Legenden auf dem Prüfstand

  • Liebe Taminoianerinnen und Taminoianer,


    wer kennt das nicht? Da steht eine Aufnahme im Regal, die man seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, vielleicht sogar noch aus LP-Zeiten, gut kennt und sehr schätzt. Es ist eine recht alte Einspielung, doch immer noch sehr prominent. Man hat einige gute Kritiken und lobende Erwähnungen gelesen, auch in jüngerer Zeit, und weiß sich bezüglich des betreffenden Werkes bestens versorgt.


    Seit dem ersten Hören hat man eine Menge anderer Interpretationen desselben Werkes kennengelernt. Greift man nun wieder zu dem Schatz aus älteren Zeiten, so scheint er den Erwartungen nicht mehr ganz gerecht zu werden. Vielleicht sind die Vokalsolisten doch nicht so überragend, wie man sie in Erinnerung hatte, vielleicht ist das Orchester doch nicht so brillant, vielleicht hat der Spannungsbogen doch den einen oder anderen Hänger, vielleicht gibt es sogar die eine oder andere spiel- oder gesangstechnische Unzulänglichkeit. Hat man das früher denn nicht bemerkt? Oder ist es das Gedächtnis, das trügt?


    Kennt Ihr diese Erfahrung?


    Die Idee zu diesem Thread kam allerdings nicht nur aus solchen Hörerlebnissen, sondern speist sich mindestens genau so aus der Rubrik „The trial – iconic recordings reassessed“ im britischen „Gramophone“. Dort wird eine wohlbekannte Aufnahme zweimal besprochen, und zwar im Stile von Plädoyers einer Gerichtsverhandlung: Ein Artikel richtet sich gegen die Aufnahme („Prosecution – the case against“) und zeigt die Schwächen auf, ein anderer Artikel singt das Lob der Einspielung („Defence – the case for“). Gegenstand der letzten „Trials“ waren beispielsweise Bachs h-moll-Messe unter Klemperer, Beethovens 9. unter Furtwängler (Bayreuth1951), Karajans Parsifal und Haydns Pariser Sinfonien unter Harnoncourt.


    Ein weiterer Denkanstoß war der von Alfred eröffnete Thread Potenzial zur Legende – Aufnahmen ab 2000 sowie der Thread Hörgewohnheiten_=_Lieblingsaufnahme? von Bernward Gerlach.


    Ich würde gerne mal einige Aufnahmen auf ihren Legenden-Status überprüfen, z. B.:


    J. S. Bach, Wohltemperiertes Klavier, Edwin Fischer
    J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Karl Richter
    W. A. Mozart, Zauberflöte, Böhm (DG)
    L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 5, C. Kleiber
    L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 9, Furtwängler, Bayreuth 1951
    F. Schubert, Streichquartette Nr. 14+15, Busch-Quartett
    R. Schumann, Klavierkonzert, Lipatti/Karajan
    F. Liszt, Sonate h-moll, Horowitz
    R. Wagner, Ring, Solti
    R. Wagner, Tristan und Isolde, Furtwängler
    R. Wagner, Parsifal, Knappertsbusch, 1962
    G. Verdi, Traviata, Callas/Giulini
    A. Bruckner, Sinfonie Nr.4, Jochum (DG) (die „Romantische“ nur pars pro toto in Sachen Bruckner/Jochum)
    J. Brahms, Klavierkonzert Nr. 2, Richter/Leinsdorf
    G. Mahler, Sinfonie Nr. 8, Solti
    R. Strauss, Salome, Nilsson/Solti
    S. Rachmaninov, Klavierkonzert Nr. 3, Horowitz/Coates
    und und und.


    Bei der einen oder anderen Aufnahme habe ich leise Zweifel, ob sie ihren „State of the art“-Nimbus immer noch zu recht genießt. – Es geht mir nicht darum, Denkmäler vom Sockel zu stoßen, sondern vielmehr um ein Hinterfragen der Stärken der Interpretationen und – wo es angebracht ist – eine Neubewertung im Lichte der Erkenntnisse jüngerer Aufnahmen. Sicher wird manche Legende auch als solche bestätigt werden können.


    Ich bin recht optimistisch, dass diese Art der Diskussion das Lieblingsthema vieler Taminoianerinnen und Taminoianer nochmal von einer anderen Seite zu beleuchten vermag. Sollten sich tatsächlich Mitstreiter und Mitschreiber finden, so wäre ich immer noch unsicher, wie solche Threads zu organisieren seien. Alle in „Allgemeine Klassikthemen“ platziert, oder lieber dort, wo das Werk auch anzusiedeln wäre? Alles unter einheitlicher Überschrift, etwa „Legenden auf dem Prüfstand: Tristan unter Furtwängler“?


    Ich beginne einfach mal, weil 2011 ein Liszt-Jahr ist, mit der Aufnahme von „Les Préludes“ unter Ferenc Fricsay mit dem RSO Berlin und stelle den Thread in dasselbe Unterforum wie die sonstigen Besprechungen von Aufnahmen des Werkes.


    Eines noch: Wenn die Idee Quatsch ist, dann sagt es bitte einfach in diesem Thread, den Ihr gerade lest. Wenn Ihr Änderungsvorschläge habt, bitte einfach auch hier schreiben. Wenn Ihr eine Legende überprüfen wollt, öffnet bitte einen neuen Thread. Mithilfe der Administratoren und Moderatoren lässt sich wohl auch die Platzierung der Threads später korrigieren.

  • Die Idee finde ich sehr gut!


    Bei einigen der von Dir genannten Aufnahmen stelle ich mir diese Frage schon länger.


    Ich gehe mal auf diese mit persönlichen Eindrücken von mir ein:


    - L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 5, C. Kleiber: nicht unbedingt Legende, aber einfach sehr gut.


    - L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 9, Furtwängler, Bayreuth 1951: lange nicht mehr gehört, aber ich fand sie vor Jahren legendär.


    - R. Wagner, Ring, Solti: auf jeden Fall absolut legendär und einmalig.


    - R. Wagner, Parsifal, Knappertsbusch, 1962: absolut langweilige Aufnahme, verdient ihren legendären Status nicht.


    - A. Bruckner, Sinfonie Nr.4, Jochum (DG): eine absolut grell überzeichnete, schreckliche Aufnahme der Vierten.


    - J. Brahms, Klavierkonzert Nr. 2, Richter/Leinsdorf: völlig überschätzte Aufnahme, durch Serkin und Gilels meilenweit übertroffen worden.


    Dann eine Aufnahme, die ich hasse wie die Pest:


    - R. Schumann: Sinfonien Nr. 1-4 (Cleveland/Szell): todlangweilig, tontechnisch daneben, staubtrocken, völlig emotionslos. Das hat Schumann nicht verdient. Ab in den Mülleimer der Schallplattengeschichte damit.



    Agon

  • Wunderbare Idee! Auf sowas muß man erst mal kommen. Das dürfte einige zum Posten animieren.


    Auf die Liste will ich von daher hier nicht gleich eingehen, lieber in gesonderten Threads. Ich habe ja zu etlichen Aufnahmen was zu schreiben. ;)


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Sollten sich tatsächlich Mitstreiter und Mitschreiber finden, so wäre ich immer noch unsicher, wie solche Threads zu organisieren seien. Alle in „Allgemeine Klassikthemen“ platziert, oder lieber dort, wo das Werk auch anzusiedeln wäre? Alles unter einheitlicher Überschrift, etwa „Legenden auf dem Prüfstand: Tristan unter Furtwängler“?


    Ich wäre dafür, sie jeweils im korrekten Forum, sprich: romantische Opern in eben diesem Unterforum, "Les Préludes" in "ORCHESTERMUSIK in KLASSIK und ROMANTIK" usw., zu placieren. Und die einheitliche Überschrift finde ich auch am besten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Idee zu diesem Thread kam allerdings nicht nur aus solchen Hörerlebnissen, sondern speist sich mindestens genau so aus der Rubrik „The trial – iconic recordings reassessed“ im britischen „Gramophone“. Dort wird eine wohlbekannte Aufnahme zweimal besprochen, und zwar im Stile von Plädoyers einer Gerichtsverhandlung: Ein Artikel richtet sich gegen die Aufnahme („Prosecution – the case against“) und zeigt die Schwächen auf, ein anderer Artikel singt das Lob der Einspielung („Defence – the case for“). Gegenstand der letzten „Trials“ waren beispielsweise (...) Beethovens 9. unter Furtwängler (Bayreuth1951) (...)
    Ich würde gerne mal einige Aufnahmen auf ihren Legenden-Status überprüfen, z. B.:
    (...) L. v. Beethoven, Sinfonie Nr. 9, Furtwängler, Bayreuth 1951


    Lieber Wolfram,
    eine Superidee, dieser Thread! Einen einzigen Einwand hätte ich: die legendäre Furtwängler-Aufnahme der Neunten von Beethoven dürfte, auch wenn "The Grammophone" etwas anderes meint, definitiv die Kriegsaufnahme vom März 1942 sein. Nicht die einen Monat später entstandene Aufnahme vom April 1942 und schon überhaupt nicht die Bayreuther Aufnahme vom Juli 1951. Wo bei den Berliner Philharmonikern im März 1942 ein Orkan tobte, wehte in Bayreuth 1951 allenfalls ein laues Lüftchen. Konkurrieren mit März 1942 kann allenfalls die Luzerner Aufnahme vom 22.8.1954.


    Ich werde jetzt mal ganz böse: wenn "The Grammophone" allen Ernstes Bayreuth 1951 "Legendenstatus" einräumt, dann wohl nur, damit den Furtwängler-Gegnern die Argumentation erleichert wird. Gegen Berlin März 1942 stünden nämlich alle Leute, die den "Prosecution – the case against“-Part übernehmen sollen, mit völlig entblößten Händen da.

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  • DA ich nicht weiß welche der geplanten Threads bereits von Wolfram realisiert wurden, lasse ich seine geplanten beiseite und werde heute mit Wilhelm Backaus und einer seiner Beethoven-Klaviersonaten-Aufnahmen fortsetzen. Ich habe mit die Waldstein-Sonate ausgesucht. näheres in ein bis 2 Stunden im entsprechenden Thread....


    mit freundlichen Grüßen
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Wolfram,


    Ich werfe zu einigen Deiner Vorschläge meine Legenden-Alternativen in den Ring:



    1. SOLTI / RING


    Alternative: Karajan


    Vor Allem wegen dem Dirigat. Was Karajan zaubert ist einfach traumhaft. Bei den Rollenbesetzungen ist Solti insgesamt etwas besser, auch bei den Effekten. Dadurch aber mehr "gekünstelt" als bei Karajan. Mein Lieblings-Ring bleibt einfach der vom Herbert.



    2. BÖHM / ZAUBERFLÖTE


    Alternative: Solti


    Bei Böhm ist Fritz Wunderlich als Tamino natürlich nicht zu toppen. Die Solti-Aufnahme finde ich aber frischer durch den Papageno von Michael Kraus, den ich definitiv Dietrich Fischer-Dieskau vorziehe. Uwe Heilmann singt einen einwandfreien Tamino.



    3. FURTWÄNGLER / TRISTAN


    Alternative: Meistens Böhm, bei mir Kleiber


    Der Böhm-Tristan mit Nilsson und Windgassen gilt gemeinhin als Referenz. Ich personlich ziehe Kleiber vor, mit Rene Kollo und Margaret Price. Diese Liebesnacht, dieses Orchester-Fieber...dazu Kurt Moll als Marke...Ja, meine absolute Nummer 1 aller Opernaufnahmen, die ich kenne.



    4. Knappertsbusch / PARSIFAL


    Alternative: Solti oder Kna 1951


    Solti's Aufnahme des Parsifal ist ein Fall für die Arche Noah. Keine Einspielung birgt so viel Weihe, Christa Ludwig als Kundry und Gottlob Frick als Gurnemanz sind unübertroffen.
    Da allerdings Knappertsbusch als Parsifal-Experte gewürdigt sein muss, würde ich als Legende noch die Bayreuther Einspielung von 1951 nennen. Sehr viel Atmosphäre zu spüren.

  • Das Louis hier als Alternative zum Furtwängler Tristan Erich Kleiber anbietet ist natürlich dahinghend verständlich, zumal im legendären Livemitschnitt von 1938 Max Lorenz den Tristan singt und der natürlich, trotz einiger resentiments seinen Gesangsstil betreffend, er natürlich das hat was man für diese Rolle braucht, stimmliche Durchschlagskraft.
    Schade nur das sein Sohn Carlos Kleiber die speziellen Fähigkeiten, die seinen Vater als Dirigenten auszeichneten noch nicht einmal annäherend erreicht hat.
    Seine vier mir bekannten Tristan Produkionen Live und auch Studio bringen mehr Leid-als Leitmotive zum Vorschein,.
    Einziger Einwand wäre hier Anny Konetzni, da war Kirsten Flagstad dann doch die bessere Isolde, aber vom Dirigat her erreichen sowohl Wilhelm Furtwängler sowie auch Erich Kleiber ein selten wieder erreichtes Niveau.
    Der andere Livemitschnitt von 1952, da muß ich sagen da ziehe ich Ludwig Suthaus vor, Günther Teptrow ist mir dann doch wegen seines speziellen Stimmtimbre als Tannhäuser lieber als in der Rolle des Tristan.
    Und Helena Braun erreicht für meinen Geschmack weder Anni Konetzni, noch Kirsten Flagstad.