Die Krise der Gesangskunst Fiktion oder Tatsache?

  • Liebe Taminos,


    gibt es die vielzitierte Krise der Gesangskunst tatsächlich, oder ist sie eine Erfindung der ewig Gestrigen so unter dem Motto: Früher war alles besser?
    Wer meint die Krise sei nicht wirklich existent und nur herbeigeredet wird gebeten, seine Meinung zu begründen. Die Opernfreunde, die der Überzeugung sind in der Vergangenheit wurde tatsächlich besser gesungen sollten uns bitte mitteilen: Warum und in welcher Hinsicht wurde früher besser gesungen? Wo liegen die Ursachen und Gründe? Welche Wege könnten aus der Krise der Gesangskunst herausführen?
    Ich möchte bewußt in diesem Startbeitrag meine Meinung zum Thema noch nicht bekannt geben, um jegliche Beeinflussung zu vermeiden.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber Operus,


    Du startest hier einen äußerst wichtigen Beitrag, denn diese Frage dürften ja alle Opernverrückten, wie wir sie doch sind, in vielen Diskussionen "bis aufs Blut" kontraversiell und leidenschaftlich diskutieren.


    Ich persönlich glaube nicht, dass früher besser gesungen wurde, denn heute hört man junge Sängerinnen und Sänger, die sowohl stimmlich als auch technisch den "Altvorderen" zum Großteil sogar überlegen sind. Dennoch bin ich davon überzeugt, daß anno Schnee die Sänger ungleich interessanter und auch charismatischer waren. Wenn heute die Stimmen fast nicht mehr zu unterscheiden sind, so waren früher die Sänger, die sowohl ein unverkennbares, ja mitunter sogar interessanteres Timbre besaßen, ungleich häufiger zu bewundern, als dies heute der Fall ist. Woran das liegt, weiß ich nicht.


    Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß zur Zeit dennoch einige (leider zu wenige) Solitäre zu bewundern sind. Mag sein, dass die stromlinienförmige globale Ausbildung mit ein Grund ist, daß heutzutage die Stimmen zum Großteil zwar technisch gut ausgebildet, aber leider austauschbar sind.


    Wenn z.B. irgendwo (Salzburg, Bayreuth) eine Stütze ausfällt, ist der No-name-Ersatz meist ebenso großartig, und dennoch verschwindet er meist wieder in der Versenkung.


    Das war früher undenkbar. Wenn ein Windgassen, eine Nilsson oder ein di Stefano, um nur einige zu nennen, w.o. gaben, stand das davon betroffene Haus vor einer unlösbaren Situation - das haben wir älteren Semester alle erlebt.


    Liebe Grüße aus Wien ins schwäbische Operndörfle
    von Fritz

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Guten Morgen operus,




    einen ähnlichen thread hatte ich vor einiger Zeit eröffnet "Irgendwie waren die Sänger früher besser", wobei ich mein Wissen über dieses "früher" nur auf Einspielungen stützen kann. Für mich sind die Künstler früher glaubhafter gewesen. Es klingt unmittelbar und echt. Manches erinnert mich heute an Gesangsakrobatik. Zweifelsohne ein Genuss, aber es bleibt wenig hängen. Das tief empfundene, Beseelte fehlt oft. Ich glaube ein Grund dafür liegt im fehlenden Ensemble. Die Sänger wurden früher besser aufgebaut, konnten sicher sein, dass sie im Alter noch kleine Rollen kriegen. Heute heißt es, schnell Geld scheffeln, Stimme überstrapazieren so lange es irgend geht und dann kommt schon der nächste. Klingt alles nach ziemlich viel Stress, auch psychisch. Da kann nur selten Zeit und Muße bleiben, sich in die Opernrollen fallen zu lassen. So kommt Distanz auf, gerade zu Opernpartien, die vermeintlich veraltet scheinen - wie z.B. "Agathe". Wer singt das denn heute noch wirklich innig?


    Lieben Gruß,


    Knuspi

  • Joyce di Donato singt ihre Partien noch innig, für meinen Geschmack. Ich habe sie als Cenerentola erlebt und nicht nur ich hatte das Gefühl , das sie eins war mit der Rolle. Das Problem ist das es darauf gar nicht mehr ankommt. Hauptsache es wird hoch gesungen, der Rest ist egal. Viele Sänger haben es auch nie gelernt ihre Rollen zu gestalten. Auch in Duisburg, als Frau Oropesa die Lucia gesungen hat, war sie eins mit der Rolle, die sie auf der Bühne gesungen hat. Und bei der Wahnsinnsarie hat sie am Schluss nicht den hohen Ton gesungen und was sagte meine Nachbarin : Die Arie hat sie aber ordentlich vergeigt. Ein weiteres Problem ist noch das die jungen Sänger alles singen müssen und sich nicht auf ein Fach festlegen können. Eine Sutherland oder Gruberova konnten bzw. können im Alter auch noch so gut singen, weil sie genau wussten, was gut für ihre Stimme ist.

  • Lieber rodolfo, genauso empfinde ich das auch. Und die beiden Damen werde ich mir demnächst mal anhören. Vielen Dank für den Tipp. Vergeigt haben es, für mein Empfinden, die Sänger, denen ich die Rolle nicht glaube - da können sie noch so treffsicher jede Note stemmen.

  • Hallo Knusperhexe,
    So geht es mir mit den heutigen Tenören. Einem Domingo oder Pavarotti habe ich abgenommen, was sie auf der Bühne gesungen haben, aber einem Kaufmann oder Cura nehme ich das nicht ab. Dann schon lieber einen Johann Botha, der bei jedem seiner Auftritte die Rollen glaubhaft verkörpert, auch wenn er nicht so gut aussieht. Mittlerweile habe ich z.B. Kaufmann und Botha als Siegmund gesehen und würde ganz klar Botha den Vorzug geben. Frau Oropesa war eine wirklich sensationelle Lucia. Vor allem hat sie den Belcanto Gesang beherrscht und nicht einfach herumgebrüllt.

  • Wenn "operus" so ein Thema einbringt, dann denken natürlich alle Forianer an den Operngesang ...
    Da jedoch im Eingangsstatement von "Gesangskunst" die Rede ist, assoziiere ich diesen Begriff wie selbstverständlich mit Liedinterpretationen. Bei Opernaufführungen wird ja heutzutage so viel Nebensächliches zum Knüller hochstilisiert, dass es fast stört, wenn da auch noch jemand singt ...


    " rudolfo 39" ist zum Beispiel mit Jonas Kaufmann nicht ganz zufrieden; ich attestiere seinem Florestan hohe Gesangskunst - oder sollte ich mich da vielleicht verhört haben?


    Um jedoch die Eingangsfrage aus meiner Sicht zu beantworten:
    Es gab hervorragende Sängerinnen und Sänger; es gibt sie aktuell und es wird auch in Zukunft exzellente Interpreten geben. Das ist nicht nur so eben mal dahergesagt, sondern stützt sich auf meine Erlebnisse in Meisterkursen.
    Meine letztbesuchte Veranstaltung dieser Art war die Lied Akademie im Rahmen des "Heidelberger Frühling". Was die acht jungen Leute am 27. März 2011 in der alten Aula der Universität Heidelberg an künstlerischer Leistung boten, war sehr respektabel. Aber wiie gesagt, es geht hier um "Gesangskunst".

  • Ja - und nein! Es gibt heute eine große Anzahl sehr guter Sänger und -innen, mehr als früher.


    Aber: Es fehlen die großen Persönlichkeiten auf der Bühne. Heute wird sehr schön gesungen, aber man kann nicht die Interpretationen der Stars vergleichen. Jeder wird für eine bestimmte Partie engagiert, in der meist schon lange kein Konkurrent zu hören oder sehen war. Früher war das aber möglich, weil die Inszenierungen "normal" waren und sich jeder intelligente Sänger darin zurechtfinden konnte. Aber heute?


    Ehedem war der Ausfall eines Stars nicht nur für die Direktion des Hauses ein schwerer Schlag, sondern auch für das Publikum. Heute sind die Einspringer fast immer von sehr guter Qualität. Das war früher anders, denn hinter den Stars war die "zweite oder gar dritte Reihe" oft eine Katastrophe, und man ging manchmal lieber wieder nach Hause, als sich das anzutun. Das ist gottseidank vorbei.


    Aber diejenigen, die noch das große Glück hatten, Künstler wie eine Nilsson, einen Corelli oder Taddei (um nur einige stellvertretend zu nennen)auf der Bühne zu erleben, finden heute keine vergleichbaren Persönlichkeiten.


    Aber seien wir doch dankbar, das es doch noch eine Anzahl von ansehenswerten Leuten gibt, die, wenn sie sich stimmlich nicht verheizen lassen, uns noch viel Freude bereiten werden.



    Liebe Grüße aus Wien von


    Erich, dem Operngernhörer

  • Danke lieber Hart für die erweiternde Richtigstellung. Wenn wir über Gesangskunst diskutieren muss der Liedgesang zwingend mit eingeschlossen und betrachtet werden. Zumal es hier aktuell besonders bei den Baritonen eine ganze Reihe von Sängern gibt, auf die das ehrende Prädikat Gesangskünstler durchaus zutrifft. Spontan fallen mir hier Olaf Bär, Matthias Goerne, Christian Gerhaer, Thomas Quasthoff und Michael Volle ein. Es gibt sicherlich eine ganze Reihe mehr, besonders auch bei den Damen.
    Tatsache ist leider aber auch, dass in vielen Städten Liederabende nur schwach besucht werden und daher die Veranstalter das Risiko der Durchführung scheuen. Wo sollen denn die großen Talente und jungen Meister ihre Kunst demonstrieren, wenn das nur noch in Großstädten oder im Rahmen von Festspielen möglich ist?
    Dies hat nur ganz am Rande mit einer Krise der Gesangskunst zu tun. Das öffentliche Podium und eine entsprechende Resonanz sind aber notwendig, um den Liedgesang nicht nur zum seltenen Ereignis für eine kleine Schar von Spezialisten zu degradieren.
    Nun weiter provozierende Fragestellungen, die ich auch aus den bisherigen Beiträgen schlußfolgere und ableite: Trifft die Krise der Gesangskunst - wenn es denn eine solche tatsächlich gibt - also schwerpunktmäßig auf die Oper mit dem dort geforderten Sängerdarsteller zu? Ist der Liedgesang noch eine Insel schönster Gersangskunst, die nur von wenigen Glückseligen entdeckt, wahrgenommen und aufgesucht wird?
    Herzlichst
    Operus, der auch ein "Liederus" sein möchte

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Krise der
    Gesangskunst – Fiktion oder Tatsache? Ich würde diese Frage nicht mehr so
    stellen. Sie ist im Laufe der Jahrzehnte oft gestellt worden, ist scheinbar
    nicht tot zu kriegen. Unsere Großeltern haben sie sicher auch schon gestellt,
    und unsere Enkel werden sie stellen. Wolf Rosenberg hat ein sehr kluges Buch mit
    dem Titel „Die Krise der Gesangskunst“ geschrieben. Es ist 1968 erschienen und
    hat offenbar keine haltbaren Antworten gebracht. Seither sind mehr als 30 Jahre
    verstrichen. Mir scheint, die viel beschworene Krise ist in Wahrheit eine
    Fiktion. Dass es heute, im Jahr 2011, keine zweite Callas gibt, keinen Ersatz
    für Caruso, di Stefano oder Corelli und keine neue Flagstad ist – um nur wenige
    Beispiele zu nennen – das ist noch keine Krise. Früher, und das ist ein genau
    so weiter Begriff wie Krise, wurde nur so
    anderes gesungen, dass es uns oft
    besser gefällt als das, was heute zu hören ist. Das hat viele Gründe, über die
    wir hier diskutieren sollten. Es gibt keine Ensembles im klassischen Sinne
    mehr, in denen Sänger Zeit zur Reife hatten und sich in vielen Partien
    ausprobieren konnten, keine Kapellmeister, keine Chorrepetitoren, keine
    Intendanten mehr, die mit Sängern oft über Jahre akribisch an bestimmten
    Partien und Liedern arbeiten. Durch die Globalisierung des Opernbetriebes, die
    natürlich auch ihre guten Seiten hat, ist viel Individualität verloren
    gegangen. Zeit wird immer mehr zu Geld. Die Ausbildung ist nicht gründlich genug.
    Regisseure verstehen heute oft viel zu wenig von Musik, können oft keine Noten
    lesen, geschweige denn eine Partitur. Inszenierungen entwickeln sich kaum noch
    aus dem Geist der Musik sondern bleiben an Versatzstücken der Texte kleben, so
    dass man als Zuschauer oft gar nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht.



    Ein großes
    Problem ist die Sprache und damit die Deutlichkeit des Singens – der Ausdruck
    und die Inhaltlichkeit. Bei allem Respekt, die fast ausschließliche Darbietung
    der Opern in Originalsprache hat dazu geführt, dass wir heutzutage auch
    deutschsprachigen Opern meist nur folgen können, wenn wir den Text auf den
    Laufbändern mitlesen können. Es sei denn, wir kennen die Texte auswendig. Bleiben
    wir in Deutschland. Nicht jeder versteht Italienisch, Französisch oder Russisch
    so gut, dass er den Feinheiten der Handlung, der einzelnen Arie oder dem
    wichtigen dramaturgischen Moment folgen kann. Vom Tschechisch bei Janacek oder
    Smetana mal ganz abgesehen. Viele Sänger pauken sich die Rollen phonetisch ein.
    Sie wissen überhaupt nicht richtig, was sie singen. Technisch ist viel Gutes zu
    hören. Auch Sänger, die nur laut oder nur hoch singen können, kommen oft sehr
    gut an.



    Wenn es eine
    Krise gibt, dann eine Krise des Ausdrucksvermögens. Hört euch mal Elisabeth Schwarzkopf
    mit dem Lied Mignon (Kennst du das Land?) von Wolf an, in der Studioeinspielung
    der EMI von 1960. Nicht nur, dass jedes Wort zu verstehen ist wie in den
    Nachkriegsjahren in Bayreuth. Es ist, als ob die Schwarzkopf die einzelnen Worte
    auf die interpretatorische Goldwaage legt. „Es glänzt der Saal, es schimmert
    das Gemach…“ Wer nicht weiß, was ein Gemach ist, der weiß es jetzt, wer mit dem
    Wort schimmern nicht viel anfangen kann, der kann es jetzt. Musik und Wort
    werden zu einer Dichte des Ausdrucks versammelt, die schon unheimlich ist. So
    soll es sein. Nach meinem Eindruck gibt sich das Publikum heute zu schnell
    zufrieden. Na ja, wer will sich schon zugeben, dass die teure Eintrittskarte
    eigentlich rausgeschmissenes Geld gewesen ist.



    Euch mein Gruß! Rüdiger

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Liebes/r Rheingold1876,
    aber ein "Anfänger" mit hervorragenden Fachkenntnissen. Dank und Kompliment. Ich freue mich auf weitere Diskussionen mit Dir.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Da danke ich Dir, Operus! Lange bevor ich angemeldet war, habe ich hier eben immer schön aufgepasst. ;) Dir einen lieben Gruß und Dank.


    Rüdiger

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Das ist eine sehr interessante und auch absolut berechtigte Frage.
    Aber neigen die Menschen generell nicht sowieso dazu, die Vergangenheit zu verklären?
    So nach dem Motto „Früher war ja alles besser …..“ :rolleyes:
    Doch war es das tatsächlich? ?(


    Es gibt heute wohl genauso viele Gesangstalente wie in den vergangenen Jahrzehnten. Gute Sänger hat es doch immer gegeben. Warum sollten sie plötzlich weniger sein? ?(
    Vielleicht war die Dichte an Sängerstars früher noch etwas höher. Das kann ich nicht beurteilen. Doch begegne ich auf den heutigen Opernbühnen ganz herausragenden Sängern, die sehr wohl im Stande sind, ihre Rollen nicht nur sehr gut zu singen sondern sie auch noch glaubhaft zu verkörpern und regelrecht in ihren Rollen aufgehen.
    Ich bestreite auch, dass es heute keine Persönlichkeiten mehr geben soll. Auch die gab und gibt es in jeder Zeit.


    Das Problem der heutigen Sängergeneration ist wohl jenes, dass junge Talente viel zu schnell mit viel zu anspruchsvollen Rollen für ihre Stimmen vor das Publikum treten oder vielleicht auch treten müssen.
    Früher gab man den Sängern noch mehr Zeit, damit sich die Stimme weiterentwickeln konnte.


    Es kann diskutiert werden, ob die Sänger von heute ungeduldiger sind, oder ob es daran liegt, dass es das Management und der Markt sind, die sie schnell durch das unterschiedlichste Repertoire hetzen wollen. Vielleicht eine Kombination aus beidem.
    Wenn ein Sänger heute „Ja“ sagt, dann vielleicht auch mit dem Hintergedanken, 'wenn ich jetzt nein sage, bekomme ich später vielleicht die Chance auf diese Rolle nicht mehr’.
    Schließlich drängen Jahr für Jahr neue junge Sänger in die Szene und sagt der eine Nein, wird der nächste eben Ja sagen.


    Denn heute gibt es sicher auch ein starkes Konkurrenzdenken. Das wird es früher auch gegeben haben. Aber heute scheint es doch viel schwieriger zu sein. Opernsänger werden heute schon fast wie Popstars vermarktet. Je besser man aussieht umso besser. Manchmal hat es den Anschein, dass der Gesang selbst schon zweitrangig ist.
    Doch man darf sich nicht täuschen lassen. Es gibt eine Menge hochbegabter Sänger und auch Persönlichkeiten, die vielleicht – aus welchen Gründen auch immer – keinen Plattenvertrag in der Tasche haben. Das liegt nicht nur an der Tatsache, dass die Plattenindustrie in der Krise steckt (und die steckt wirklich drin), weil ja immer weniger CDs verkauft werden. Das wiederum weil sich eben viele ihre Musik schon aus dem Internet downloaden.
    Aber das ist ein anderes Problem.


    Talente gibt es wirklich genug, und dass davon einige riskieren kürzere Karrieren zu haben, liegt sicher auch zum Großteil daran, dass sie sich eben verheizen lassen. Villazon ist das jüngste Beispiel unter den prominenten Sängern.


    Andererseits gibt es zum Glück auch Vokalisten die es vorsichtig angehen und nur Schritt für Schritt ihr Repertoire erweitern. Hier sind die Tenöre Beczala und Calleja zu nennen. Letzterer hat sich sogar bewußt sechs Jahre einer neuen CD-Produktion verweigert, um ja nicht verheizt zu werden, und um nicht irgendeinem Hype zum Opfer zu fallen, und um sich in Ruhe seiner weiteren Entwicklung widmen zu können. Auch auf die Gefahr hin seinen Plattenvertrag zu verlieren.


    Wenn die Sänger behutsamer mit ihren Stimmen umgehen und ihre Lehrer, Manager oder Agenten sie „reifen“ lassen, können vielleicht auch viel mehr Sänger auf Dauer bestehen und die Konkurrenz somit beleben.


    Interessanterweise scheinen eher die Herren der Schöpfung als weibliche Sänger von Stimmkrisen betroffen zu sein. Sind Tenöre für Verschleiß eher anfällig als Soprane? Oder sind sie einfach risikofreudiger? ?(


    Ich selbst entdecke immer wieder große Sängerpersönlichkeiten der Vergangenheit und erkenne warum diese auch heute noch für Begeisterung sorgen. Das schmälert allerdings meinen Genuß an talentierten Sängern der Gegenwart in keinster Weise. Es hat jede Zeit große Sänger hervorgebracht und auch heute gibt es eine Reihe an großartigen Sängern, die in jeder Ära zu den Großen gezählt worden wären.


    Gregor

  • Ich hatte eigentlich angenommen, daß es sich bei dieser Frage nur um OPERNSÄNGER handle.
    Da aber Operus, der ja den Thread schliesslich eröffnet hat, den Liedgesang hier zugelassen hat, kann man die Frage eigentlich glattweg in der Richtung beantworten, daß es keine Krise gibt - Gute Liedersänger gibt es heute ebensoviele, wie in der Vergangenheit. (Zu den Opernsänger komme ich noch später)
    Wenn es keine "Ausnahmeerscheinungen", wie Fischer-Dieskau, Prey und Wunderlich mehr gibt, dann liegt das vermutlich daran, daß die gegenwärtige Generation solche Ausnahmeerscheinungen gar nicht mehr akzeptierte so es sie gäbe. Anders gesagt - sie sind nicht gewollt (Wir erleben das gut sichtbar in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, Politiker und geistliche Würdenträger werden nicht mehr kritiklos akzeptiert) Die "Großen der Vergangenheit" wurden von ihrer Generation nuch wirklich geliebt und bewundert - und das hat sich bis heute so überliefert. Dazu muß auch gesagt werden, daß man in der Vergangenheit der klassischen Musik und ihren Interpreten einen höheren Stellenwert eingeräumt hat, als heute. Wenn Elisabeth Schwarzkopf - sie wurde weiter oben im Thread positiv erwähnt - an Nuancen ihres Liedgesangs feilte - dann wusste sie, daß sie es für ein Publikum tat, welches diesen Aufwand zu schätzen wusste. Das heutige Publikum indes ist anders- setzt andere Prioritäten....


    Kommen wir zu den Opernsängern. Es wurde bemäkelt, daß sie sich nicht mehr - wie einst üblich - mit ihren Rollen identifizieren könnten.
    Wie sollten sie auch? Das Regietheater hat nicht nur dem Publikum jeden Bezug zu den Opern genommen - sondern auch den Sängern. Letztere sind in der schwächeren Position als das Publikum, weil sie von ihrem Gesang ja leben müssen - Nur wenige können es wagen gegen die Regietheatermafia aufzumucken - aber auch hier bröckelt die Mauer bereits.


    Man könnte - mit Recht - sagen, die Inszenierung habe mit den Stimmen der Sänger nichts zu tun - aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn die Imagination und Identifizierung mit dem gesungenen Text fehlt, und zwar sowohl von Seiten des Sängers, als auch von Seiten des Publikums, dann wird der Eindruck ein anderer sein, als wenn der Sänger mit seiner Rolle verschmilzt - und das vor einem begeisterten Publikum.


    Andere Aspekte wurden bereits angesprochen - und ich möchte sie - mit meinen Worten widerholen.
    Da wäre zum Beispiel die Auswahl der Sänger, wo mehr auf das äussere Erscheinungsbild geachtet wird - als auf hervorragende Stimmen. Dieses Phänomen fordert natürlich auch seinen Tribut - welcher aber vermutlich von der jüngeren Generation billigend in Kauf genommen wird. Viele Turnübungen, die heute von Opernsängern verlangt werden, wären von Sängern der Vergangenheit gar nicht zu bewältigen gewesen.


    Inwieweit heutzutage individuell gefärbte Stimmen eine Chance hätten, die einst große Opernhäuser prägten - überhaupt eine Chance haben - das ist eine weitere Frage. Diese Stimmen - es gibt sie - findet man allenfalls noch in der Provinz und bei kleineren Festpielen - CD-Mitschnitte zeigen dies...


    Die Krise liegt also vorzugsweise nicht in der Gesangskunst - sondern in der heutigen Gesellschaft


    Man bevorzugt heute in allen Bereichen des Lebens einen möglichst gehobenen Standard, hat aber vor aussergewöhlichen Höchstleistungen regelrecht Angst, und scheut alles was in Richtung hervorragend oder Elite geht....
    Auch Launen exorbitanter Künstler werden nicht akzeptiert ....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das Problem der heutigen Sängergeneration ist wohl jenes, dass junge Talente viel zu schnell mit viel zu anspruchsvollen Rollen für ihre Stimmen vor das Publikum treten oder vielleicht auch treten müssen.
    Früher gab man den Sängern noch mehr Zeit, damit sich die Stimme weiterentwickeln konnte.

    So ist es. Ich erinnere mich genau. In jeder dacapo-Sendung mit Everding kam die Frage, was würden sie heutigen jungen Sängerinnen und Sängern empfehlen und jedesmal kam die Antwort, sich Zeit zu lassen um an kleineren Häusern das Repertoire nach und nach zu erweitern. Immer der gleiche Vorschlag, egal ob von Sotin, Ridderbusch, Kollo, Konya, Prey usw.


    Die Praxis ist leider eine andere. Während früher nach einer Aufnahme häufig ernst zu nehmende Kritiker zu dem Ergebnis kamen, die Aufnahme komme für die Sängerin oder den Sänger zu spät, ist es heute umgekehrt. Gedda und Hollweg, um nur zwei Beispiele zu nennen, haben Karajan einen Korb gegeben, weil sie der Auffassung waren, dass sie die Partie nicht singen können. Welcher Sänger traut sich das heute noch. Alfreds Feststellung, dass der Sänger ja auch wovon Leben muss, ist völlig richtig.


    Einen weiteren Gedanken möchte ich noch anfügen, insbesondere für unsere taminos. Wenn junge Leute heute ins Theater gehen, häufig zum ersten Mal und hinterher davon schwärmen, auch von den tollen Stimmen, sollten Profis das akzeptieren. Nicht jeder hat eine Sammlung im Schrank, die bis Caruso zurückreicht. Auch ich musste mich zurücknehmen mit meiner Auffassung, das habe ich aber schon besser gehört. Das hat vielleicht der Plattenindustrie geholfen, wegen der Sammlung, dem heutigen Theaterbetrieb aber kaum. Als mich vor Jahren ein Kegelbruder ansprach, ob ich Pavarotti kenne, den habe er er jetzt zusammen mit Domingo und Carrera im Fernsehen gesehen, habe ich geantwortet, den hättest du mal vor 20 Jahren singen hören. Antwort, da konnte er auch schon so gut singen? Ich war sprachlos, habe ihm dann aber beigepflichtet, das Big P. ein hervorragender Sänger ist. Ist lange her.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Alfred,


    leider habe ich trotz einigen Versuchen die Funktion "Zitieren" noch nicht hinbekommen.
    Deshalb möchte ich nur zwei Gedanken aus Deinem Statement als besonders interessant herausfiltern: Es trifft zu, dass eine den Sängern nicht verständliche Regieauslegung die Identifikation mit dem Rollencharakter erschwert, fast unmöglich macht, ja sogar Aversionen auslösen kann. Der kühne Schluss, dass die Krise der Gesangskunst eine Krise der Gesellschaft ist müsste vielleicht noch differenzierter diskutiert werden. Auf der einen Seite genügt oft der "gehobene Standard", auf der anderen Seite lautet die Forderung in unserer Gesellschaft auf allen Gebieten immer schneller, höher, weiter. Beim Gesang heißt dies leider in erster Linie immer lauter. Wird von Regisseuren vielleicht sogar die "Eier legende Wollmilchsau" in der Oper erwartet: Gut aussehend, jung, schlank, mit großer, gefällig klingender Mikrophonstimme, die aber auch Häuser, wie die Scala füllen kann, darstellerisch überzeugend und variabel, trotz fehlender Personenregie, hohe körperliche und tänzerische Beweglichkeit, ausgezeichneter Dialogsprecher, angepasst und pflegeleicht und dabei noch preiswert usw. Sind es nicht gerade die zu hohen, vielleicht sogar unerfüllbaren Forderungen, die junge Sänger rasch an den Rand ihrer Möglichkeiten führen und die Entwicklung von stabilen in sich gefestigten Sängerpersönlichkeiten erschweren.
    Vielleicht wird der Trend, der sich in unserer Diskussion anscheinend abzuzeichnen beginnt, dass es um die Gesangskunst im Liedgesang besser bestellt sei als auf der Opernbühne ebenfalls von den konträren sich oft widersprechenden Forderungen, die an einen Bühnensänger gestellt werden, ausgelöst?


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Heute hatte ich ein längeres persönliches Gespräch mit Bernd Weikl. Dabei sprach ich mit ihm auch über unsere Diskussion hier in diesem Thread. Er arbeitet gerade an einem Buch u. a. auch zu diesem Thema. Das unterstreicht unsere Diskussion ist hochaktuell - vielleicht wird sie dies bei den gestellten Fragen auch immer sein. Als wir auf den Liedgesang gestern und heute kamen äußerste Weikl folgendes Bonmot:
    "Peter Schreier sei die Sopranausgabe von Dietrich Fischer-Dieskau". Ich fand das so entzückend und treffend, dass ich es Euch nicht vorenthalten wollte.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich möchte meinen Vorrednern darin zustimmen, dass auf dem Gebiet des Liedgesangs sicher von keiner Krise die Rede sein kann. Aber auch auf einem anderen Gebiet tut sich Erfreuliches. Ich meine die Barockopern und auch die meisten Werke von Rossini. Die waren ja von der Entwicklung der Oper mit ihren immer größeren Orchestern, die auch immer größere und lautere Stimmen erforderten, praktisch aus dem Repertoire verdrängt worden, folglich wurden über Jahre auch keine entsprechenden Sänger ausgebildet. Wenn ich nur an Rossinis "Armida" mit der Callas denke und daneben diese unsäglichen Tenöre-brrr! Oder die noch vor einigen Jahrzehnten geübte Praxis, Kastratenrollen wie z.B. Caesar mit einem Bariton zu besetzen, weil das dem Hörer "plausibler" erscheint. Heute ist es beinahe leichter, Händel und Rossini zu besetzen als Verdi und Wagner, und es ist (zumindest mir) eine Freude, neuere Händel- und Rossiniaufnahmen zu hören und mir das entsprechende Repertoire zu erschließen.


    Viele Grüße
    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)




  • Damit gebe ich Dir hundertprozentig recht. Ich hatte es nicht schreiben mögen, weil dann einige hier wieder im Dreieck titschen. Wenn ich alte Operneinspielungen höre, wie z.B. die Tosca mit Rosvaenge, Hann und Ranczak, dann sehe ich einen Film vor meinem inneren Auge. Die Künstler gehen alle voll auf in ihren Rollen. Da wird nicht chargiert, nicht gemogelt. Jedes Wort wird genauso rübergebracht, wie es im Libretto steht. Angst vor Pathos und Gefühl hat keiner von denen. Auf gleich hohem Niveau oder sagen wir besser: Dasselbe stellt sich bei mir nur noch komplett ein bei der Callas-Einspielung und ansonsten nur noch bei Einzelleitungen, aber nicht mehr gesamt. Ich glaube, dass die Sänger sich mehr auf ihre Rollen einlassen können, wenn sie in ihrer Muttersprache singen.


    Ein weiterer Vorteil deutsch gesungener Oper ist, dass die Diskrepanz zu Regigittheater-Inszenierungen viel sichtbarer wird. Die Übertitel sind bei uns häufig derart frei und falsch übersetzt, nur damit sie noch einigermaßen zum verfremdeten Geschehen auf der Bühne passen, dass es schmerzt.



    Mal eine grundsätzlich OFF-Topic-Frage: Was ist das eigentlich mit der Technik hier los? Ich muss mich häufig neu anmelden, wenn ich meinen Beitrag geschrieben habe, dann ist er meist futsch bzw. ich habe mir angewöhnt jeden Beitrag erstmal zu kopieren, bevor ich ihn absende. Auch muss ich ganz häufig den Stil ändern, um zu antworten. Das ist erst seit dem Absturz so. ist da Aussicht auf Änderung?

  • Damit gebe ich Dir hundertprozentig recht.

    Soweit es sich um Wagner-Opern handelt, volle Zustimmung. Es ist in diesem Zusammenhang hier in diesem Forum schon erwähnt worden, dass es auch daran lag oder liegt, das viele Sänger aus Amerika, Spanien usw. zwar Wagner singen, aber nicht so gut zu verstehen sind wie zum Beispiel die Ungarn Konya und Ilosfalvy, um einmal zwei zu nennen. In den Anfangsjahren meiner Sammlertätigkeit habe ich selbstverständlich viele Opern-GA und Querschnitte in deutscher Sprache gesammelt. Mit Karajan kam an der Wiener Staatsoper die Originalsprache zum Zuge. Zu Recht, möchte ich heute meinen. Italienische, französische, russische Oper klingen in ihrer Originalsprache einfach besser. Für die Deutsche Oper von Deutschsprachigen gesungen ebenfalls, mal von einigen wenigen Aussagen abgesehen. Wenn mein Lieblings-Mozarttenor Fritz Wunderlich die Arien des Grafen aus dem Rigoletto in der Originalsprache schmettert, sie viele hellauf begeistert. Hier würde ich aber Kraus, Bergonzi, Domingo und Pavarotti vorziehen.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Ich kann Knusperhexe nicht aus vollem Herzen zustimmen.


    Zum einen sind die fürchterlichen deutschen Übersetzungen italienischer Opern auch der Grund dafür, daß den Sängern ihre Rollen innerlich fremd bleiben - man denke nur an den EMI-Querschnitt der Bohème mit Rothenberger und Wunderlich.


    Wie eiskalt ist die Händchen -
    erlaubt, daß ich es wärme!


    Das ständige Changieren zwischen dem frostigen "Sie" als Anredeform mit dem unmöglichen "Ihr" aus der Mottenkiste höfischer Ehrbezeugungen bringt von Anfang an einen falschen Ton in dieses zarte Liebesduett, etwas Geziertes, Künstliches, das der Schlichtheit des Originals nicht angemessen ist. Im Original steht am Anfang das intime Du (lasci), und erst am Ende heißt es cognoscete, parlate usw., was mit "Sie" zu übersetzen wäre. - Im übrigen ist eine halb erfrorene kleine Hand eben darum nicht "eiskalt", was besser zu Scarpia paßte; so wie ein "eiskaltes Händchen" in die Addams-Familiy.


    Nur der Schönheit weihte ich mein Leben -


    gerade dieses geschraubte "weihte" trifft daneben, da Floria Tosca für die Kunst und die Liebe gelebt hat. - Es führte zu weit, alle derart in meinen Ohren "falsche" Töne anzuführen, etwa für die Traviata ... Ich meine aber, daß es auch die altbackene und heterogene Sprachform ist, die einer Güden oder Stader bei der Gestaltung der Violetta (im deutschen Querschnitt) im Wege stehen.


    Schlicht nichts damit zu schaffen hat m.E. die übrigens auch von mir nicht angezweifelte Auffassung, daß sich im Gesang etwas von der Artikulationsdeutlichkeit hin zur tonschönen Phrasierung verschoben hat. Es ist, und da kommt denn Knusperhexe wieder ins Recht, ein Genuß, der deutschen Susanna von Elfriede Trötschel zuzuhören, nicht wegen der deutschen Sprache, sondern wegen der Plastizität und Nachdrücklichkeit der Sinngebung, die aber primär etwas mit der Gesangstechnik und nichts mit der Rollenidentifikation zu tun hat (so meine Gegenthese, für die es Berufenere als mich geben wird).


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zum einen sind die fürchterlichen deutschen Übersetzungen italienischer Opern auch der Grund dafür, daß den Sängern ihre Rollen innerlich fremd bleiben - man denke nur an den EMI-Querschnitt der Bohème mit Rothenberger und Wunderlich.


    Wie eiskalt ist die Händchen -
    erlaubt, daß ich es wärme!


    Genauso schrecklich und scheußlich ist der deutsche Text in der Aufnahme der Boheme mit Konya / Lorengar:
    Wie eiskalt ist dies Händchen... laßt ich mache es Euch warm...
    wozu das Suchen, zum Finden ist´s zu dunkel...
    bis erst der Vollmond am Himmel empor steigt...
    und überstrahlet der Sterne Gefunkel...
    oder auf dem Weg ins Cafe Momus:
    Reich den Arm mein liebes Kind,... ich gehorche mein Herr...
    ( Das mich bitte keiner falsch versteht, ich meine den Text, nicht die Sänger. Ganz im Gegenteil, die sind großartig ).
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Mir gefällt`s trotzdem:-) und ich höre und sehe Opern sogar mittlerweile lieber auf deutsch. Ich empfinde es genau anders als farinelli: Eine deutsche Aufnahme, wo Sänger ihren Rollen entfremdet sind, kenne ich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Gerade hier begeistert mich stets aufs Neue die Innigkeit des Vortrags. Hört Euch mal Terkal an als Rodolfo:


  • Ich glaube auch nicht, dass das Abendland untergeht, wenn mal wieder hier und da, ab und zu, eine deutsch gesungene Bohème, Aida oder Traviata gegeben würde.

  • Eigentlich wollte ich hier nicht in die Diskussion einsteigen, aber es reizt mich doch noch, meinen Senf dazuzugeben.


    Der vorhin oben angesprochene Boheme - Text, der von Lesern, die dieses Werk nicht kennen oder nur oberflächlich, weil sie sich nur auf die Sänger und die Musik konzentrieren als furchtbar empfunden wird - muss, um in Kontext auch zur Geltung zu kommen, im Zusammenhang und aus der Zeit heraus verstanden werden. Es gibt ja so viele Übersetzungen, und es wird aus Tantiemengründen immer wieder neu übersetzt - aber welche dieser Neuen weist keine Schwachstellen auf?




    Die von unserem Chrissy angesprochenen Textstellen wirken allein aus dem Text - freundlich formuliert- nicht sehr zeitgemäss, doch wenn man sich den verliebt/ironischen Ton (wie heißt es doch so schön: verliebte Tändelei), der im Orchester ja vorhanden ist, dazu vorstellt, sieht es schon ganz anders aus.


    Wenn man nur schöne und sinnvolle Texte haben möchte, müsste man beim großen Richard etliches streichen, doch wer will das schon?


    Wir lieben die Oper ja nicht um des Textes willen! Oder ???




    Aber trotzdem liebe Grüße von


    Erich, dem Operngernhörer

  • Hallo Erich,


    Hallo Chrissy,


    mir ging es früher ja nicht anders als Dir, Chrissy. Ich war froh, in einer zeit geboren zu sein, wo alles in Originalsprache gesungen wird. Wenn ich die deutschen Texte las, musste ich oft lachen. Egal, ob sie jetzt in alter oder neuer Übersetzung vorlagen, ob 1:1 platt übersetzt oder als sanghafte Zeilen. Doch, da gebe ich Dir, Erich, völlig recht, im Zusammenklang mit der Musik stört mich da gar nichts mehr. Wirklich nichts! Ich mag die Lautmalerei, die Verständlichkeit und auch die teilweise veraltete Sprache. Gerade das finde ich herrlich. Und es ist doch auch komisch, dass viele Übersetzungen bis heute in den Köpfen spuken:


    "Oh, wie so trügerisch"


    "Weiß ich doch eine die hat Dukaten"


    "Wie eiskalt ist dies Händchen"


    "Und es blitzten die Sterne"


    "Keiner schlafe"


    "Nur dem Schönen weihte ich mein Leben"


    "Reich mir die Hand mein Leben"


    "Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen?"



    "Holde Aida"


    "Da ich nun verlassen soll!"


    "Ja, das Gold regiert die Welt"


    "Wohin, wohin seid ihr entschwunden?"



    Gerade diese immer noch verankerten Zeilen betonen in meinen Augen deren Zugkraft. Und ich sage ganz ehrlich: ich singe lieber unter der Dusche die deutschen Texte. Ich kann sie mir einfach besser merken.

  • Ich glaube auch nicht, dass das Abendland untergeht, wenn mal wieder hier und da, ab und zu, eine deutsch gesungene Bohème, Aida oder Traviata gegeben würde.


    Nein, lieber Knuspi, das tut es gewiß nicht. Es ist auch von mir nicht so böse gemeint, wie es vielleicht scheint.

    Wir lieben die Oper ja nicht um des Textes willen! Oder ???


    Lieber Erich, da hast Du natürlich absolut recht. Ich finde nur manchmal die Übersetzungen sehr holprig. Der Text ergibt sich freilich auch notgedrungenermaßen, er muß ja in den Rhythmus und die Melodie passen und das gelingt eben eher selten gut. Deshalb ist mir die Originalsprache lieber. Außerdem klingt sie auch phonetisch besser und läßt sich leichter singen.
    Entschuldigt bitte, wenn ich mal musikalisch abschweife. Ich mag ja neben der Klassik auch noch bestimmte Hits aus der Zeit des Beat, Rock oder Pop. Ich bemühe mich mit meinen nicht perfekten Englischkenntnissen bewußt nicht um Übersetzungen z. B. der Hits der Rollig Stones. Einiges kann ich selbst übersetzen, anderes habe ich übersetzt gelesen. Was da in den Texten mitunter für Schwachsinn rüberkommt, nur um die Musik verbal zu untermalen, da bin ich echt froh, daß es englisch ist und man nicht alles versteht. Und da bin ich wieder bei der treffenden Aussage von Erich: "Wir lieben die Oper, überhaupt die Musik, nicht um des Textes willen".
    In diesem Sinne, nichts für ungut und herzliche Grüße
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Ich liege trotz aller berechtigten Argumentation für das Singen in Originalsprache mehr bei Erich und Knuspi. Wenn es gut übersetzt ist, wortverständlich gesungen wird, dann fördert Deutsch in vielen Opern das Verständnis und verstärkt dadurch das Gesamterlebnis. Ja es stimmt was Knuspi sagt und mit gut gewählten Beispielen belegt. Viele Arien haben sich im deutschen Text in die Hirne hineingefressen und sind wie "Reich mir die Hand mein Leben" oder "Wie eiskalt ist dies Händchen" sogar zu geflügelten Worten geworden. Einen Schock bekamen meine Frau und ich in einer kürzlich in französicher Sprache gehörten "Faust-Aufführung". Die deutschen Obertitel stammten offensichtlich aus einer neueren Übersetzung oder einem Versuch des Dramaturgen krampfhaft Neues zu bieten. Nix mehr mit "Ja das Gold regiert die Welt" oder "Scheinst zu schlafen Du im Stübchen". Nun assoziierten wir bei der entsprechenden Musik sofort den passenden deutschen Text; in den Obertiteln stand aber etwas anderes. Völlige Konfusion. Dennoch war es ein positives Erlebnis, weil die musikalische Wiedergabe durch Sänger und Orchester sehr beachtlich war. Die Inszenierung war modern angehaucht, aber immmer korrekt an der Handlung orientiert ohne Verfremdungen und verfälschende Eingriffe. Eine hoch repektable Leistung des Theaters Oldenburg.
    Erwähnen möchte ich noch, dass es in der Liebermann-Ära in Hamburg in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Spitzensängern Rothenberger, Schock, Metternich, der allerdings auch ein toller "Italiener" war, und Frick direkt so etwas wie eine bewußt gepflegte Kultur des Singens in deutscher Sprache gab. Ein kenntnisreicher Musikwissenschaftler erstellte z. B zusammen mit Gottlob Frick eine Übersetzung von Verdis "Don Carlos", in der zumindest die Partie des Philipp so gut wie nur irgend möglich in singbares gut klingendes Deutsch übertragen wurde. Ob und wo diese Übersetzung auf der Bühne aufgeführt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. In Konzerten und Aufnahmen sang Frick den großen Philipp-Monolog "Sieht hat mich nie geliebt " und die Szene Philipp-Groß-Inquisitor immer nur in "seiner Fassung" und das mit dem Erfolg, dass er in dieser Partie mit großen Italienern in einem Atemzug genannt wird.
    An anderer Stelle wurde es bereits herausgestellt, das konsquente Singen in Orignalsprache hat mit der Globalisierung des Opernbetriebs und finanziellen Gründen mindesten so viel zu tun, als mit dem Urteil, dass Deutsch besonders in italienischen Opern "grauslich" klingen würde.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Erwähnen möchte ich noch, dass es in der Liebermann-Ära in Hamburg in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Spitzensängern Rothenberger, Schock, Metternich, der allerdings auch ein toller "Italiener" war, und Frick direkt so etwas wie eine bewußt gepflegte Kultur des Singens in deutscher Sprache gab

    Ja operus, da bist du mir zuvorgekommen. Gerade wollte ich darauf hinweisen, dass Metternich ein großartiger "Italiener" war und wenn man sich die Arien auf deutsch anhört, tut das zwar der Stimme und dem Vortrag keinen Abbruch, aber ich finde Metternich in der Originalsprache einfach besser. Selbstverständlich auch da, wo das Original auf deutsch gesungen wird. Er hatte den langen Atem und eine tenorale Höhe.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Prinzipiell bin ich für die Originalsprache, zumal die deutsche "Übersetzung" meist keine Übersetzung im Wortsinn ist, sondern eine quasi Nachdichtung. Wer Leoncavallos "Pagliacci" auf Italienisch hört, muß erkennen, daß z.B. in Canios Szene "Nun tal gioco" der Text in der Originalfassung ungemein dramatischer ist als in der deutschen Verfremdung. Auch das "Recitar, mentre il preso dall'delirio ..." hört sich auf Deutsch "Nun spielen ..." grauenhaft an, zumal auch noch die Notenwerte gehörig unter die Räder gelangen.


    Besonders übel verfuhr man da mit Mozarts "Don Giovanni", wo Leporello zu singen hat "in Almagna (sic!) duecento e trent'una", wogegen nördlich des Weisswurstäquators "hier in Deutschland ..." gesungen wird - ungeachtet des Umstands, dass das Stück ja in Spanien spielt. Aber besonders infam ist ja die Caballeta "Fin' ch'han dal vino", wo Giovanni ein Loblied auf den edlen spanischen Rotwein singt - in der deutschen Fassung wird ein Champagner daraus, als wäre man in der "Fledermaus" von Johann Strauß.


    Dann fällt mir noch der unsägliche Spiegel in "Hoffmanns Erzählungen" ein, der eigentlich laut Original ein Diamant sein müßte ... ad infinitum.


    Dazu kommt noch, auch das ist gravierend, daß die deutsche Sprache eine Konsonanten-Ansammung darstellt, die es unmöglich macht, dem italienischen oder französischen Legato auch nur annähernd gerecht zu werden.


    Ich habe vor Jahren Chansons von Jacques Brel mit Heltau in deutscher Sprache gehört - so großartig er auch diese Lieder interpretierte, aber mit der einzigartigen Aura des Originals hatte das nichts mehr zu tun. Oder kann man sich Chanson von Ives Montand oder Edith Piaf auf Deutsch wünschen wollen - oder gar das "Let it be" der Beatles?


    Offenbar stellt die Übertragung eines fremdsprachigen Werks auf Deutsch die Quadratur des Kreises dar, und solange es nicht möglich ist, eine adäquate deutsche Fassung zu erstellen, sollte man lieber die Finger davon lassen.


    PS: Daß weiter oben Josef Metternich oder Gottlob Frick als ideale Interpreten auch der deutschsprachigen Opernübersetzungen angeführt werden, ist ja kein Zufall, besaßen beide doch ein wunderbares Legato, das so manchem deutschsprachigen Sänger leider nicht gegeben ist.



    Grüße aus Wien
    von Fritz

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

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