Da hier von Liszt nur Les Préludes erwähnt wurde und immer wieder der Gegensatz reine Musik – Programmmusik auftaucht, möchte ich versuchen, die Thematik aus musikgeschichtlicher Sicht zu beleuchten und manches noch ein bisschen zu spezifizieren. Ich bin mir natürlich bewusst, dass die meisten Taminoianer dies alles schon wissen, und vielleicht gibt es hiezu schon einen eigenen Thread – dann einfach nicht weiter lesen
Wer Programmmusik (= PM) absolut nicht mag, sollte sich dessen bewusst sein, dass hierzu neben vielen vorklassischen Werken auch klassische Werke wie z. B. Joseph Haydns Ouvertüren zu den Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten reinste Programmmusik sind. Beethoven schreibt 1813 Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria, ein gefälliges Schlachten-Gemälde mit viel Lärm und Geknalle. Während diese Kriegsmusik, der damaligen Mode entsprechend, das Programm in den Vordergrund rückt und damit eindeutig der PM zugehört, stellt seine 6. Symphonie (Pastorale) einen Grenzfall dar. Sie wird zum Auslöser zahlreicher Diskussionen und zum Ausgangspunkt der eigentlichen PM, denn obwohl wir PM in allen Epochen finden, ist die ‚hohe Zeit’ der PM natürlich die Romantik.
Es entstehen vereinfacht gesagt die beiden Richtungen: „Absolute Musik“ und „Programmmusik“, die sich äußern im
Romantischen Klassizismus: Ablehnung der Programmmusik; Anknüpfung an die Formen der Klassik und des Spätbarock, wobei die Tonsprache aber durch die melodischen, harmonischen und rhythmischen Mittel der Romantik erweitert wird, und im
Romantischen Realismus, der sich in der sog. PM äußert. Diese Richtung zeigt ganz andere Wesenszüge als die der Hochromantik. Sie steht in innerem Gegensatz zum Romantischen Klassizismus und ist stark intellektuell betont. Wichtig ist der Gedanke des Fortschritts in der Musik, das Eintreten für künstlerische Ideen in Schriften, die häufig polemischen Charakter haben.
Musik ist immer auch Ausdruck ihrer Zeit, und aus dieser heraus ist die ganze Sache sehr spannend.
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts führt der Gegensatz der beiden Richtungen zu einer ausgesprochenen Kampfstellung ihrer Vertreter in Kritik und Musikschrifttum, allerdings weniger der Komponisten als vielmehr ihrer Anhänger: "Fortschritt" gegen "Konservativismus". Wichtig in der Kunst sind natürlich weniger der Fortschritt als der Einfall sowie die Kraft künstlerischer Gestaltung. Während die Klassizisten eher der Formalästhetik angehören, vertreten Berlioz, Liszt und Wagner die Gefühls- oder Ausdrucksästhetik.
Hector Berlioz’ Symphonie fantastique stellt nun erstmals das 'Ich' des Komponisten, dessen Gefühle und Gedanken in den Mittelpunkt. Das genannte Werk (1830) ist freilich noch keine Symphonische Dichtung, sondern eine Programm-Sinfonie.
Berlioz' Tondichtungen finden ihre Nachfolge v. a. in den Werken von Franz Liszt. Die "Neudeutsche Schule" entwickelt die Sinfonische Dichtung. Liszt heißt für mich nicht nur Les Préludes, sondern da sind auch andere interessante Werke, z. B. sein abwechslungsreicher Totentanz für Klavier und Orchester (Variationen über das geistliche Dies irae).
Der nach Liszt bedeutendste Schöpfer Sinfonischer Dichtungen ist Richard Strauss, und da gibt es wirklich sehr viel zu entdecken (z. B. Don Juan, Till Eulenspiegels lustige Streiche, Also sprach Zarathustra, Eine Alpensinfonie).
Mit den nationalen Schulen treten nun auch aus dem östlichen Bereich verstärkt Komponisten auf, die sich im Bereich der Sinfonischen Dichtung betätigen, eben erwähnter Friedrich Smetana mit seinem Vaterland-Zyklus oder Anton Dvorák (Die Mittagshexe, Die Waldtaube u. a.).
Modest Mussorgsky schreibt seine Programmmusik Bilder einer Ausstellung, eine Suite für Klavier, im Norden wirken u. a. Jean Sibelius und Edvard Grieg.
Am Ende der Romantik finden wir Edward Elgars Enigma Variations und die impressionistischen Werke von Claude Debussy (La mer, Prélude à l'après-midi d'un faune).
Zwar ist die PM eine typisch romantische Erscheinung. Aber auch im 20. Jahrhundert wird PM geschrieben: Ottorino Respighi verwendet in seinen I pini di Roma eine über Schallplatte zur Orchestermusik eingespielte originale Nachtigall-Aufnahme (1924), Arthur Honegger stellt die Pacific 231 musikalisch dar, Paul Hindemith schreibt u. a. die Symphonie Mathis der Maler und das Variationswerk Die vier Temperamente.
Nun wissen wir alle, dass absolute Musik reine Musik ist, also auf kein anderes Lebensgebiet hinweist, sondern einen in sich abgesonderten Bereich darstellt und auf den Grundsätzen formaler Schönheit sowie auf dem Spiel emotionaler Gegensätze beruht. Und wir haben schon bemerkt, dass vergeistigte Emotionen vom Hörer natürlich einen höheren Grad an Mitarbeit verlangen, sofern er die Tiefe der Musik erfassen möchte.
Die Frage ist, inwieweit es Musik gibt, die völlig unprogrammatisch ist. Tauchen im Geiste des Komponisten absoluter Musik während des Schaffensaktes nicht auch 'Bilder' auf, die ihn in der Entwicklung des Werkes inspirieren, und gibt er in seiner Musik nicht auch eine Reihe von Stimmungen symbolisch wieder?
Ähnlich wird es keine reine PM geben, sofern sie nicht billiger, unkünstlerischer Abklatsch ist, denn auch in der PM machen sich musikalische Formgesetze geltend und verlangen Anerkennung in der Gestaltung.
Es ist wohl eher eine Frage der Schwerpunktsetzung, in welche 'Schublade' ein Werk eingeordnet werden kann: Herrscht der außermusikalische Inhalt oder eine rein musikalische Struktur vor?
Absolut programmatische Grüße,
Christoph