Wie viele Werke werden wohl niemals aus Ihrem Dornröschenschlaf geweckt ?

  • Im Thread, wo über Bedeutung oder Beliebtheit der "Zauberflöte" geschrieben wurde, schrieb Bernd alias "Zatopek" auf meine hypthetische Frage, was verloren wäre, wenn die "Zauberflöte" in Vergessenheit geraten wäre - und irgendwo in den Archiven schlummerte...:
    Zitat:
    Gerade diese Vorstellung macht mir Angst und Hoffnung zugleich: wieviele bedeutende Werke - und daß die "Zauberflöte" trotz oder wegen all ihrer Mängel eine solches ist, steht für mich völlig ausser Frage - schlummern noch unentdeckt in den Archiven ? Wieviel Werke werden wohl niemals aus diesem Dornröschenschlaf geweckt ?



    Diese Frage lässt sich nicht eigentlich beantworten - aber dennoch bin ich hier - entgegen meiner sonstigen Grundhaltung eher optimistisch.


    Seit ich Tonträger sammle, ist die Tendenz zu bemerken, daß Werke, bzw Komponisten einerseits in Vergessenheit geraten, andrerseits andere zu Stars avancieren, hier sei z.B Vivaldi und Boccherini genannt.


    Andere wieder schaffen es nicht ganz in die erste Reihe, aber sie werden erstmals nach hundert oder mehr Jahren wieder wahrgenommen.


    Kaum je war das Angebot so vielfältig wie heute, eine Entwickluing die vor etwa 20 Jahren begann - vielleicht auch schon etwas früher.


    Wer kannte in meiner Kindheit Rosetti, Eberl oder Ries, wem war Cannabich, Kozeluch oder Pleyel bekannt ? Vanhal, Vranicky, Dussek, Arriage, Abel, Lolly, Devienne ?
    Hüttenbrenner, Lachner, C. Kreutzer ?
    Raff, Rubinstein,Gernsheim, Rott, ?


    Das ist nur ein kleiner Auszug des heute verfügbaren, sozusagen die "Stars" der "zweiten Reihe" - besser gesagt EINIGE der Dtars der zweiten Reihe, denn noch während ich das hier schreibe fällt mir spontan ein weiteres Dutzend dieser Komponisten ein.


    Die der dritten Reihe sind unüberschaubar.......



    Sicher - nicht alles, was ich gerne hören würde, wird noch zu meinen Lebzeiten veröffentlicht werden - aber allein das was bis dato schon veröffentlicht IST, ist mehr als ich je in meinem Leben werde hören können....


    So gesehen bin ich zufrieden, da ja andauernd Unbekanntes aus den Archiven zu Tage gefördert - aufgeführt und aufgenommen wird....


    Aber einige Wünsch bleiben sicher noch offen - vorzugsweise auf dem Gebiet der Oper. Daneben gibt es sicher noch einiges, das wir nicht vermissen - weil wir es nämlich gar nicht kennen - nicht mal dem Namen nach.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich wundere mich immer schon, wieviele Werke bekannter Komponisten völlig in Vergessenheit geraten sind, bzw. erst gar keiner sie kennt.


    Zum Beispiel hat Donizetti über 80 Opern geschrieben, mein Opernführer enthält gerade mal 7 Opern von Donizetti. Opern wie Roberto Devereux, Lucrezia Borgia, Maria Stuarda existieren einfach nicht und werden nur sehr selten aufgeführt.


    Dasselbe sogar bei Verdi: Ich kenne keinen Opernführer, in dem es eine Beschreibung zu Il corsaro gibt (außer natürlich dem Tamino-Opernführer).


    __________________
    Viele Grüße,


    Marnie

    Viele Grüße,


    Marnie

  • Lieber Alfred, liebe Taminoianer,


    ich glaube, dass die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo eine Matthäus-Passion, ein Ring des Nibelungen in den Archiven schlummert, recht gering ist. Wer solche Werke schreibt, braucht schon eine Menge Kompositions- und Aufführungserfahrung. Auf einen solchen Komponisten wäre man anhand seiner früheren Werke aufmerksam geworden.


    Wagner wäre auch dann in die Musikgeschichtsbücher eingegangen, wenn er nach dem Lohengrin gestorben wäre. Dasselbe gilt für Beethoven nach der 2. Sinfonie usw.


    Die Frage ist also: Gibt es irgendwo noch Dusseks, Vanhals, Riese, Marschners, Murschhausers von denen wir nichts wissen? Oder - analog Dukas' Zauberlehrling - einen Komponisten dieser Kategorie, der einmal in seinem Leben ein geniales Streichquartett, eine geniale Klaviersonate komponiert hat, diese aber weder veröffentlichte noch zur Aufführung brachte? Das könnte natürlich sein.


    Die Toccata und Fuge BWV565, meistens Johann Sebastian Bach zugeschrieben, sucht ja auch noch "ihren" Komponisten. Es spricht einiges dafür, dass dies ein einmaliger genialer Einfall eines anderen war.


    Andererseits: Genauso wie man manchmal von "zu Unrecht vergessenen Komponisten" (bzw. Werken) spricht, genauso könnte man auch von "zu Recht vergessenen Komponisten" sprechen. Auch das muss mal gesagt werden.


    Wenn man sich die Programme von Donaueschingen ansieht: Nicht alle Komponisten, deren Werke dort aufgeführt wurden, sind einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Wer also wirklich stöbern will und "vergessene" Meisterwerke ausgraben will: Nur zu, es gibt viel zu tun! Nicht immer hatte die Mitwelt recht, die diese Werke aussortierte.

  • Zitat

    Original von WOLFRAM


    Die Frage ist also: Gibt es irgendwo noch Dusseks, Vanhals, Riese, Marschners, Murschhausers von denen wir nichts wissen? Oder - analog Dukas' Zauberlehrling - einen Komponisten dieser Kategorie, der einmal in seinem Leben ein geniales Streichquartett, eine geniale Klaviersonate komponiert hat, diese aber weder veröffentlichte noch zur Aufführung brachte? Das könnte natürlich sein.


    Der gesamte Thread, bzw seine Thematik ist ja viel komplexer, als es zunächst den Anschein hat.


    Man kann ihn so deuten, daß man von Werken spricht, welche in irgendwelchen Archiven verschimmeln, die noch nie jemand der heute lebt je gehört hat, einfach weil sie niemand kennt. Da können unbekannte, aber auch bekanntere Komponisten darunter sein. Solch ein Fall war bis vor einigen Jahren Vivaldi. Die Sammlung war nicht komplett verfügbar, vieles war noch nicht "ausgegraben", beispielsweise etliche Violinkonzerte.


    Hier als Beispiel späte Violinkonzerte - auf dem Cover prangt unübersehbar "Premiere Recording" - das war 2002.


    .


    2006 hat Deutsche Grammopohon das Projekt dankenswerterweise fortgesetzt. Wenngleich ich Sonys Tontechnik als räumlicher betrachte , so bin ich doch dankbar daß das Projekt nicht abgebrochen werden musste, und daß DGG sogar Gespürt bei der Covergestaltung bewiesen hat - Sie passen zu ihren Vorgängern...



    Und wieder handelt es sich um "Weltpremieren"


    Man könnte nun - wie ich auch - annehmen , es handle sich um eher belanglose - und deshalb übersehen - Werke Vivaldis - Nebenwerke gewissermaßen. Aber diese Annahme wird beim ersten Mal Hören Lügen gestraft, die Werke sind teilweise subtiler und gehaltvoller - mit einem Hauch Melancholie versehen, und haben mich mehr beeindruckt als vieles, was ich schon kannte....



    Es können aber auch Werke sein, die schon seit Jahren bekant - und archiviert sind - von denen man aber annimmt, daß sie niemanden interessieren.


    Ich weise hier auf Die spärliche dokumentierte Liedauswahl von Anselm Hüttenbrenner hin, auf die relativ späte Veröffentlichung von Werken der Gebrüder Lachner, auf zahlreiche Virtuosenkonzerte des 19. Jahrhunderts, welche nun bei Hyperion allmählich einer breiteren Öffentlichkeit zugängig gemacht werden.


    Hier wieder zwei "Erstaufnahmen"




    Diese Werke hätten vor einiger Zeit noch das Prädikat "vergessen" verdient - ditto die Komponisten, die vernmutlich kaum ein Tamino-Mitglied kannte - von den Nur-Mitlesern erst ganz zu schweigen.


    Noch schlimmer verhält es sich bei den Opern:


    Von Dittersdorf gibt es lediglich "EINE" Oper auf Tonträger ."Doktor und Apotheker - quasi ein Vorläufer von Lortzing - da fehlt es ja auch an allen Ecken und Enden.



    Gassman ist ebeso lediglich mit einer Operngesamtaufnahme ("Die junge Gräfin") auf CD vertreten



    Tamino kann keine unveröffentlichten Aufnahmen bekanntmachen - es hätte auch wenig Sinn (im Opernführer findet sich dennoch einiges)
    Aber wir sind bemüht - hörenswerte unbekannte Werke, welche berits aufgenommen wurden - ein wenig ins Rampenlicht zu stellen....


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Natürlich gibt es tausende solcher Werke. Weniger vermutlich von den vielen bisher genannten als z.B. von, nicht namenlosen, aber allenfalls spezialisierten Wissenschaftlern bekannten provinziellen Hof- oder Kirchenkomponisten des 17. u. 18. Jhds. Werke, die anders als sehr viel aus der 2. oder 3. Reihe im 19. Jhd. nie gestochen/gedruckt wurden und auch in Abschrift nur lokal verbreitet waren. Vieles davon ist auch verloren, verbrannt, vermodert.
    (Dagegen sind die bisher genannten Komponisten ja fast alle dem Namen nach durchaus aus Lexika usw. bekannt gewesen, nur war ihre Musik eben nicht herausgegeben oder eingespielt.)


    Dieser Umstand kann uns daran erinnern, wie unterschiedlich unsere Musikauffassung heute von der früherer Zeiten gewesen ist. Wir wollen immer wieder dasselbe, ggf. in unterschiedlichen Interpretationen hören. Damals wollte man eine Sinfonie, ein Konzert einmal oder vielleicht ein paarmal hören, dann wieder etwas Neues. Klar, wurden aufwendige Werke wie Opern oder Passionen auch mehrfach gespielt, oft überarbeitet für eine neue Saison oder Gelegenheit (daher gibt es bei Händel soviele Fassungen). Und von den bekannten Komponisten wurden die Stücke eben über ganz Europa in Abschriften verbreitet und dann lokal jeweils ein paar mal aufgeführt.


    Selbst im 19. Jhd. gilt das teils noch, etwa bei Rossini und Donizetti, wo jede Saison neue Opern fällig waren und bis auf wenige besonders erfolreiche, der Rest schnell der Vergessenheit anheim fiel. (Und ich vermute mal, ohne es zu wissen, dass ähnliches für viele von hyperion ausgegrabene Viruosenkonzerte gilt, die eben an die Person und das Charisma ihres Urhebers gebunden waren und danach kaum noch interessierten.)


    Gestochen wurde aufgrund der hohen Kosten nur Musik, die weit verbreitet, oft auch von Amateuren (oder eben den jeweiligen Hof-Ensembles) aufgeführt werden konnte. Aber selbst hier dachte wohl kaum jemand daran, die Musik über Jahre oder Jahrhunderte zu konservieren. Man interessierte sich ja auch nur in Ausnahmefällen für ältere Musik, während wir uns fast ausschließlich für solche interessieren.


    Daher handelt es sich bei vielen "Ausgrabungen" ja auch nicht um von Zeitgenossen gering Geschätztes. Sondern es war eben der Normalfall, dass einige Jahrzehnte alte Musik irgendwo deponiert und meist vergessen wurde.


    Das verschollene Meisterwerk (aus der Zeit vor ca. 1830 oder so) ist aus diversen Gründen unwahrscheinlich:


    Es wurde kaum oder gar nicht für die Schublade komponiert. Zumindest bei "großen" Werken wie Opern, Oratorien usw. nicht.
    Schubert mag einer der ersten Komponisten gewesen sein, der einige Werke schrieb, ohne dass sich eine Aufführungsgelegenheit ergab, wiewohl er sicher auf solche gehofft hat und wohl auch erhalten hätte, hätte er länger gelebt. Sein handicap war eben, dass er keine solide Stelle im Musikbetrieb erlangen konnte. Die allermeisten Komponisten waren aber ja selbst auch Virtuosen, Kapellmeister o.ä. und hatten daher Gelegenheit, ihre Sachen aufzuführen. Wenn ein Werk dann entsprechenden Eindruck hinterlassen hatte, konnte es natürlich später (s.o.) in Vergessenheit geraten. Dass aber das Wissen, dass es das Stück überhaupt gibt, verloren geht und die Abschriften irgendwo verschimmeln, dürfte die Ausnahme sein.


    Angesichts der vielen unterschobenen Werke (wie BWV 565 u.v.a.) wage ich eher die Vermutung, dass eine ganze Reihe von Werken nicht zuletzt dadurch überlebten, dass sie einem seinerzeit populären Komponisten zugeschrieben wurden. So manche Autorschaft wurde erst von der Wissenschaft im 20. Jhd. geklärt (oder jedenfalls die traditionelle Zuschreibung entkräftet), aber das Werk hat "überlebt".


    Ich meine mal gelesen zu haben, dass es für jede authentische Haydn-Sinfonie ca. eine weitere gibt, von der Abschriften unter seinem Namen kursierten. Das verschollene Meisterwerk ist nicht darunter. Und da die meisten Musikfreunde nicht mal alle authentischen Haydn-Sinfonien anhören wollen, sondern ihnen ein knappes Dutzend mit Namen ausreicht, habe ich auch gewisse Zweifel am Bedarf für 100 weitere, die man damals unter Haydns Namen zwecks besserer Marktgängigkeit verbreitet hat...






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  • Hallo Johannes,


    du hältst es für unwahrscheinlich, dass sich unter den noch unbekannten, weil noch nicht entdeckten Musikwerken wirklich bedeutende Kompositionen befinden.


    Ich denke, hier sollte man auch das anderwärts besprochene Thema, was eigentlich ein bedeutendes Kunstwerk ausmacht berücksichtigen. Angenommen, in ferner Zukunft findet jemand eine Bachsch Messe, an Umfang und stilistisch vergleichbar der h-moll Messe. Gäbe es überhaupz eine Chance, dass dieses Werk als "bedeutendes" Kunstwerk erkannt würde ? Oder würde es nach ein vielleicht auch zwei Aufführungen im Musikbetrieb als reine Kuriosität untergehen ? Könnte eine solche Komposition neben der bekannten und vielfach aufgeführten h-moll Messe überhaupt bestehen, oder würde diese auf Grund ihrer Bekanntheit nicht immer vorgezogen ?


    Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass sich solche bedeutenden Werke noch finden lassen. Von Telemann z.B. ist meines Wissens erst ein Bruchteil des bekannten Werkes überhaupt aufgeführt worden. Der bereits genannte Bach hat - wenn ich richtig orientiert bin - in seiner Leipziger Zeit fünf komplette Jahrgänge an Kantaten geschrieben, von denen nur zwei derzeit bekannt sind. Die übrigen - und darunter vielleicht auch Werke für die hohen kirchlichen Feiertage - sind derzeit verschollen.


    Vielleicht erleben wir noch die Entdeckung, vielleicht können wir deren Bedeutung aber gar nicht erkennen.


    Viele Grüße, Bernd


    JR

  • Zatopek hat recht. Für Bach und Früheres ist die Chance gegeben, dass noch Meisterwerke gefunden werden.


    Der Nekrolog sprach von fünf Passionen, selbst wenn eine davon eine Bearbeitung sein sollte, bleiben noch zwei. Die Kantatenjahrgänge hat Zatopek ja schon erwähnt.


    Andererseits haben Bachs Schüler schon ganz gut gewusst, was richtig gut war und haben das fleißig tradiert. Bei den Orgelwerken ist z. B. alle Jahrzehnte mal wieder was gefunden worden (Neumeister-Sammlung um 1985, Choralfantasie "Wo Gott der Herr nicht bei uns hält" in 2006), aber ein "großes" Orgelwerk war nicht dabei.


    Doch die Hoffnung stirbt natürlich zuletzt.

  • Wenn von Bach oder Händel ein Fragment oder ein kleineres Werk gefunden wird, gibt es eine massiv beworbene "premiere recording" CD. So geschehen vor ein paar Jahren mit einem "Gloria" Händels und einer Arie? (oder Kantatenfragment) Bachs.
    Nur waren das letztlich, ungeachtet der Ankündigungen, eben keine außerordentlich bedeutenden Werke. Daher blieb es wohl bei der Debut-CD. Ich vermute also im Gegenteil, dass ein Werk, das mit dem Namen eines bekannten Komponisten verknüpft wäre, erstmal einen großen Vorschuss erhalten würde. Ob es sich etablieren könnte, ist eine ganz andere Frage. Aber vermutlich immer noch eher als ein "vergessenes Meisterwerk" von einem Thomaskantor vor Bach oder so.


    Es ist lange bekannt, dass dutzende oder vielleicht sogar mehr als 100 Bach-Kantaten verschollen (bzw. sehr wahrscheinlich verloren) sind. Ich kenne den Stand bei den ominösen Passionen nicht. Aber meines Wissens gibt es hier auch schon mindestens einen Rekonstruktionsversuch. (Lukas- und oder Markuspassion).
    Es wird auch sehr unterschiedlich beurteilt, wieviel Musik verloren ist oder vielleicht doch in anderen Kantaten wiederverwendet wurde usw.


    Im Falle Bachs halte ich es für ausgeschlossen, dass wir bei einer "zweiten h-moll-Messe" nicht einmal wüssten, dass sie existiert hätte (wie eben bei den verlorenen Passionen).


    Deine andere Anmerkung zielt zu Recht darauf ab, für wieviel solche Werke überhaupt Platz im Musikbetrieb ist. Wie oft hört man denn etwas von den kurzen Messen (Kyrie+Gloria) Bachs? Wie oft Israel in Egypt oder gar die Chandos Anthems?
    In fast jedem jpc-Heft begegnet mir irgendein Komponist, von dem ich oft bisher nicht einmal den Namen kannte, nicht nur aus dem Barock. Viele Leute sind hier schon fleißig am Ausgraben und irgendjemand kauft das ja auch. Aber wieviel davon hat eine Chance sich zu etablieren?


    Im Falle von Komponisten, von denen eine Fülle hochklassiger Musik erhalten ist, so dass sehr viel davon schon jetzt nur von besonderen Fans wahrgenommen wird, glaube ich nicht, dass es zu wesentlich neueren Erkenntnissen führen würde, wenn eben noch ein dutzend mehr Kantaten bekannt wäre.


    Man kann nichts völlig ausschließen. Aber andererseits sollte man die damaligen Mechanismen auch nicht unterschätzen. Von Werken, die weit verbreitet waren, wird es mehr als nur eine Abschrift geben. Manches überlebte vielleicht nur, weil berühmten Namen unterschoben. Anderes sogar anonym, wie die Missa salisburgensis, die erst später mit einiger Sicherheit Biber zugeschrieben wurde.


    Machen wir doch einfach mal die Probe aufs Exempel. Welche Werke, die erst in den letzten 40 oder 50 Jahren (sagen wir seit den HIP-Anfängen) etabliert wurden, könnten als (vorher) "verschollene Meisterwerke" gelten? Damit meine ich nicht Händel-Opern, die vorher nicht gespielt wurden, denn die lagen alle schon seit dem späten 19. Jhd. gedruckt vor.


    Die Missa salisburgensis wäre wohl ein Kandidat, auch die Violinsonaten usw. von Biber (wobei ich nicht weiß, wie bekannt Werke und Komponist der Forschung schon vorher waren).


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo Elisabeth,
    natürlich hast du Recht, ich meinte die Boheme von Leoncavallo. Eigentlich schade das sich kein Opernhaus traut diese Oper zu inszenieren

  • Zitat

    In fast jedem jpc-Heft begegnet mir irgendein Komponist, von dem ich oft bisher nicht einmal den Namen kannte, nicht nur aus dem Barock. Viele Leute sind hier schon fleißig am Ausgraben und irgendjemand kauft das ja auch. Aber wieviel davon hat eine Chance sich zu etablieren?


    Eine sehr gute Beobachtung - jedoch sind wir hier wieder bei eim Kernproblem. Weder will sich ein etablierter Musikwissenschafter dazu verleiten lassen, noch ein Kritiker, hier eine Aussage zu treffen. Weil es könnte ja sein, daß sich bei einer solchen Bewertung herausstellt, daß der Rezensent (etc etc) gar nicht soviel versteht wie gemeinhin angenommen wird, oder ein potentielle Feind aus Fachkreisen spontan zu einem anderen Urteil kommt.


    So geht man meist auch Nummer sicher, wenn man sagt


    Zitat

    "Ein begabter, aber keineswegs genialer Komponist, der von den wirklich Großen in den Schatten gestellt, und deshalb vergessen wurde ...blah blah .... dennoch eine verdienstvolle Ausgrabung, die uns auch mal Werke der Mitte kennenlernen lässt ... blaah blahhh.
    Neben Größe wie Mozart uind Beethoven musste dieses Licht einfach verblassen....!!"


    Solche Rezensionen sind ein Garant dafür, daß die halbe Auflage eingestampft werden muß und der Komponist auf weitere 50 Jahre nicht mehr in Erscheinung treten wird.......


    Es gibt aber noch weitere Probleme, und die heissen Zeit, Zeit, und nochmals Zeit,


    Kein noch so musikbegeisterte Fürst des - sagen wir mal - späten 18. Jahrhunderts hatte sooo viele Werke zum Hören zur Verfügung, wie ein heutiger Tonträgersammler.


    Ich räume ein, daß es nicht alles was ich gern hören möchte auf Tonträger gibt - jedoch gibt es wesentlich mehr - als ich im Laufe der mir noch verbleibenden Lebensspanne - wie immer die beschaffen sein sollte - je werde hören können...


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Man sollte eine Gelegenheit, die Werke selten gespielter Komponisten zu hören, nicht ungenutzt verstreichen lassen.


    Auch wenn gewiss nicht alles, was erhalten ist und theoretisch aufgeführt werden könnte, zu Unrecht in den Archiven schlummert, gibt es doch immer wieder Fälle, wo man erstaunt ist, wie so bedeutende Werke jahrhundertelang von der Bildfläche verschwinden konnten. Vivaldi ist nur der prominenteste Fall der jüngeren Zeit. Aber auch heute sind keineswegs bereits alle Schätze gehoben. Ich denke da etwa an die exzellenten Lieder des heute einem größeren Publikum allenfalls noch durch seine Kirchenlieder bekannten Komponisten Adam Krieger (1634-1666). Obwohl er von seinen Zeitgenossen wie auch der heutigen Musikwissenschaft in höchsten Tönen gelobt wurde bzw. wird, hat es bisher niemand für nötig befunden, eine CD zu produzieren, die ausschließlich seinen Werken gewidmet ist.


    Außerdem sind weniger bekannte Werke auch musikhistorisch interessant, da man sich anhand ihrer oft eine bessere Vorstellung vom musikalischen Zeitgeist einer Epoche machen kann, als wenn man sich auf die Koryphäen, beschränkt, deren Stil in der Regel schon wieder so individuell ist, dass das Zeittypische in den Hintergrund tritt.


    Schließlich darf man nicht vergessen, dass weniger populäre Werke bisweilen höchst aufschlussreich für die großen und berühmten sein können. Auch hier kann man auf Adam Krieger verweisen, von dem, wie ich mich erinnere, einmal gelesen zu haben, szenische Kammerkantaten erhalten sind, die wahrscheinlich einen Eindruck von Schütz' "Dafne" vermitteln. Das könnte über den unersetzlichen Verlust dieses sagenumwobenen Werkes hinwegtrösten, wenn von besagten Kantaten denn eine Aufnahme existieren würde.


    Es ist allerdings nicht nur den Labels anzulasten, wenn Werke, die man gerne einmal hören würde, in der Versenkung verschwinden. Auch auf der Kundenseite fehlt häufig die Bereitschaft, das Interesse am Werk über das am musikalischen Genuss zu stellen. Wie in der Literatur und der Bildenden Kunst stellt sich der Genuss manchmal erst nach langjähriger Beschäftigung ein. Wer möchte, dass vergessene Werke wieder aufgeführt werden, muss auch selbst bereit sein, gelegentliche Enttäuschungen in Kauf zu nehmen.

  • Die Schuld der Tonträger-Industrie ist es jedenfalls nicht, wenn in Vergessenheit geratene Werke nicht ausreichend gewürdigt werden.


    In den letzten beiden Monaten habe ich zehn Opern notiert, die der Vergangenheit entrissen und aufgelegt wurden.


    1. Johann Adolf Hasse: Marc Anton e Cleopatra
    2. E.T.A. Hoffmann: Liebe und Eifersucht
    3. Eugen d'Albert: Der Golem
    4. Aribert Reimann: Melusine
    5. Johann Nepomuk Hummel: Mathilde von Guise
    6. Michael Balfe: Das Mädchen von Artois
    7. William Wallace: Lurline (Loreley)
    8. Pierre-Alexandre Monsigny: Le Deserteur
    9. André Gretry: Céphale et Procris
    10. Déodat de Sévérac: Le Coeur du Moulin


    Die Produktionsplanung ist vom Verkaufserfolg abhängig. Es erfordert viel Mut, sich auf ein fragwürdiges Risiko einzulassen.


    Der Schwarze Peter liegt beim Konsumenten. Wenn diesem nichts anderes als Mozart und Verdi einfällt und sich krampfhaft an Wagner und Weber klammert, wird die Chance in andere Gefilde vorzustoßen, klein bleiben.
    Wozu also jammern, wenn der Käufer nicht mitzieht. 'Le nozze di Figaro' ist gar zu schön


    Der TAMINO-Opernführer darf seine Aufgabe darin sehen, den User mit Ausgrabungen und neuen Werken bekannt zu machen und tut das auch.



    Engelbert

  • Zitat

    Original von Aulos
    Ich denke da etwa an die exzellenten Lieder des heute einem größeren Publikum allenfalls noch durch seine Kirchenlieder bekannten Komponisten Adam Krieger (1634-1666). Obwohl er von seinen Zeitgenossen wie auch der heutigen Musikwissenschaft in höchsten Tönen gelobt wurde bzw. wird, hat es bisher niemand für nötig befunden, eine CD zu produzieren, die ausschließlich seinen Werken gewidmet ist.


    Ja, dass es von dem keine Portrait-CD gibt, ist ziemlich überraschend.
    Noch krasser der Fall Ciconia (zumindest was aktuelle Verfügbarkeit betrifft), da das eine ganz zentrale Figur ist.

  • Eine hochinteressante Frage, die ich einmal in Bezug auf die Klaviermusik beantworten möchte.


    Nach meiner festen Überzeugung schlummern noch etliche bedeutende Werke unentdeckt in den Archiven. Oder sie sind einigen wenigen bekannt, erhalten aber kaum jemals die Chance, von einem breiteren Publikum gehört/erhört zu werden. Selbst wenn sie einmal auf Tonträger erscheinen, ist ja nicht gesagt, dass sich die Werke etablieren; die entsprechenden CD´s sind oft recht schnell nicht mehr erhältlich.


    Ich hatte immer schon ein Faible für „unbekannte“ Klaviermusik. Schlüsselerlebnis hierfür war eine zufällig eingeschaltete Radiosendung des WDR3, die mal um die Karnevalszeit gelaufen sein muß. Der Pianist Gerhard Puchelt spielte passenderweise nicht Schumanns Carneval, sondern die Scènes carnevalesques von Adolf Jensen. Ein herrliches Werk, abwechslungsreich, sprühend vor Laune und unverbraucht. Ehe ich reagierte und eine Kassette einlegen konnte, war der Zyklus schon fast vorüber, so dass ich nur die letzten Minuten aufzeichnen konnte.


    Die Aufnahme hat es leider nie aus dem Radio-Archiv auf Schallplatte oder CD geschafft; bis heute gibt es meines Wissens nur eine einzige CD mit Werken von Jensen.


    Gerhard Puchelt hat jedoch ein sehr lesenswertes Büchlein geschrieben mit dem Titel „Verlorene Klänge“ - eine Studie zur deutschen Klaviermusik zwischen 1850 und 1880, erschienen im Robert Lienau Verlag (1969). Von den dort behandelten Komponisten sind in den letzten Jahren einige Werke aufgenommen worden, wie z.B. von Stephen Heller, Adolph Henselt, Friedrich Kiel, Robert Volkmann oder Sigismund Thalberg. Andere sind nach wie vor sträflich vernachlässigt, wie etwa Theodor Kirchner, Ferdinand Hiller oder eben Adolf Jensen. Dabei waren alle diese Komponisten nicht, wie es leider oft heißt, bloße Epigonen, sondern haben ihren eigenen wertvollen Beitrag zur Klaviermusik geleistet.


    Wer hat z.B. je von Louis (Ludwig) Schuncke gehört? Wenn überhaupt wohl nur deshalb, weil Robert Schumann ihm seine schwere Toccata gewidmet hat. Schuncke, wie Schumann 1810 geboren, war zeitweilig dessen Nachbar. Schumann schreibt, dass man, wenn man jemandem etwas dediziert, wünscht, dass er es vorzugsweise spiele. „Da mir kein Ton entging, den er anschlug, so hatte ich meinen leisen Ärger, dass er sich nicht darüber her machte, und spielte sie ihm, vielleicht um ihn zum Studieren zu reizen, zu Zeiten aus meiner Stube in seine hinüber. Wie vorher blieb alles mäuschenstill. Da, nach langer Zeit besuchte uns ein Fremder, Schuncke zu hören. Wie aber staunte ich, als er jenem die Toccate in ganzer Vollendung vorspielte, und mir bekannte, dass er mich einigemal belauscht und sie sich im Stillen ohne Klavier herausstudiert, im Kopf geübt habe.“ Leider ist Schuncke mit nicht einmal 24 Jahren gestorben. Seine Grande Sonate op. 3 ist ein großartiges Werk. Die CD ist leider nicht mehr erhältlich.


    Besser sieht es etwa mit den Werken des Lichtensteiner Komponisten Rheinberger aus. Seine Orgelsonaten, auch Kammermusik und Chorwerke sind relativ bekannt. 1990 erschien eine CD mit ausgewählten Klavierwerken, gespielt vom Lichtensteiner Pianisten Jürg Hanselmann. Es waren sicher die Sahnestücke: die dritte und vierte Sonate, eine Toccatina und eine Toccata. Eine CD mit Werken für Klavier-Duo folgte, darunter das Duo op. 15, meines Erachtens Schubert ebenbürtig. Jedenfalls fanden sich wohl genügend Käufer (oder die Unterstützung durch das Fürstentum war groß genug), damit in den Jahren danach sämtliche Klavierwerke, bis Vol. 8, aufgenommen wurden.


    Aber wer hat solche Werke oder die der anderen genannten Komponisten je im Konzert gehört? Wenn ich die von mir besuchten Konzerte (hier: Soloabende im Raum Köln, Düsseldorf und im Ruhrgebiet) Revue passieren lasse, dann war im wesentlichen zu hören: viel Chopin, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms und Bach, erstaunlich viel Haydn und erstaunlich wenig Mozart sowie Ausgewähltes von Liszt, Debussy, Bartok, Albeniz, Scarlatti und Rachmaninov, von ein paar Kleinigkeiten anderer Komponisten abgesehen. Das mag vielleicht nicht ganz repräsentativ sein, aber einigermaßen hinkommen.


    Apropos Scarlatti. Warum nicht einmal Werke von Padre Antonio Soler spielen, der neben einem hinreißenden Fandango über 100 ebenfalls meist einsätzige Sonaten hinterlassen hat, die denen Scarlattis in nichts nachstehen.


    Von Alfred Schmidt wurde schon auf die Einspielungen von Virtuosenkonzerten des Labels Hyperion hingewiesen. Aber wann spielt denn jemand auch hierzulande Werke von Litolff, Schwarwenka oder Rubinstein? So besteht meines Erachtens ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was Interessierte auf CD hören können und dem, was die breitere Öffentlichkeit mitbekommt.


    Es ist nun mal leider so, dass das Publikum am liebsten das Altbekannte hört und sich mit unbekannten Werken keine Häuser füllen lassen. Ich will da nicht missverstanden werden, micht nicht ausnehmen. Dieses Jahr hörte ich (endlich) zum ersten Mal live den Carnaval von Schumann (mit Lucchesini) und war hingerissen. Aber ich würde mir trotzdem wünschen, auch einmal Musik etwa von Heller oder Henselt gespielt zu sehen.


    Es gibt eine Reihe von Pianisten, die sich äußerst verdient gemacht haben, was die Wiederentdeckung vergessener Klaviermusik anbelangt. Doch leider haben sie nicht die Namen, die das Publikum anzieht.


    Eine Ausnahme ist da allenfalls Hamelin, den ich aber noch nicht habe spielen sehen können. Nicht zuletzt durch ihn ist ein Komponist wieder endgültig der Vergessenheit entrissen worden, der für mich ein Meister der Klaviermusik ist: Charles-Valentin Alkan. Schon zu Lebzeiten so gut wie vergessen, spielten ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts immerhin noch ein paar Pianisten wie Busoni und Petri, ich glaube auch Arrau. In den Fünfzigern war es dann Raymond Lewenthal, später dann in noch stärkerem Maße der Engländer Ronald Smith, die unermüdlich für Alkan eintraten.


    Markus Becker spielte im letzten Jahr in Düsseldorf Haydn, Schumann und die Hammerklaviersonate von Beethoven. Als Zugabe, nicht als Hauptprogramm, gab er Werke von Dussek und Reger. Ob es zu einer Gesamtaufnahme der Sonaten Dusseks kommt (wie bei seinem Reger), ist nach seinen Worten zu schließen wohl fraglich.


    Bleibt zu hoffen, dass sich irgendwann einmal eine Wechselwirkung einstellt, zwischen sich gut verkaufenden CDs und den im Konzertsaal dargebotenen Werken und umgekehrt. Sonst bleibt es, fürchte ich, beim Dornröschenschlaf.


    Gruß,


    Rainer

  • Zitat

    Original von Rainer
    Gerhard Puchelt hat jedoch ein sehr lesenswertes Büchlein geschrieben mit dem Titel „Verlorene Klänge“ - eine Studie zur deutschen Klaviermusik zwischen 1850 und 1880, erschienen im Robert Lienau Verlag (1969). Von den dort behandelten Komponisten sind in den letzten Jahren einige Werke aufgenommen worden, wie z.B. von Stephen Heller, Adolph Henselt, Friedrich Kiel, Robert Volkmann oder Sigismund Thalberg. Andere sind nach wie vor sträflich vernachlässigt, wie etwa Theodor Kirchner, Ferdinand Hiller oder eben Adolf Jensen. Dabei waren alle diese Komponisten nicht, wie es leider oft heißt, bloße Epigonen, sondern haben ihren eigenen wertvollen Beitrag zur Klaviermusik geleistet.


    Das ist eine schöne Zusammenstellung - ich kenne nur Ferdinand Hiller nicht, die anderen sind alle respektable Komponisten. Besonders Kirchner hätte mehr Präsenz verdient, vielleicht wird das ja noch - auf CD, im Konzertleben dominieren die "Stars" in einem unverminderten Ausmaß ...


    Von Kirchner kam vor einigen Jahren im Henle-Verlag ein Album mit Klaviernoten heraus - nicht ganz leicht, aber auch für Nicht-Virtuosen spielbar!

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