Ligeti, György: Die Werke für Streichquartett

  • György Ligeti (1923 – 2006) verdanken wir drei Werke für Streichquartett:


    - Andante und Allegretto für Streichquartett (1950)
    - Streichquartett Nr. 1 „Métamorphoses nocturnes“ (1953-54)
    - Streichquartett Nr. 2 (1968')


    Die drei Werke sind in verschiedenen Schaffensperioden des Komponisten und – fast noch wichtiger – in verschiedenen Lebensumständen entstanden. Diese möchte ich in einzelnen Threads zu jedem Werk kurz umreißen. Dabei möchte ich auch folgende Aufnahmen besprechen:


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    Die CD aus der Ligeti-Edition der SONY bietet neben den drei Werken auch „Hommage à Hilding Rosenberg“ von 1982, ein Werk für Violine und Violoncello von knapp zwei Minuten Länge, sowie „Ballade und Tanz für zwei Violinen“ aus dem Jahre 1950, knapp dreieinhalb Minuten lang. Es musiziert das Arditti-Quartett. Neben den herausragenden Interpretationen glänzt die CD mit dem besten Beiheft, in dem der Komponist selbst zu Wort kommt. Hieraus zitierte ich das meiste, was sich unten in den Abschnitten zu den einzelnen Werken findet. Aus Gründen des Urheberrechtes war ich gezwungen, diese Äußerungen mit eigenen Worten wiederzugeben. – Die Aufnahmen entstanden im Juli 1994.


    Auf der CD der Deutschen Grammophon finden sich die beiden nummerierten Quartette sowie die „Ramifications“, gespielt vom Ensemble Intercontemporain unter Pierre Boulez, die Sonate für Cello solo, gespielt von Matt Haimovitz und die „Melodien“ für Orchester, gespielt von der London Sinfonia unter David Atherton. Das Hagen-Quartett spielt das erste Streichquartett (aufgenommen im Mai 1990). Die Besonderheit dieser CD liegt darin, dass wir das epochale zweite Streichquartett in der Besetzung der Uraufführung hören: Es spielt das LaSalle-Quartett. Die Uraufführung und die vorliegende Aufnahme fanden im Dezember 1969 statt.


    Die Hochpreis-CD des Artemis-Quartetts enthält die wenigste Musik. Nur die nummerierten Quartette wurden eingespielt, was eine Gesamtspielzeit von unter 43 Minuten ergibt. – Diese CD entstand in den Monaten Oktober/November 1999.


    Die neueste Einspielung der Werke (Oktober 2007) stammt vom jungen Parker-Quartett und enthält alle drei Werke Ligetis für Streichquartett. Als NAXOS-CD ist sie günstig zu haben.

  • Györy Ligeti schrieb "Andante und Allegretto" für Streichquartett noch während seines Studiums an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest. Das Werk war als Studie zur Vorbereitung seiner Abschlussprüfung gedacht.


    Ligeti schreibt, dass das Werk seine stilistische Unsicherheit am Anfang der kommunistischen Diktatur in seinem Land widerspiegelt. Zwar war er von seinem politischen Denken her oppositionell, doch er glaubte seinerzeit an die Möglichkeit einer allgemeinverständlichen Musiksprache. Jedoch erkannte er bald, dass dieser Glaube ein Irrtum und Selbstbetrug war – ein Kompromiss mit dem System ist nicht möglich. Der Widerspruch, (fast) systemkonform zu komponieren, aber oppositionell zu denken, ließ sich nicht auf Dauer unterdrücken.


    Das „Andante cantabile“ ist völlig tonal. Interessante harmonische Wendungen machen schnell klar, dass die Tonsprache des Werkes nicht in der Nähe von Haydn und Schubert, sondern eher in der Nachbarschaft von Reger und Zemlinsky liegt. Unter den Händen des Parker-Quartetts klingt diese Musik etwas sachlicher, linearer als beim geradezu liebevoll-zärtlichen Spiel des Arditti-Quartetts, das sich auch über eine Minute mehr Zeit für diesen Satz nimmt.


    Auch das „Allegretto poco capriccioso“ meidet atonale Wendungen. Es leidet ein wenig unter die Monotonie eines immer wieder auffälligen lombardischen Rhythmus‘ (umgekehrt wie ein punktierter Rhythmus, also kurz-lang), der manchmal von einer auftaktigen Note eingeleitet wird. Die Nähe zur Volksmusik ist zu hören. Der Satz ist dreiteilig angelegt.

  • Ligetis erstes Streichquartett "Métamorphoses nocturnes" ("Nächtliche Verwandlungen") entstand in den Jahren 1953/54. Zu jener Zeit fand das Leben in Ungarn unter der vollständigen Kontrolle der kommunistischen Diktatur statt. Reisen ins Ausland waren unmöglich, entsprechende Kontakte ebenso. Die informationsseitige Isolation des Landes bezog sich auch auf Noten und Bücher. Und dies nicht nur in Bezug auf den Westen, sondern auch innerhalb der Staaten des Warschauer Paktes. Moderne Kunst und Literatur waren verboten. Das Regime verlangte nach einer billigen Massenkunst, die die politische Propaganda jener Zeit unterstützen sollte. Sogar Bartok war nur teilweise genehm, nämlich gerade einmal die einigermaßen gemäßigten Werke wie das Konzert für Orchester, das dritte Klavierkonzert und die Volksliedbearbeitungen.


    Unter diesen Prämissen komponierte Ligeti für die Schublade – was damals als Ehre galt. Die Mehrheit der Künstler wählte einen solchen Weg der inneren Emigration.


    Anregung bezog Ligeti aus den mittleren Quartetten Bartoks (3 und 4). Diese lernte er aus der Partitur kennen – Aufführungen dieser Werke waren ja nicht möglich. „Metamorphosen“ bedeutet nach Ligeti eine „Folge von Charaktervariationen ohne eigentliches Thema“. Jedoch gibt es motivisches Material, aus dem sich das Werk entwickelt. Dieses besteht aus einem Ganztonschritt, welcher – um eine kleine Sekunde höher – wiederholt wird. Also etwa: g –a /gis – ais. – Diese melodische Urzelle tritt im Laufe des Werkes auch in gespreizter Form auf: aus dem Ganztonschritt wird eine Terz, eine Quart, eine Sext. Bei einer Quart erhält man z. B. g – c‘ / gis – cis‘. Harmonisch wird die volle Chromatik von zwölf gleichberechtigten Tönen genutzt, ohne dass das Werk zwölftönig zu nennen wäre.


    Abgesehen von der Modernität des Tonmaterials und der Harmonik folgt das Werk in formaler Hinsicht den Vorgaben der Wiener Klassik: Es gibt Periodik, Imitation, motivische Fortspinnung, Durchführung, durchbrochenen Satz usw. Ligeti nennt neben Bartok die Diabelli-Variationen Beethovens sein heimliches Ideal bei der Komposition der „Métamorphoses nocturnes“. – Nach mehrmaligem Hören möchte ich sagen: Die Tonsprache Ligetis hat zwar modernes Vokabular, aber eine klassische Grammatik und Syntax. Für den, der das hörende Nachvollziehen von Formen gewohnt ist, bietet dieses Werk einen hervorragenden Einstieg in moderne Musik.


    Die Einteilung des Werkes in Tracks wird verschieden gehandhabt. Vier sind es beim Parker-Quartett, acht bei den Ardittis, zwölf beim Artemis-Quartett und siebzehn bei den Hagens.


    Zu Beginn („Allegro grazioso“) hört man eine aufsteigende Skala, gespielt von Viola und 2. Violine, die um einen Halbton versetzt spielen. Darüber ist nach wenigen Sekunden die melodische Urzelle des Werkes von der Primgeige zu hören. Sogleich erklingen die bereits erwähnten Fortspinnungen und die Verarbeitungen im durchbrochenen Satz: Imitationen und durchführende Arbeit, die das Stück nach ca. anderthalb Minuten zu einem ersten dynamischen Höhepunkt führt; dieser mündet in das


    „Vivace, capriccioso“: Nach einleitenden großen Gesten spielen die Violinen über einem Ostinato erregte Figurationen. – Immer wieder hebt das Stück zu Steigerungen an, die in geradezu tumultartigen Szenen enden. Die Urzelle ist hier schon schwieriger zu erkennen, gleichwohl präsent.


    Nach ungefähr zwei Minuten bietet ein „Adagio, mesto“ einen ersten Ruhepunkt. Alle Einspielungen außer der des Parkers-Quartetts beginnen hier einen neuen Track. Die Urzelle erklingt in Terzspreizung, die zweite Hälfte wird gespiegelt: d‘‘ – f‘‘ / e‘‘ – cis‘‘ in der ersten Violine (was auch vorher schon zu hören war). Erklingen diese Metamorphosen der Keimzelle zunächst isoliert, so verdichtet sich die Musik nach und nach, bis zu einer Generalpause. Es beginnt der letzte Abschnitt des Adagio mesto: Nacheinander setzen die Instrumente mit der terzgespreizten, in der zweiten Hälfte gespiegelten Keimzelle ein, erst das Cello, dann die Geigen, dann die Bratsche, zum Teil auch nur noch in Fragmenten, es klingt resignativ.


    Ein Presto schließt an: Aufschießende Figuren allenthalben, an Dreiklangsbrechungen erinnernd, dazu ungerade Rhythmen. Nach etwa einer Minute völlig überraschend eine authentische (tonale) Kadenz: Dominante – Tonika, und es scheint so etwas wie eine schnelle Fuge über ein „Feuerwehrquartenthema“ anzuheben (Prestissimo – es ist nicht wirklich eine Fuge). Ein im pianissimo gespieltes Tremolo vibrato aller Instrumente mündet in das


    „Andante tranquillo“ – ein neuer Ruhepunkt mit choralartigen Klängen, verziert von Trillern der Primgeige. Die anderen Instrumente fallen in den Triller ein, ein äußerst erregter Abschnitt mit Tremoli, Pizzicati und auch Flageolettklängen folgt (Più mosso), dann wieder die Choralklänge.


    Wiederum völlig unerwartet hebt ein verfremdeter Walzer an (Tempo di Valse), nach kurzer Zeit wieder höchste Erregung in einem „subito prestissimo“, dem ein „subito molto sostenuto“ mit fahlen Klängen folgt.


    Pizzicati grundieren das „Allegretto, un poco giovinale“. – Im folgenden „Poco più mosso“ hören wir ein einleitendes Cello-Ostinato mit Bartok-Pizzicati (die Saite schlägt dabei geräuschvoll auf das Griffbrett auf). – Bienenschwarmartig klingen die Streicher dann im „Subito allegro con moto“, welches sich nach Vorschrift des Komponisten bis zum Prestissimo beschleunigt. Fortführung der erregten Bewegung im Pianissimo-Bereich.


    Ein ca. 12-sekündiges „allegro comodo, giovinale“ bietet mit seinen Pizzicati noch einmal Entspannung, bis Glissandi in das „Subito allegro con moto“ überleiten – Bienenschwarmklänge, dann zurück ins Pianissimo, und wir hören die Urzelle in Urform, und doch verwandelt, auf dem Hintergrund irisierender Glissandi und sonstiger streicherischer Klangeffekte (am Griffbrett gestrichen?).


    Ein rezitativartiges Solo des Cello bildet den letzten Abschnitt vor dem finalen Lento, das noch einmal auf der Urzelle des Werkes aufbaut.


    Muss man es erwähnen? Die kontrastreiche, hochvirtuose Musik scheint dem Hagen-Quartett auf dem Leib komponiert. Mitreißend, spektakulär klingt diese Musik bei ihnen.


    Weniger auf Kontrastwirkungen als die Hagens legt das Arditti-Quartett seine Darbietung an. Für mich klingt diese Musik bei ihnen völlig natürlich, ungezwungen, teilweise auch entspannt.


    Etwa die Mitte zwischen der Energie und dem Ausdruckwillen der Hagens und der Natürlichkeit der Ardittis hält die Wiedergabe des Artemis-Quartetts.


    Sehr lebendig, etwas direkter aufgenommen als die Aufnahme des Artemis-Quartettes, ist die Aufnahme des Parker-Quartetts – eine großartige Einspielung des jungen Quartettes und eine mutige Debut-CD(?)! In dieser Form müssen sie sich nicht hinter den Hagens und Ardittis verstecken. Was will man mehr?


    Fazit: Die Auseinandersetzung mit diesem Werk hat mich sehr bereichert. Hochinteressante Musik, formal klassizistisch, doch voll Originalität und Schwung. Ich kann alle genannten Aufnahmen empfehlen, nur bei der Aufnahme des Artemis-Quartetts würde ich Preis und Leistung gut abwägen. Höchst instruktiv ist das Beiheft bei den Ardittis.


    __________________
    Viele Grüße,
    Wolfram

  • Nach Ende des Volksaufstands in Ungarn floh György Ligeti im Dezember 1956 nach Wien und nahm die österreichische Staatsbürgerschaft an. In den Jahren 1957 und 1958 setzte er sich im Studio des WDR in Köln mit den Möglichkeiten elektronischer Komposition auseinander. Dabei begegnete er Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig. Die Werke „Glissandi“ und „Artikulation“ entstanden in jener Zeit. Begegnungen mit Pierre Boulez und den Komponisten der Kölner, Darmstädter und Pariser Avantgarde schlossen sich an. Ligeti studierte Werke von Webern und Débussy.


    Gegen Ende der 50er Jahre hatte Ligeti dann mit der „Mikropolyphonie“ eine eigene Kompositionstechnik entwickelt. Diese Technik bezeichnete er als Synthese aus seinen Kenntnissen der Polyphonie von Ockeghem, Deprez und Palestrina, die er noch in seiner Budapester Zeit erworben hatte, einerseits, und den vielschichtigen Klangmöglichkeiten der elektronischen Musik beim WDR in Köln andererseits. Diese Technik komplexer mikropolyphoner Stimmgewebe wandte er zunächst in Orchesterwerken an („Apparitions“ und „Atmosphères“, 1959-61), reduzierte jedoch später die Anzahl der Stimmen. Das zweite Streichquartett stellt in dieser Hinsicht den Endpunkt einer Entwicklung Ligetis dar.


    Jeder der fünf Sätze des zweiten Quartettes ist eine andersartige Verwirklichung derselben Idee: Aus polyrhythmischen Stimmbündeln werden Bewegungsstrukturen ausgeformt. Es gibt keine motivische Technik mehr, keine Konturen, nur noch klingende Gewebe. Ligeti sagt, dass er – inspiriert durch Cézannes Bilder - fragte, in wie weit Farben die Konturen ersetzen können und wie kontrastierende Volumina und Gewichte so etwas wie Form erzeugen können.


    Was „polyrhythmische Stimmbündel“ für die ausführenden Spieler bedeuten mag, sei exemplarisch am Beginn des dritten Satzes aufgezeigt: Notiert ist alla breve (2/2), wobei 4/4 in Klammern angefügt ist. Das Tempo ist mit Viertel = 56 bezeichnet. In den ersten beiden Takten ist eine Generalpause. Im dritten Takt hat die 1. Violine zunächst eine Achtelpause, dann sieben Achtelnoten. Im nächsten Takt erst eine (Achtel-) Quintole, dann eine Sextole, im nächsten Takt eine Septole und acht gewöhnliche Sechzehntel (=Oktole), im nächsten Takt eine Nonole und eine Dezole, dann schließlich eine Undezole und eine Duodezole, dann für weitere drei Takte (Sechzehntel-)Duodezolen. – So weit, so gut – die 2. Violine beginnt rhythmisch genauso wie die erste, der Übergang zur Quintole, Sextole usw. ist allerdings um jeweils einen Takt später. – Dito Bratsche: Alles ein Takt später als die 2. Violine, dito Cello: alles ein Takt später als die Bratsche.


    Das bedeutet, dass zu Beginn des siebten Taktes die 1. Violine eine Undezole spielt, die 2. Violine eine Dezole, die Bratsche eine Nonole und das Cello acht gewöhnliche Sechzehntel. Satzüberschrift: „Come un meccanismo di precisione“ – „wie ein Präzisionsmechanismus“. – Ich stelle mir skurrile Situationen in den Proben vor, wenn angesichts der rhythmischen Komplexität die Bratsche mit der 2. Violine schimpft: „Du treibst!“. (Das ist eigentlich der Kontrabasswitz zum „Rheingold“-Vorspiel, passt hier aber auch.)


    Die Satzüberschriften lauten:
    I. Allegro nervoso
    II. Sostenuto, molto calmo
    III. Come un meccanismo di precisione
    IV. Presto furioso, brutale, tumultuoso
    V. Allegro con delicatezza


    Ich muss nun zugeben, dass mich die Hörlektüre dieses Werkes ein wenig ratlos zurücklässt. Auch das Mitverfolgen in der Partitur ist keine Hilfe – im Gegenteil. Je öfter ich das Werk höre, desto mehr meine ich, dass es überhaupt nicht auf das Mitverfolgen einzelner Elemente ankommt. Eine Hörbegleitung, wie ich sie zum ersten Streichquartett Ligetis versuchte, müsste scheitern – oder zumindest ganz anders aufgebaut sein, ganz andere Hinweise zum Nachvollzug geben.


    Es kommt beim Hören dieses Werkes wohl darauf an, Texturen und Gewebe wahrzunehmen. Ganz in dem Sinne, wie es Ligeti schreibt: „Aus polyrhythmischen Stimmbündeln werden Bewegungsstrukturen ausgeformt. Es gibt keine motivische Technik mehr, keine Konturen, nur noch klingende Gewebe.“ Alles an Themen und Motiven geschulte Hören stößt hier an seine Grenzen. Es gilt, Flächen und Muster zu hören, wo man eventuell Linien erwartet. Ligetis Ansatz bei Cézanne scheint der beste Ansatz zum Hören zu sein: „in wie weit können Farben die Konturen ersetzen?“


    Darum schließe ich diesen Beitrag bis auf Weiteres, in der Hoffnung, dass die Erleuchtung noch kommen möge. Vom Erfassen eines eventuellen emotionalen Verlauf des Werkes fühle ich mich Lichtjahre entfernt. Aber vielleicht ist es ja rein konstruktivistisch und „Emotionalität“ eine hier unangemessene Kategorie … ? Was meint Ihr?

  • Hallo Wolfram!


    Ich muss dir leider sagen, dass ich die Streichquartette Ligetis noch nie hörte.
    Ich lernte Ligeti erst vor kurzem kennen - und war aber auf Anhieb begeistert!


    Bis jetzt habe ich drei Werke Ligetis erworben:


    Das Orchesterwerk "Atmospères", sein "Klavierkonzert" und die wunderbare, 16-stimmige Motette "Lux aeterna"...


    Ich kenne mich mit Ligeti zugegebenermaßen recht wenig aus, aber nach deinem Beitrag kann ich schließen, dass es nicht im Sinne Ligetis war, im 2. Quartett motivische Technik zu verwenden.


    Weißt du, wenn ich Musik höre, lasse ich alles auf mich zukommen.
    Ich erwarte mir nichts Spezielles.
    Das half mir bei Ligeti sehr, denn zuerst dachte ich mir, er würde für mich sehr schwer zugänglich sein - aber, NEIN!


    Ligeti schafft, wie du sagst, "klingende Gewebe", er schafft Räume, in die man aus unserer hektischen, stressigen Welt fliehen kann.


    Ich weiß nicht, ob du die Motette "Lux aeterna" von ihm kennst, aber das ist auch so ein Werk, wo großartigste Räume entstehen, "klingende Gewebe", wie der Komponist sagt.


    Ich weiß nicht, welchen Bezug du zu Ligeti hast, oder wie du sonst Musik hörst,
    ich kann dir nur sagen, dass ich mit dem "einfach-auf-sich-zukommen-lassen" schon sehr viel Freude hatte, und dass ich jeden Komponisten, den ich bis jetzt kennenlernte, von der Renaissance bis zur Avantgarde, schätzen lernen konnte.


    Jeder Komponist hat seinen Reiz, oft muss man nur lange genug suchen, oder eben darauf warten, dass seine Musik zu dir kommt und dich in die Weiten ihrer geschaffenen Räume mitnimmt.


    Lass das 2. Quartett einfach auf dich zukommen, ich bin mir sicher, irgendwann wird es dich erreichen...


    Gruß

    Komponiert ist schon alles - aber geschrieben noch nicht. (W.A. Mozart)

  • Hallo Hammel,


    danke für die Rückmeldung! Ja, mir sind andere Werke Ligetis durchaus vertraut, insbesondere das von Dir genannte Lux aeterna und die Atmosphères, aber vor allem auch die Orgelwerke. Die zweite Etüde für Orgel hat Bewegungsmuster, die sich auch im zweiten Streichquartett wiederfinden, Polyrhythmik und Mikopolyphonie.


    Nur der "geübte" motivisch-strukturelle Höransatz für Streichquartette funktioniert nicht. Eine klassische inadäquate Hörerwartung ... Kommt Zeit, kommt Hören. Vom ersten Hören des Ring und des Tristan bis zum ersten gewinnbringenden Hören dieser Werke vergingen bei mir Jahre. Geduld ist angesagt. Aber so viel ist mir schon klar: Bei Ligeti lohnt das Warten.

  • Zitat

    Original von Wolfram
    Bei Ligeti lohnt das Warten.


    Mit Sicherheit


    Gruß

    Komponiert ist schon alles - aber geschrieben noch nicht. (W.A. Mozart)

  • Kleiner Nachtrag: Die Einspielung der Quartette mit dem Artemis Quartett, bei der ich das Preis-Leistungs-Verhältnis gerügt hatte, ist kürzlich in einer attraktiven Neukopplung erschienen - 2 CDs für kaum mehr als das halbe Geld für die nur halb gefüllte Einzel-CD:



    Wer zu früh kauft, den bestraft das Leben.


    THREADRESTAURIERUNG - BITTE NUR NACH AUFRUF HIER ANTWORTEN


    Bitte SCHNEEWITTCHEN einen LEERBEITRAG (ein Wort ist nötig, da sonst keine Speicherung möglich) hier anhängen

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    Hier mal das Cover der Einspielung mit dem Artemis Quartett von 1999 von der CD,die 2000 bei Ars Musici erschien.
    Die Aufnahme wurde später bei Virgin/EMI wiederveröffentlicht.

    mfG
    Michael

  • Hallo Wolfram,


    dein Beitrag regt an, nach langer Zeit das 2. Streichquartett anzuhören. Ich habe es in einer Aufnahme mit dem LaSalle-Quartett, die dieses Werk 1969 uraufführten. Unmittelbar ansprechend ist der 3. Satz "Come un meccanismo di precisione", der 100% einhält, was der Titel verspricht.


    Ligeti hat eine neue Technik des Zitats und der Collage entwickelt. Da klingen nicht bekannte Melodie-Fetzen oder Bruchstücke von Bildern an, sondern er hält das Füllmaterial fest, das in allen großen Musikwerken zwischen den emotional bewegten Passagen den Fortgang sichert. Bisweilen scheint ein Moment von Beethoven, Schubert, Ravel oder Sibelius zu hören sein, andere Hörer werden sicher anderes entdecken. Daher würde ich den Begriff "Gewebe" weniger als technischen oder formalen Ausdruck verstehen, sondern ganz wörtlich. Ligeti sucht in der Musiktradition nach dem Gewebe, das dort in den großen Kunstwerken eine ähnliche Aufgabe hat wie das Gewebe in einem organischen Körper.


    Soll das auf Begriffe gebracht werden, die zu philosophischen oder genauer musikphilosophischen Fragen führen, kann vom Stoff der Musik oder dem Material der Musik gesprochen werden. Ligeti will jedoch nicht wie Adorno einen solchen Begriff aus der Musik mithilfe abstrakten Denkens herausfinden, sondern er will ihn am Körper der Musik wahrnehmen und vorführen.


    Ligeti hat sich sehr kritisch und abwehrend gegenüber allen Deutungen und Zuordnungen verhalten (siehe die Zitate in dem lesenswerten Artikel in der "Zeit" zu seinem 80. Geburtstag, "Strubbelkopf im Wunderland"). Er wollte nicht über die Musik sprechen, sondern innerhalb der Musik sein Anliegen deutlich machen.


    Das hat ihn zu einer eigenen Art von Emotionalität geführt. Musik wie diese sträubt sich gegen jedes traditionelle Schönheitsempfinden. Wenn er nach dem Füllmaterial in der Musik sucht, will er dasjenige an der Musik treffen, worauf sich Emotionalität verlassen konnte, wenn sie dem harmonischen Fluss der Musik folgte, allerdings ohne zu verstehen und wahrzunehmen, was geschah. Die Emotionalität sah nur die Botschaften der großen Motive und nicht, woraus "gemacht" war, das diese emotional wirken konnten. Ligeti will die Botschaften nicht dadurch kritisieren, dass er ihnen widerspricht, sondern indem er zeigt, woraus sie sind. Wer die Brüchigkeit ihres Materials durchschaut kann auch zu verstehen beginnen, warum alle westliche Kultur nicht die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindern konnte. Ligeti und seine direkten Familienangehörigen waren ein unmittelbares Opfer. Für ihn gab es keine emotionalere Frage als zu verstehen, wie das möglich war.


    Ligeti war sehr an Naturwissenschaften und Mathematik interessiert. Für mich wirkt seine Methode so, als wolle er die "Beweismethoden" der emotionalen Musik erkennen. So regt seine Musik an, sich über die Emotionalität der Musik bewusst zu werden an einem Werk, dass nur an wenigen Stellen (wie dem Anfang des 3. Satzes) deutlich emotional ist.


    Ein Werk wie dieses regt natürlich auch an, über den historischen Stellenwert dieser Art von Musik nachzudenken. Heute kann wohl kaum mehr nachvollzogen werden, welche Frische und belebende Wirkung von ihr in den 1960ern und 1970ern ausgehen konnte. Nach den großen Wirtschaftskrisen von 2000 und 2009 hat sich eine große Ernüchterung über den Erfolg abstrakten Denkens durchgesetzt. Fragen dieser Art führen weit über das 2. Streichquartett hinaus, lassen sich aber davon inspirieren.


    Viele Grüße,


    Walter

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  • Lieber Walter,


    ganz herzlichen Dank für Deine ausführliche Antwort! Danke auch für den Hinweis auf den Artikel von Claus Spahn, der im Online-Archiv der ZEIT noch aufgefunden werden kann!


    Dein Beitrag baut wesentlich darauf auf, dass Du den Begriff „Gewebe“, den Ligeti selbst zur Beschreibung seiner Kompositionstechnik verwendet, interpretierst als Synonym für „Füllmaterial“, das in allen großen Musikwerken vorkommt. Ferner sagst Du, dass Ligeti nach diesem Füllmaterial in der Musik sucht.


    Ich finde das recht plausibel, und kann die Folgerungen, die Du unter diesen beiden Prämissen ziehst, gut nachvollziehen – bzw. in dem Maße nachvollziehen, wie ich den Prämissen glaube. Kannst Du diese denn belegen? Ich hatte den Begriff „Gewebe“ bei Ligeti anders verstanden.


    Ligeti schreibt über das zweite Quartett: „ [ … ] In dieser Musik gibt es keine motivische Technik mehr, keine Konturen, nur noch klingende Gewebe, manchmal zerfasert, fast flüssig (wie im ersten und letzten Satz), ein andermal körnig, maschinell (wie im mittleren Pizzicato-Satz). Beeinflusst war ich unter anderem von Cézannes Malweise: Wie kann Farbe die Konturen ersetzen, wie können kontrastierende Volumina und Gewichte Form erzeugen?“


    Das klingt für mich so, als ob Ligeti unter „Gewebe“ nicht den Kitt, nicht das Füllmaterial versteht, das große Werke zusammenhält - mit anderen Worten: „Gewebe“ ist für ihn keine Instanz der Kategorie „Material“ -, sondern „Gewebe“ ist für ihn eine Methode, mehrere Noten miteinander in Beziehung zu setzen – mit anderen Worten: „Gewebe“ ist für ihn eine Instanz der Kategorie „Kompositionstechnik“.


    Wie kommst Du auf die Gleichsetzung „Gewebe“ = „Füllmaterial“?


    __________________
    Viele Grüße,
    Wolfram

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Servus Wolfram, herzlichen Danke für Deine interessanten und ausführlichen Berichte zu den beiden Streichquaretten von Ligeti.


    Besonders schätzen wir das 1. Streichquartett von 1953/54, das in Wien von dem ebenfalls geflüchteten Ramor-Quartett Uraufgeführt wurde.
    György Ligeti sagte zu seinem 1. Streichquartett: „Mein Streichquartett komponierte ich angeregt durch Bartóks mittlere Quartette (Nr. 3 und 4), die ich aber nur aus der Partitur kannte, da sie nicht gespielt werden durften. "Metamorphosen" bedeutet in diesem Fall eine Folge von Charaktervariationen ohne ein eigentliches Thema, doch entwickelt aus einem motivischem Grundkeim (zwei große Sekunden, verschoben um eine kleine Sekunde). Melodisch und harmonisch beruht das Stück auf der totalen Chromatik, in formaler Hinsicht folgt es aber den Kriterien der Wiener Klassik: Periodik, Imitation, motivische Fortspinnung, Durchführung, durchbrochener Satz. Modernität und Tradition empfand ich nicht als gegensätzlich, sondern vielmehr als doppelte Panzerung gegen die erniedrigende Kunstdiktatur.“


    Inzwischen haben zahlreiche Streichquartette diese Komposition in ihrem Repertoire, so zum Beispiel:

    • Arditti Quartet
      Armida Quartett
      Artemis Quartett
      Atrium Quartett
      EnAccord Streichquartett
      Erato Quartett
      Hagen Quartett
      Hugo Wolf Quartetts
      Keller Quartett
      LaSalle-Quartett
      Leipziger Streichquartett
      Mandelring Quartett
      Merel Quartet
      Minetti Quartett
      Minguet Quartett
      Nomos Quartett
      Ortys Quartett
      Parker Quartet
      Prisma Quartett
      Quatuor Ardeo


    in Basel konnten wir das 1. Streiichquartett von folgenden drei Ensembles anhören:

    • Artemis Quartett
      Quatuor Ardeo
      Erato Quartett


    leider hat das Hagen Quartett das Stück noch nie in Basel aufgeführt.


    Gruss


    romeo&julia

  • Ich glaube nicht so recht an Walters Thesen.


    In den späten 60er Jahren ist Ligeti ja auf dem Weg weg vom reinen "Gewebe" und läßt durchaus expressive Melodiebögen daraus hervorwachsen, gerade auch im Streichquartett, man fühlt sich etwa an Alban Berg erinnert und auf dem Weg zu einer Art Neo-Expressionismus.


    Ligetis Musik war aber auch vorher nie Manifest des "abstrakten Denkens". Und Ligeti bedient das "traditionelle Schönheitsempfinden" ja auch auf besonders entgegenkommende Weise, weshalb er nie eine "Neue-Musik-Getto"-Erscheinung war. Ligetis Musik ist immer von exquisiter Oberfläche, süffig in den Effekten und Entwicklungen, unmittelbar ansprechend ohne dass Konzeptuelles reflektiert werden müsste. Ligeti hat ja auch nie zum engeren Avantgarde-Kreis gehört, hat (im Gegensatz sogar zu Reich und Pärt) doch auch nie seriell komponiert, oder?


    Ich nehme an, Walter hat sich einfach beim Hören von Ligeti an Begleitstimmen älterer Musik erinnert gefühlt.


    THREADRESTAURIERUNG !! bitte nur nach Aufruf antworten !!!
    BITTE NUR der User WALTER T. möge einen leeren Beitrag (ein Wort ist notwendig, da sonst nicht abspeicherbar) an diesen Beitrag hängen

  • Man ist doch immer wieder angenehm überrascht, was man im Taminoforum so entdecken kann. Anläßlich einer gestrigen Hörsitzung des mir bisher kaum bekannten 1. Streichquartetts von György Ligeti wollte ich schauen, ob es zu dem Thema schon etwas gibt und stosse hier auf ausführlichste und sehr kompetente Beiträge. :jubel:


    Da der letzte Beitrag fast 6 Jahre alt ist, wird es Zeit den thread mal nach vorne zu holen und ins Bewusstsein der interessierten Hörer zu holen.


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    Ich habe gestern die Aufnahme mit dem Hagen Quartett gehört, die Anfang der 90er Jahre entstand. Ich hatte sie schon als Kopie und sie lief mir dann gestern günstig im Original und auch noch mit Autogrammen der Künstler "verziert" über den Weg. Das erste Ligeti Quartett ist ein hochinteressantes Werk, das moderner ist als ich erwartet hatte, natürlich nicht so modern wie das 2. SQ, aber doch auch schon ganz gut mit avantgardistischen Techniken dabei. Und erwartungsgemäß faszinierend gespielt von den Hagen Geschwistern und Rainer Schmidt.


    Die anderen Aufnahmen, die ich besitze (Parker, Arditti, Artemis) werde ich in den kommenden Tagen zu Rate ziehen.

  • Es sind in den letzten Jahren sehr interessante Neuerscheinungen zu diesen Werken erschienen. Erst vor kurzen erschien die Einspielung des Quatuor Diotima, die sich viel Zeit mit diesen Werken gelassen haben, allein aus Respekt!



    Man hat tatsächlich bei Quartetteinspielungen selten den Eindruck von Schnellschüssen. Fast alle sind auf höchstem Niveau. Mich fesselt die Neuaufnahme der Quartette durch das faszinierende Zusammenspiel des Ensembles (bei der neuen Aufnahmetechnik doch viel deutlicher durchzuhören als bei älteren Aufnahmen) und die deutlichen Hinweise der "Métamorphoses nocturnes" zu den ungarischen Wurzeln.


    Alle Kritiken, die ich finden konnte waren positiv, was mich nicht überrascht. Es war Album der Woche beim BR-Klassik


    https://www.br-klassik.de/aktu…-quatuor-diotima-100.html


    Leider kann ich den verwöhnten Taminos kein Video von David Hurwitz anbieten :(


    Aber, wer sich ein ungefähres Urteil bilden will kann hier eine Live-Einspielung des zweiten Quartettes des Ensembles vom 18.1.2023 aus der Ilshin Hall sehen