Saint-Saëns: Henry VIII - Compiègne 1991

  • REZENSION OPER DVD



    Saint-Saëns: Henry VIII


    Oper in vier Akten, Uraufführung am 5. März 1883 an der Grand Opéra Paris


    Libretto von Léonce Détroyat et Armand Silvestre frei nach Shakespeare und Calderon


    Aufzeichnung aus dem Théâtre Impérial de la Musique de Compiègne aus dem Jahr 1991


    Inszenierung: konservativ
    Bühnen-Sets: angedeuteter Klassizismus, wenig ambitioniert
    Kostüme: historisch angeglichen, prächtig, aufwändig, gefällig
    Bewegungstherapie: angemessen
    Zusammenspiel der Protagonisten: hervorragend
    Gestik und Mimik: ausdrucksstark, aber nicht überbetont
    Balletteinlage: eigenständige Komposition
    Beilage: nichts,


    Generelle Beurteilung : GUT BIS BEFRIEDIGEND


    Dauer etwa 200 Minuten


    Ausführende:


    Henry VIII – König von England (Bass-Bariton): Philippe Rouillon
    Catherine d'Aragon – seine erste Gemahlin (Sopran): Michèle Command
    Anne Boleyn – seine zweite Gemahlin (Mezzosopran): Lucile Vignon
    Don Gomez de Feria – Spanischer Gesandter (Tenor): Alain Gabriel
    Cardinal Campeggio - Päpstlicher Legat (Bass): Gérard Serkoyan
    Le Duc de Norfolk (Bass): Philippe Bohée
    Le Compte de Surrey (Tenor): Alexandre Laiter
    Cranmer – Erzbischof von Caterbury: (Bass) Jean-Marc Loisel
    Lady Clarence - Hofdame (Sopran): Annick Duc


    Choers du Théâtre des Arts de Rouen
    Orchestre Lyrique Français
    Dirigent: Alain Guignal
    Ausstattung: Yves Samson
    Kostüme: Jean-Yves Legavre
    Beleuchtung: Jean Kalman
    Künstlerischer Direktor: Pierre Jourdan


    Ballett:
    Choreographie: Pierre Lacotte
    Solistin: Dominique Khalfouni (aus Marseille)
    Solist: Jan Broeckx (aus München)



    Dokument des Labels Cascavelle aus dem Jahre 2003


    EINFÜHRUNG UND BEURTEILUNG


    Die meisten Opernliebhaber begnügen sich damit, lediglich die Oper 'Samson und Dalila' mit Überschwang zur Kenntnis zu nehmen. Damit tut man dem Komponisten Unrecht, denn Henry VIII. ist ebenfalls ein Meisterwerk mit einer hochdramatischen Handlung, Bravour-Arien, Ensemble-Szenen, Chor und Ballett. Zwingend erforderlich ist es, die Titelrolle überwältigend besetzen zu können, weil man sich sonst den gesamten Aufwand sparen kann. Bei einer DVD-Einspielung spielt auch die äußere Erscheinung in Übereinstimmung mit der historischen Gestalt des Despoten eine grundsätzliche Rolle. In der Tribunal-Szene des dritten Aktes erreicht das Bühnenwerk seinen dramatischen Höhepunkt. Der Handlungsfaden endet mit der Verbannung Catherines auf eine verlassene Festung. Zu Beginn des letzten Bildes steht auch die schönste Arie der Oper: „O cruel souvenir“. Die verbannte Catherine wird von Jugenderinnerungen an die entschwundene spanische Heimat überwältigt. Den Abschluss bildet ein Solistenquartett, in dem die Hauptdarsteller noch einmal zusammenfinden, bevor Catherine ihre Liebesbriefe an Henry effektvoll verbrennt und dann stirbt. Dem Sujet verwandt ist die Donizetti-Oper 'Anna Bolena'.


    Das Label Cascavelle hatte nun das außerordentliche Glück, in Pilippe Rouillon einen Interpreten gefunden zu haben, der mit seiner volltönenden hellen Bassstimme und durch seine Bühnenpräsenz einfach überwältigt. Er gibt die Charakterstudie eines Königs, der sich größte Sorge um einen Thronerben macht. Königin Catherine konnte diesem Anspruch nicht genügen und Henry ist gezwungen, sich von ihr zu trennen. Doch die Umsetzung einer Scheidung stößt auf erheblichen emotionalen Widerstand bei Catherine und der Papst in Rom lässt sich Zeit, dem Wunsch nach einer Ehescheidung des Königs Folge zu leisten. Militärische Erwägungen spielen ebenfalls eine Rolle, denn Catherine ist die jüngste Tochter des Königs von Spanien und Ferdinand würde sich den Affront einer verstoßenen Tochter so ohne weiteres nicht bieten lassen.


    Aus den Geschichtsbüchern wissen wir, dass Henry sich um den Preis einer Kirchenspaltung durchsetzt. Von der Hofdame Anne Boleyn verspricht sich Henry den ersehnten Thronfolger. Doch das Schicksal gibt dem König schlechte Karten. Anne bringt schenkt dem König eine Prinzessin, nämlich die spätere Königin Elizabeth, aber der Thronfolger, von dem Anne entbunden wird, erblickt das Licht der Welt nicht. Die Verstoßene wird wegen angeblicher Untreue enthauptet und Königin Catherine in die Verbannung geschickt.


    Doch wir wollen uns nicht mit der Historie aufhalten, sondern die Inszenierung der vorliegenden Oper aus dem ein wenig morbide wirkenden Theater von Compiègne beschreiben. Um es gleich vorwegzunehmen, diese Inszenierung kann man vergessen! Man sieht ein paar hohe klassizistische Säulen, die für jede beliebige Inszenierung eines antiken Stoffes herhalten könnten. Einfallsreicher und historisch exakt sind die Kostüme. Die Darsteller wirken, als ob sie dem Gemälde eines alten Meisters entstiegen wären. Der Prunk erfreut das Auge des konservativ eingestellten Zuschauers.


    Wie bereits erwähnt, gestaltet Philippe Rouillon den Henry musikalisch und darstellerisch überwältigend. Michèle Command, dem Opernbesucher eher aus dem bescheidenen Umfeld des burlesken Fachs bekannt, hat sich zur Matrone entwickelt und steht hier wahrscheinlich vor der größten Herausforderung ihrer Karriere. Sie bietet in ihrer königlichen Überheblichkeit ein zutreffendes Rollenporträt und ist dem König ein unbequemer Widerpart. Dem Rosenkavalier-Mezzo von Lucile Vignon, fehlt ein wenig die stimmliche und auch die körperliche Opulenz; sie versucht der anspruchsvollen Partie gerecht zu werden. Als rollendeckend würde ich sie nicht bezeichnen. Ein schönes Lächeln und wallendes Haupthaar sind zu wenig und gegen die ausgereifte Persönlichkeit Catherines kommt Anne nicht an. Lobenswert erwähnt sei auch der untadelig singende jugendfrische Tenor von Alain Gabriel. Die Nebenrollen sind alle zufriedenstellend dekoriert. Das Orchester bietet die Leistung, die man von einem routinierten französischen Orchester erwarten kann. Der Name des Dirigenten, Alain Guignal, war mir bisher nicht bekannt.


    Persönlich gewählte Rangfolge der Gesangssolisten: Henry 1, Catherine 2, Don Gomez 3, Anne 4.


    Eine nachlässige Inszenierung und einfallslose Bühnenaufbauten sollten das Gesamtergebnis nicht in ungebührender Weise beeinträchtigen. Die stimmliche Hochform von Henry und Catherine drücken das Bewertungsresultat nach oben. Die ansprechenden Kostüme sind die angenehme Zugabe. Der konservativ eingestellte Opernbesucher wird daran seine helle Freude haben, während der Anspruchsvolle mit der 'Kostüm-Klamotte' nicht viel anfangen kann. Wer tiefer schöpfen und sich in den Inhalt vertiefen möchte, sieht keine Möglichkeit, weil der Kunststoffmappe eine Beilage über Tracks und Einführung fehlt.


    Alternativen zur Oper gibt es zur Zeit nicht. Das Gran Liceu hat im Jahre 2002 eine Inszenierung vorgestellt und in San Diego gab es 1983 eine englischsprachige Version, beidesmal in komfortabler solistischer Besetzung.


    Trotz des Defizit einer unzureichenden Inszenierung würde ich zu einer positiven Kaufentscheidung raten.


    :angel:
    Engelbert