Interpretation - Freiheit oder Willkür ? VOL 2 - Die Gegenwart

  • Parallel zum Thread


    Interpetation - Freiheit oder Willkür ? VOL 1 - Die Vergangenheit


    gibt es nun einen, der sich mit "willkürlichen, "gewagten, "sehr frei gestalteten" Interpretationen befasst, wobei es vermutlich von der Einstellung des Einzelnen abhä#ngen wird, wie solche Lesarten bewertet werden. Aber das ist ja ketztlich das Spannende an einem Diskussionsforum..


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Nachdem ich den Thread mit meiner Nachfrage in "Vol. I" angestoßen habe, muss ich wohl auch Farbe bekennen. Ich sprach dort von 2 Hörerfahrungen im Radio am letzten Samstag. Die erste hatte ich in der Sendung "Treffpunkt Klassik extra" auf SWR2, wobei ich sogleich anmerken muss, dass diese sicher nicht in die Kategorie "Willkür" fällt. Es kam der erste Satz aus dem "Italienischen Konzert" von J.S.Bach, gespielt auf einem modernen Klavier. Was mir sogleich unangenehm auffiel, war der stellenweise für meine Begriffe einfach zu starke Pedalgebrauch, der für diese Musik nicht angemessen ist. Am meisten störte mich aber die dynamische Gleichförmigkeit das ganze Stück hindurch, zumal es sich um eines der seltenen Beispiele handelt, in denen Bach einen Dynmikwechsel ausdrücklich vorschreibt (Concerto-Prinzip: Soli-Tutti). Und überhaupt schien mir der "Zugriff" auf das Stück doch sehr "gebremst". Umso größer war dann meine Überraschung und Enttäuschung, als dann Alfred Brendel als Interpret genannt wurde. Also diese Interpretation ist zwar nicht total "daneben", aber schlicht langweilig. Da ist mir dann doch Glenn Gould lieber; bei dem gibt's dann wenigstens handfeste und spannende Aufreger.
    "Total daneben" war aber das 2. Hörerlebnis, ebenfalls auf SWR2, eine Aufzeichnung eines Konzerts bei den Schwetzinger Festspielen: Ein Klavierabend mit Werken von Schumann und Chopin. Also was dieser Herr Valery Afanassiev speziell mit den "Kinderszenen" von Schumann angestellt hat, ist schlichtweg nicht zu begreifen. Am krassesten wohl die "Träumerei", aus der er angesichts der überwältigenden Anzahl von Konkurrenzaufnahmen dieses Stück offensichtlich etwas "Besonderes" machen wollte. Es ist ihm gelungen! Ein solch ständiges Wabern in völlig überzogenem Rubato ohne jedes rhythmisch-metrische Gespür mit ständigen völlig unmotivierten Tempowechseln, endlos ausgehaltenen Fermaten und weiteren Mätzchen ist mir bei deiesem Stück bisher noch nicht untergekommen. Nicht viel besser sah es bei den Chopin-Stücken aus: Auch hier die höchst irritierenden und durch nichts zu rechtfertigenden ständigen rhythmischen Schwankungen. Bei diesem Konzertmitschnitt finde ich die Grenze von der Interpretation zur Willkür doch sehr deutlich überschritten. Außerdem gab es auch für meine Begriffe etwas zu viele falsche Töne.
    Aber nun ja, das Publikum erklatschte sich mehrere Zugaben...


    Viele Grüße und ein schönes Rest-Pfingsten,
    harry

  • Valery Afanassiev ist sicher umstritten,andrerseit bringt er den Faktor Langsamkeit als Spannungserzeuger wieder ins Spiel, eine Interpretationshaltung, die in den letzten Jahren immer mehr in Vergessenheit geraten ist.
    Tempo und Rhythmus war angesagt, jegliches Verweilen, jede kontemplative Grundhaltung wurde als "Langeweile ausgelegt.


    Ausmeiner Sicht leben wir in einer Zeit, wo vor lauter betonenden Akzenten, kein Platz mehr für echte Höhepunkte belibt, alles wird als "Höhebunkt" präsentiert - und eine Interpretation, die nur aus Höhepunkten besteht, wird unglaubwürdig, gekünstlelt, und ohne belebende Kontraste.


    Aber das ist nicht die Einzige Art, wie man ein klassisches Werk zu Tode interpretieren kann, nein es geht auch anders, nämlich durch besondere Betonung von rhythmischen Effekten, vorzugsweise solchen, die in herkömmlichen Aufführungen, bze Aufnahmen nicht zu hören waren. Auf diese Weise erzielt man teilweise Effekte, welche dass Stück oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, was aber manche Kritiker als besonders gelungen betrachten...



    mfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Zitat Alfred: Valery Afanassiev ist sicher umstritten,andrerseit bringt er den Faktor Langsamkeit als Spannungserzeuger wieder ins Spiel


    Es mag ja sein, dass es den Faktor Langsamkeit als Spannungserzeuger gibt und er von V.A. auch schon überzeugend eingesetzt wurde. Nur, bei dieser Interpretation war von "Spannung" absolut nichts zu spüren - ganz im Gegenteil, das war schlicht gähnende Langeweile. Um beim abschreckendsten Beispiel zu bleiben: Bei der "Träumerei" bin ich wirklich fast eingeschlafen.


    Zitat

    Zitat Alfred: Aber das ist nicht die Einzige Art, wie man ein klassisches Werk zu Tode interpretieren kann, nein es geht auch anders, nämlich durch besondere Betonung von rhythmischen Effekten, vorzugsweise solchen, die in herkömmlichen Aufführungen, bze Aufnahmen nicht zu hören waren


    Da muss ich Dir allerdings vorbehaltlos recht geben. Und das regt mich dann ehrlichermaßen noch mehr auf, als oben beschriebenes Phänomen. Aber es scheint ein Zeichen unsrer Zeit zu sein: "Effekt" um jeden Preis, um Einschaltquoten und Downloadraten zu steigern und damit Geld zu machen. Und das "Publikum" macht das alles treu und brav mit, weil es gar nichts Anderers will. Es ist schon traurig...


    Grüße, harry

  • An diesem Phänomen ist schlicht und einfach die Schallplatte (soll heissen, die Tonaufzeichnung) schuld


    Während in der Vergangenheit eine Interpretation, sei sie noch so gut oder schlecht, in der Sekunde ihres Entstehens auch vergangen ist, so kann heute alles konserviert werden. Man kann Interpretationen beliebug oft wiedrholen, man weiß wie es vor 5, 10 20 Jahren gekluingen hat.


    Neue Interpreten wollen sich profilieren , umd ihr Tonträgerlabel verlangt es sogar.
    Was liegt da näher, als alte Pfade zu verlassen und zu demonstrieren, daß man es "anders " macht ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich glaube auch, dass die Schallplatte schuld ist. Aber in zweifacher Hinsicht. Außer dem schon genannten Aspekt, dass eine Art Übersättigung hervorgerufen wird, hat sie eben auch zu einer "Standardisierung" geführt. Zumindest bei Pianisten, teils auch bei Dirigenten, waren vor dem Schallplattenzeitalter mitunter Freiheiten üblich, die sich zwischendurch kaum jemand erlaubt hat.
    Virtuosen wie Rachmaninoff oder teils auch noch Horowitz haben mitunter erheblich in den Notentext, durch Kürzungen u.a. eingegegriffen. Es kam mehr auf den Interpreten, auf den Augenblick der Aufführung an, als auf ein "ewiges Werk".


    Die extrem langsamen Tempi sind ja eine Spezialität weniger Interpreten geblieben, allen voran Afanassiev (der bei den Brahmsschen Violinsonaten leider Kremer angesteckt hat) und Celibidache, inzwischen auch Pogorelich und andere. Thomas hat ja sogar einen thread dazu eröffnet. Ich sehe das, wie dort ausgeführt, eher kritisch, sogar bei Stücken von Bruckner oder Schubert, auf die es einigermaßen paßt.


    Die mitunter verstörenden ungewohnt schnellen Tempi bei Beethoven oder Schumann (Staiers Neuaufnahme der Kinderszenen zB) sind dagegen immerhin historisch belegt, bei aller gebotenen Vorsicht, die man auch hier walten lassen sollte.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich glaube persönlic icht an die uns immer wieder eingeredeten schnellen Tempi.
    Auch wenn uch es nicht beweisen kann, so gebe ich doch die allgemeine Langsamkeit der Zeit zu bedenken, den langatmigen Schreibstil alter Briefe, Büche und Gedichte.


    Das ist narürlich nur EIN Indiz gegen die überzugenen Tempi, die angeblich schon in der Vergangenheit üblich waren. Ein weiteres, wesentlich überzeugenderes ist meiner Meinung nach die Mechanik alter Klaviere. Sie ließ nämlich so rasante Tempi gar nicht zu. Über Violinen und deren Möglichkeiten kann ich nichts schreiben, da kenn ich mich zuwenig aus....


    Zum nächsten Punkt.
    Ja, Johannes, ganz richtig . Im Konzert getraute sich so manche Dinge, die auf Platte undenkbar wären. Das Konzert ist ein zeitlich begrenztes Ereignis - jedes einmalig und unwiederholbar. Da kann man schon mal was wagen. Stets wiederholt , was ja auf Tonträger die Regel sit - wirkt eine Abweichung, die bei einmaliger Ausführung vielleicht wie ein Geniestreich erschienen ist, allenfalls schablonenhaft und vielleicht sogar peinlich...


    Der Interpret spielt im Konzert für ein bestimmtesd Publikum. Wenn die Chemie passt, dann gibt es soetwas wie eine stillscheigende Übereinstimmung zwischen den beiden- Auf Platte ist sowas natürlich nicht möglich...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Liebe Forianer,
    wie ich sehe, werden hier eher "Feinheiten" diskutiert.


    Aber was meint Ihr zu solch spektakulären "Effekten", die von Franui musiziert werden?
    Diese Instrumentalgruppe hat sich den Namen einer Almwiese gegeben und interpretiert u.a. Schubertlieder auf dem Niveau einer volkstümlichen Tanzkapelle.


    Als begeisterter Anhänger von Schuberts Liedwerk war ich beim ersten Hören doch sehr irritiert, aber ist es schlimm, Bierzeltbesuchern Schubert nahe zu bringen?

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich glaube persönlic icht an die uns immer wieder eingeredeten schnellen Tempi.
    Auch wenn uch es nicht beweisen kann, so gebe ich doch die allgemeine Langsamkeit der Zeit zu bedenken, den langatmigen Schreibstil alter Briefe, Büche und Gedichte.


    Das ist narürlich nur EIN Indiz gegen die überzugenen Tempi, die angeblich schon in der Vergangenheit üblich waren. Ein weiteres, wesentlich überzeugenderes ist meiner Meinung nach die Mechanik alter Klaviere. Sie ließ nämlich so rasante Tempi gar nicht zu. Über Violinen und deren Möglichkeiten kann ich nichts schreiben, da kenn ich mich zuwenig aus....


    Das ist m.E. überzeugend durch entsprechende Interpretationen widerlegt. Manches (etwa die berühmten Glissandi im Finale der Waldstein) lassen sich sogar auf den leichtergängigen alten Instrumenten besser spielen, während sie auf vielen modernen unmöglich sind. Es geht übrigens letzlich weniger um rasende Tempi in schnellen Sätzen, sondern um die Tempi langsamer Sätze. Hier sind die Abweichungen des Üblichen gegenüber historischen Erkenntnissen viel deutlicher. Man sehe z.B. wieder "Von fremden Ländern und Menschen" und "Träumerei" aus den Kinderszenen. Technisch sind die historisch angeblich richtigen Tempi hier gar kein Problem.


    An einen musikalischen Einfluß der "Langsamkeit der Zeit" glaube ich nicht. 30 km/h in der Kutsche auf Kopfsteinpflaster fühlt sich sehr viel schneller an als 200 im Daimler auf der Autobahn. Zu Fuß gingen die Leute damals vermutlich eher zügiger, weil sie viel mehr und relativ lange Gänge zu Fuß erledigten, nicht nur Schaufensterbummel. Bauer fuhren eine ganze Nacht hindurch einen Schubkarren zum Markt am frühen Morgen, frühe Pendler (z.B. Schreiber/Büroangestellte), etwa im London der 1820er Jahre marschierten täglich 1-2 Wegstunden aus den Außenbezirken in die City und abends zurück.
    Und einfache Maschinen wie Spinnräder, Wassermühlen funktionierten auch nicht langsamer als heute.


    :hello:


    JR

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  • Johannes' Auffassung teile ich. Einen Zusammenhang zwischen einem beschleunigten oder verlangsamten Lebensgefühl und dem musikalischen Tempopuls zu vermuten, halte ich nicht für überzeugend.


    Dass die alte Klaviermechanik des Pianofortes oder Cembalos einem zügigen Tempo auch nach Maßstab der heutigen Klavierspieler selbst in den schnellen Sätzen nicht im Wege steht, zeigen die diversen Beethoven- bzw. Schubert-Einspielungen auf Originalinstrumenten oder Nachbauten durch z. B. Brautigam, Badura-Skoda, Staier etc. Abgesehen davon ist Johannes’ Hinweis auf das im Rückgriff auf die frühe historische Praxis eher gewandelte Tempoverständnis besonders bei langsamen Sätzen zutreffend.


    Bei historischen Streichinstrumenten steht - jedenfalls bei Instrumenten spätestens seit der Barockzeit - keinerlei Mechanik im Wege mit Ausnahme der Fingerfertigkeit des Spielers - und die war schon früh sehr weit entwickelt (siehe nur J. S. Bachs Violinsonaten/-partiten und Cellosuiten oder Boccherinis Cellokonzerte etc.). Die Mechanik der (insbesondere Holz-)Blasinstrumente, die in heutigen Nachbauten so weit wie eben möglich originalgetreu wieder hergestellt wurde, lässt jede Tempomodifikation zu. Dass dies alles zusammengeht zeigen die gewählten Tempi bei auf Originalinstrumenten und deren Nachbauten aufgenommenen Einspielungen z. B. der Beethoven-Klavierkonzerte (zuletzt vielleicht Schoonderwoerd) oder -Symphonien (zuletzt van Immerseel), des Schumann-Klavierkonzerts (Staier/Herreweghe), von Berlioz’ Symphonie fantastique (z. B. van Immerseel), um nur wenige Beispiele zu nennen.


    Ein zügiger, knackiger Zugriff ist im übrigen keine Erfindung nach historischer Infomiertheit: Leibowitz, Scherchen, vielleicht auch der frühe von Karajan, der frühe Bernstein waren es, die Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre diese neuen Tempi bei Beethovens Symphonien zur Einspielung brachten. Erstaunlicherweise ging die Tendenz der Konzertpraxis von dieser Errungenschaft dann anscheinend zunehmend wieder ab, es erfolgte (so kommt es mir vor) offenbar auf breiter Basis eine Verlangsamung bei der Beethoven-Auffassung (köstlich Giulinis Beethoven-Zyklus mit dem Orchester der Scala di Milano) - in einer Zeit zunehmend sich beschleunigenden Lebenspulses. Die Unterbrechung dieser retardierenden Tendenz kam dann durch das Aufkeimen der historischen Aufführungspraxis, der die heute (teilweise) historisch informiert spielenden Konzertorchester in weiten Teilen sich anschlossen.


    Umgekehrt scheint man sich in einer Zeit der bis heute sich stetig aufbauenden Lebensbeschleunigung auf eine retardierende Tempobehandlung bei den Bruckner-Symphonien „verständigt“ zu haben. Gerne erinnere ich mich an eine heute nicht mehr vorhandene Aufnahme Klemperers von Bruckners Vierter auf einer (ich glaube) Vox-LP, in der er seinem Orchesteraffen (keine Ahnung, vielleicht das Philharmonia) so richtig Zucker gab: Da eilte er in allen Sätzen durch die Vierte, dass es ein Juchzen war. All jene, die sich ihren Bruckner heute zelebriert konserviert wünschen, würden die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen und in Heulen und Zähneklappen ausbrechen. Bruno Walter gehörte auch nicht zu denen, die Bruckner verschleppten (Beispiel: Seine Aufnahme der Neunten). Dann beschleunigte sich das allgemeine Lebensgefühl, und es traten Celibidache (Wahnsinn seine Zeiten z. B. bei Bruckners Vierter, etwa im letzten Satz), Giulini mit Bruckner, der Wiener Bernstein mit Bruckners Neunter etc. pp. auf den Plan, aber auch ohne jetzt die Extreme zu bemühen, „verständigte“ man sich auf eine vergleichsweise langsame Herangehensweise an Bruckner.


    Richtet sich der Tempopuls nun nach der gefühlten Lebensgeschwindigkeit aus, oder reagiert er durch Ausschlag ins Gegenteil? Oder besteht zwischen beiden Parametern gar kein tatsächlicher Zusammenhang, und es entstehen möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse auf Grundlage individueller Interpretationsentscheidungen, bei denen eventuell auch musikwissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle spielen können.


    Immerhin scheint es innerhalb bestimmter Zeitverläufe eine Art Abstimmung oder Verständigung über einen weitgehend als „richtig“ empfundenen grundlegenden Tempopuls zu geben. Zumindest wird diese Vermutung bei einigen Werkschauen nicht ganz fern liegen, wenn etwa die Spieldauer einzelner Bruckner-Symphoniesätze miteinander verglichen wird und nahe beieinanderliegende Tempostreubreiten zeigt.

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  • Diese Tempoveränderungen wurden ja anderswo auch schon angesprochen.
    Bruckner ist ein deutlicher Fall; Furtwängler, Klemperer u.a., die uns heute bei Beethoven eher zu langsam erscheinen, sind bei Bruckner meist deutlich zügiger unterwegs als der spätere Durchschnitt, von den genannten Extremen gar nicht zu reden.
    Oder man nehme den "brucknerisierten" Schubert von S. Richter u.a., teils auch in einigen Kammermusikinterpretationen.


    Ich sehe das sehr ähnlich. Es ging, gerade bei der Orchestermusik auch kaum je um Spielbarkeit. Beethovens Scherzi und etliche Finalsätze (5+7) wurden traditionell so schnell oder gar schneller als die umstrittenen Metronomisierungen genommen. Ignoriert (d.h. oft nicht einmal ansatzweise befolgt) wurden sie bei Sätzen, die man offenbar bei einem zügigeren Tempo als nicht ausreichend monumental (oder was auch immer) in der Wirkung sah: Kopfsätze von 3 u. 9, fast alle langsamen Sätze.


    Die viel schwierigere Frage, die gerade in der Bruckner-Forschung auch sehr umstritten ist, scheint mir, ob und wie starke Temposchwankungen akzeptabel oder sogar erwartet sind. Nicht nur bei Bruckner, natürlich. Hier zeigen viele historische Aufnahmen (besonders vor 1940) eine Freiheit, die sich seither nur wenige gestattet haben. (Bei Beethoven z.B. bin ich da auch recht froh drüber...)


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Die viel schwierigere Frage, ...


    In der Tat! Diese Frage zielt auf eine Erscheinung der von Johannes genannten Zeiten, mit der ich persönlich und ganz subjektiv größte Schwierigkeiten habe.


    An anderer Stelle merkte ich schon einmal überspitzt an, dass dieser Furtwängler ja offenbar nicht mal den Takt habe halten können (Der Widerwillen und die buchstäblichen Schmerzen, die mir das Anhören seiner vor einiger Zeit bei Orfeo schön remastert erschienen Aufnahme der Neunten Beethovens gerade wegen dieser ständigen unmotivierten Tempowechsel bereitete, führten dazu, dass ich mich seitdem jedem Furtwänglertum verweigere.) Ich gehe mal davon aus, würde heute (wir sind ja im Fred Vol. 2 - Die Gegenwart) ein Dirigierschüler genau dasselbe dirigieren, wie Furtwängler seinerzeit - sein Professor würde ihn mangels jeglicher Begabung unter Schreikrämpfen aus der Klasse jagen.


    Was sollen solche Tempowechsel - kann mir das jemand erklären?


    Anders gefragt: Sind zeitgenössische Quellen bekannt aus der Lebenszeit z. B. Bruckners, die beschreiben, dass, wie und in welchem Umfang solche Tempowechsel bei der Aufführung Brucknerscher Musik zu seinen Lebenszeiten gemacht wurden oder von ihm ausdrücklich gewünscht waren?


    Mal abgesehen von Tempowechseln zur Verwirklichung persönlicher Manieriertheit:


    Die Wirkung kann überwältigend gelingen, wenn sie ein definiertes Ziel hat. Barbirollis Einstieg in Mahlers Sechste (EMI Studioaufnahme 17.-19.8.1967)überwältigt mich jedes Mal wieder, und zwar gerade auch in der korrigierenden Wirkung, die der nach der vollständigen Vorstellung des anscheinend viel zu langsam, dadurch aber absolut zwingend gespielten Marschthemas unbedingt notwendige Tempowechsel in den weiteren geschwinderen Verlauf hinein hat.


    Offenbar lassen sich solche unfassbaren Steigerungen nicht immer planen, nicht immer bewältigen. Das belegt Barbirolli selbst am Vorabend der genannten Studioeinspielung, als er am 16.8.1967 mit demselben New Philharmonia Orchestra, aber in der Royal Albert Hall (2009 erschienen bei Testament), konzertiert: Der Tempowechsel misslingt, weil das Anfangstempo nicht so bedrückend langsam gelingt. Die ganze Wirkung, die er sicherlich auch zu diesem Konzerttermin geplant hatte, aber erst bei den Aufnahmen der nachfolgenden drei Tage erreichen sollte, ist dahin …


    Was ist nun Interpretation?


    Die willkürliche Gestaltung in der durchgeplanten Studiosituation mit der tatsächlich erzielten Wahnsinnswirkung?


    Auch das vermutlich ebenso beabsichtigte, aber völlig misslungene Ergebnis in der Konzertsituation – war das auch Interpretation, aber eine in ihrer Freiheit gescheiterte? Immerhin war das ja trotzdem immer noch eine tolle Aufführung von Mahlers Sechster!