Interpretations-Ideale – am Beispiel der 2. Sinfonie von Beethoven

  • Meine These ist: Zu den beim Interpretieren vorzunehmenden Entscheidungen gehört diejenige, entweder die Einheitlichkeit des Werkes in den Vordergrund zu stellen und damit z. B. den großen Bogen zu zeigen, oder die Brüche eines Werkes zu zeigen, sich den Details zu widmen und diese scharf voneinander abzugrenzen.


    Ich wage einen Vergleich: Ein Fotograf müsste sich entscheiden, ob er eine harmonisch ausgewogene Totale eines Bergpanoramas in ein einziges Bild bannt unter Beachtung der künstlerischen Spielregeln wie:
    - Wahl eines geeigneten Vordergrundes
    - Wahl einer angemessenen Tiefenschärfe
    - Wahl eines „optischen Trenners“ irgendwo im goldenen Schnitt (z. B. eine von oben nach unten verlaufende Felskante)
    - Wahl der richtigen Tageszeit, um dramatische Licht/Schatteneffekte zu erzielen
    usw. usw.


    Oder er könnte eine Bildserie machen, die einzelne Eindrücke einfängt und diese deutlich und detailliert zeigt: Ein Gipfelkreuz, ein Edelweiß, eine Gletscherkante, einen Felsüberhang usw. usw.


    Was kann ein Dirigent in einem Kopfsatz einer Sinfonie tun? Soll er
    - Dissonanzen hervorheben oder Dissonanzen mildern?
    - Rhythmik verdeutlichen (z. B. Synkopen) oder Rhythmik glätten?
    - Beim zweiten Thema das Tempo leicht zurücknehmen oder nicht?
    - Die Instrumentalfarben (z. B. Holzbläser) möglichst angleichen lassen oder scharf individualisiert abgrenzen?


    Nein, ich will keinen Versuch unternehmen, den Prozess „Interpretation“ und das Ergebnis „Interpretation“ theoretisch aufzuarbeiten – das wäre viel zu viel. Mir geht es nur um den Gegensatz zwischen Totale und Details.


    Ich behaupte: Es gibt Interpretationen, die uns den Eindruck des Vollkommenen vermitteln. Nichts wirkt störend, alles scheint an seinem Platz, wir haben ein großes Ganzes gehört und doch alle Details wahrgenommen. Der Ausgleich zwischen Totale und Details ist vollkommen.


    Karajans Interpretationen können diese Illusion häufig verschaffen. Ich nenne seine 4. + 5. Sibelius (DG 1964/5), „Tod und Verklärung“ von 1974 und „Heldenleben“ von 1959 (beide DG), seine 2. Brahms (DG 1977), seine 4. Bruckner (1977? DG-Zyklus), „Rheingold“ (vom Orchester her gehört), seine 5. Beethoven (DG 1961), seine 9. Beethoven (DG 1977). Karajan-Freunde – wozu ich mich insbesondere bei den genannten Komponisten durchaus zähle - werden diese Liste mit Wonnen der Erinnerung ergänzen können.


    Hat man diese Interpretationen im Ohr, so fragt man sich, warum überhaupt noch jemand diese Werke aufnehmen soll. Es stimmt doch alles?! Nun, die Frage ist, ob man die Balance zwischen Totale und Details auch anders vornehmen kann als beispielsweise Herbert von Karajan und dennoch die Ganzheit des jeweiligen Werkes vernimmt.


    Anders gesagt: Man kann dann eine Interpretation unter zwei Aspekten besprechen:
    - Welches Ideal bzgl. der Balance von Totale und Details liegt der Interpretation zugrunde?
    - Wie gut wurde dieses Ideal umgesetzt?


    Wahrscheinlich würden mir wohl auch Karajan-Gegner darin zustimmen, dass der zweite Aspekt dem Maestro aus Anif oft in Staunen machender Perfektion gelang. Bei der Besprechung des ersten Aspektes kann man dann herrlich darüber streiten ob Karajans „Breitwand-Panorama–Interpretation“ etwa der „Sinfonie Classique“ von Prokofieff, einer Haydn-Sinfonie, den Brandenburgischen Konzerten usw. usw. wirklich angemessen ist.


    Ich möchte anhand der Einleitung zu Beethovens 2. Sinfonie einige Ideale aufzeigen und beschreiben, was man bei dem jeweiligen Ideal als Hörer gewinnt – und was man im Gegenzug verliert. Wer noch weitere Einspielungen hat – herzlich willkommen! Mir fehlen z. B. Aufnahmen mit Furtwängler, Szell, Walter und Leibowitz.


    Der Thread wurde angeregt durch den Thread Paavo Järvi - spannende Entspannung]Paavo Järvi – spannende Entspannung[/url] und durch den Thread War "HIP" ein "trojanisches Pferd" ?]War HIP ein trojanisches Pferd?[/url].

  • Karajan, Philharmonia Orchestra, 1953



    Es fällt auf, wie sehr Karajan legato spielen lässt – über Phrasierungsbögen hinweg (z. B. T. 2/3). Staccati sind recht breit, Sforzati werden allzu weich betont (Horn T. 17 und folgende Einsätze anderer Instrumente), ich frage mich, was die Instrumentalisten anders gemacht hätten, wenn das Sforzato nicht da stünde. Die Piano-Vorschriften werden nicht so recht beachtet, das klingt eher nach einem gesunden Mezzoforte, aber die Crescendi sind sehr wirkungsvoll. Der Grundpuls liegt um Achtel = 60, entgegen den vorgeschriebenen 84.


    Es fällt aber auch auf, wie einheitlich diese Einleitung klingt – die ja doch sehr abwechslungsreich gebaut ist: Antiphonale Gegenüberstellung von Bläsern und Streichern, viele Modulationen, rhythmische Verdichtung von Sechzehntel zu Sechzehnteltriolen, kulminierend in dem d-moll-Ausbruch (der auf das Hauptthema des Kopfsatzes der 9. vorweg zu weisen scheint), dann ein Orgelpunkt (das ist eher Standard) – über 33 Takte baut Beethoven hier Spannung auf, und Karajan lässt dies so spielen, dass es klingt wie aus einem Guss. Das ist ein Gewinn für den Hörer.


    Fragen muss man dennoch stellen – zunächst an das Tempo, dann aber an die nicht beachteten Sforzati, die ja Beethoven nicht nur in dieser Einleitung wichtig waren und schließlich an das Legatospiel über Phrasierungsbögen hinaus. Nicht einmal der quasi exterritoriale d-moll-Ausbruch klingt irgendwie besonders. So großartig und meisterlich diese Einheitlichkeit klingt, sie widerspricht der Partitur. Hier wird der Hörer betrogen. - Hören wir weiter.

  • Karajan, Berliner Philharmoniker, 1962



    Viel klangschöner ist hier der erste Einsatz von Oboen und Fagotten (T. 1), feines Vibrato, doch dasselbe molto legato. Dass die Streicher satter und fülliger klingen, ist vielleicht zunächst der Klangtechnik geschuldet, aber wohl nicht nur. Der Grundpuls liegt nun eher bei Achtel = 72. Die Mischung von Flöte und Fagott (T. 13 + 15) ist erheblich feiner als 1953, viel leuchtender. Auch die Flötentöne in den Takten 9-12 sind intensiver und stecken dem Klang ein Licht auf. Der d-moll-Ausbruch hat mehr Wucht und Gewalt, der letzte Ton ist tatsächlich Sforzato! Sehr virtuos die Tonleitern in den Streichern.


    Die Einheitlichkeit ist geblieben, aber sie wurde belebt durch das höhere Tempo und bereichert durch leuchtende Farben im Holz und fülligere Streicher. Wiederum liegt darin ein Gewinn, vor allem an Schönheit, und man verliert da, wo die schroffen Sforzati nicht zu hören sind.

  • Karajan, Berliner Philharmoniker, 1977



    Der Grundpuls ist nochmal leicht erhöht, aber nur, um immer wieder leicht nachzugeben. Im direkten Vergleich fällt auf, dass der Orchesterklang nochmals makelloser geworden zu sein scheint, völlig schlackenlos, leicht, manchmal schwerelos (Tonleitern in Streichern). Höchste Verfeinerung und Eleganz – wobei die 1962er Aufnahme in diesen Punkten sicher nicht schlecht war. Die vielgestaltige Einleitung ist hier fast auf ihre kulinarischen Aspekte reduziert. In der Partitur steht anderes – siehe 1953.


    „Schöner geht es nicht“ soll Karajan nach der 1977er Aufnahmeserie gesagt haben. Mag sein. Doch was wäre bei Beethoven mit Schönheit alleine gewonnen? Und um welchen Preis? Und welche Narben haben die schönheitschirurgischen Maßnahmen Karajans in Beethovens Musik hinterlassen? Jedenfalls wurden die Schroffheiten der Partitur zugunsten von Schönheit und Ganzheit nivelliert.

  • Paavo Järvi, Deutsche Kammerphilharmonie, 2008 (?)



    Järvi bietet tatsächlich ungefähr Achtel = 84, wie es die Partitur verlangt. Ferner sind bei ihm die von Beethoven häufig vorgeschrieben Sforzati auch als solche zu hören. Auch Staccati werden tatsächlich als solche gespielt (z. B. der Auftakt zu Takt 12). Dass der Klang deutlich schlanker ist als bei den Berliner Philharmonikern ist, bedarf keiner Erwähnung. – Das bei Karajan zu hörende Legato über Phrasierungsbögen hinaus gibt es auch bei Järvi.


    Im Ergebnis kann man sagen, dass Järvi die Schroffheiten, die Beethoven gefordert hat, auch spielen lässt. Er zeigt die vielen Details, etwa die Staccati und die Sforzati, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren – dank eines zügigeren Tempos, wie von Beethoven gefordert, das die Wahrnehmung der Einheitlichkeit bei aller Detailliertheit unterstützt. Järvi opfert die profilierte Landschaft der Einleitung nicht auf dem Altar der puren Schönheit - die Partitur gibt ihm Recht.

  • Roger Norrington, London Classical Players, 1986 – 1988



    Auch bei Norrington gibt es Achtel = ca. 84. Die Sforzati sitzen, die Staccato werden ernst genommen. Weniger ernst kümmert sich Norrington um die Piani, insbesondere die „sfp“-Vorschriften, die ein scharfes Anstechen und sofortiges Piano fordern – da lässt er das Piano nicht spielen. Besonders gravierend finde ich das nach dem d-moll-Ausbruch.


    Bei Norrington wird nach einem Phrasierungsbogen neu angesetzt. Das unterscheidet ihn von den bisherigen Interpreten und hilft, die Phrasen nicht in der Legato-Manier von Wagners unendlicher Melodie, sondern nach den Musizierprinzipien des 18. Jahrhunderts zu hören. Sehr angemessen! Eine gute Balance zwischen Details und Ganzheit, leider werden die Piani nicht umgesetzt.

  • Hallo Wolfram,


    und wieder werde ich gezwungen, mich mit Interpretationen Beethoven`s Musik zu beschäftigen. Ich werde mir Abbado/Berliner, Hogwood/ Academy of Ancient Music, Järvi/Bremer und Kubelik vornehmen.


    Ich liebe dieses Forum!


    Herzliche Grüße und vielen Dank für diesen Thread


    Thomas

  • Nikolaus Harnoncourt, The Chamber Orchestra of Europe, Juli 1990



    Das Tempo ist eher bei Achtel = 76. Sehr „reedy“ der erste Einsatz der Doppelrohrblattinstrumente (T. 1+2), hier wird die Individualität der Klangfarben herausgestellt und kein Wagnerscher Mischklang gesucht. Die Naturhörner tun ihr Übriges. Der d-moll-Ausbruch hat hier viel Kraft und Energie – weniger Wucht. Natürlich: Auch hier ist jedes Sforzato gut vernehmbar – man merkt, dass die Instrumentalisten anders spielen, als wenn es nicht da stünde. Auch bei Harnoncourt gibt es Legato über Phrasierungsbögen hinaus.


    An Leichtigkeit steht das Spiel des COE sicher nicht hinter den Berlinern zurück – bei kleinerer Besetzung. Bei Harnoncourt ist es eine Freude, in der Partitur mitzulesen – alles ist an seinem Platz, jede Ausführungsvorschrift wird nachvollziehbar beachtet, und dennoch klingt alles völlig natürlich. Von Eigenwilligkeiten, d. h. Abweichungen vom Notentext wie etwa bei Karajan, die das eigene Klangideal höher bewerten als die expliziten Wünsche des Komponisten, ist hier nichts festzustellen. Ich fand diese Version sehr „rund“, in perfekter Balance zwischen Details und dem „großen Ganzen“. Bis jetzt die Beste.

  • John Eliot Gardiner, Orchestre Révolutionaire et Romantique, November 1991



    “Bis jetzt die Beste” schrieb ich bei Harnoncourt – jetzt kommt Gardiner, mit fast identischem Tempo und historischen Instrumenten mit noch mehr klanglicher Individualität. Gardiner lässt am Ende von Phrasierungsbögen ganz leicht absetzen, sehr gelungener Kompromiss. Die Pausen bekommen mehr Gewicht als bei Harnoncourt, der Klang ist etwas „löchriger“. Ab der B-Dur-Stelle (T. 12) näher sich Gardiner Achtel = 80, nach und nach gibt es mehr Drive, was Beethoven ja auch mit dem Übergang von Sechzehnteln zu Sechzehnteltriolen selbst einkomponiert hat.


    Gardiner bietet eine größere dynamische Bandbreite, das Piano ist leiser, das Forte lauter als bei Harnoncourt. Das Stück ist durch Pausen und individuelle Farben stärker zerklüftet als dort, allerdings wirkt hier die Einheit nicht ganz so schlüssig wie bei Harnoncourt. Hier haben wir den Fall zweier divergierender ästhetischer Grundsatzentscheidungen, die – anders als bei Karajan in Übereinstimmung mit der Partitur – getroffen und dann konsequent umgesetzt wurden. Hier ist es wirklich ein Geschmacksurteil, zu sagen, ob Harnoncourt oder Gardiner mehr überzeugen!

  • Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra, Oktober/Dezember 1957



    Auch hier Achtel = ca. 72. Nach der ersten punktierten Viertel (T. 3) lässt Klemperer absetzen – historisch voll gedeckt! Erstaunlich. Sforzati werden nicht „angestochen“, sondern im breit im Dauerforte gespielt. „Sforzato“ und „Forte“ sind aber zwei paar Schuhe. Beethoven selbst hat dazwischen differenziert – in den Takten 17, 19, 20, 21 schreibt er „sf“ im Horn und in 22 bei demselben musikalischebn Vorgang – eine alleinstehende Viertelnote auf „Eins und“ schreibt er „Forte“ – hier wollte er es also ausgehalten haben. Vermutlich wollte es Beethoven von Takt 17 bis 22 vielleicht sogar immer etwas länger ausgeführt haben. Wäre denkbar. Habe ich bis jetzt allerdings nirgends gehört. Auch Klemperer bringt die Farben der Holzbläser herrlich zur Geltung!


    Insgesamt lassen einige Details aufhorchen. Bis auf die zu langen Sforzati ist alles großartig umgesetzt. Sicher: Die Partitur klingt nicht so profiliert wie bei Gardiner, aber differenzierter als bei Karajan (1977) ist es allemal. Diese Interpretation hat eher den Blick auf das „große Ganze“, zeigt aber viele scharfe Details. Sehr gelungen.

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  • Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker, Februar 1978



    Achtel = 72-76. Nach Enden von Phrasierungsbögen wird mal legato weitergespielt (T. 1-2), mal nicht (T. 3-4). Die „sf“ und „sfp“-Vorschriften werden minutiös beachtet und sind gut hörbar, erklingen jedoch weich gerundet. Nach der B-Dur Stelle ist das Tempo eher bei Achtel = 66, um beim Übergang zu den Sechzehnteltriolen dann wieder in die Nähe von 72 zu kommen. – Die verschiedenen Bläserfarben kommen mir etwas zu wenig zur Geltung.


    Insgesamt fehlt mir bei dieser Einleitung das Moment des Spannungsaufbaus, des Vorbereitenden, es könnte ewig so weitergehen … obwohl viele Details hörbar sind, fehlt mir hier das „große Ganze“, die dramatische Funktion dieser langsamen Einleitung. Unter diesem Gesichtspunkt ist das die schwächste Version bisher. Das war sicher nicht Lennies größte Beethoven-Tat.

  • Günter Wand, Sinfonieorchester des NDR, Oktober 1988



    Zu Anfang „gefühlt“ dicht bei Achtel = 84, aber mit mehreren Ritardandi. Nach der B-Dur-Stelle ist Wand sogar geringfügig schneller als Beethovens Tempovorschrift (Achtel = 88 statt 84) und vermittelt beim Übergang zu den Sechzehnteltriolen sogar den Eindruck weiterer Beschleunigung (was aber realiter nicht so ist). – Wie bei Bernstein sind alle Sforzati da, aber weich gerundet.


    Auch hier sind die Bläserfarben nicht sehr charakteristisch herausgearbeitet. Es überwiegt der Eindruck der Einheitlichkeit. Zusammen mit Wands flotter Gangart scheint dies zu verhindern, dass Spannung entsteht. Das ist Norrington bei ähnlichen Tempi allerdings gelungen – dieser zeichnete die Musik etwas zerklüfteter.

  • Sergiu Celibidache, Münchener Philharmoniker, Juni 1996



    Kommen wir zum Großmeister musikalischer Ganzheit – und gemessener Tempi. Irgendwo um Achtel = 60 beginnt diese Einleitung. Die Sforzati sind sehr integriert ins Ganze – eigentlich sind sie nicht betonter, als es eine „Eins“ normalerweise wäre. Und da, wo sie quasi synkopisch auftreten (ab T. 17), stechen sie nicht besonders heraus.


    Hervorragend gelingt jedoch die Umsetzung der dramatischen Funktion der langsamen Einleitung, das Vorbereitende, das Aufbauen von Spannung. Doch in der Partitur ist mehr an Differenzierung und Akzentuierung vorgeschrieben – hier wird das Detail vom Gesamtpanorama überlagert. Wenn man die langsamen Tempi Celis akzeptiert, dann ist das dramatisch sehr wirksam, aber im Widerspruch zur Partitur.

  • Ich höre mich nun durch die Anfänge der 2. durch:
    Ergebnisse sind nicht vor morgen zu erwarten:
    Aber dies sind die Kandidaten:
    CLuytens BPO
    Toscanini 1939
    Toscanini 195x
    Bruno Walter 195x (mono)
    Mackerras Scottish
    CvD Live 2010 in HH
    Abbado BPO
    Wand NDR
    Hvk 195x
    Scherchen 195x
    Klemp 1957 live
    Klemp 1958 Live
    Järvi
    Vänskä
    Leider habe ich keine Partitur zur Hand.
    Die Ohren werden genügen müssen. Dazu ne Buddel Wehlener Sonnenuhr 2009 trocken "Alte Reben" von Martin Kerpen.
    Gruß Hans

  • Hallo Wolfram,


    Wahnsinnsarbeit.



    Meine These ist: Zu den beim Interpretieren vorzunehmenden Entscheidungen gehört diejenige, entweder die Einheitlichkeit des Werkes in den Vordergrund zu stellen und damit z. B. den großen Bogen zu zeigen, oder die Brüche eines Werkes zu zeigen, sich den Details zu widmen und diese scharf voneinander abzugrenzen.

    Gerade die Zweite zeigt, das die Details ein Teil des Bogens in der Simphonie sind.


    Zitat

    Was kann ein Dirigent in einem Kopfsatz einer Sinfonie tun? Soll er
    - Dissonanzen hervorheben oder Dissonanzen mildern?
    - Rhythmik verdeutlichen (z. B. Synkopen) oder Rhythmik glätten?
    - Beim zweiten Thema das Tempo leicht zurücknehmen oder nicht?
    - Die Instrumentalfarben (z. B. Holzbläser) möglichst angleichen lassen oder scharf individualisiert abgrenzen?


    Das macht doch geade den Reiz der unterschiedlichen Interpretationen aus. Und du beschreibst es ja auch wunderbar. Zumindest für die Einleitung. Mehr würde ja auch sämtlichen Rahmen sprengen.


    Hogwood beginnt auch sehr langsam, arbeitet die Details wunderbar heraus. Auch er nimmt quasi Anlauf bis zum Ausbruch.Besticht besonders durch den sauberen Klang der Einzelstimmen.


    Viele Grüße Thomas

  • Lieber Thomas,


    danke für Dein Feedback! So viel Arbeit war es jetzt nicht - die Einleitung dauert um die drei Minuten, mehr als zwei- bis dreimaliges Durchhören einer Version habe ich mir nicht gegönnt. (Die TMOO-Ring-Berichte brauchen länger ... :S )


    Mir liegt es daran, die Ideale hinter den konkreten Interpretationen aufzuspüren. Das ist für mich selbst Neuland, und vielleicht sehe ich in zwei Jahren alles wieder anders als heute. Nun ja.


    Zitat

    Was kann ein Dirigent in einem Kopfsatz einer Sinfonie tun? Soll er
    - Dissonanzen hervorheben oder Dissonanzen mildern?
    - Rhythmik verdeutlichen (z. B. Synkopen) oder Rhythmik glätten?
    - Beim zweiten Thema das Tempo leicht zurücknehmen oder nicht?
    - Die Instrumentalfarben (z. B. Holzbläser) möglichst angleichen lassen oder scharf individualisiert abgrenzen?


    Das Zurücknehmen des Tempos beim zweiten Thema geht beispielsweise auf Richard Wagner (der ja auch Kapellmeister war) zurück. Daher die Frage: Was hat das mit Beethoven zu tun? - Damit sind wir beim HIP-Thread: Harnoncourt wollte alte Instrumente und Aufführungspraktiken nicht aus musealen Gründen, sondern um die Werke freizulegen von den Übermalungen des 19. Jahrhunderts, um dann - quasi beim interpretatorischen Nullpunkt (schlechter Begriff, mir fällt nix Besseres ein) - eine moderne Interpretation schaffen zu können.


    Das Angleichen der Bläserfarben ist ebenfalls ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, ebenfalls begünstigt durch Richard Wagner und seine Suche nach einem Mischklang, in dem sich alles mit allem mischen lässt (man höre den Anfang des Tristan-Vorspiels). Ganz arg verkürzt: Im 19. Jahrhundert passte man die Blasinstrumente an den größeren Bedarf nach Lautstärke an. Bei dieser "Verstärkungskur" gingen die individuellen Bläserfarben ein Stück weit verloren. Die heutige Böhm-Flöte (entstanden um 1830) hat nicht mehr viel mit der Barocktraverse zu tun - bei jener klangen sogar einzelne Töne untereinander verschieden (nicht nur aufgrund von Tonhöhe) und individuell, was kompositorisch ausgenutzt werden konnte und wurde! - Im 19. Jahrhundert wollte man davon nichts mehr wissen. Wenn Wagner im Tristan wild moduliert und ein neue Eroberungsstufe des chromatischen Totals nach Bachs WK erreicht hat, muss alles in allen Tonarten gleich klingen. - Das ist durchaus ein für Wagners Musik vernünftiges Klangideal, aber passt es wirklich zu Beethoven?


    Das Hervorheben von Dissonanzen war zu Beethovens Zeit wohl weniger nötig - ein Dominantseptakkord wurde offenbar als sehr spannungsgeladen wahrgenommen (Der erste Akkord in Beethovens 1. Sinfonie - revolutionär mit den Ohren von 1800!). Spätestens mit dem Tristan wurde auch das anders - der erste Tristan-Akkord im 2. Takt des Vorspiels löst sich in einen Dominantspetakkord auf, und als Hörer erlebt man das als Entspannung - der Dominantseptakkord hat also an Spannkraft erheblich eingebüsst! Muss man daher heute - mit post-Stravinsky-Ohren - nicht Dissonanzen anschärfen, um ungefähr das zu erreichen, was Beethoven wollte?


    Zur Rhythmik - hier war Wagner erheblich weniger progressiv. Sogar 3er-Takte (3/4, 6/8 usw.) sind vor dem Ring noch die Ausnahme. Hier haben wir vielleicht erst mit Bartok und Stravinsky gelernt, Synkopierungen als " fast normal" zu hören. Um so wichtiger ist es, die zahlreichen Synkopen in der Einleitung von Beethovens 2. Sinfonie für den heutigen Hörer wieder als das wahrnehmbar zu machen, als was sie gedacht waren: Als kleine einkomponierte Schocks, als unerwartete Ereignisse, die keinesfalls zugunsten einer äußeren Schönheit nivelliert werden dürfen, wenn man nicht Beethovens Absichten verraten will.


    Ich meine, wir kommen dann Beethoven näher, wenn wir die späteren Traditionen des 19. Jahrhunderts identifizieren und abstreifen und dann fragen, was Beethoven gemeint haben könnte. Erst dann sind wir überhaupt in der Lage, die Frage zu stellen, was das Ganze überhaupt mit uns zu tun haben könnte und welchen Sinn es machen könnte, diese 200 Jahre alte Musik heute zu spielen.


    Natürlich ist es legitim, zu sagen "ich will aber meinen Beethoven à la Richard Wagner hören". Ja. Natürlich. Man kann auch einen Krimi als Gute-Nacht-Geschichte für Kinder verwenden, wenn man die grausamen Stellen streicht. - Ich würde aber lieber den Krimi im Original lesen. :D:hello:

  • Zitat

    Zitat von s.bummer: um einige der Argumente Wolframs besser verfolgen zu können, braucht man in der Tat die Partitur zur Hand. Hier kann man eine finden.

    Schönen Dank für den Tipp, lieber Hans, ich habe mir sogleich die Partitur des Kopfsatzes heruntergeladen und werde sehen, ob ich heute noch dazu komme, die eine oder andere Zweite in der Eröffnung vergleichend zu hören.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo,
    wenn ich (siehe oben) die unterschiedlichen Interpretationen höre, dann fallen mir besonders drei Dinge auf:


    a) Die zweite Anfangsnote (32-stel, dann punktierte 4tel) wird zu lange ausgehalten!
    Dies fällt besonders bei den alten Aufnahmen auf. Ganz deutlich Toscanini 1939, anders dann 195x.
    Das wiederholt sich im Übergang T4, T5
    b) Im Achtel=84 Teil findet bei manchen eine signifikante Beschleunigung ab Takt 12 statt. Wo das nicht stattfindet (Klemp, Järwi) ist man zum Teil verblüfft. Klemp bleibt mir zu langsam.
    c) Ab Takt 34 zieht das Tempo merklich an. Siehe Partitur. (Hört man aber auch, hahaha)
    Manchen gelingt der Übergang nicht gut, Hvk 195x, andere geben munter Vollgas (Scherchen). Ich finde, dass Klemp und Järwi, aber auch Cluytens sehr elegant das Tempo auf neuen Kurs bringen.


    Ach, und dann habe ich noch Thielemann in Wien Live 2010 gehört und war völlig überrascht, wie gut ihm dieser heikle Teil der Sinfonie gelungen ist.
    Alle Achtung.
    Bei Mackerras glaube ich, das am Anfang nicht alle zusammen waren,. Klingt breiig. Ist aber im weiteren Verlauf dann sehr genau.


    Insgesamt stelle ich fest, dass die "Alten" sich bei Ihren Aufnahmen mehr Freiheiten und Ungenauigkeiten herausnahmen als die Jungen. Bei Toscanini meine ich so etwas wie Hinwendung zum Genauen beobachten zu können. Klemp war immer sehr genau, aber 1957 schon zu langsam. Wie gerne hätte ich ne Aufnahme aus den frühen 50igern oder gar aus Budapest gehabt!


    Favoriten ohne spez. Reihenfolge: Toscanini 195x, Järwi, Cluytens und Vänskä, sowie Thielemann (seufz) und Klemp.


    Gruß S.

  • Ich meine, wir kommen dann Beethoven näher, wenn wir die späteren Traditionen des 19. Jahrhunderts identifizieren und abstreifen und dann fragen, was Beethoven gemeint haben könnte.



    Hallo Wolfram,


    ganz deiner Meinung. Ich muss ertmal all das verinnerlichen, was für wertvolle Sachen du geschrieben hast, allergrößten Respekt. Das gleiche gilt für s.bummer, solche Beiträge liebe ich. Sie liefern Stoff für langes, intensives Musikhören.


    Habt Dank.


    Viele Grüße Thomas

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