Was bewog Komponisten um 1900 Lieder zu schreiben ?

  • Das Kunstlied hat eine lange Geschichte - je nachdem wo man seinen Beginn festsetzt, WIKIPEDIA sieht in den ersten Minneliedern bereits die Gattung Kunstlied, eine Betrachtung die ich vollinhaltlich teile. Jede Epoche brachte ihre eigenen Lieder, bzw Kunstlieder hervor, wobei das frühe bis mittlere19. Jahrhundert quasi als goldenes Zeitalter des Kunstlieds gesehen werden kann.


    Irgendwann war es dann eigentlich nicht mehr so gefragt - oder sollte ich mich da irren ?


    Dennoch - auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Lieder komponiert. Wofür eigentlich ? Waren Liederabende noch in Mode ? Bzw. welche Texte wurden herangezogen - und warum ?
    Zemlinsky, Mahler, Pfitzner, Hindemith, Schönberg Webern....etc etc.


    Hugo Wolf, beispielsweise steckt ja - zumindest von den vertonten Dichtungen her . eindeutig im 19. Jahrhundert......


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,
    vergessen wir nicht den größten modernen deutschen Komponisten Richard Strauss, dessen Lebensweg (1864-1949) - heute ist sein Todestag - in der Romantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts begann.
    Zitat:
    Dennoch - auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Lieder komponiert. Wofür eigentlich ?


    In einem Falle - man kann auch sagen in vier Fällen - weiß man das bei Richard Strauss sehr genau.
    Die Lieder:


    Ruhe meine Seele
    Cäcilie
    Heimliche Aufforderung
    Morgen


    legte der Komponist seiner geliebten Frau Pauline, die eine ausgezeichnete Sängerin war, als Brautgeschenk zu Füßen - das war am 10. September 1894.


    Fast jede Sängerin, die etwas auf sich hält, nimmt irgendwann "Vier letzte Lieder" auf - und diese Lieder werden auch im Handel relativ breit angeboten.
    Bei den anderen Strauss-Liedern sieht das Angebot meist etwas dürftig aus, von den aktuellen Sängern haben jedoch Simon Keenlyside, Jonas Kaufmann und Konrad Jarnot beachtliche CDs mit Strauss-Liedern vorgelegt.


    Und was die Mode betrifft ... das sind doch kurzlebige Erscheinungen, die nicht unbedingt etwas mit Qualität zu tun haben.

  • Ich habe gejubelt, als ich diesen Thread hier vorgefunden habe!


    Immer schon, solange ich jetzt hier bin, bedauerte ich, dass die ganze Formenfülle der Weiterentwicklung des Kunstliedes im zwanzigsten Jahrhundert hier im Forum zu kurz kommt. Ich habe aber nicht gewagt, dies öffentlich zu äußern.
    Nun denn, es ist nicht mehr nötig!


    Jetzt also gibt es hier Raum, einmal auf die Impulse einzugehen, die zum Beispiel die Neue Wiener Schule dem Kunstlied gegeben hat.
    Richard Strauss in allen Ehren, aber von der musikalischen Struktur seiner Lieder her ist das nichts wirklich Innovatives.
    Wir müssen doch nicht immer bei den Namen bleiben, die hier schon sattsam abgehandelt wurden.


    Schönberg ist neu, Alban Berg und Anton von Webern sind neu, Othmar Schoeck ist neu - und über Namen wie Hermann Reutter, Aribert Reimann und Werner Henze wäre auch noch zu reden.


    In dem Thread findet sich ja ein "etc.".
    Und das ist gut so!

  • Im Thread soll es aber um Lieder "um 1900" gehen, da sind Reimann und Henze nicht viel passender als Schumann, stimmt's?


    Übrigens kannst Du doch auch selbst einen Thread starten - zu Reutter und Reimann könnte ich vielleicht etwas beitragen, zumindest die Cover meiner CDs

  • Zugegeben, lieber Kurzstueckmeister,
    und ich nehme das auch sofort wieder zurück.
    Die Begeisterung hat mich davongetragen.


    Es ist auch noch ein Nachtrag zu machen:
    "Neu" heißt natürlich nicht automatisch "gut" und auch nicht "wohlklingend".
    Die Hölderlin-Vertonungen von Hermann Reutter (op.56) sind, verglichen mit Richard Straus, von regelrecht bitterer Herbheit!


    Mir ging es um mein "Lieblingsthema", die Frage nämlich, wie Liedkomponisten mit dem lyrischen Text umgehen und welche Folgen das für die musikalische Struktur ihrer Lieder hat.


    Ich halte diese Frage nun einmal, und wie ich glaube mit gutem Grund, für die zentrale Frage beim Kunstlied.
    In diesem Bereich gibt es im zwanzigsten Jahrhundert interessante Entwicklungen.
    Meine Äußerung über Richard Strauss ist nur in diesem Zusammenhang zu nehmen.
    Dass dieser Komponist faszinierende Lieder geschrieben hat, braucht nicht eigens betont zu werden.


    Der Gedanke, dass wir hier darüber reden könnten, hat mich so beflügelt, dass ich sogar bei Aribert Reimann und Henze gelandet bin.
    Tut mir leid!

  • "Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen." (Gustav Mahler)


    Ob die Komposition eines Klavier- oder Orchesterliedes nun eher von rationalen Erwägungen herrührt oder ob es ein inneres Agens ist, das geistige Energien bereitstellt, die ein solches Werk hervorbringen, das mag wohl von Fall zu Fall verschieden sein.


    Bei Mahler kann ich mir kaum denken, dass er seine Lieder mit Blick auf die Möglichkeit eines Liederabends komponierte. Bei Strauss schon eher. Bei Wolf meine ich ebenfalls, dass der kompositorische Schaffenswille gegenüber rational-wirtschaftlichen Erwägungen weitaus überwog.


    Also nochmal: Was bewog Komponisten um 1900 Lieder zu schreiben? Die ernst zu nehmenden Komponisten bewog das, was einen ernst zu nehmenden Komponist meistens bewegt, wenn er ernst zu nehmendes komponiert: Ein künstlerischer Schaffenswille.


    __________________
    Viele Grüße,
    Wolfram

  • Zitat

    Der Gedanke, dass wir hier darüber reden könnten, hat mich so beflügelt, dass ich sogar bei Aribert Reimann und Henze gelandet bin.
    Tut mir leid!



    Das braucht Dir nicht leid zu tun. denn dieses Thema wird mit Sicherheit kommen. An Sich könnte ich es schon morgen starten, aber wenn ich mich recht erinnere plädierst Du ja dafür, ein Thema recht ausführlich zu besprechen, bevor was neues kommt. Dennoch werde ich relativ früh weitere Threads zum Thema Kunstlied starten, weil das Interesse momanetan vorhanden zu sein schein , und ich zudem ab übermorgen Urlaub habe - da ist Zeit für neue Threads und Beiträge im allgemeinen.


    Vielleicht ist es aber gar icht schlecht, wenn vorerst in der Tat die Lieder um 1900 abgehandelt würden- als Bindeglied sozusagen.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred




    __________________

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Vielleicht ist es aber gar icht schlecht, wenn vorerst in der Tat die Lieder um 1900 abgehandelt würden- als Bindeglied sozusagen.


    Allerdings wird das mit einem neutraleren Thread-Motto sicher besser gehen.


    Mir ist nicht bekannt, dass um 1900 das Kunstlied weniger gefragt gewesen wäre als um 1840 - um 1900 war das eine international gewichtige Gattung, während zu Schumanns Zeiten das Klavierlied seinen Siegeszug in "außerdeutschen Landen" noch nicht angetreten hatte.


    Wobei der Begriff "Kunstlied" ohnehin nur Probleme mit sich bringt, der ist ja offenbar für die deutsche Produktion erfunden worden, und schließt dann womöglich Fauré und Debussy aus?

  • Lieber Alfred,
    eigentlich müsste es auch erlaubt sein Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) hier einzuführen. Als Komponist der Oper Die tote Stadt ist er jedem Musikfreund bekannt, seine Lieder haben dagegen (zumindest nach meiner Einschätzung) noch kein breites Publikum gefunden.
    Korngold folgt - so sagen Fachleute - "in der formalen Gestaltung eindeutig der Tradition des klassischen deutschen Liedes, wie er es insbesondere bei Mahler, Strauss und Wolf kennengelernt hatte."
    Als komponierendes Wunderkind hat E.W. Korngold schon als Knabe von gerade mal sieben Jahren sein erstes Lied geschrieben.
    Zitat:
    Dennoch - auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Lieder komponiert. Wofür eigentlich ?


    Auch hier finden sich in der Literatur zum Teil ganz genaue Angaben, aus welchem Grunde einzelne Werke entstanden sind.
    Beispiele:
    Korngolds Lieder auf Gedichte von Eichendorff waren ein Weihnachtsgeschenk für seinen Vater - es war der 24. Dezember 1911. Diese Lieder sind überschrieben mit Zwölf Lieder op. 5 So Gott und Papa will
    Der strenge Musikkritiker Dr. Julius Korngold stand wohl der Veröffentlichung dieser Lieder seines Sohnes eher reserviert gegenüber ...


    Das Loblied auf eine Gänseleberpastete komponierte Korngold anlässlich des 40. Hochzeitstages seiner Eltern - Walzerlied Die Gansleber im Hause Duschnitz


    Diesen Tag heute mitzufeiern
    und ein Liederl beizusteuern ... (Text von Korngold)


    Von Dietrich Henschel gesungen, ist dieses Lied erst seit wenigen Jahren zu hören; vermutlich eher für den "Hausgebrauch" gedacht ...


    Korngolds Vier Lieder des Abschieds op. 14, die im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg entstanden sind, gelten als anspruchsvolle Werke seines Liedschaffens.


    Wie man anhand dieser wenigen Beispiele sieht, gibt es für Komponisten recht unterschiedliche Gründe ein Lied zu komponieren, auch bei Strauss waren das oft ganz spontane Einfälle.


    Wer Interesse an dieser Musik hat - seit 2002 ist eine entsprechende CD auf dem Markt 75:45 Minuten, E.W. Korngold Lieder
    Dietrich Henschel, Bariton
    Helmut Deutsch, Piano

  • ________________________________________
    Leider beherrsche ich diese Technik mit den grünen Zitatbalken nicht und muss deshalb abschreiben.
    Ich lese:


    Der Begriff Kunstlied bringe ohnehin nur Probleme mit sich, "der ist ja offenbar für die deutsche Produktion erfunden worden..."


    Es sei dazu angemerkt, weil auf Fauré und Debussy bezug genommen wurde:
    Die Franzosen haben für das deutsche Kunstlied einen ganz eigenen Begriff.
    Sie nennen es "le lied".


    Warum wohl?

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  • Hallo!


    ________________________________________
    Zitat:
    Leider beherrsche ich diese Technik mit den grünen Zitatbalken nicht


    Lieber Helmut,
    wer "le lied" kann, der macht auch locker vom Hocker grüne Zitatenbalken ...


    1. Ich markiere aus Deinem Text die ersten zehn Wörter
    2. Mit Strg c und Strg v transportiere ich diesen Text in das graue Antwortfeld
    3. Der zu zitierende Text wird rechts und links von dem Wort QUOTE flankiert


    Wenn ich also den Text "Helmut Hofmann" im grünen Zitatenbalken haben möchte, dann sieht das so aus:


    Eckige Klammer auf OUOTE eckige Klammer zu Helmut Hofmann eckige Klammer auf /QUOTE eckige Klammer zu.


    Nun kann ich nur noch hoffen, dass ich mich hier mit meinen pädagogischen Bemühungen nicht über Gebühr blamiere, aber ich mache das so und es funktioniert ...


    Amerkung der Moderation für Mitleser:
    Die Zitierbalken sind in der neuen Version der Forensoftware nicht mehr grün.
    MOD001 Alfred

  • Vorab:
    Nein, lieber hart, Du hast mich mit Deinen "pädagogischen Bemühungen" ganz bestimmt nicht blamiert, sondern mir geholfen. Ich hatte nämlich wirklich keine Ahnung, und deshalb danke ich Dir. Bei nächster Gelegenheit werde ich mal üben.


    Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen und mir ein paar Gedanken über die Intention machen, die Alfred - nach meiner Meinung - mit diesem Thread hier verfolgt.


    Ich habe ihn so verstanden und bitte um Widerspruch, wenn ich damit danebenliege:
    Um 1900 stand ein Komponist, der nicht nur Instrumentalwerke schaffen, sondern auch Lieder schreiben wollte, vor einem gleichsam "abgegrasten Feld".
    Was die Frage betraf, in welchem Verhältnis Wort und Musik stehen sollen und welche Funktion der Musik in bezug auf den sprachlichen Text zukommt, schienen alle denkbaren Möglichkeiten erschöpft.


    Schumann hatte Musik und Poesie immer als Einheit gesehen und verstand seine Liedkomposition als das Zustandebringen einer Synthese von lyrischem Text und Musik, bei der diese den lyrischen Text gleichsam interpretiert.
    Mit diesem Ansatz hatte er vollendete Meisterwerke geschaffen, die ganz einfach nicht mehr zu übertreffen waren, so dass ein Komponist um 1900 diesen Weg nicht mehr weitergehen konnte.
    Die sogenannten Schumannianer (Robert Franz, Adolf Jensen, Ferdinand Hiller, Theodor Kirchner u.a.) hatten das ja versucht und waren damit deutlich unter dem kompositorischen Niveau geblieben, das Schumann vorgelegt hatte.


    Auf der anderen Seite hatte Hugo Wolf ebenfalls das Feld völlig abgegrast. Den Primat der Melodie, wie Schumann ihn vertrat, lehnte er ab. Er verstand die Musik beim Lied als aus dem Geist des lyrischen Wortes geboren: Sie bildet ab und interpretiert das, was dort an rhythmischen Elementen und Inhalten vorgegeben ist.


    Man könnte, grob formuliert sagen:
    War bei mit Schumann das Prinzip "Primat der Melodie" voll ausgeschöpft, so mit Hugo Wolf das Prinzip "Primat des lyrischen Textes".
    Man konnte das einfach nicht mehr besser machen, als diese beiden großen Meister es vorgemacht hatten.


    Um 1900 wusste ein potentieller Liedkomponist wirklich nicht, wie es jetzt weitergehen sollte, welchen Weg er einschlagen muss.
    So - mit dieser liedhistorischen Dimension - habe ich Alfreds Frage verstanden:
    "Was bewog Komponisten um 1900, Lieder zu schreiben?"


    Komponisten wie Hans Pfitzner und die Vertreter der Neuen Wiener Schule haben sich mit dieser Frage ganz bewusst auseinandergesetzt.
    Interessant ist zum Beipiel in diesem Zusammenhang, dass es zwischen Pfitzner und Alban Berg zu einer regelrechten Diskussion über Schumanns "Träumerei" kam, wobei es dabei um die "Qualität der Melodie" ging, die Rolle also, die sie in der Musik zu spielen hat.


    Pfitzner vertrat dabei die Position: "Etwas Außermusikalisches kann nie etwas Musikalisches ersetzen".
    Man sollte also denken, er vertrete damit die Position Schumanns und den Primat der Melodie. Letzteres tat er auch, aber den Ansatz von Schumann, die Musik habe eine Synthese mit dem Text im Sinne einer Interpretation enzugehen, lehnte er ganz klar ab.
    Für Pfitzner sollte am Anfang eines Liedes "der musikalische Einfall" stehen, aus dem sich dann die Musik des Liedes entwickelt. Diese Entwicklung sollte dann allerdings vom Text beeinflusst werden.


    Schönberg und Alban Berg sahen das Verhältnis von Text und Musik wieder ganz anders.
    Aber das soll hier jetzt nicht näher ausgeführt werden.
    Ich wollte eigentlich nur deutlich machen, dass ich die zentrale Frage in Alfreds Thread historisch verstanden habe:


    Warum um 1900 noch Lieder schreiben, wenn alle denkbaren Formen des Kunstlieds in ihrem Potential anscheinend ausgeschöpft sind?

  • Ich bestätige, daß ich bei der Erstellung des Threads in der Tat die historische Dimension im Auge hatte - allerdings ein wenig aus einem anderen Blickwinkel als Helmut das - übrigens dennoch völlig richtig (und besser analysiert als ich) sieht.


    Zum einen bin ich davon ausgegangen, daß das romantische Gedicht als Textvorlage nun doch ein wenig aus der Mode gekommen war - beim Hörer - nicht beim Komponisten - zum anderen habe ich mir die Frage gestellt inwieweit Lieder damals noch auf breiteres Publikumsinteresse stossen konnten, es war die Zeit der großen Klavier-Virtuosenkonzerte und bombastischen Orchesterwerke. Ob ein Publikum für Lieder existierte, das scheint mir eher fraglich, denn die Zeit der Liederabende im privaten Kreis, dürfte ziemlich vorbei gewesen sein, und wenn sie organisiert wurden, dann doch vermutlich eher mit Werken von Schubert und Schumann.


    Später war das schon wieder anders, Eislers Lieder waren zum Teil politisch motiviert ( und so klangen sie letzlich auch)....


    Dennoch - es wurden Lieder komponiert - und sie fanden ihr Publikum
    Fragt sich lediglich wo - wie - und warum ?


    Und natürlich ist es noch viel interessanter, zu erfahren, wie die von Helmut beschriebenen Probleme letztlich gelöst wurden....


    Wir sollten allerdings nicht allzusehr ins Detail gehen, denn natürlich werden wir einigen Komponisten dieser Zeit jeweils einen eigenen Thread widmen...


    Mit freundlichen Grüßen
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wie schon gesagt wurde, habe ich überhaupt nicht den Eindruck, dass das Lied in der Spätromantik und beginnenden Moderne ein Schattendasein geführt hätte. Im Gegenteil. Sehr viele berühmte Komponisten der 1870er bis 1920er Jahre haben bedeutende Lieder geschrieben, dabei auch solche, die sonst fast nur Opern komponierten (zB Wagner und Mussorgsky). Die französische Tradition ("melodies") mag teils unabhängig vom deutschsprachigen Lied verlaufen sein (Auch spanische Lieder gibt es, oft mit Volksmusikanklängen, Albeniz, de Falla u.a.). Aber z.B. die Lieder von Vaughan Williams, Butterworth, Elgar u.a. englischen Komponisten scheinen mir, obgleich auch "typisch englisch" und mit Wurzeln in der dortigen Volksmusik, auch klar an die mitteleuropäische deutschsprachige Tradition anzuknüpfen.
    Es mag sein, dass nun mehr Lieder sich direkt an professionelle Interpreten richteten als in der ersten Jahrhunderthälfte, aber das besagt ja nichts über die Qualität der Werke und Relevanz der Gattung. Es scheint jedenfalls keineswegs exotisch, nostalgisch oder in irgendeiner Weise ungewöhnlich gewesen zu sein, um 1900 Lieder zu komponieren.


    In der Tat scheinen ja gerade die "kleinen Formen", die nach einer ersten Blüte bei Schubert, Schumann, Chopin zwischendurch vielleicht etwas in den Hintergrund getreten war (wobei das vermutlich aber eher ein falscher Eindruck aufgrund der heutigen Repertoireauswahl aus der Spätromantik ist), in Spätromantik und Moderne ein sehr wichtiges Feld, gerade auch für Experimente. Anscheinend sahen viele Komponisten das Potential dieser Formen noch keineswegs ausgeschöpft, anders als einige bei Sinfonie oder Konzert.



    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Warum, um die zentrale Frage des Threads aufzugreifen, schrieb ein Komponist wie Hans Pfitzner zwischen 1888 und 1931 zwanzig Lieder auf Gedichte von Eichendorff?
    Er griff in seinem Liedwerk auch auf andere Dichter zurück ( Goethe, Heine, Hebbel, Keller, Liliencron, Dehmel, R. Huch u.a. ), aber das Zentrum seines Liedschaffens war eindeutig die Lyrik Eichendorffs. Er schrieb sogar noch eine große Kantate, in die er Eichendorff-Texte einarbeitete.
    Warum?


    In diesem Fall ist diese Frage relativ klar zu beantworten.
    Pfitzner litt an seiner Zeit. Er litt so sehr darunter, dass er als Komponist in die Zeit der Romantik flüchtete ( "der letzte Romantiker" ) und sich als politisch denkender Mensch in einen obskuren, rassistisch geprägten Nationalismus verrannte ( von dem in seiner Musik glücklicherweise nichts zu hören ist!).
    Die Welt, in der er lebte, sah er von einem alles prägenden Fortschrittsglauben beherrscht, der zum Zerfall der alten Werte führt.


    Es ist kein Wunder, dass ein solcher Mensch sich von der Lyrik Eichendorffs geradezu magisch angezogen sah. Und weil er sich diesem Dichter innerlich zutiefst verwandt fühlte, gelangen ihm Lieder, in denen der Geist und das Wesen von Eichendorffs Lyrik noch tiefer ausgelotet wurde, als dies Schumann gelang.


    Pfitzner geht an die Eichendorff-Texte mit einem anderen kompositorischen Anatz heran als Schumann.
    Schumann orientiert sich zwar auch am Primat der Musik, und das hat er mit Pfitzner gemeinsam. Er sieht aber die Aufgabe der Musik darin, den lyrischen Text mit musikalischen Mitteln zu interpretieren, indem die melodische Linie zusammen mit der Klavierbegleitung eine möglichst enge Verbindung mit der Struktur des Textes eingeht.
    Dieses kompositorische Prinzip lehnt Pfitzner ab. Man hört das sofort, ohne die Noten heranziehen zu müssen, wenn man seine Lieder auf sich wirken lässt.
    Die Musik ist eindeutig dominant durch ihren melodischen Reichtum und den sie tragenden, ausbauenden und bereichernden instrumentalen Untergrund.


    Pfitzner geht, wie er das nennt, von einem musikalischen "Ureinfall" aus. Dieser Ureinfall wird ausgelöst durch die Wirkung, die der literarische Text auf ihn ausübt. Er besteht in der Regel aus einem musikalischen Thema, das am Anfang des Liedes präsentiert und in der Folge ausgebaut und entfaltet wird.
    Der Text ist hierbei in die Musik eingelagert, ohne dass er, wie dies bei Schumann der Fall ist, je nach seiner spezifischen Struktur im Einzelfall auf die musikalische Struktur einwirkt und sie prägt.


    Die Wirkung ist:
    Man hat beim Hören den Eindruck, dass die Musik den Gehalt und die Stimmung des Gedichts in ihrer Gesamtheit, in der Fülle der Klänge und nicht so sehr im Detail, gefühlsmäßig(!) vermittelt.
    Man kann das leider nicht beschreiben, man erfährt es nur beim Hören.


    Zum Beispiel bei dem ganz typischen Lied "LOCKUNG" (op.7, Nr.4, 1888/89):
    Nach dem Vers "Draußen durch die stille Rund" erklingt ein perlendes Klavierspiel, das das nächtliche Rauschen der Bäume unglaublich intensiv suggiert.
    Die "Lieder aus der alten, schönen Zeit" erklingen in weichem gis-Moll als Barkarolen-Melodie.
    Bei den Versen "Wenn die Bäume träumend lauschen / und der Flieder duftet schwül" entfaltet sich eine wahrlich rauschende Klangfülle, in die die Singstimme eingebettet ist, als erklänge sie von weither aus zauberhaft nächtlicher Waldeinsamkeit.
    Und am Ende zerfällt der musikalische Satz regelrecht, alles beginnt zu verschwimmen und die musikalische Linie verläuft sich ins Leere.


    Ich wiederhole es noch einmal, weil es meiner tiefen Überzeugung entspricht:
    Wer Eichendorff liebt, der muss Pfitzner hören!
    Schumann natürlich auch, auch Hugo Wolf und all die anderen, aber vor allem Hans Pfitzner.
    Keiner hat so wie er den innersten Kern der Lyrik Eichendorffs getroffen und die Magie ihrer Bilder musikalisch einfangen.
    Es ist wirklich faszinierend!


    ]

  • Aus der Tatsache, dass es hier in diesem Thread offensichtlich wenig Andrang gibt (bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls), darf man wohl schließen, dass die Frage, die hier im Zentrum steht, schwer zu beantworten ist.
    Dabei ist sie natürlich hochinteressant! Und sie drängt sich einem ja auch auf, wie das Alfred allem Anschein nach geschehen ist.


    Um die Jahrundertwende war die Kultur des bürgerlichen Salons im Niedergang begriffen. Das ist sie Zeit des politischen Imperialismus und des exzessiven Nationalismus. Ein großer Teil der bürgerlichen Intelligenz setzte sich mit den großen Fragen der Zeit auseinander: Dem technologischen Fortschrittsdenken, den Möglichkeiten und Grenzen imperialistischer Politik, den Implikatiionen des Nationalismus und in Deutschland mit all dem, was sich um den Begriff Wilhelminismus rankt.
    In diese Zeit passten eher die großen musikalischen Formen der Oper und des Konzerts.
    Für die kleine Form des Kunstlieds war, und das sieht Alfred richtig, in dieser lärmenden Welt eigentlich kaum mehr ein Ort zu finden.


    Das Erstaunliche ist nun aber, dass die großen Komponisten, um die es hier (von ihrem Geburtsdatum her) geht, allesamt Lieder geschrieben haben.
    Dafür kann es angesichts der Situation, in der sie schöpferisch tätig waren, nur eine Erklärung geben:


    Das Lied war für sie ein wichtiges künstlerisches Medium ihres kompositorischen Ausdruckswillens. Und zwar war es dies neben der großen musikalischen Form, die sie ja alle auch pflegten. Auf welche Resonanz es in der kulturellen Öffentlichkeit stieß, muss für sie wohl eine sekundäre Frage gewesen sein.
    WARUM?


    Ich bin dieser Frage nachgegangen, weil dieser Thread mich neugierig gemacht hat, und ich bin bei den meisten Komponisten mindestens auf die Spur zu einer Antwort gekommen.


    Eines zeichnet sich ganz deutlich ab:
    Um 1900 waren alle bedeutenden Komponisten auf der Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, weil man die musikalischen Formen der Neuromantik für überholt hielt.
    Man stritt sich sogar heftig um die Frage, wie dieser Weg in die musikalische Zukunft konkret aussehen sollte.
    Max Reger schrieb 1907 in der "Neuen Musikzeitung" einen Aufsatz mit dem Titel "Degeneration und Regeneration". Einige Zeit später erschienen Pfitzners Pamphlet wider die "Futuristengefahr" und Busonis Verkündung einer "Neuen Ästhetik".


    Es sieht ganz so aus, als wäre gerade die kleine Form des Kunstlieds das Medium gewesen, in dem sich der neue Ausdruckswille der Komponisten am leichtesten ungehindert entfalten konnte, in dem sie die neuen Möglichkeiten, sich musikalisch zu artikulieren, sozusagen experimentell erproben konnten.


    In fast allen Fällen habe ich eine Affinität zum Lied finden können, die in diesem Motiv wurzelt. Nur bei Max Reger tappe ich bis jetzt im Dunkeln.
    Im Falle von Hans Pfitzner habe ich das ja schon dargestellt und möchte es auch noch in weiteren Fallbeispielen tun.
    Wie ich dabei allerdings Alfreds Mahnung, "nicht so sehr ins Detail zu gehen" nachkommen soll, weiß ich noch nicht so recht.
    Wenn man Nägel mit Köpfen machen will, muss man, denke ich, wenigstens ein bisschen ins Detail gehen.

  • Zitat:
    Das Lied war für sie ein wichtiges künstlerisches Medium ihres kompositorischen Ausdruckswillens. Und zwar war es dies neben der großen musikalischen Form, die sie ja alle auch pflegten. Auf welche Resonanz es in der kulturellen Öffentlichkeit stieß, muss für sie wohl eine sekundäre Frage gewesen sein.
    WARUM?


    Hundertprozentig wird man dies wohl nie ergründen oder wissen, aber wenn ein kreativ Schaffender etwas produziert um damit dem Zeitgeist zu entsprechen, berühmt zu werden oder viel Geld damit zu verdienen, dann wird wohl kein besonderes Kunstwerk entstehen - das funktioniert einfach nicht!


    Deshalb gehe ich auch einmal davon aus, dass die Liedschaffenden in dieser Zeit ihrem kompositorischen Ausdruckswillen folgten und relativ spontan arbeiteten, wenn es die besondere Situation ergab.
    Da man an den Komponisten, die um 1900 herum lebten zeitlich viel näher dran ist, kann man Alfreds Eingangsfrage genauer beantworten (obwohl solche Details eigentlich nicht gewünscht waren, wenn ich das richtig verstanden habe).


    Aber nach meiner Meinung macht solches Detailwissen auch einen großen Überblick möglich, denn man gewinnt den Eindruck, dass nicht ein bestimmter Zeitgeist für die Liederproduktion verantwotlich war, sondern viele unterschiedliche Ereignisse im Leben eines Komponisten.
    In einem vorigen Beitrag hatte ich ein solches Ereignis im Leben von Richard Strauss genannt. Als Strauss den Krämerspiegel schrieb, war das wiederum ein ganz anderes Ereignis, ein Streit - und was für einer!
    Und seine "Vier letzte Lieder" schrieb er schließlich auf das Drängen seiner Familie.
    Manche Werke entstehen einfach so ... in manchen Fällen glaube ich das sogar heraushören zu können. Aber natürlich ist das mal wieder ganz subjektiv gedacht ...

  • Zwischen 1897 und 1933 hat Arnold Schönberg 42 Lieder mit Klavierbegleitung geschrieben.
    Was bewog ihn dazu, sich kompositorisch dem Kunstlied zu widmen?


    Man kommt der Antwort wohl am ehesten auf die Spur, wenn man ihn selbst zu diesem Thema hört. Über den kompositorischen Umgang mit lyrischen Texten sagt er:
    "Wobei sich ... zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht geworden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen musste."


    Schönberg wird also offensichtlich dadurch zum Komponieren von Liedern motiviert, dass die Begegnung mit Lyrik bei ihm einen "Anfangsklang" auslöst.
    Das kann eigentlich nur so verstanden werden, dass sich der Gehalt eines Gedichts, seine dichterische Aussage also und all die emotionalen Regungen, die von ihr ausgelöst werden, für ihn in einer musikalischen Figur verdichtet, die in ihrem Klang und ihren melodischen Komponenten den Empfindungen adäquat ist, die das Gedicht ausgelöst hat.


    Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er anscheinend davon überzeugt ist, diesen "Anfangsklang" kompositorisch entfalten zu können, ohne dabei im einzelnen auf die spezifische lyrische Textstruktur achten zu müssen.
    Er sagt:
    "Wenn man einen Vers von einem Gedicht, einen Takt von einem Tonstück hört, ist man imstande, das Ganze zu erfassen."


    Das ist neu!
    Das ist eine andere Art und Weise, kompositorisch mit dem lyrischen Text umzugehen, als wir sie von den Komponisten der Romantik und der Spätromantik kennen.
    Der Komponist Dieter Schnebel hat den Komponierduktus Schönbergs als "gestisch" bezeichnet. Was wohl heißen soll: Der musikalische Einfall, die "Geste", hat Vorrang gegenüber der systematisch-satztechnischen Realisierung.
    Es kommt mehr auf die Dynamik der Klangentfaltung an als auf den Stellenwert der einzelnen Töne in ihrer Bindung an Textelemente.


    Schönbergs musikalischer Ausdruckswille löst sich radikal von allen Konventionen, und es ist daher nicht verwunderlich, dass seine Liedkompositionen spätestens mit seinem Opus 15, dem "Buch der hängenden Gärten", in der Atonalität angekommen sind.
    Die Entwicklung und den Weg dorthin kann man in den vorangehenden Liedern deutlich erkennen.


    Schönberg hat Texte ganz verschiedener Dichter vertont. Stefan George hat ihn besonders in Bann geschlagen, aber auch zu Richard Dehmel fühlte er sich hingezogen.
    An ihn schrieb er am 13.12.1912:
    "Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluß ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten."


    Auch in diesem Brief wird wieder sein kompositorischer Ansatz bei der Liedkomposition deutlich.
    Was dabei herausgekommen ist, kann man sehr schön an dem Lied "ERWARTUNG" (Text: R. Dehmel) hören.
    Dieses Gedicht Dehmels atmet die gespenstische Atmosphäre einer nächtlichen Vision:
    "Aus dem meergrünen Teich neben der roten Villa
    Unter der toten Eiche scheint der Mond. ..."


    Die Vertonung durch Schönberg erfasst diese Atmosphäre meisterhaft.
    In zwei identischen Klangfiguren am Anfang zeichnet sich der "Anfangsklang" ab, von dem Schönberg spricht. Es ist ein Fünfklang: ES - A - D - Ges - Ces.
    Ihm folgt ein Es-Dur Dreiklang mit einer arabeskenhaften Figur in der Klavierbegleitung.
    Diese Klangfigur prägt das ganze Lied, sie wird in der zweiten Strophe aber modifiziert.
    Über ihr erhebt sich eine Singstimme, deren melodische Bewegung überaus fragil wirkt, als wolle sie den Klavierklängen entweichen und würde doch immer wieder von ihnen eingeholt und in sie einbezogen.


    Wenn man mit den Ohren, die auf Schubert und Schumann geprägt sind, dieses Lied zum ersten Mal hört, wirkt es sehr befremdlich.
    Man muss ganz neu "Lieder hören" lernen.
    Und das Erstaunliche ist: Hat man sich eingehört und dieses Lied mehrmals auf sich wirken lassen, dann entfaltet es eine ganz eigene Faszination.
    Die das Lied durchziehende und tragende arabeskenhafte Klangfigur will einen nicht mehr loslassen.

  • Lieber Helmut,


    schön, dass Tamino wieder funktioniert.


    Ich habe auf Schubert und Schumann geprägte Ohren.


    Sonderbar: Bei der Chormusik bin ich weitergegangen - beim Kunstlied stehen geblieben.


    Wolf und Pfitzner werde ich zu gegebener Zeit nachholen.


    Der Fünfklang von Schönberg (hole ich seine Lieder nach?) in Verbindung mit dem Es-Dur gibt einen für mich gewöhnngsbedürftigen, aber doch faszinierenden Klangeindruck.


    Wenn ich Deinen letzten Satz recht verstehe, gibt es eine Ähnlichkeit der "Klangverwendung" mit Lauridsen's Lux eterna, der ein D-Dur mit einem zugefügten E als immer wieder neu eingefügtes Bindeglied zwischen verschiedenen Hamoniedurchgängen in den Teilen seines "Requiems" verwendet und damit eine Art Klammereffekt erzielt.


    Herzliche Grüße


    zweiterbass


    Nachsatz zu Schubert: Dass die Taubenpost seine letzte Liedkomposition war, ist mir nicht bekannt gewesen - erstaunlich!

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Von Franz Schreker, der von seinen Lebensdaten her in diesen Thread gehört, liegen 48 Lieder vor. Schon mit 18 Jahren hat er mit der Liedkomposition begonnen.
    WARUM?


    Auch in diesem Fall kann man wieder nicht auf eine direkte Antwort zurückgreifen. Man muss aus vorhandenen schriftlichen Quellen schlussfolgern und ist dabei auf Interpretation angewiesen.
    In einer 1909 veröffentlichten Rezension Schrekers über die Lieder von Christian Sinding heißt es u.a.:


    "Musik ist selbstherrlich. Sie drückt auf ihre Schwesterkunst, beansprucht alles für sich. Sie ist in dem Augenblick, wo sie dazutritt, das Unmittelbare, Sinnfälligere. Und nur dort, gerade dort, wo ihr Raum gelassen ist zu ergänzen, Unausgesprochenes, Unaussprechbares in ihrer geheimnisvoll mystischen Art anzudeuten, gerade dort weiß sie sich unterzuordnen, anzuschmiegen und verbindet sich dann mit dem Ausdrucksmittel der Sprache zu Einheitlichem, Vollendetem."


    Man kann aus diesem Zitat einiges herauslesen über die Art und Weise, wie Franz Schreker Lieder komponiert hat. Das gehört aber in den ihm gewidmeten Thread.
    Man erfährt aber auch etwas zur Frage warum er Lieder komponiert hat.
    Er muss sich offensichtlich durch eine ganz bestimmte Art von Lyrik zu einer Vertonung motiviert gefühlt haben. Es müssen Gedichte gewesen sein, in denen er Raum fand, das dort nicht voll Ausgesprochene in Musik zu verwandeln.
    Über die von ihm diesbezüglich gebrauchten Formulierungen zu spekulieren, das bringt wenig. Sinnvoller ist es, sich die von ihm vertonten Gedichte unter diesem Aspekt anzuschauen.


    Und da fällt auf:
    Es finden sich kaum große Namen unter den Autoren. Nur einmal wagt er sich an Rilke und einmal an George.
    Was das im einzelnen bedeutet, kann hier nicht näher ausgeführt werden.
    Nur so viel:
    Bei der Lyrik von Edith Ronsperger, die er immerhin vier Mal in seinen "Fünf Gesängen für tiefe Stimme" (1909) vertont hat, kann man sehen, dass diese Autorin mit emotional hoch aufgeladenen Bildern und Metaphern arbeitet.
    Ein typisches Beispiel:


    "Wär´es mein Wunsch, daß mir dein Bild erbleiche,
    wie Sonnenglanz von Nebeln aufgetrunken -
    wie einer Landschaft frohes Bild, versunken
    im glatten Spiegel abendstiller Teiche?"


    Man darf vermuten, dass diese Art von Lyrik, die den Geist des Expressionismus atmet, aber in ihren Bildern nicht die Originalität und die Dichte der Lyrik eines Trakl oder Heym aufweist, auf Franz Schreker wie eine Art sprachlicher Impuls gewirkt hat.
    Die lyrischen Bilder lösten in ihm Emotionen aus, die er vom semantischen Gehalt des sprachlichen Textes nicht voll repräsentiert gefunden hat, so dass er meinte, er müsse ihnen mit seiner Musik eine Art Äquivalent zur Seite stellen.


    Dann wäre das Komponieren von Liedern für ihn also so etwas wie die Vollendung des Gedichts gewesen.
    Und tatsächlich:
    Diesen Begriff findet man auch am Ende des Zitats!

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  • Ich meine: Wenn sich Alfred einer solch mühevollen Tüftelarbeit unterzogen und Threads wie diesen wiederhergestellt hat, dann sollte man auch wieder einmal einen Eintrag machen. Es gibt schließlich noch eine Reihe von Komponisten, bei denen man eine Antwort auf die Frage des Threads findet. Zum Beispiel bei Richard Strauss, - und gerade bei ihm!


    Strauss ist derjenige Lied-Komponist der in Frage kommenden Zeit, der am markantesten auf die Wandlungen reagiert hat, die sich um die Jahrhundertwende im musikalischen Leben und in der Konzert-Kultur abzeichneten. Mit ihm tritt das Lied aus der Welt der Hausmusik und des bürgerlichen Salons hinaus auf den Konzertsaal. Man hat ihn den "Schöpfer des Podiumsliedes" genannt, und das ist eine Bezeichnung, die durchaus zutreffend und in keiner Weise abwertend gemeint ist.


    Damit soll darauf hingewiesen werden, dass seine Lieder mehr oder weniger stark auf den "Effekt" und die große musikalische Geste hin angelegt sind. Die schöpferische Energie des Komponisten richtet sich nicht nur nach innen, auf die subtile Ausleuchtung der Binnenstruktur des lyrischen Textes, sondern sie möchte auch nach außen hin wirken, hinein ins Publikum und auf den Hörer.


    Richard Strauss hat an die Stelle des intimen Hausliedes eines Franz Schubert das Konzertlied gesetzt, er hat dem Lied sozusagen "den Konzertfrack angezogen". Das ist seine Antwort auf den Wandel der Zeit um die Jahrhundertwende.


    Das erklärt freilich noch nicht, warum er überhaupt Lieder geschrieben hat. Diesbezüglich ist man auf Vermutungen angewiesen, aber es gibt einige Indizien, die darauf hindeuten, dass dieser Komponist in seinem innersten Wesen ein Lyriker war. Oskar Bie nannte den Liederfrühling, der in der Mitte der achtziger Jahre bei Strauss ausbrach, "einen Vorklang der großen Werke". Im Alter von sechs Jahren hat der kleine Strauss bereits ein kleines Weihnachtslied geschrieben, unter das seine Mutter den Text setzen musste.


    Strauss dachte und fühlte Musik wohl von Anfang an vom Gesang her. Anders lässt sich nicht erklären, dass viele seiner frühen Lieder - "Zueignung" (sein Debüt als Achtzehnjähiger), "Morgen", "Heimliche Aufforderung" - regelrechte "Lied-Schlager" wurden. Dies hängt aber nicht nur damit zusammen, dass sie gleichsam melodisch "zündeten" und harmonisch überaus eingängig waren, es hat auch damit zu tun, dass Strauss bei seinen Kompositionen zeitgenössische Lyrik aufgriff. Es war nicht die ganz große, also kein Rilke oder Trakl zum Beispiel, aber diejenige, die vordringlich den Geist der Zeit atmete, den des fin de siècle und des Jugendstils.

  • Lieber Helmut Hofmann,
    ich zitiere aus Deinem Beitrag vom 15. Oktober 2010:

    Zitat

    Jetzt also gibt es hier Raum, einmal auf die Impulse einzugehen, die zum Beispiel die Neue Wiener Schule dem Kunstlied gegeben hat.
    Richard Strauss in allen Ehren, aber von der musikalischen Struktur seiner Lieder her ist das nichts wirklich Innovatives.
    Wir müssen doch nicht immer bei den Namen bleiben, die hier schon sattsam abgehandelt wurden.


    Schönberg ist neu, Alban Berg und Anton von Webern sind neu, Othmar Schoeck ist neu - und über Namen wie Hermann Reutter, Aribert Reimann und Werner Henze wäre auch noch zu reden.

    Schön und zutreffend, was Du heute zu dem Liedkomponisten Richard Strauss geschrieben hast. Wenn Du am 15. Oktober verlautbart hast: "Wir müssen doch nicht immer bei den Namen bleiben, die hier schon sattsam abgehandelt wurden." dann sehe ich - wenn ich so übers Forum schaue - eigentlich nicht unbedingt, dass die Lieder von Richard Strauss sattsam abgehandelt wurden. Das war für mich nämlich der Grund, zu diesem Thema einen eigenen Thread einzurichten.


    Natürlich soll man nicht immer nur am Alten hängen, natürlich informiert man sich. Nun habe ich mir mal einen Namen aus Deiner Vorschlagsliste herausgeholt HANS WERNER HENZE.
    Vor mir liegt die CD: SECHS GESÄNGE AUS DEM ARABISCHEN / THREE AUDEN SONGS


    Henze hat diesen Zyklus dem Tenor Ian Bostridge gewidmet. Aus einer umfangreichen Kritik zitiere ich mal eine Passage, die sich auch mit meinem Eindruck deckt:


    Ein bisschen bizarr, reichlich pathetisch und überladen sind Henzes dichterische Ergüsse bisweilen schon, mitreißend und spannungsgeladen dafür seine Musik. Bostridge wirkt stellenweise zu bemüht, fast überfordert.


    Vermutlich besitze ich diese CD nun schon zehn Jahre und sie hat trotzdem kaum Abnutzungserscheinungen ... "Ohrwürmer" sind da keine zu erwarten, denn ich kenne Henze schon seit seiner "Elegie für junge Liebende", die ja 1961 hier in Schwetzingen uraufgeführt wurde (mit dem Altmeister des Liedgesangs als Mittenhofer).


    Man hört, man bemüht sich ... aber so echte Begeisterung will nicht recht aufkommen. Zunächst suche ich natürlich die Schuld bei mir - vielleicht nehme ich mir zu wenig Zeit dafür... bei den Liedklassikern kenne ich viele Texte auswendig, kannte die Texte schon lange vor der Musik ... das ist eben eine ganz andere Situation.
    "Lieder von einer Insel" nach Texten von Ingeborg Bachmann kenne ich nur aus der Literatur, das ist aber auch weit ab vom Begriff Kunstlied. Vielleicht kannst Du aus Deiner Sicht etwas zu den Henze-Liedern sagen.


  • Lieber hart,


    was ich damals schrieb und was Du jetzt als Zitat bringst, habe ich aus einer Art Begeisterungsanfall geschrieben (kann ja mal passieren, selbst mir!). Ich würde es heute nicht mehr tun.


    Ich würde auch nicht mehr behaupten, dass Strauss nichts "Innovatives" in die Lied-Komposition gebracht habe. Eine solche Feststellung ist Unsinn. Die wurde damals geboren aus dem unmittelbaren Vergleich mit den Innovationen der Wiener Schule. Und die sind nun wirklich so raadikal, dass Strauss dagegen ein wenig in den Schatten tritt. Vernünftiges Abwägen im Urteil ist also angesagt. Ich meine, ich hätte in Deinem "Strauss-Thread" deutlich gemacht, wie ich ihn heute sehe.


    Zum Thema Henze ("Sechs Gesänge aus dem Arabischen"): Ich stimme mit Dir überein. Auch bei mir zeigt die CD keine "Abnutzungserscheinungen"!

  • Der Beitrag von hart hat auf ein Problem aufmerksam gemacht, das unmittelbar mit diesem Thread zusammenhängt. Die Lieder, die die Komponisten um 1900 schreiben, entfernen sich immer mehr von dem "Grundmodell" des Liedes, wie wir es von Schubert und Schumann kennen. Schon bei Hugo Wolf deutet sich diese Tendenz schon an, Brahms ist - aus Gründen, auf die hier jetzt nicht eingegangen werden kann - noch eine Ausnahme, und in der Folgezeit werden die Lieder in ihrer musikalischen Faktur immer komplexer, vor allem was die Einbettung der melodischen Linie in den Klavierklang anbelangt.


    Die Komponisten suchten nach neuen Formen des Sololiedes, und das hatte zur Folge, dass man sich vom usprünglichen Modelle der Singbarkeit und der Eingängigkeit der melodischen Linie immer mehr entfernte. Das, was hart "Ohrwürmer" nennt und unter den Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr vermisst, gibt es nicht mehr. Die große Ausnahme ist Richard Strauss. Die Lieder von Pfitzner sind ebenfalls sehr häufig noch recht eingängig, "Ohrwürmer" findet man freilich schon nicht mehr. Bei Arnold Schönberg ist die Suche danach völlig aussichtslos. Auch die Lieder von Franz Schreker und Othmar Schoeck sind von einer ""Ohrwurm-Qualität" meilenweit entfernt.


    Das Ende dieser Entwicklung sind dann solche Lieder, wie sie sich bei Henze finden. Dieser Komponist gehört freilich nicht mehr hierher. Ich habe mir, weil hart danach fragte, eben gerade mal die "Sechs Gesänge aus dem Arabischen" angehört. In eine gewaltige atonale Klangflut im Klavier ist eine gesangliche Linie eingebettet, die sich natürlich ebenfalls atonal bewegt, weitgehend deklamierend verfährt und vor allem keine "Melodie" mehr hören lässt, wie man das vom "klassischen" Sololied kennt.


    Das ist das Ende einer Entwicklung, der ich gerade im Thread "Sprache und Musik im Lied" nachzugehen versuche. Die Musik "emanzipiert" sich im Verlauf der Entwicklung des Liedes immer mehr vom sprachlichen Text. Im zwanzigsten Jahrhundert ist sie dann zur absoluten Musik geworden. Bei Henze kann man das hören.

  • Es ist noch ein Nachtrag zum Thema "Ohrwurm" und "Lied um die Jahrhundertwende" zu machen. Es ist ein schlichtes Faktum, dass das sogenannte "Melodielied", wie es in Schubert, Schumann und ihren unmittelbaren Nachfolgern einen Höhepunkt erlebt hat, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts allmählich im Rückzug begriffen ist und im zwanzigsten von neuen Formen des Lieds abgelöst wird. Damit einher geht das, was ich einmal das "Zerbrechen der melodischen Linie" nennen möchte.


    Genau genommen "zerbricht" die melodische Linie ja gar nicht, sondern sie bewegt sich immer mehr durch eine Folge von Tonarten, die im Quintenzirkel weitab liegen. Und vor allem tut sie das in immer kürzeren Phrasierungen. Selbst ein Komponist wie Pfitzner, der in seiner kompositorischen Grundhaltung zweifellos konservativ war, macht diese Entwicklung mit, behutsam zwar, aber doch sehr deutlich. Bei der Eichendorff-Vertonung "Zum Abschied meiner Tochter" ( ein Lied, das mich immer schon in Bann geschlagen hat!) wandert die melodische Linie mit jedem Vers durch eine andere Tonart. Aber das empfindet man noch längst nicht so "störend" wie etwa später bei Schönberg. Es kommt eben darauf an, wie nah die Tonarten miteinander verwandt sind.


    Ich hatte Strauss als große Ausnahme bezeichnet. Und das ist er auch. Man könnte ihn getrost als den "letzten Melodiker" des Sololieds bezeichnen, und es ist ja auch bekannt, dass er als Liedkomponist im Grunde von Schubert und Schumann herkommt.


    Aber Vorsicht! Unser Bild von Strauss ist von seinen "Ohrwürmern" geprägt. Er hat auch ganz andere, viel "modernere" Lieder geschrieben. Und die sind interessanterweise eben keine Ohrwürmer geworden. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die sechs, im Jahre 1919 entstandenen Brentano-Vertonungen opus achtundsechzig verweisen. Hier kann man hören, dass auch Strauss diese Entwicklung des Liedes hin zum "Zerbrechen" der melodischen Linie im Sinne ihrer Transposition in weit abliegende Tonarten mitgemacht hat.


    (Ich erlaube mir die Anmerkung, dass dies für mich der interessantere Strauss ist.)

  • Und noch ein kleiner Nachtrag zum Thema Richard Strauss, der als Ergänzung und Bestätigung des oben Gesagten gelesen werden kann:


    Fischer-Dieskau bemerkt:


    "Es ist nicht völlig zutreffend, wenn behauptet wird, der Weg des Bühnenkünstlers zum Opernstil bei Richard Strauss könne wohl nicht über seine Liedkompositionen nachvollzogen werden. Zu sehr sind die >Schlager< reiner Klangsinnlichkeit ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Daneben gibt es höchst originelle, deklamatorisch inspirierte Stücke, die die ariose Hymnik mancher Lieder kompositorisch hinter sich lassen."

  • Zitat

    Daneben gibt es höchst originelle, deklamatorisch inspirierte Stücke

    Es wäre doch interessant, wenn man diese Stücke nicht in ihrer angedeuteten Anonymität belässt, sondern im Tread "Richard Strauss und seine Lieder" auf Pretiosen jenseits von "Heimliche Aufforderung" näher eingeht, sonst gibt es vielleicht einen dezenten Hinweis der Administration, dass dies hier kein Strauss-Thread ist ...
    Könntest Du, lieber Helmut Hofmann, "Die Georgine" oder "Ruhe meine Seele" akzeptieren - oder sollte es etwas noch weniger Bekanntes sein?

  • Über einen solchen "dezenten Hinweis der Administration" würde ich mich sehr wundern. Er wäre für mich ein Anlass, meine Beiträge hier in diesem Thread definitiv einzustellen. Und im Augenblick überlege ich, ob ich dies nicht besser wirklich tun sollte.


    Es geht hier um die Frage: Was hat Komponisten um 1900 bewogen, Lieder zu schreiben. Strauss hat, so um achtzehnhundertfünfundachtzig herum, sein Opus zehn veröffentlicht, u.a. mit acht Liedern auf Gedichte von Hermann von Gilm. Sollte das jemandem noch nicht aufgefallen sein?


    Ich frage mich allmählich, ob ich mich darüber belehren lassen muss, was ich in welchem Thread zu schreiben habe und was nicht. Ich habe mich schon einmal darüber geärgert, dass ich im Thread "Die Blume im Kunstlied" angeblich nicht mehr machen darf, als Lied-Texte abzudrucken.

  • Über die Einrichtung dieses Threads hatte ich mich begeistert geäußert, bietet er doch die Möglichkeit, auf Lied-Komponisten einzugehen, die ansonsten im Forum nicht so große Beachtung finden (um es mal behutsam zu formulieren). Ich wurde in meiner Begeisterung rasch zurechtgestutzt. Anscheinend wird gar nicht erwartet, dass man sich auf die Komponisten, die hier in Frage kommen, näher einlässt und gründlich recherchiert, was sie dazu bewogen haben mag, außer Instrumentalmusik auch Lieder zu schreiben. Auch scheint das "Springen" von einem Namen zum anderen nicht ganz in die Philosophie des Forums zu passen, wo man für jedes Thema gern ein eigenes Kästchen reserviert.


    Das Problem ist dabei, dass die Möglichkeiten der vergleichenden Betrachtung und das Aufzeigen von Gemeinsamketen und Unterschieden zwischen den einzelnen Komponisten zu kurz kommt oder gar ausscheidet. Ferner kann man bei einem solchen "Schubladendenken" keine Entwicklungslinien und -tendenzen im Sololied aufzeigen. Auch das Einrichten eigener Threads für solche - offensichtlich doch hier weniger bekannten - Komponistennamen scheint wenig sinnvoll. Am Beispiel "Max Reger", für den es hier einen Thread gab, konnte man das erkennen: Der Andrang war nicht gerade groß.


    Es wäre hier an mindestens drei weiteren Beispielen zu zeigen gewesen, wie Komponisten um 1900 auf die Wandlungen in der geistigen Situation der Zeit und speziell in der "Musikszene" reagiert haben. Es scheint mir jetzt plötzlich nicht mehr sinnvoll, das zu tun. Ich begnüge mich mit dem anscheinend sehr beliebten Motto: Man kann es nicht wissen, was sich ein Komponist bei einem Lied gedacht hat. Also erfreuen wir uns einfach daran.

  • Weil gerade – und schon seit längerer Zeit – Hugo Wolfs Lieder mein Thema hier in diesem „Kunstlied-Forum“ sind, kam mir heute dieser Thread in Erinnerung, - in den Wolf als Liedkomponist ja nun gehört. Er ist völlig in Vergessenheit geraten.
    Und warum?


    Ihm liegt eine Fragestellung zugrunde. Und Fragen fordern Nachdenklichkeit und eine reflexive - und natürlich darin dialogische - Auseinandersetzung mit dem thematisierten Aspekt. Das ist nicht gerade Art der Beschäftigung mit dem Thema „Kunstlied“, die auf große Bereitschaft der Zuwendung trifft, - oder gar Gegenliebe. Dazu ist die Sache mit zu viel Mühe verbunden und läuft überdies Gefahr, in Abstraktheit der Beiträge auszuarten.


    Wer aber will so etwas hier lesen?
    Lieder sind in ihrer Mehrzahl klangschöne musikalische Gebilde. Die hört man sich an, genießt sie und erfreut sich an ihnen und kommentiert sie, wenn überhaupt, dann mit wenigen, den Höreindruck widerspiegelnden Worten. Darüber zu reflektieren, - das muss einem als völlig unangemessener Umgang mit ihnen erscheinen. – und das mit einem gewissen Recht. Also erscheint als die rechte Form des Umgangs mit ihnen hier in diesem Forum die der kurz deskriptiv kommentierten Präsentation, - entweder unter dem Stichwort des jeweiligen Komponisten oder unter einem übergeordneten Thema: „Abschied“, „Frühling, Sommer, Herbst und Winter“ oder „Abendlieder“. Ich habe das hier mal als eine Art liedkompositorisches „Poesie-Album“ bezeichnet und diesen Begriff alsdann, weil polemisch, mit dem Ausdruck des Bedauerns wieder zurückgenommen. In der Sache ist er freilich zutreffend. Denn auch in einem Poesiealbum ist Reflexion über Lyrik absolut deplaziert.


    Aber ich möchte nicht wieder polemisch werden. Die Fragestellung, die diesem Thread zugrunde liegt, ist für den, der sich mit dem Kunstlied und seiner Geschichte befasst, eine hochinteressante. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist dem Kunstlied der Ort seiner Genese und seiner Entfaltung buchstäblich abhanden gekommen: Es ist das bildungsbürgerliche Haus und der Salon. Die Musik tendierte mehr und mehr auf die große Bühne: Kammermusik und Lied gerieten dabei zwangsläufig ins Hintertreffen. Die Folge war, dass Liedkomposition von den Komponisten dieser Zeit sozusagen nur noch „nebenbei“ betrieben wurde. Der letzte, der sie zu seinem zentralen Lebensinhalt machte, war Hugo Wolf. Bei seinen kompositorischen Zeitgenossen und Nachfolgern ging die Tendenz zum „Klavierlied für die große Bühne“, wie das etwa bei Richard Strauss zu beobachten ist, oder zum Orchester-Lied, - in dem das Klavierlied sozusagen landete.


    Warum aber – und das ist nun die dem Liedfreund sich förmlich aufdrängende Frage – blieben viele Komponisten in der Wende von neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert – und in diesem selbst ja auch noch – bei der intimen Form des Klavierliedes, - wenn auch nur nebenbei? Einige von ihnen haben ja sogar ein umfangreiches Opus von mehreren Hundert Liedern hinterlassen, obwohl ihr eigentliches Interesse der großen musikalischen Form und dem Konzertpodium galt. Viele andere schrieben Lieder gleichsam „im Stillen“, und ihre Namen sind heute völlig unbekannt: Siegmund von Hausegger, Walter Courvoisier, Hermann Bischoff, Ernst Boehe, Max Schillings, Otto Vrieslander…Man könnte so fortfahren, und keiner würde mit diesen Namen etwas verbinden.


    Warum komponierten sie Lieder, obgleich das musikalische Leben – und sie mit ihm - mit unaufhaltsamer Kraft in den großen öffentlichen Raum drängte?
    Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre: Weil das Lied, wie kaum eine andere Gattung sonst, der Ort des musikalischen Bekenntnisses elementarer existenzieller Befindlichkeit und Erfahrung und daraus hervorgehender intimer seelischer Regungen ist. Die verschwinden ja nicht, - um die Jahrhundertwende und danach. Im Gegenteil: Sie werden immer drängender, wie man an der Lyrik dieser Zeit ablesen kann.
    Und vielleicht, so denke ich, wäre ein Stichwort für das Verständnis der Liedkomposition dieser Zeit das der „öffentlichen Einsamkeit“. Der Begriff stammt nicht von mir, ich stieß in der Sekundärliteratur auf ihn. Er scheint mit ein hervorragend geeigneter Schlüsselbegriff für die Reflexion der Liedkomposition dieser Zeit zu sein.

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