 wie 3, die Tonleiter nach der Pause gut artikuliert (etwa die ersten beiden Töne im Takt legato und den Rest kurz), ...


    ... er würde völlig nach den Regeln des Hochbarock spielen, aber diese Regeln auf den falschen Kontext anwenden. Wir würden diese Interpretation - und sei es Jordi Savall, der mit höchster Meisterschaft spielte - ablehnen. Zu Recht.


    Wenn nun Böhm und Karajan (und viele andere) Musik von Mozart mit den Mitteln der Wagner-Zeit - Dauerlegato, unendliche Melodie, Nichtbeachtung der rhetorischen Figuren u. v. a. m. - wiedergeben: Es ist dann nicht genauso legitim, diese Interpretation abzulehnen? Auch dann, wenn es sich bei Böhm sooooo schön und elegant anhört?


    Beethoven hat gesagt, Mozart hätte als Pianist ein "zerhacktes" Spiel gehabt. Sogar er (das "sogar" bezieht sich darauf, dass dies noch zu Mozarts Lebzeiten geschehen sein muss) bemerkte schon den Wandel von einer rhetorischen Musikauffassung zu einer emotionalen Musikauffassung: Während ein Komponist des 18. Jhd. quasi Sätze (Phrasen! Phrasierung!) mit den Mitteln der Rhetorik ausformuliert (Suspiratio, Exclamatio, ... ), trachtet ein Komponist des 19. Jhd. danach, eine Stimmung zu erzeugen (z. B. Vorspiel Lohengrin 1. Akt - von Mozart undenkbar). (Es gibt Ausnahmen ... ferner ist es nicht ganz so scharf in schwarz-weiß trennbar ... natürlich will auch ein barocker Komponist einen "Affekt" vermitteln - aber das ist doch etwas anderes als der Beginn von Bruckners 4.)


    Dass der Zeitgeist der 1960er und 1970er Jahre diese Überlegungen mit anderen Interessen unterstützte, - man liebte es, gegen überkommene Traditionen zu opponieren -, widerspricht ja nicht der Lauterkeit und Rechtschaffenheit des Ansatzes Harnoncourts und anderer. Da bitte ich doch sehr, diejenigen, die ehrlich fragen "Was hat der Komponist gemeint und wie befreien wir die Musik von den Übermalungen des 19. Jhds.?" von denen zu unterscheiden, denen es eine Lust ist, sogenannte Halbgötter wie Karajan, Böhm und andere nach Belieben anpin... zu können.

  • Lieber Wolfram,


    es käme mir tatsächlich nicht in den Sinn an der Lauterkeit der Interpretationsansätze eines Harnoncourt (er nur jetzt hier stellvertretend für viele andere) zu zweifeln. Dafür habe ich schon zuviel von ihm gehört/gelesen, als dass daran zu zweifeln wäre. Dieser Mann ist überzeugt und er nennt sicher jeweils nachvollziehbare Gründe für sein Tun - ob die Ergebnisse letztlich immer überzeugend sind, muss von Fall zu Fall diskutiert werden. Da kommt man sicherlich hinsichtlich seiner Aufnahmen mit Mozarts Kirchenmusik zu anderen Resultaten als bei seinen Aufnahmen der Dvorak-Sinfonien.Aber darum geht es hier nicht.


    Mir ging es in meinem Posting, auf das Du Dich beziehst, um den Grundansatz dieses Threads. Kritik (und damit Fragen der Bevorzugung des einen oder des anderen Aufführungsstils) und natürlich die Entwicklung neuer Aufführungstraditionen sind immer zeitgebunden - ich habe dies versucht in einem sicherlich nicht falschen Kurzstatement zur Entwicklung kulturgeschichtlicher Denklinien in der BRD deutlich zu machen. Sowohl die sachlich Überzeugten, als auch die "Radaumacher", die nur gerne Denkmäler stürzen wollten, wurden erst möglich vor gewandeltem Denken und entsprangen diesem. Vor dem speziellen historischen Hintergrund der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es kein Wunder, dass sich der Ansatz der historischen Aufführungspraxis gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Fünfzig Jahre früher wäre er undenkbar gewesen; und das nicht nur weil man um 1920 die barocke Musik (abgesehen von Bach) erst wieder zu entdecken begann (z.B. erste moderne Aufführung von Vivaldis "Vier Jahreszeiten", Aufführungen von Händel-Opern auf Festspielen, der große Fund Vivaldischer Werke in Italien Ende der Dreißiger Jahre), sondern weil die Ideologien, die Europa in der ersten Hälte des 20. Jahrhunderts beherrschten (extremer Nationalismus, Faschismus, sozialistische und kommunistische Heilsversprechen) auch ein völlig anderes Kunst- und Musikverständnis transportierten. Barocke Musik war sowohl für Kommunisten wie für Faschisten ideologisch kaum missbrauchbare Musik (Man stelle sich ein Flötenkonzert von Vivaldi als Untermalung eines Reichsparteitages vor!!). Sich Gedanken darüber zu machen, was ein Mozart oder ein Beethoven in ihrer Zeit wirklich gewollt haben mochten --- uninteressant. Beethoven hatte den jeweiligen ideologischen Zielen zu dienen. Und seine Musik gibt das im Gegensatz zu der Vivaldis eben (leider) auch her.


    Man sehe sich nur die Musikkritik der Weimarer Zeit an - da geht es meistens um Zeitgeist, Politik, Ideologien. Ich erinnere nur an die unsäglichen Auseinandersetzungen um Klemperer und die Kroll-Oper in Berlin (Kulturbolschewismus-Vorwürfe).


    Oder: vor dem Ersten Weltkrieg in Wien. Gustav Mahler als Direktor der kaiserlich-königlichen Hofoper. In so elendig vielen Aussagen aus dieser Zeit ging es nicht um Mahlers Können als Dirigent und Leiter der angesehensten Musikinstitution der Habsburgermonarchie. Es ging in den Tiraden gegen ihn immer um außermusikalische - politisch-ideologisch motivierte Fragen.


    Ging es im Rahmen der Formalismus-Kampagne in der UdSSR 1948 gegen Schostokowitsch u.a. um musikalische Fragen? Nein!


    Und eben auch in demokratischen Zeiten und Systemen ist Kunst - weder in ihrer Erschaffung, noch in der Kritik am Kunstwerk oder an dessen Interpretation - frei von Einflüssen. Ja, ich glaube sogar, dass diese äußeren Einflüsse bestimmend sind.


    Ein Harnoncourt - und vor allem, dass er auch gehört wurde - war erst aus der historisch-geistesgeschichtlichen Entwicklung nach 1945 möglich.


    Beste Grüße


    Garaguly

  • Hallo Garaguly,


    ist das nicht alles vielleicht etwas zu vereinfachend und verkürzend?


    Kommt mir etwas so vor wie die Erklärung der Welt in fünf Minuten... ;)


    Viele Grüße Thomas

  • Ja, das kann mich in dieser Knappheit auch nicht überzeugen. :no: Das müsste schon etwas breiter ausgeführt werden. Und zu jedem Punkt fallen mir gleich diverse Gegenbeispiele ein. Aber:

    Man soll hier ja nicht politisieren,


    ... und vor allem nicht unter lauter Nennung so vieler schmutziger Bäääh-Wörter. :no: Deshalb:

    ich tu's auch nicht,


    Na bravo! :jubel:
    Außerdem sind Behauptungen wie, man komme hinsichtlich der Überzeugungskraft von Harnoncourts Mozart zu anderen Ergebnissen als bei seinem Dvorak (inwiefern und warum das denn??? - gehört wohl eher in den Harnoncourt-Thread), oder in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts habe man sich keine Gedanken gemacht, was Beethoven wirklich wollte (z. B. Beethovens Größe, Vision und Testament, sein Titanentum zu erfüllen, war doch so mancher Musiker in jener Zeit bestimmt überzeugt), in dieser Kürze wohl kaum abzuhandeln.

  • Um noch mal auf dieses Zitat zurückzukommen, könnte ich mir denken, dass Alfred in Wirklichkeit die deutschen Kritiker meint, deren reichlich in diese Richtung gehenden Kritiken ich in den vergangenen Jahren vor allem über Interpretationen des "Großmeisters" des Schönklangs, Herbert von Karajan, zu Hauf gelesen habe, was mich aber nie gestört hat, mir trotzdem seine Aufnahmen zu kaufen, weil ich sehr wohl in seinen Interpretationen die Struktur des jeweiligen Werkes erkannt habe, und er in seinen Interpretationen, nehmen wir zum Beispiel nur mal Beethovens Fünfte, sehr wohl Schönklang und Tiefgang bzw. auch schroffe Stellen in Einklang(!) gebracht hat.

    Als "Großmeister" des Schönklangs würde ich Karajan nicht bezeichnen. Er hat wunderbare Aufnahmen hinterlassen, aber zuviel gemacht. Seine ersten Aufnahmen sowohl bei EMI als auch bei der DGG und seine letzten (Altersstil) waren hervorragend, zumindest, was sinfonische Musik betraf. Dazwischen gab es Aufnahmen bei der DGG, wo seine Frau die Cover illustriert hatte, mit eigenen Bildern. Diese Serien wurden schon zu DM-Zeiten billig verramscht. Das lag auch damals schon an der Qualität und dem merkwürdigen Mischklang, den er eingeführt hatte. Von Tiefgang und Schönklang keine Rede.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Ja, das kann mich in dieser Knappheit auch nicht überzeugen. :no: Das müsste schon etwas breiter ausgeführt werden. ... ist das nicht alles vielleicht etwas zu vereinfachend und verkürzend?


    Kommt mir etwas so vor wie die Erklärung der Welt in fünf Minuten


    Ja, Leute, ihr macht mir Spaß! Das hier kann kaum der Ort sein, solche Dinge in größerem Umfang auszubreiten. Schon allein deswegen, weil's dann kaum noch jemand lesen würde. Wenn ich zwei Seiten dazu vollgeschrieben hätte, würde man mir vorwerfen den Rahmen hier bei weitem zu sprengen! Versuch' ich's zu verknappen, in der Hoffnung, nicht missverstanden zu werden, geht's irgendwie auch schief - ein Elend ist's!


    Ich empfehle den zweifelnden Herren die Lektüre folgender Literatur:


    - Potter, Pamela: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 2000 (hier besonders die Kapitel 1 und 7)


    - John, Eckhard: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918 - 1938, Stuttgart 1994 (wäre in toto zur Kenntnisnahme empfohlen) :baeh01:


    Und noch etwas zum Thema "GENAUES LESEN IST WICHTIG FÜR'S LEBEN"!!!: Man warf mir vor geschrieben zu haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich niemand um das Wollen Beethovens Gedanken gemacht. Eigentlich habe ich das an keiner Stelle so dargestellt. Das bezog sich auf die Haltung der beiden extremen Großideologien dieser Epoche, die in ihrem Kunstverständnis niemals danach fragten, was Künstler x in seiner Zeit gewollt haben mag. Die Frage für diese Herrschaften (von Berlin bis Moskau) war immer nur: Wie kann ich mir große Kunst der Vergangenheit für meine Zwecke dienstbar machen? Und in diesem inhaltlichen Gesamtzusammenhang steht auch diese inkriminierte Aussage in meinem Posting. Das es am Rande ehrliche Wissenschaftler gegeben hat, die sich natürlich mit der Frage des Beethovenschen Wollens auseinandergesetzt haben, ist doch klar. Aber diese Leute waren in ihrem Denken ohne öffentlich wirksame Resonanz. Dass Beethoven in seinen politischen Überzeugungen, nach allem was man sagen kann, von republikanischen Überzeugungen geprägt war, hättest Du nicht erst nach 1933 nicht mehr offen sagen können. Schon in den 20er Jahren wärest Du dafür öffentlich an den Kommunismuspranger gestellt worden.


    Aber meine Einlassungen zu diesen außermusikalischen Bereichen stehen immer in engstem Zusammenhang zum ersten Posting von Alfred in diesem Thread. Ich würde hier niemals ohne Not solche Fässchen aufmachen, aber ich dacht' halt, es müsse sein. :pfeif:


    Zum Thema Harnoncourt äußere ich mich hier jetzt nicht, sonst kommt das Thema dieses Threads unter die Räder, aber auch da sind ullrichs Bemerkungen irgendwie widersprüchlich.


    Viele Grüße


    Garaguly

  • Künftiges Forum für Rezensionen: Das Internet?


    Seit dem 19. Jahrhundert ist die Zeitung der klassische Platz für Musikrezensionen. Heute verzichten die finanziell klammen Tageszeitungen allerdings immer häufiger auf dieses Format. Daher erkundet man seit eingen Jahren unter anderem im Internet alternative Wege.


    In der Schweiz geht man jetzt einen sehr neuen, journalistisch ziemlich unorthodoxen Weg: Die Seite „kulturkritik.ch“ aus Zürich bietet Rezensionen gegen Bezahlung an - nicht vom Leser, sondern von den Kulturveranstaltern. Wer einen Bericht über seine Aufführung will, muss als Veranstalter bezahlen. Die Macher betonen dennoch, unabhängige, kritische Berichte zu liefern.


    Kann das funktionieren? Gar ein Modell für die Zukunft des unabhängigen, kompetenten Musikjournalismus sein?

    (WDR 3)


    Zum Nachlesen bzw. -hören: http://www.wdr3.de/tonart/deta…-3-tonart-4f99c58b7c.html


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Hier als kurzer Einschub die Frage von Helmut Kral nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet,


    An sich kann sowas nicht gut gehen, weil ja schon derzeit die Kritiken geschönt sind. Die Zeitungen brauchen Werbeeinnahmen, und die bekommt man kaum, wenn man eine DC nach der anderen "verreisst"


    Aber wer weiß ? Es gibt etliche Konstruktem wo ich mich immer wundern muß daß man sie zulässt, natürlich kommt jetztt der erwartete Seitenhieb auf Regietheater, aber auch das Kreditkartenwesen ist bemerkenswert.
    Da bezahlt der KREDITGEBER der 4 Wochen auf sein Geld warten muß einer Vermittlergesellschaft ca 4% Zinsen pro MONAT (=ca 49% Jahresverzinsung !!!) dafür, daß sie Kunden vermittelt, die die Rechnung 4 Wochen später bezahlen !! STRANGE !!!


    Aber wie wir sehen wird das offenbar akzeptiert....


    Auch müssen Lieferanten in manchen Supermärkten eine Gebühr entrichten, die dort ihre Ware präsentiert bekommen wollen...


    Auch Leiharbeit wo angeblich alle davon profitieren (Verleiher - Rohmaterial (=Arbeitnehmer) und Leihnehmer) sind interessant
    und verdienten einer näheren Betrachtung
    Hier wird eine Art "perpetuum mobile" angepriesen.....


    Wie war das mit dem "eisernen Besen" doch ?????


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !