Das Wiener Publikum

  • Da fällt mir noch eine Sache ein, zu der ich gerne eure Meinung hätte, auch aus anderen Städten als Wien.


    Bei vielen Interpreten gilt das Wiener Musikpublikum als höchst anspruchsvoll und wird als Prüfstein für die Qualität der Interpreten betrachtet.
    Meine Beobachtungen über 20 Jahren (verglichen mit Veranstaltungsorten wie Graz, Ossiach, London, München und Bayreuth):
    Der Großteil (oder sagen wir der "hörbare" Teil) dieses Publikums ist eher peinlich.
    Es ist ja kein Problem wenn jemand von technischen Dingen nicht soviel Ahnung hat, aber diese Pseudokennerschaften sind mühsam.
    Beispielsweise werden Sänger mit wirklich gutem legato oder sicherem Stimmsitz kaum geschätzt, bei "Schreihälsen" kennt die Begeisterung keine Grenzen.
    Ein Bekannter hat mir das Phänomen erklärt: "Die meisten Menschen hören bei einem guten Sänger die Spitzentöne gar nicht, weil sie als natürlich empfunden werden. Wenn aber jemand ein hohen Ton gerade noch "erbrüllt" wissen alle, daß das eine große, künstlerische Leistung war".
    Eine weitere Sache ist das Reden während der Vorstellung (sehr beliebt gerade im Musikverein). Das knistern, husten und rascheln zwischen den Sätzen (kein Problem wenn jemand husten muß, mit einem Taschentuch lässt sich der Lärm sehr gut dämpfen).
    Dann hätten wir noch das klingeln von Mobiltelefonen (was trotz Tafeln und Warnungen nicht weniger geworden ist) und abschliessend:
    Egal wie eindringlich die Stimmung auch war, sobald der letzte Ton gerade verklungen ist, wird hineingelärmt.
    Vielleicht bin ich überempfindlich, vielleicht ist das normal (und natürlich gehe ich viel öfter hier in Konzert und Oper) aber: Überall anders scheinen mir die Zuhörer sittsamer, verständiger und einfühlsamer.


    Also, wie ist das bei euch (oder hab ich als einziger das Problem ?)


    Und weil wir schon dabei sind (und ich heute schon soviele neue Threads angelegt habe und nicht noch einen anlegen will):
    Der Starrummel scheint mir auch übertrieben. Wer gut ist, ist gut ! Keine Frage. Aber das jemand bejubelt wird, weil er als gut gilt obwohl er die schlechteste Darbietung seiner Karriere bringt (mal angenommen - und auch das kann natürlich auch einem Künstler passieren) und trotzdem genauso bejubelt wird wie wenn er seine beste Leistung bringt ist (schon ihm gegenüber) ungerecht !
    Beispielsweise ist das Wiener Staatsopernorchester mit Britten wirklich schlecht (was die mit den Bläsern aufführen ist deprimierend), trotzdem wird an solchen Institutionen nicht gerüttelt. Warum eigentlich: gerechtfertigte Kritik erhöht doch die Motivation es besser zu machen (oder will das gar niemand ?)


    ...apropos "gerechtfertigte Kritik": Die österreichische Landschaft an Musikkritikern muß Georg Kreisler in Vorahnung zu seinem Lied "Musikkritiker" inspiriert haben (oder waren die immer so). jedenfalls kann ich und die meisten Menschen mit denen ich über gehörte Konzerte rede (was wichtig ist, es könnte ja sein daß ich wirklich sooo daneben bin und alles anders wahrnehme) eigentlich großteils nicht mit den Meinungen der Kritik übereinstimme (und man sollte meinen es gibt Qualitäten die relativ Objektiv beschrieben werden könnten).


    So...aber jetzt hör ich auf. Da hab ich jetzt alles reingepackt was ich schon lange gerne mal in größerem Rahmen besprechen wollte . Und übrigens: Prinzipiell habe ich die Stadt in der ich lebe und die Menschen darin sehr gerne, aber als Wiener muß man nörgel ;) ...
    Danke Alfred für die Möglichkeit :hello:


    ..und jetzt bin ich neugierig

    "Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit"

  • Hallo Christoph,


    verzeih, wenn ich zu allgemein antworte, ich hab keine Studien über Publikumsverhalten angestellt...


    die Wiener (die Österreicher) nehmen sich IMO unglaublich wichtig, was Musik betrifft und glauben, daß sie durch die Anwesenheit eines Mozarzt Beethoven, Schubert, Brahms; Johann Strauß etc. irgendetwas in den Genen haben, das sie zu exorbitanten Leistungen auf dem Gebiet der Musik befähigt.


    die diversen Fehlurteile ergeben sich denn aus dieser Haltung...


    ein großes Problem sehe darin, daß bei uns die Trennung zwischen "musikalität" und "Technik" in einer Art vollzogen wird, daß man gerne zwischen den excellenten Musikern unterscheidet, die "bloß" eine gute Technik haben (das macht sie verdächtig) - und auf der anderen Seite - den "echten" musikalischen Menschen, die emotional und ausdrucksvoll spielen können - auch wenn vieles danebengeht.


    anders ausgedrückt: man stellt den Begriff Musikalität über die "reine technische Beherrschung des Instruments und der Literatur.." , als Metaebene, als die Kunst, das handwerklichen Können zum Zweck des seelischen Ausdrucks zu gebrauchen.


    das Problem dabei ist die Abtrennung der "reinen Technik" - überall, wo der Ausdruck "abgeschaltet" werden kann - besteht die Gefahr, sich im Konzertmoment auf das technische Funktionieren der Abläufe zu verlassen, anstatt damit etwas auszusagen...


    IMO besteht die Lösung (ich denke, das ist die russische Schule...) darin, nie allein zum Zweck der Technik zu spielen, sondern in jedem Moment des Musizierens "voll dazusein"


    und das große Charakterliche Problem in Österreich ist die unerträgliche Faulheit; sich auf das eigene bißchen Talent zu verlassen und nie die Möglichkeiten des Menschenmöglichen auszuloten...


    (bitte mich nicht falsch zu verstehen: auch das "Menschenmögliche" dient nur dazu, etwas auszusagen - alles andere findet sich nur im Guiness Buch...)


    liebe Grüße,
    Wolfgang

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Hallo,


    ja, das Wiener Publikum betrachtet sich gerne als den Nabel der Welt -und ist es in gewisser Weise ja auch


    Es zählt in gewisser Weise mehr, in Wien einen Erfolg zu verbuchen, als in Berlin, London, Paris oder sonst irgendwo.


    Das Wiener Publikum ist konservativ, wenig an neuem interessiert und -erbarmungslos gegenüber Neueinsteigern (wobei es natürlich auich Ausnahmen gab)


    Haben die Wiener aber jemand einmal anerkannt - dann darf er sich alles erlauben, er ist ja ein Star - und ein Star kann sich bekanntlich alles erlauben. So erzählt mir vor etlichen Jahren die Tochter des berühmten Oprensängers Erik von Schmedes, daß Caruso bei den Wiener ziemliche Startschwierigkeiten hatte - sie wollten "ihren" Leo Slezak hören.


    Die Bewertung des Wiener Publikums durch Künstler ist seh unterschiedlich: Alfred Piccaver kam für einige Wochen nach wien an die Staatsoper - und blieb hier sein Leben lang. Er liebte die Wiener - und die Wiener ihn - ein seltener Glücksfall.


    Ein Pianist, mit dem ich in meiner Jugend bekannt war, stellte dem Wiener Publikum kein gutes Urteil aus.
    "Die Hauptsache ist, daß Du berühmt bist - dann kannst Du spielen wie Du willst. Bist Du hingegen jung und (ziemlich) unbekannt, dann bleiben sie im günstigen Fall auf freundlicher Distanz - Was für ein Unterschied zum weltoffenen Londoner Publikum"


    Aber natürlich bin ich auch Wiener und habe "Wiener Blut" in mir. So kann ich beispielsweise nicht verrstehen, wenn sich die "Wiener Philharmoniker" auf Gemeinschaftsprojekte mit Künstlern aus der Nicht-Klassik-Szene einlassen oder mit den " Berlinern," die (wahrscheinlich zu Unrecht- aber immerhin) als die "zweitbesten" galten - gemeinsam als "Einheitsorchester" musizieren. So werden eventuell Legenden zerstört - etwas das einst sehr teuer werden kann.....


    Aber zurück zum Thema: Das typische Wiener-Schickeria-Publikum ist sich in seinem Urteil sehr sicher, well es sich ohnedies weltweit für das Maß aller Dinge hält. -Unverrückbar- wie ein Fels in der Brandung.


    Freundliche Grüße


    aus der Weltmetropole der Musik
    und Nabel der Welt :stumm::P


    Alfred :hello:

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred ,
    denke bitte an die Dauerliebe zwischen den "Wienern" und Franco Corelli und ihrer zum Teil aberwitzigen Ablehnung Bastianinis ( La Bohème ) .
    An ihre grosse Bewunderung für George Szells Kunst . Die s war nicht zu erwarten angesichts seiner Schubertsicht !
    An Ormandys Kunst : Das war von Herzen kommend .
    In der Oper ( ich liebe das Stehparkett , weil man dort das netteste Publikum trifft wie ganz oben im Olymp ) herrschen wletoffenere verhältnisse als in Konzerten der Philharmonikern .
    Das typische Londoner Publikum ist wenig intellektuell , im negativen Sinne zu 9o Prozent very british und unerträglich ignorant .
    Paris ist das Mass aller Dinge für weltumspannende Offenheit , Freiheit des geistes und höchster intellektueller Aufgeschlossenheit !
    Oper wie Konzert oder Sprechbühne .
    Die Schweizer Konzertbesucher sind quer durch die Schweiz zwischen extreem spiessig ( ich nenne die Stadt nicht , weil ich sie als Stadt sehr mag ) bis seit Jahrzehnten weltoffen wie Genf oder der Grossraum Lugano-Luzern .
    In vielen Fällen - die Geschichte lehrt es - muss man die Wiener vorden Wienern in Schutz nehmen ! Vor allem vor den Kultusbürokraten - und den Grünen !
    Herzliche grüsse
    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Vielen Dank Frank, Alfred und tastenwolf.
    Offensichtlich ist es eben so und man muß die Eigenheiten der Wiener halt akzeptieren.
    Immerhin hindert es wenigstens nicht großartige Werke zu hören und Interpreten auf ihrem Höhepunkt mitzuerleben.
    Als Stadt der kulturellen Möglichkeiten ist Wien ja wirklich nicht so schlecht, einzig das barocke Opernrepertoire wird leider ziemlich ausgeblendet.
    Bei der Gelegenheit: Glaubt ihr, daß das auch so eine Folge der eingespielten Traditionen ist oder woran liegt es, daß (abgesehen von den festwochen vielleicht) kaum barocke Bühnenerke hier aufgeführt werden ?

    "Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit"

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  • Lieber Chriistoph ,
    ich denke , dass dies eine Frage der Nachfrage mehr als des möglichen Angebotres ist .
    Wenn alle Leute Chopin hören wollen , dann wäre es unsinnig Schumann zu spielen . Leider ist es so hart . Daher gibt es Häuser , die diese "Nischen" besetzen - und mit gutem Erfolg .
    Beste Grüsse nach Wien
    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Hallo Christoph


    mir fällt zum Thema Barockmusik in Wien lediglich ein, daß sich vor dem 18.Jh wahrscheinlich nicht allzuviel nennenswertes abgespielt hat - bis auf Muffat und Kerll fallen mir auch keine Namen ein.
    kann es mit der 2. Türkenbelagerung 1683 zusammenhängen? - obwohl in Deutschland trotz 30 Jährigem Krieg eigentlich viel los war.


    vielleicht war die "klassische Epoche" so prägend, daß man alles vorhergehende unter den Teppich gekehrt hat...


    vermisse auch das Interesse und die Offenheit...


    liebe Grüße,
    Wolfgang

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Salut, Wolfgang,


    Du könntest mithin Recht haben, denn vom Wiener Barock habe ich auch noch nichts gehört...


    Wien ist überhaupt erst durch die Wiener Klassiker zu dem geworden, was es ist. Hätte es die Wiener Klassiker nicht gegeben, ... :stumm: [nun muss mich einer einladen, um mir das Gegenteil zu beweisen]. Jedenfalls könnte es doch eine Art Huldigung der Wiener an Ihre Lebensretter sein?


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Christoph
    Eine weitere Sache ist das Reden während der Vorstellung (sehr beliebt gerade im Musikverein). Das knistern, husten und rascheln zwischen den Sätzen (kein Problem wenn jemand husten muß, mit einem Taschentuch lässt sich der Lärm sehr gut dämpfen).
    Dann hätten wir noch das klingeln von Mobiltelefonen (was trotz Tafeln und Warnungen nicht weniger geworden ist) und abschliessend:
    Egal wie eindringlich die Stimmung auch war, sobald der letzte Ton gerade verklungen ist, wird hineingelärmt.


    aus der konzert-etikette des konzerthauses:


    Geräusche (elektronisch)
    Auch wenn ein Werk oder seine Interpretation Ihren Ansprüchen gelegentlich nicht entsprechen sollte, unterdrücken Sie Ihr Bedürfnis, die Aufführung durch Klingeltöne (auch klassische Melodien!), Piepsen oder improvisierte Dialoge zu bereichern. Handys, Pager, Weckerfunktionen an Armbanduhren o. ä. sollten daher vor Konzertbeginn unbedingt deaktiviert werden. Meldet sich ein Gerät entgegen jeder Erwartung dennoch, empfiehlt es sich im Sinne einer gedeihlichen Atmosphäre im Saal, nicht nur Anrufe nicht entgegenzunehmen, sondern auch Folgegeräuschen (nochmaligen Anrufen, Nachrichtenempfangsignalen etc.) durch sofortiges Abschalten des Geräts vorzubeugen.


    Geräusche (biomechanisch)
    Ein heroischer Kampf: Der Hals kratzt, die Nase juckt, die Augen tränen und die Ohren sind bereits verschlagen: Husten- und Niesreiz sind nicht immer zu kontrollieren, entsprechende Geräusche gelegentlich unvermeidbar. Der Nachteil eines akustisch guten Konzertsaals ist allerdings, dass nicht nur die Töne vom Podium allseits gut zu hören sind. Auch Geräusche aus dem Publikum werden aufgrund des (musikalisch so vorteilhaften) Nachhalls im ganzen Saal deutlich vernommen, wesentlich lauter als etwa in einem akustisch «trockeneren» Kino- oder Theatersaal.
    Doch wie beim Waldhorn gilt auch hier: «Gestopfte» Töne werden von (den anderen) Konzertbesuchern hinsichtlich Lautstärke und Klangfarbe als angenehmer empfunden. Ein vorgehaltenes Taschentuch kann Wunder bewirken, ein Schal, ein Pullover- oder Jackenärmel tut es zur Not auch.
    Ein spezifisches Phänomen ist das oft ausgeprägte Bedürfnis, in den Pausen zwischen Sätzen zu hüsteln bzw. sich zu räuspern. Obwohl manch Besucher dies für einen rituell notwendigen Bestandteil eines Konzertabends halten dürfte, können die damit verbundenen Geräusche Interpreten und Publikum durchaus nachhaltig irritieren. Hier empfiehlt es sich, wenn möglich einen Moment größerer Lautstärkenentwicklung seitens der Interpreten (musikalisch: «forte» bzw. «fortissimo») abzuwarten. Ein Räuspern während einer Fortissimo-Stelle vernimmt höchstens der Sitznachbar, während das gleiche Geräusch in der Satzpause den ganzen Saal (zwangs)beglückt.
    PS: Hustenbonbons, wie sie auch beim Publikumsdienst erhältlich sind, lassen sich nach einem bisher unerklärlichen Naturgesetz auch während des lautesten Konzerts niemals geräuschlos auswickeln.


    :beatnik: