Programmusik: Wege und Irrwege

  • Da hier von Liszt nur Les Préludes erwähnt wurde und immer wieder der Gegensatz reine Musik – Programmmusik auftaucht, möchte ich versuchen, die Thematik aus musikgeschichtlicher Sicht zu beleuchten und manches noch ein bisschen zu spezifizieren. Ich bin mir natürlich bewusst, dass die meisten Taminoianer dies alles schon wissen, und vielleicht gibt es hiezu schon einen eigenen Thread – dann einfach nicht weiter lesen :pfeif:


    Wer Programmmusik (= PM) absolut nicht mag, sollte sich dessen bewusst sein, dass hierzu neben vielen vorklassischen Werken auch klassische Werke wie z. B. Joseph Haydns Ouvertüren zu den Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten reinste Programmmusik sind. Beethoven schreibt 1813 Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, ein gefälliges Schlachten-Gemälde mit viel Lärm und Geknalle. Während diese Kriegsmusik, der damaligen Mode entsprechend, das Programm in den Vordergrund rückt und damit eindeutig der PM zugehört, stellt seine 6. Symphonie (Pastorale) einen Grenzfall dar. Sie wird zum Auslöser zahlreicher Diskussionen und zum Ausgangspunkt der eigentlichen PM, denn obwohl wir PM in allen Epochen finden, ist die ‚hohe Zeit’ der PM natürlich die Romantik.


    Es entstehen vereinfacht gesagt die beiden Richtungen: „Absolute Musik“ und „Programmmusik“, die sich äußern im


    Romantischen Klassizismus: Ablehnung der Programmmusik; Anknüpfung an die Formen der Klassik und des Spätbarock, wobei die Tonsprache aber durch die melodischen, harmonischen und rhythmischen Mittel der Romantik erweitert wird, und im

    Romantischen Realismus, der sich in der sog. PM äußert. Diese Richtung zeigt ganz andere Wesenszüge als die der Hochromantik. Sie steht in innerem Gegensatz zum Romantischen Klassizismus und ist stark intellektuell betont. Wichtig ist der Gedanke des Fortschritts in der Musik, das Eintreten für künstlerische Ideen in Schriften, die häufig polemischen Charakter haben.


    Musik ist immer auch Ausdruck ihrer Zeit, und aus dieser heraus ist die ganze Sache sehr spannend.


    In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts führt der Gegensatz der beiden Richtungen zu einer ausgesprochenen Kampfstellung ihrer Vertreter in Kritik und Musikschrifttum, allerdings weniger der Komponisten als vielmehr ihrer Anhänger: "Fortschritt" gegen "Konservativismus". Wichtig in der Kunst sind natürlich weniger der Fortschritt als der Einfall sowie die Kraft künstlerischer Gestaltung. Während die Klassizisten eher der Formalästhetik angehören, vertreten Berlioz, Liszt und Wagner die Gefühls- oder Ausdrucksästhetik.


    Hector Berlioz’ Symphonie fantastique stellt nun erstmals das 'Ich' des Komponisten, dessen Gefühle und Gedanken in den Mittelpunkt. Das genannte Werk (1830) ist freilich noch keine Symphonische Dichtung, sondern eine Programm-Sinfonie.


    Berlioz' Tondichtungen finden ihre Nachfolge v. a. in den Werken von Franz Liszt. Die "Neudeutsche Schule" entwickelt die Sinfonische Dichtung. Liszt heißt für mich nicht nur Les Préludes, sondern da sind auch andere interessante Werke, z. B. sein abwechslungsreicher Totentanz für Klavier und Orchester (Variationen über das geistliche Dies irae).


    Der nach Liszt bedeutendste Schöpfer Sinfonischer Dichtungen ist Richard Strauss, und da gibt es wirklich sehr viel zu entdecken (z. B. Don Juan, Till Eulenspiegels lustige Streiche, Also sprach Zarathustra, Eine Alpensinfonie).


    Mit den nationalen Schulen treten nun auch aus dem östlichen Bereich verstärkt Komponisten auf, die sich im Bereich der Sinfonischen Dichtung betätigen, eben erwähnter Friedrich Smetana mit seinem Vaterland-Zyklus oder Anton Dvorák (Die Mittagshexe, Die Waldtaube u. a.).
    Modest Mussorgsky schreibt seine Programmmusik Bilder einer Ausstellung, eine Suite für Klavier, im Norden wirken u. a. Jean Sibelius und Edvard Grieg.


    Am Ende der Romantik finden wir Edward Elgars Enigma Variations und die impressionistischen Werke von Claude Debussy (La mer, Prélude à l'après-midi d'un faune).


    Zwar ist die PM eine typisch romantische Erscheinung. Aber auch im 20. Jahrhundert wird PM geschrieben: Ottorino Respighi verwendet in seinen I pini di Roma eine über Schallplatte zur Orchestermusik eingespielte originale Nachtigall-Aufnahme (1924), Arthur Honegger stellt die Pacific 231 musikalisch dar, Paul Hindemith schreibt u. a. die Symphonie Mathis der Maler und das Variationswerk Die vier Temperamente.


    Nun wissen wir alle, dass absolute Musik reine Musik ist, also auf kein anderes Lebensgebiet hinweist, sondern einen in sich abgesonderten Bereich darstellt und auf den Grundsätzen formaler Schönheit sowie auf dem Spiel emotionaler Gegensätze beruht. Und wir haben schon bemerkt, dass vergeistigte Emotionen vom Hörer natürlich einen höheren Grad an Mitarbeit verlangen, sofern er die Tiefe der Musik erfassen möchte.


    Die Frage ist, inwieweit es Musik gibt, die völlig unprogrammatisch ist. Tauchen im Geiste des Komponisten absoluter Musik während des Schaffensaktes nicht auch 'Bilder' auf, die ihn in der Entwicklung des Werkes inspirieren, und gibt er in seiner Musik nicht auch eine Reihe von Stimmungen symbolisch wieder?


    Ähnlich wird es keine reine PM geben, sofern sie nicht billiger, unkünstlerischer Abklatsch ist, denn auch in der PM machen sich musikalische Formgesetze geltend und verlangen Anerkennung in der Gestaltung.


    Es ist wohl eher eine Frage der Schwerpunktsetzung, in welche 'Schublade' ein Werk eingeordnet werden kann: Herrscht der außermusikalische Inhalt oder eine rein musikalische Struktur vor?


    Absolut programmatische Grüße,


    Christoph :hello:

  • Hallo, Forenser und Forenserinnen, wie Waldgeist formuliert, das assoziiert ja fast kriminell und auf ein Gericht bezogen. Verzeiht bitte meinen Hinweis, es war sicherlich anders gemeint.
    Nun kurz zum Thema " Moldau". Wenn aus dem sinfonischen Zyklus
    "Mein Vaterland" ein Sahnestück nämlich "Die Moldau" herausgenommen und allein serviert wird, entsteht ein anderes Hörerlebnis. Darüber hinaus wird diese Komposition wegen ihrer Wirkung und Eingängigkeit immer und immer wieder angeboten. Um im Bild zu bleiben auch an der herrlichsten Süssigkeit kann jeder sich überfressen.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Spannend finde ich in dem Zusammenhang auch die Problematik eines Programms der früheren Mahler-Symphonien. Hier zeigt sich das diffizile Verhältnis, das auch zwischen dem Komponisten, seinem Werk und dem Programm entstehen kann. Kann man Mahlers Erste nur verstehen, wenn man das Programm kennt? Kann man sie nur schätzen, wenn man es nicht kennt? Ist das verworfene Programm eine Entschlüsselungshilfe?


    Aber wir gleiten mächtig off-topic. Vielleicht kann man aus Wandergeists Posting ein Thread über 'Programmmusik - Werden und Vergehen' machen?

  • Zitat

    operus schrieb:
    wie Waldgeist formuliert, das assoziiert ja fast kriminell und auf ein Gericht bezogen


    Hi Operus, irgendwie erschließt sich mir dieser erste Satz von Dir nicht so recht. Wäre schön, wenn Du das - zumindest für mich - noch mal näher erläutern könntest. Gerade das mit dem "kriminell" ?!


    Liebe Grüße und schon danke im Voraus,


    Christoph der Wandergeist (nicht Waldgeist, aber ist auch ok!) :hello:

  • Bist halt der Geist aus dem Schwarzwald... da hat's Wald und Wanderer. ;)


    Ich denke, die Assoziationen bezogen sich auf Forensik, Zitat aus Wikipedia: "Unter dem Begriff Forensik werden die Arbeitsgebiete zusammengefasst, in denen systematisch kriminelle Handlungen identifiziert bzw. ausgeschlossen sowie analysiert oder rekonstruiert werden."


    Aber das geht jetzt wirklich off-topic... :rolleyes:

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  • So, dies ist nun der Versuch, eine Möglichkeit zu schaffen, das Thema Programmusik erschöpfend zu diskutieren. Ich habe es bewusst in den allgemeinen Klassikthemen angelegt, denn Programmusik - im weitesten Sinne ja auch die Imitation der Natur durch die Musik - zieht sich durch die Jahrhunderte hindurch. Nehmen wir als Beispiele ruhig Vivaldis "Tempesta die Mare" oder die "Vier Jahreszeiten", Geminianis "Zauberwald", Locatellis "Pianto d'Arianna" oder Dittersdorf's Sinfonieen über Ovid's Metamorphosen.


    Erstaunlich auch, dass da, wo sich nationale Musikschulen entwickeln - quasi aus dem zuvorigen Nichtvorhandensein, am Anfang Sinfonische Dichtungen stehen, etwa von Ciurlionis (Lettland) "Die See" und "Der Wald" oder Heino Eller (estland) die herrliche Musik "Zwielicht".


    Das lässt sich nun munter erweitern, und es tut sich hier ein Fass auf, in dem außermuskalisches mit Musik zu einem wunderbar berauschenden Wein vergärt.


    Um mit Justinius Kerner aufzufordern: "Wohlauf noch getrunken...."


    Eine außermusikalische Lektüreempehlung wäre diese:


    Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 2001 (Reihe C.H.Beck Wissen).


    Den Phänomenen des 19. Jahrhunders - Wandergeist hat sie bereits angesprochen - lässt sich mit diesem schmalen Band sehr gut nachspüren.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Travinius schrieb: Ich denke, die Assoziationen bezogen sich auf Forensik, Zitat aus Wikipedia....


    Hallo Travinius, vielen Dank für Dein Posting. Off-topic hin oder her, jetzt kann ich zumindest was damit anfangen. Hatte gedacht, die Äußerung sei auf meinen musikgeschichtlichen Abriss bezogen gewesen.
    Dass dies auf die "Forensik" bezogen war, leuchtet mir jetzt auch ein. Werde nächstens also genauer schauen, bevor ich irgendwelche scheinbar originellen Wortbildungen aus dem Begriff "Klassik-Forum" bilde!! :yes:


    LG, WG :hello:

  • Hier ganz kurz für diejenigen, die evtl. noch nicht viel mit PM zu tun hatten, eine kurze zusammenfassende Ergänzung zu meinem ersten Posting:


    Der Begriff „Programmmusik“ hat nichts mit dem Rundfunk- oder Fernsehprogramm oder mit Filmmusik zu tun. Er meint vielmehr Instrumentalmusik mit außermusikalischem Inhalt. „Instrumentalmusik“ bedeutet natürlich, dass jegliche Vokalmusik nicht zur Programm-Musik gehört.


    Der Inhalt wird durch Titel oder Erläuterungen vom Komponisten mitgeteilt, kann aber auch verschlüsselt angegeben oder ganz verschwiegen werden.



    Nun leuchtet ein, dass sich der Hörer einer wortgebundenen Musik (Oper, Operette, Musical, Oratorium, Messe, Passion, Requiem, Lied) sowie einer programmatischen Instrumentalmusik etwas vorstellen kann, während er der wortlosen, absoluten (reinen) Musik mitunter etwas ratlos gegenübersteht (Suite, Konzert für Orchester, Präludium und Fuge, Symphonie etc.). Aus diesem Grunde wurden bekannten Tonwerken ja auch nachträglich Titel, Erläuterungen etc. hinzugefügt (Beethoven: Mondschein-Sonate, Schicksals-Symphonie; Titel nicht vom Komponisten).


    Was die PM betrifft, so stehen dem Komponisten folgende Möglichkeiten zur Verfügung:


    1. Nachahmung akustischer Vorgänge, Wiedergabe von Höreindrücken
    Naturalistische Lautnachahmung, z. B. Vogelstimmen (Motive der hohen Flöte), Glocken (Dreiklangsbrechungen am Cembalo), Erdbeben (Tremolo im Cello), Donner (Paukenschläge) etc.


    2. Darstellung visueller Sinneseindrücke
    Abbildliche und tonsymbolische Darstellung (Tonsymbolik). Die Töne malen nicht etwas zu Hörendes nach, sondern erhalten eine sinnbildhafte (Be-)Deutung, wodurch sich Assoziationen u.a. ergeben. Beispiele: Bewegung (anlaufen und anhalten, langsam und schnell, nähern und entfernen durch crescendo und decrescendo), Zustände (Höhe und Tiefe, Nähe und Ferne), Licht und Farben (Hell und Dunkel).


    3. Wiedergabe von Gefühlen, Empfindungen, Stimmungen und Gedanken
    Gilt als die angemessenste Ausdrucksart sowohl der absoluten wie der Programmmusik.
    All das, was nicht zur Nachahmung akustischer Phänomene gehört, wird auch als Tonsymbolik bezeichnet: Die Töne malen nicht etwas zu Hörendes nach, sondern erhalten eine sinnbildhafte (Be-)Deutung (Assoziationen u.a.).



    Nun noch ein ganz grober Abriss der Musikgeschichte bis zum Barockzeitalter:


    Antike: Zur Zeit der Wettkämpfe zu Delphi (586 v. Chr.) spielt Sakadas aus Argos auf einem oboenähnlichen Instrument (Aulos) ein Stück, das den Kampf Apolls mit dem Drachen Python darstellt, (Vorbereitung . . . Kampf . . .Siegestanz), wobei auf dem Instrument Trompetensignale, Zähneknirschen u. a. dargestellt wurden.


    Im 14.-16. Jh., also zur Zeit der Renaissance, entstehen zahlreiche Vokalwerke (Chansons u. a.), die sich mit dem Krieg, der Jagd (Caccia) oder dem Vogelgesang befassen.
    Aufgrund ihres Textes, auf dem die illustrativen Wirkungen zum großen Teil beruhen, gehören diese Werke nicht zur PM im eigentlichen Sinne. Daneben finden sich allerdings auch programmatische Instrumentalkompositionen (William Byrd: The Bells; hier werden auf dem Virginal (Tasteninstrument) mit klanghaft sich steigernden Ostinati Glockentöne geschildert).

    Über zahlreiche Schlachtenmusiken der damaligen Zeit gelangt man im Barockzeitalter zu den Biblischen Historien von Johann Kuhnau (1700), sechs Klaviersonaten, die Themen aus der Bibel zum Inhalt haben. In dessen Tradition steht das Capricccio über die Abreise des geliebten Bruders von J. S. Bach (scherzhaftes Klavierstück). In Italien schreibt Antonio Vivaldi Die vier Jahreszeiten für Streichorchester (mit Solovioline) und Cembalo (um 1725).


    Christoph :hello:

  • Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir uns die wichtige Symphonie fantastique von Hector Berlioz anschauen. Bevor ich hier in Details gehe, möchte ich Beethovens Pastorale anführen, zu der Berlioz' Werk Affinitäten aufweist:



    Ludwig van Beethoven: Die Pastorale ( Symphonie Nr. 6 F-Dur, op. 68 )


    Entstehung: 1807/08, gleichzeitig mit der 5. Symphonie beendet; UA: 22.12.1808.
    Anlass: Naturliebe Beethovens. Anregung: Sinfonie Portrait musical de la Nature von J. H. Knecht. Dieser legte seinen fünf Sätzen ausführliche Erläuterungen bei, die Beethoven mit Sicherheit gekannt hat. Das Werk ist in seiner programmatischen Gestaltung der Pastorale ähnlich.


    Programmatische Merkmale sin dbeispielsweise die
    - Wiedergabe akustischer Eindrücke: Vogelstimmen (Satz 2), Donner (Satz 4: Paukenwirbel, rollende Figuren in den Bässen: Quintolen der Celli gegen Quartolen der Kontrabässe);
    - Wiedergabe visueller Eindrücke: Blitz (Satz 4: rasche Aufwärtsbewegung und kurze Schlussnote ergibt das 'Aufflammen', oder zackige melodiebewegung nach unten);
    - Wiedergabe von Gefühlen (vgl. die Bezeichnungen der Sätze 1 und 5).


    Beethoven und die Programm-Musik
    Beethoven verleugnete nicht sein Malen in Tönen, aber er rechtfertigte sich gewissermaßen:
    "Man überläßt es dem Zuhörer, die Situationen auszufinden. Sinfonia caracteristica - oder Erinnerung an das Landleben. Jede Mahlerey, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert" . . .
    "Auch ohne Beschreibung wird man das Ganze, welches mehr Empfindung als Tongemählde, erkennen."
    Beethovens Bemerkungen in seinen Skizzenbüchern sprechen an sich gegen ein illustratives Musikhören, das überall nach konkret dargestellten 'Inhalten' sucht.


    Die reale Nachahmung der Vogelstimmen am Ende des 2. Satzes - Beethoven schreibt sogar die namen der Vögel dazu: Nachtigall, Wachtel, Kuckuck - geschieht allerdings durch Stilisierung: Real sind die Schwelltöne und Triller der Nachtigall, der charakteristische Rhythmus der Wachtel und das fallende Terz-Intervall des Kuckucks. Stilisiert dagegen ist die Übertragung der Vogelstimmen auf die dafür geeigneten Holzbläser, die Einordnung in ein festes Metrum (12/8-Takt) und ihre Eingliederung in die B-Dur-Tonart mit Hilfe des sich entwickelnden Dreiklangs der ersten Stufe.



    Pastorale und Symphonie fantastique: Vergleich der Satzbezeichnungen


    Beide Werke beginnen mit einem Satz, der sowohl allgemeine als auch subjektive Gefühle darstellt. Die folgenden vier Sätze dagegen beziehen sich, bei Berlioz zumindest vom Titel her, auf Szenen der Außenwelt. Sofern man Berlioz' ursprünglich vorgesehene Reihenfolge (nämlich Satz 3 - Satz 2) nimmt, ergibt sich folgendes: Die Sätze Nr.2 sind Pastoralszenen, der französische Titel wohl eine Paraphrase auf Beethovens Satzbezeichnung, die dritten weisen Tanzcharakter auf, die vierten stehen von der Dramatik her in Relation zueinander. Anders die Sätze Nr.5: Berlioz' makabrer Hexensabbat kontrastiert stark mit dem 'happy end' der Pastorale. Beide Werke sind 5sätzig, wobei es sich bei Beethovens 4. Satz aber eher um ein Einschiebsel in die klassische 4sätzige Sinfonie handelt.




    Pastorale
    1. Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande
    2. Szene am Bach
    3. Lustiges Zusammensein der Landleute
    4. Gewitter, Sturm
    5. Hirtengesang. Frohe, dankbare Gefühle nach dem Sturm

    Symphonie fantastique
    1. Rêveries - Passions (Träumereien - Leidenschaften)
    2. Un bal
    3. Scène aux champs
    4. Marche au supplice (Gang zum Richtplatz)
    5. Songe d'une nuit du sabbat (Traum eines Hexensabbats)



    Nun zunächst etwas allgemeines zu:


    Hector Berlioz (1803 - 1869): Symphonie fantastique (1830)


    Die Symphonie fantastique gilt als Prototyp der Programm-Sinfonie. Das Programm soll das Verständnis der weitgehend dramatisch-szenisch konzipierten Musik erleichtern, dem "instrumentalen Drama" (Berlioz) aber nur als Hinführung dienen, soll also keineswegs etwa ein laufender Kommentar zur Musik sein (laut Berlioz).
    Ein persönliches Erlebnis prägt den Inhalt: die Liebe zur englischen Schauspielerin Harriet Smithson. Das Bild der Geliebten wird durch eine lang ausgesponnene Melodie dargestellt.
    Diese idée fixe, eine Art Leitmotiv, war das neue Bauelement, durch das Berlioz sowohl die Sätze miteinander verband, als auch in seinen oft weitgehenden Umdeutungen den jähen Wechsel in der Stimmung verdeutlichte.


    Im Sinne eines Leitmotivs verwendet bereits C. M. v. Weber in seinem Freischütz gewisse Motive oder Instrumente, vgl. das Samiel-Motiv oder die Hörner als Symbol für Jäger und Wald, also Max.


    Die Symphonie fantastique führt - nicht nur wegen der inhaltlichen Gegebenheiten - vom überlieferten Ideal der klassischen Sinfonie weg. Die für die programmatische Richtung in der Instrumentalmusik des 19. Jh. maßgebenden Sätze Gang zum Richtplatz und Traum eines Hexensabbats zeigen Berlioz als Schöpfer des modernen Orchesters, in dem jedes Instrument seinen spezifischen Ausdruckswert hat. Durch eine bis dahin nicht gekannte Kunst der Instrumentation setzt Berlioz als erster die unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten des Klangmaterials zur Aussage eigenen Fühlens und Denkens ein.
    Das Formgerüst der Sinfonie ist bei Berlioz gesprengt, lediglich der erste Satz steht in (einer erweiterten) Sonatensatzform.


    Die Entstehung des Werkes betreffend, sind zwei Motivationslinien bedeutend: Berlioz wollte zum einen mit einem großen, spektakulären Werk Interesse und Anerkennung der Öffentlichkeit erzwingen, andererseits ging es um die Kompensation der schwer erträglichen emotionalen Stauung durch ihre künstlerische Reflexion. Beides hängt freilich zusammen, denn das Spektakuläre an dieser Symphonie bestand nicht zuletzt gerade im rückhaltlosen Bloßlegen des autobiographischen Hintergrundes.
    In der Symphonie fantastique spiegeln sich in gewisser Weise Leben und Charakter ihres Autors wider. Bis zur Entstehung dieses Werkes finden sich viele Enttäuschungen.


    Berlioz sollte in Paris, gegen seinen Willen, Medizin studieren, um den Beruf seines Vaters zu ergreifen. Verschiedene Erlebnisse führten ihn zu einer musikalischen Laufbahn:
    - die große dramatische Oper, die Tragédie lyrique (Gluck, Spontini, Salieri);
    - der zum ersten Mal in Frankreich aufgeführte Freischütz (C. M. v. Weber);
    - die "Macht und Schönheit" der Beethovenschen Symphonien;
    - "das wunderbare Buch des Faust" (Goethe);
    - "der gewaltige Blitzschlag" Shakespeare, der ihn "zerschmetterte", ihm aber auch den weiten "Kunsthimmel" öffnete. (Zitate nach Berlioz, Mémoires)
    Diese künstlerischen Erlebnisse unterstützten den jungen Berlioz in seiner leidenschaftlichen Abneigung gegen den "klassischen" Geschmack, gegen eine "einwiegende Musik, farblos und zu einfach in Form, Rhythmus, Harmonie und Effekten."


    Kein Künstler geht unabhängig von Zeit und Umwelt hervor. So entsteht auch die Symphonie fantastique auf vorhandenen Grundlagen. Neben der sich entwickelnden Programm-Musik erweist sich die Romantik als wichtiger Faktor: Es ist die Zeit, in der man seine Memoiren schreibt, sich also im Spiegel betrachtet (Wagner, E.T.A. Hoffmann), in der das Orchester ausgebaut und Subjektives verstärkt in die massive Orchestersprache übernommen wird. Zudem entwickelt sich in Frankreich, besonders in Paris, das Virtuosentum (Paganini, Chopin, Liszt).


    Das Programm


    Auslöser für die war Berlioz' Begeisterung für die Hauptdarstellerin Harriet Smithson (bzw. deren rote Schuhe), die mit einem englischen Theaterensemble in Paris Shakespeares Dramen (Hamlet, Othello, Romeo und Julia) aufführte - Dramen von dunkler Fantastik, denen Berlioz "Schönheit und Wahrheit" bezeugte. Seine Begeisterung steigerte sich zu einer stürmischen, zunächst nicht erhörten Liebe. Zweifellos sind Programm und Musik der Symphonie fantastique aufgrund der in Berlioz geweckten Gefühle entstanden. Dennoch sollte man nicht außer acht lassen, dass diese Liebe zu einem Großteil den Dramen Shakespeares galt.


    Unterschiedlich waren Berlioz' Ansichten darüber, ob das Programm der Symphonie fantastique dem Hörer bekannt sein musste, um die Sinfonie in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen. So schreibt er in der Vorbemerkung des Textes 1845/46:


    "Der Plan des instrumentalen Dramas bedarf, da es der Unterstützung durch einen Worttext entbehrt, einer vorherigen Erklärung. Das folgende Programm ist daher wie der gesprochene Text einer Oper zu betrachten, der zu den Musikstücken hinführt und ihren Charakter und ihre Aussage erklärt . . . Die Verteilung des Programms an das Publikum ist... (daher) zum vollständigen Verständnis des dramatischen Plans dieses Werkes unerlässlich."


    In der letzten Programmfassung zehn Jahre später schreibt er dagegen:


    ". . . streng genommen kann sogar das Austeilen des Programms unterbleiben; man hat dann nur den Titel der fünf Nummern beizubehalten. Der Verfasser schmeichelt sich mit der Hoffnung, dass die Symphonie an und für sich, und abgeschlossen von aller dramatischen Absicht, ein musikalisches Interesse darbieten kann."


    Es sei dahingestellt, inwieweit die Kenntnis des Programms eine Voraussetzung für dessen Verständnis bildet. Mit Sicherheit wird das Verständnis der weitgehend dramatisch-szenisch konzipierten Musik erleichtert; dennoch soll das Programm dem 'instrumentalen Drama' (Berlioz) nur als Hinführung dienen, soll also laut Berlioz keineswegs ein laufender Kommentar zur Musik sein.



    Die Musik - Neuerungen in der Symphonie fantastique


    - Literarischer Anspruch eines – wenn auch meist fiktiven – autobiographischen Programms.


    Das Verhältnis zwischen Programm und Musik zeigt sich in drei Stufen:
    - das Programm verdeutlicht eine in der Musik anklingende Stimmung,
    - die Musik ihrerseits vertieft eine programmatische Aussage,
    - die Musik entwickelt darüber hinaus ein eigenes dramatisches Geschehen.


    - Verbindung von Musik und Programm auf neuartige Weise. Ausweitung der musikalischen Form in Anpassung an die dramatische Vorlage, dramatische Anlage der Musik. Der musikalische Ausdruck erhält größeres Gewicht.


    - Die Bezeichnung als drame instrumental deutet auf den Einfluss der Oper, die im damaligen Frankreich gegenüber der reinen Instrumentalmusik vorherrschte. Der Untertitel „Episoden aus dem Leben eines Künstlers“ führt zu einer musikalischen Aneinanderreihung szenischer Vorgänge.


    - Fünfsätzige Anlage: Einfluss der Pastorale wie auch der französischen Großen Oper


    - Zusammenhalt aller Sätze durch ein Thema, die idée fixe


    - Orchestersprache:
    - Instrumente als wichtiges Mittel für die Wiedergabe von Stimmungen und Gefühlen,
    - Übernahme von Instrumenten des Opernorchesters in das Sinfonieorchester,
    - Entwicklung neuartiger Instrumenten-Kombinationen, also ungewohnte Zusammenklänge
    - Personifikation einzelner Instrumente,
    - Virtuosität des Klanges (in Nachfolge Webers, vgl. Freischütz),
    - Sinn für theatralische und instrumentale Effekte,
    - Ausnutzung der Grenzlagen der Instrumente,
    - häufige Verwendung dissonanter Klänge,
    - Hang zu äußerer Klangmassierung zur Zeichnung des Phantastischen, ähnlich der damaligen Revolutionsmusik, aber auch Entfaltung einer Fülle sanfter, differenzierter Klänge und Farben zur Darstellung zartester Regungen.


    A. Berrsche, bedeutender Musikberichterstatter in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts:


    "Das Wunder, das bei Berlioz alle Tage geschieht, dass plötzlich eine Flöte, ein Fagott, eine Bratsche, ein Kontrabass so klingen, als sei nie zuvor auf der Welt eines dieser Instrumente gespielt worden, dieses Wunder wiederholt sich nicht mehr."


    Berlioz und die Programm-Musik


    Schon Beethoven machte auf die Gefahr einer reinen Programm-Musik aufmerksam – eine Absage an diese oder nur ein Sich-Wehren gegen allzu freie Deutungen? Ihm ging es, wie auch Schiller in seiner Naturnachahmung, um die Idee des Ganzen, wie es eben dem Wesen der Klassik entsprach:


    "Wer auch nur je eine Idee vom Landleben erhalten, kann sich auch ohne viel Überschriften selbst denken, was der Autor will" (Beethoven).


    Im dritten Satz der Symphonie fantastique dagegen (Scène aux champs) geht es nicht mehr um eine Idee, sondern um eine einmalige, nicht wiederholbare Situation, erlebt unter dem Eindruck persönlicher Erschütterung. Auch bei Beethoven gibt es ein Gewitter (Satz 4), aber bei Berlioz zieht nicht irgendein Gewitter vorüber, sondern dessen eigenes, der Situation entsprechendes.
    Berlioz gilt als der Schöpfer der Programm-Musik des 19. Jahrhunderts, als erster Programm-Musiker schlechthin. Er ist dies insofern, als er nicht nur peripheres Interesse an der Programm-Musik zeigte, sondern die außermusikalische Vorlage zur grundsätzlichen Voraussetzung seiner Kompositionen machte. Berlioz ging es ihm nie darum, lediglich äußere Vorgänge musikalisch zu beschreiben, er dachte ganz und gar als Programm-Musiker.


    Soweit erst mal einige allegemeinere Anmerkungen zu Beethoven und Berlioz.


    LG, Christoph :hello:

  • Auf dem Weg zur Sinfonischen (Symphonischen) Dichtung steht also Berlioz Programmsinfonie.
    Hier zeigt sich, dass das althergebrachte Formgerüst mit seinen vier (früher drei) Sätzen nicht mehr ausreicht.


    Schaut man sich die Gattung "Symphonie im 19. Jahrhundert" an, so wird foglendes ersichtlich:


    Hatten sich in der Klassik Form und Inhalt noch die Waage gehalten, so gerät die Sinfonie nach BGeethoven - im Zeitalter der Romantik - als Gattung absoluter Musik in Konflikt zwischen alter klassischer Form (Sonatenhauptsatzform, 4 Sätze) und neuem romantischen Ausdruck (Inhalt).


    Während sich die „Klassizisten“ auf Beethovens Tradition berufen, schlagen die „Realisten“ mit Programmsinfonie und Symphonischer Dichtung eine ganz andere Richtung ein, wobei sie sich ebenfalls auf Beethoven (3., 5., 6. und 9. Symphonie) berufen.

    Eine Weiterentwicklung der sinfonischen Form nach Beethoven, Brahms und Bruckner sowie eine Synthese der beiden genannten Richtungen gelingt in gewisser Weise Gustav Mahler, der Form und Inhalt wieder in Übereinstimmung bringt. Er erweitert den Umfang zu riesigen Dimensionen, verfeinert zugleich die Orchestersprache, bezieht Solo- und Chorstimmen mit ein und strebt nach einer universalen, metaphysischen Aussage mit programmatisch-expressionistischen Tendenzen.


    Die 5-sätzige Programmsinfonie mündet alsbald in die einsätzige Sinfonische Dichtung: Hier wird ganz deutlich, dass die Form durch den Inhalt bestimmt wird. Im Bereich des Kunstliedes geschieht ähnliches bei Schubert: Zum Strophenlied mit stets gleichen musikalischen Strophen (Heidenröslein) kommt das variierte Strophenlied (Der Lindenbaum, Die Forelle) und v. a. das durchkomponierte Lied (Erlkönig). Goethe war davon ja weniger beeindruckt...
    Die Komponisten der einsätzigen Sinfonischen Dichtung erkennen für sich, dass etwas Darzustellendes Außermusikalisches eine Einheit bildet und somit weder nach Formen mit Wiederholung verlangt, noch nach verschiedenen Sätzen.


    Hier zunächst ein paar allgemeine Daten zur Symphonischen Dichtung:



    Die Sinfonische Dichtung



    - Von Franz Liszt (1811-1886) geprägter Begriff für die
    - meist einsätzigen
    - programmatischen
    - Orchesterwerke
    - ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum frühen 20. Jh.


    Programm-Musik gibt es in allen musikalischen Epochen. In der Romantik, die auf die Verschmelzung der Künste, insbesondere auf die Literarisierung der Musik bedacht war, erhält sie aber eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung. Sie befreit sich von den naiv-realistischen Möglichkeiten der Nachahmung und strebt jetzt die Wiedergabe von poetisch gesteigerten literarischen und malerischen Vorstellungen an. In der Sinfonischen Dichtung verschafft sie sich erstmalig eine weiträumige sinfonische Form.


    Ausgehend von den dramatischen Ouvertüren Beethovens, dessen 9. Symphonie sowie der Programm-Sinfonie Symphonie fantastique von Berlioz war Liszt der Überzeugung, die Musik müsse in Form und Ausdruck neu befruchtet werden durch das „poetische Element“. Er glaubte die Würde der Instrumentalmusik dadurch zu erhöhen, dass er sich in seinen Sinfonischen Dichtungen der Bildenden Kunst ebenso wie der Dichtung öffnete, an philosophisch-weltanschaulichen Stoffen (Les Préludes, 1854, nach dem gleichnamigen Gedicht von Lamartine), an Gestalten der Weltliteratur (Tasso, 1854, nach Goethe) sowie an Bildmotiven (Hunnenschlacht, 1857, nach dem Gemälde von Kaulbach) mit musikalischen Mitteln gleichsam weiterdichtete und Inhalte der eigenen Erlebniswelt (Hungaria, 1856) zur Darstellung brachte.


    Es geht dabei nicht darum, Werke der Literatur oder Bildenden Kunst in Musik zu "übersetzen", sondern dass der im Bereich der anderen Künste bereits Form gewordene Inhalt als stoffliche Grundlage einer neuen Aussage fungiert. Bei Liszt dient die Musik weniger der realistischen Darstellung z. B. eines dramatischen Handlungsablaufs, sondern schöpft vielmehr den Stimmungsgehalt einer Vorlage aus.


    Formal wächst die Sinfonische Dichtung aus der Klavierfantasie und der Ouvertüre der Klassik/Romantik heraus. Und obwohl der Einmaligkeit des poesiegezeugten Ausdrucksgehaltes jeweils eine einmalige musikalische Gestalt entsprechen soll, bleibt v. a. die Sonatenhauptsatzform, wenn auch oft stark abgewandelt und erweitert, in Umrissen erkennbar.


    Neu ist - im Dienste des poetischen Ausdrucks - die große heroische, oft theatralische Gestik der Themen, der lyrische Schwung, die kühne Tonmalerei, die bahnbrechende Harmonik. Zur Steigerung der orchestralen Sprach- und Darstellungsfähigkeit erhält die Kunst der Instrumentation eine bis dahin nicht erreichte Bedeutung. Das Ineinandergreifen und die Vermischung der Instrumentengruppen heben den Vorrang der Streichinstrumente auf.


    Die Sinfonische Dichtung rückte genau zu dem Zeitpunkt in den Vordergrund, als um 1850 ein Bruch in der geschichtlichen Entwicklung der Symphonie auftrat: eine Lücke zwischen dem Nachleben der Symphonie nach Beethoven und dem "2. Zeitalter der Symphonie" nach 1870.


    Die Sinfonische Dichtung repräsentierte, neben Wagners Musikdrama, die sog. Neudeutsche Schule, die „Fortschrittspartei“. Die Kunstauffassung Wagners und Liszts setzte sich erst in der nach 1860 geborenen Generation endgültig durch (v. a. Richard Strauss: Also sprach Zarathustra, Till Eulenspiegels lustige Streiche, Eine Alpensinfonie u. a.).


    LG, Christoph :hello:

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  • Eigentlich haben mich sinfonische Dichtungen nie so richtig begeistert, ohne daß ich sagen könnte warum. Erst seit einigen Monaten ist mein Interesse an dieser Spezies erwacht - und ich bereue es nicht.


    Generell jedoch - so scheint es mir - genießen im Allgemeinen die Sinfonien klassischer Bauart mehr Aufmerksamheit und stoßen auf mehr Interesse.


    Ist das überhaupt so - und wenn ja: WARUM ?


    Was erwartet ihr euch von einer sinfonischen Dichtung - im Gegensatz zu einer Sinfonie, bzw welche Sinfonischen Dichtungen gehören zu Euren Favoriten - und vor allem WARUM ?


    Habt Ihr euch vor dem Hören die Hintergrundgeschichte solch eines Werkes durchgelesen - oder hört ihr diese Geschichten - auch das ist möglich, wenngleich unüblich - als "absolute" Musik ?


    Mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe ein wenig über den Begriff der Symphonischen Dichtung nachgedacht (noch nicht nachgelesen).


    Ist denn eine Symphonische Dichtung zwangsläufig Programmmusik (muss man heute mit 3 m schreiben, oder?)? Ich meine, der Begriff der Dichtung legt ja schon ein Programm nahe, aber ist das zwangsläufig so? Kann ich nicht einfach eine absolute Tondichtung schreiben, nur um der Musik willen? Womit ich bei Mahler bin, der die Programme seiner frühen Symphonien verwarf oder nicht veröffentlichte. Und zu einer Bruckner-Symphonie habe ich mal ein Programm gesehen, dass sich Bruckner überlegt hatte und GOTTSEIDANK nicht veröffentlicht hat - das hätte mir die ganze Symphonie verleidet. Sicher, Mahler und Bruckner schrieben Symphonien, keine symphonischen Dichtungen, aber findet jemand Beispiele zu meiner Frage?


    Umgekehrt gilt die Implikation sicher nicht - das Feld der Programmmusik ist weiter und umfasst mehr als nur Symphonische Dichtungen - erstere ist meinem Kenntnisstand nach auch älter!


    Also ist - mathematisch gesprochen - die Klasse der Programmmusik eine echte Oberklasse der Symphonischen Dichtung oder nicht?


    Edit: Schade, dass Du den Thread löschen willst - die Frage hätte ich gerne beantwortet bekommen. :) Vielleicht kannst Du sie rüberretten?

  • Zitat

    Original von Travinius
    Also ist - mathematisch gesprochen - die Klasse der Programmmusik eine echte Oberklasse der Symphonischen Dichtung oder nicht?


    Etwa noch'n Mathematiker hier? :)


    Sollten wir, bevor wir diese interessante Frage klären, nicht erst mal was für die Begriffsbestimmung tun?


    Vielleicht liege ich ja komplett daneben, aber für mich galt bisher immer:


    Programmusik: Der Komponist erläutert seine Kompostionen mit mehr oder weniger blumigen textlichen Angaben, was er uns Hörern damit sagen will: "Das Erwachen der Hamster in Ihrem Bau nach dem langen Winter", "Hagelschlag an meinem Schlafzimmerfenster mit anschließendem Scheibenbruch", ...


    Während ich mit einer symphonischen Dichtung bisher immer eine literarische Vorlage verband (z.B. Erbens Märchen bei Dvorak)


    Aber vielleicht ist das ja auch komplett falsch...

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Zitat

    Während ich mit einer symphonischen Dichtung bisher immer eine literarische Vorlage verband (z.B. Erbens Märchen bei Dvorak)


    Das sehe ich nicht so. Sinfonische Dichtungen sind auch musikalische Zustands- oder Landschaftsbeschreibungen (etwa von Ciurlionis "Die See" oder "Der Wald").


    Bei den Dvorak-Dichtungen ("Mittagshexe", "Spinnrad" etc; bei "Otello" ist die Sache klar ;) ) weiss ich jetzt nicht, ob die alle eine literarische Vorlage haben. "Die Mittagskexe" und "Der Wassermann" nennt Dvorak offenbar selber "Sinfonische Dichtung" "Mein Heim" oder "In der Natur" nennt er schlicht Ouvertüre.


    Das Charakteristikum der Sinfonischen Dichtung ist die Verwendung eines Sinfonie-Orchesters. Tondichtungen hingegen kommen mit anderen Besetzungen, auch mit Soloinstrumenten aus (im Klavierwerk Dvoraks gibt's da einiges, Janaceks "Im Nebel" oder "Auf verwachsenem Pfad"). Haydn's "Sieben letzte Worte..." für Streichqaurtett wäre eine Tondichtung, aber keine Symphonische Dichtung.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    weiss ich jetzt nicht, ob die alle eine literarische Vorlage haben.


    Haben sie. Karel Jaromir Erben hat u.a. Märchen und Sagen gesammelt, und hierin finden sich die Vorlagen für Dvoraks sinfonische Dichtungen: "Blumenstrauß nationaler Sagen (1853)"


    Der Besetzungsapekt ist interessant, drüber habe ich noch nicht nachgedacht.


    Jetzt bringst Du aber noch einen neuen dritten Begriff, den der Tondichtung.
    Also hätten wir jetzt schon:
    Programmusik
    Sinfonische Dichtung
    Tondichtung


    Können wir sagen, daß die sinfonische Dichtung eine Tondichtung für Sinfonie-Orchester ist (und damit eine Untermenge der selbigen?)


    Bleibt immer noch der Begriff "Programmusik"...

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  • Zitat

    Original von Reinhard


    Können wir sagen, daß die sinfonische Dichtung eine Tondichtung für Sinfonie-Orchester ist (und damit eine Untermenge der selbigen?)


    Bleibt immer noch der Begriff "Programmusik"...


    In der Hoffnung auf Aufklärung durch Wandergeist sehe ich in der Bezeichnung "Programmusik" einen Überbegriff. Bei Beethovens 6. Sinfonie bedient sich die musikalische Schilderung der Sinfonie, bei Vivaldis "Vier Jahreszeiten" der Abfolge von vier dreisätzigen Concerti und Geminianis "Zauberwald" der Suite. Der Liszt-Schüler und Assistent Joachim Raff hat einigen seiner Sinfonien programmatische Überschriften gegeben "Im Wald" (Nr. 3), "Leonore (Nr. 5, nach August Bürger), "In den Alpen (Nr. 7) oder die Orchestersuite "Aus Thüringen".


    Die Sinfonische Dichtung sprengt diesen Rahmen, die mir bekannten sind einsätzig und erreichen auch zeitlich nicht die Ausmaße spätromantischer Sinfonien (Dvoraks knapp halbstündiges "Goldenes Spinnrad" ist schon ziemlich lang, die beiden Dichtungen von Ciurlionis sind vergleichbar lang. Mit Richard Strauss bekommt die Sinfonische Dichtung zumindest was den zeitlichen Aspekt betrifft eine neue Dimension.


    Die Sinfonischen Dichtungen von Heino Eller (ich erwähnte den weiter oben) sind im Schnitt ca. 10 min lang, die längste von Liszt ("Ce qu'on entend sur la montagne") hingegen wieder etwa 30 min .


    Als Beispiel für Tondichtungen als Programmusik fällt mir gerade eine CD von Olivier Greif in die Hände: Da gibt es eine "Sonate de Requiem" op. 283 für Cello und Klavier. Ein viersätziges Werk (entstanden zwischen 1979 und 1993), das sich offenbar der Sonatenform bedient, ein außermusikalisches Thema hat, dieses jedoch nicht über ein Sinfonieorchester äussert. Das wäre dann Programmusik. Eine Tondichtung? Das wäre jetzt eine Frage.


    Die interessante Beobachtung ist ja die, dass die Sinfonische Dichtung oder Tondichtung etwas mit nationalen Identitäten zu tun hat. Liszt hat nationale ungarische Themen bei seinen Dichtungen - Mazeppa übrigens als Beispiel für Sinfonische Dichtung und Tondichtung, das Original entstammt den "Etudes d'execution trancendetal", wo es wundebare weitere "Tondichtungen" gibt, wie etwa "Schneegestöber", "Wilde Jagd" oder "Abendstimmung".


    Aber das sind keine nationalen Themen. Dvoraks "Hussiten" schon. Und Tschaikowskis "Woijwode" oder die Ouvertüre "1812". Smetan wartet auch mit nationalem auf, der Zyklus "Mein Vaterland" ist nur ein Beispiel. Bei angestrengtem Nachdenken fallen uns bestimmt noch weitere ein. Sibelius z.B. mit "Finlandia" oder "Tapiola", Grieg mit den "Sinfonischen Tänzen über norwegische Themen" oder aus den 1960er Jahren die "Autumn Music" von Andrzei Panufnik mit einem tieftraurigem Programm.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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