Je größer das Wissen, desto größer das Staunen

  • Diese Feststellung von Alfred Brendel bringt auf den Punkt, was schon viele bei der Beschäftigung mit Musik in beglückender Weise erfahren durften. Platt gesagt: Man hat mehr davon, wenn man etwas darüber weiß.


    Stellt Euch vor, in einem Museum wären nur die Exponate in den Schaukästen. Keine Schilder, die etwas zu den Gegenständen sagen. Keine Texttafeln, die Zusammenhänge aufzeigen. Kein Museumsführer. Ich meine, wenn Museen so wären, dann ginge ich grad so dumm wie zuvor wieder hinaus.


    Natürlich kann man – wenn man will - Musik auf die Genusskomponente reduzieren. Doch ist es nicht in vielen Fällen bereichernd, etwas zu wissen?


    Was wäre das Strauss‘sche „Heldenleben“ oder seine „Alpensinfonie“ ohne Kenntnis des außermusikalischen Vorwurfs? Glänzend instrumentierte Orchesterspektakel, gewiss. Doch ist es nicht hilfreich, zu wissen, wo man gerade im Stück ist und was dargestellt wird? Die CD ist da ein Fortschritt: Wenn sie sinnvoll in Tracks aufgeteilt ist, kann man beim Kennenlernen des Werkes ohne Taschenpartitur anhand der Nummern verfolgen, in welchem Abschnitt man gerade ist.


    Das Finale von Brahms‘ vierter Sinfonie e-moll ist großartige Musik. Doch ist es nicht ein Gewinn, zu wissen, dass es in Form einer Passacaglia komponiert ist? Macht es nicht Vergnügen, das Ostinato mitzuverfolgen? Mir würde ohne das etwas fehlen – halt, stimmt nicht, mir wäre nicht einmal bewusst, dass mir etwas fehlte ….


    Den Schluss von Bruckners achter Sinfonie fand ich immer etwas seltsam angehängt, als ob er nicht dazu gehören würde. Bis ich irgendwo las, dass in diesem Schluss die Hauptthemen aller vier Sätze grandios miteinander kombiniert sind und gleichzeitig erklingen. Nach einer geringen Mühe des Nachvollziehens kann ich sagen: Seitdem geht an dieser Stelle für mich der Himmel auf …


    Was sind Eure Stücke, bei denen Euch „Wissen“ zum „Staunen“ bringt?

  • zuert einmal möchte ich Dir zustimmen- mir geht es genauso, wie Dir. Das Wissen, dass ich mir als musikalisch ungebildeter, bzw. nur durch Hören gebildeter Mensch zu einem Stück aneignen konnte, erhöhte stets meinen Genuß beim Hören.
    Da ich keine Partituren lesen kann, geht es bei mir oft um die Hintergründe und Deutungen bestimmter musikalischer Erscheinungen, die ich " aus zweiter Hand" erfahre und nachzuerleben versuche. In meinem Stammgebiet, der geistlichen Musik, geht es mir hingegen um das semiotische Prinzip der Musik, also welche theologische Essenz, welche " Predigt" steckt in den Noten. In diesem Bereich war Bach so genial, dass wir es heute nur erahnen und partiell nachvollziehen können.


    Ich nenne mal ein ganz bekanntes Beispiel:
    Im Eingangschor der Matthäuspassion sind viele unerfahrene Hören ganz berührt, wenn die Knaben im Cantus Firmus " O, Lamm Gottes unschuldig" anstimmen - da wird ja auch sehr deutlich gepredigt.
    Entsprechend verunsichert war ich, als ich vor Jahren den bei brilliant erschienenen BBC-Mitschnitt unter Paul Goodwin anhörte - und da einfach kein Knabenchor kam. Flugs nachgelesen, erfuhr ich, dass Bach in einer Frühfassung den Choral nur von der Orgel in das doppelchörige Wogen hineinspielen ließ. Und diese zarte,silbrige Orgelstimme, die immer vom Untergang in den Klangwogen bedroht zu sein schein - die öffnet mir den Himmel. Der Knabenchor scheint dagegen eine fast unnötige Unterstreichung dieses kargen Chorals. Nur, würde man ihn beim Gelegenheitspublikum heute noch erkennen...?


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Prinzipiell mag das natürlich richtig sein, sicher bereitet es intellektuellen Genuß, ein Kunstwerk zu "durchschauen".


    Zitat

    Ein Satz von Wolfram
    Mir würde ohne das etwas fehlen – halt, stimmt nicht, mir wäre nicht einmal bewusst, dass mir etwas fehlte ….



    beruhigt mich sehr. Ich weiß nämlich z.B. nicht, daß das Finale der Brahms 4 eine Passacaglia ist. Und höre es trotzdem mit Genuß.


    Ist es nicht auch so, daß die Komponisten ihre Musik für ein Publikum schrieben, bei dem sie eben kein musikalisches Formenverständnis und keinen musikanalytischen Verstand voraussetzen konnten?


    Ist es vielleicht sogar so, daß wir Musik "entzaubern", wenn wir sie gar zu gründlich analysieren wollen?


    Für mich ist es immer wichtig, die Musik in den historischen Kontext zu stellen (Wer waren Zeitgenossen des Komponisten, was passierte geade in diesen Zeiträumen, gab es außermusikalische Anlässe...). Kenntnisse also, über die natürlich das zeitgenössische Publikum verfügte.


    Sicher, bei Programmmusik sollte ich schon das außermusikalische Programm, auf dem sie beruht kennen. Ebenso sicher werde ich mich vorm Hören einer Oper mit dem Libretto befassen.


    Aber den formalen Aufbau z.B. eines Streichquartetss muß ich nicht kennen, um es mit Genuß zu hören.


    Vielleicht ist es wirklich so, daß sich zum rein emotionalen musikalischen Genuß ein (durchaus beglückender) intellektueller Genuß gesellt, wenn man das Werk analysieren und durchschauen kann.


    Aber vielleicht geht's mir ja auch nur wie dem Fuchs und den sauren Trauben



    Reinhard

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Hallo Reinhard,
    also von " durchschauen" kann zumindest bei mir Laien keine Rede sein. Ich bezog mich allein auf die für mich fassbaren Informationen, DIE bringen mich weiter. Also etwas zu Hintergründen und Wesen des Werkes - ein musiktheoretisches Sezieren hingegen wäre so, als müßte man jedes köstliche Essen erst in seine Grundbestandteile zurückverfolgen...


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Aber Du wirst doch z.B. nichts dagegen haben, ein Schwein als Schwein und ein Kalb als Kalb zu erkennen, oder? Insofern durchschaust Du Dein Essen womöglich mehr als die Musik, die Du hörst.

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  • Zitat

    Original von Wolfram
    Das Finale von Brahms‘ vierter Sinfonie e-moll ist großartige Musik. Doch ist es nicht ein Gewinn, zu wissen, dass es in Form einer Passacaglia komponiert ist? Macht es nicht Vergnügen, das Ostinato mitzuverfolgen? Mir würde ohne das etwas fehlen – halt, stimmt nicht, mir wäre nicht einmal bewusst, dass mir etwas fehlte ….



    Das ist ein sehr spannendes Beispiel. Obwohl ich es im Konzertführer gelesen hatte, habe ich im Grunde erst anhand der Noten geglaubt, dass hier (bis zur Coda) tatsächlich 30 8-Takter aufeinander folgen. Das faszinierende an dem Satz finde ich jedoch viel eher, wie Brahms es schafft, hier einen natürlichen Fluß zu erzeugen, so dass man, selbst wenn man es weiß, nur sehr selten den Eindruck einer "typischen" Passacaglia hat. Das Brillante liegt nicht nur an der strengen Form, sondern ebenso oder noch mehr darin, dieses Gerüst in den Hintergrund treten zu lassen. Insofern bin ich fast wieder unschlüssig, ob man das wirklich wissen muss oder sollte.
    Zitat:


    Den Schluss von Bruckners achter Sinfonie fand ich immer etwas seltsam angehängt, als ob er nicht dazu gehören würde. Bis ich irgendwo las, dass in diesem Schluss die Hauptthemen aller vier Sätze grandios miteinander kombiniert sind und gleichzeitig erklingen. Nach einer geringen Mühe des Nachvollziehens kann ich sagen: Seitdem geht an dieser Stelle für mich der Himmel auf …



    Diese Passage (auf die meiner Erinnerung nach ad nauseam in Beiheften usw. hingewiesen wird) finde ich noch immer gesucht. Zum einen müssen die Themen ziemlich gedrückt und geschoben werden, damit es passt, zum anderen dominiert m.E. das etwas aufdringliche Michel-Thema des Scherzos (in Dur und verbreitert, wenn ich recht erinnere). Abgesehen davon sind die Themen derart simpel, dass die Kombination kontrapunktisch mir nicht besonders interessant erscheint. Im Finale der 5. ist das schon ein wenig anders (obwohl ich auch dort das Demonstrative nicht so besonders mag.)
    Viel schwerer und da brauche ich eben Hilfe durch Wissen in Form von Kommentaren, Noten usw. fällt es mir, einen so langen Satz wie dieses Finale einigermaßen zu überschauen und überhaupt durchzuhalten.


    Man kann sehr viel nur hörend entdecken und kann Stücke duch häufige Wiederholung sehr gut kennenlernen. Aber spätestens bei den Kommentaren zu den Haydn-Sinfonien habe ich mal wieder gemerkt, dass es viel schwieriger ist, wenn man die Noten nicht vorliegen hat.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    Zitat

    Man kann sehr viel nur-hörend entdecken und kann Stücke duch häufige Wiederholung sehr gut kennenlernen.


    Volle Zustimmung ... darüber hinaus ist wiederholtes Hören und Achten auf Strukturen ein exzellentes Training für die Begegnung mit unbekannten Werken.


    Zitat

    Aber spätestens bei den Kommentaren zu den Haydn-Sinfonien habe ich mal wieder gemerkt, dass es viel schwieriger ist, wenn man die Noten nicht vorliegen hat.


    Bei Haydn bin ich da nicht sicher. Ich meine, es reicht schon fast zu wissen, dass der erste und manchmal der letzte Satz in Sonatenhauptsatzform stehen und dass das zweite Thema manchmal lediglich eine Mutation des ersten ist, also nicht immer ein Gegensatz.


    Bei den ganz frühen Quartettdivertimenti kann man hervorragend Echtzeit-Analysen üben ... wenn man im Konzertsaal einem weniger bekannten Quartett von Schubert, Tschaikowsky, Dvorak usw. usw. begegnet, hat man härtere Nüsse zu knacken. Übung macht den Meister.

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Aber Du wirst doch z.B. nichts dagegen haben, ein Schwein als Schwein und ein Kalb als Kalb zu erkennen, oder? Insofern durchschaust Du Dein Essen womöglich mehr als die Musik, die Du hörst.


    Das mag sein...! Wenn ich von Grundbestandteilen sprach, meinte ich die ISOLIERTEN Einzelkomponenten, die in einer perfekt zubereiteten Gesamtheit aufgehen. Und tatsächlich schmeckst Du nicht, wie gut ich es in einem Gericht koche, wenn Du zuvor das Schwein in die Keule beißt...


    Und, mit Verlaub, zumindestens im städitschen Lebensumfeld kann es sein, das die Segnungen der Lebensmittelindustrie dazu führen, dass DU die Musik, die Du hörst, wesentlich besser durchschaust, als das, was Du isst...


    Gruß
    Stefan

    Psalmen sprechen und Tee trinken kann niemals schaden!

  • Zitat

    Zitat von Wolfram:


    "Den Schluss von Bruckners achter Sinfonie fand ichimmer etwas seltsam angehängt...

    Das sehe ich nicht so. Ich kenne kaum eine Sinfonie, die so zielgerichtet aufgebaut ist in Richtung Finale und so konsequent gesteigert ist bis zum letzten Takt wie gerade die Achte.
    Besonders eindrucksvoll hat dies m. E. Günter Wand unter Beweis gestellt, und hier besonders in seiner letzten Einspielung mit den Berliner Philahrmonikeren, im Jahr vor seinem Tode:



    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).