Glenn Gould...
Dieser Name ist für Klassik- und insbesondere Klavierenthusiasten Programm! Er hat wie sonst nur relativ wenige (Liszt, Paganini od. Bernstein fallen mir da auf Anhieb ein) sozusagen eine Aura.
Kaum ein Tastenkünstler hat seine Zuhörer jemals so polarisiert: Auf der einen Seite die Bewunderer seines eigenwilligen Anschlags, den man meist schon nach wenigen Sekunden heraushören kann, seines phänomenalen Gedächtnisses, das ihn auch bei Live-Aufnahmen von Zwölftonkompositionen nie im Stich ließ, seiner hochintelligenten Interviews und Aussagen zur Musik allgemein.
Auf der anderen Seite die Nörgler seiner vielfältigen "Ticks" wie etwa, auch im Sommer im Wintermantel herumzulaufen, anderen Menschen nur im Handschuh den Gruß zu erwidern, bis zuletzt den uralten klapprigen Klavierstuhl aus seiner Jugend zu benutzen (er befindet sich heute im Museum in Ottawa). Oder auch die Nörgler einiger weniger Interpretationen, bei denen Gould tatsächlich von allen guten -musikalischen- Geistern verlassen gewesen zu sein scheint: Das gilt für Mozarts A-Dur-Klaviersonate, die der Kanadier, der heute seinen 77. Geburtstag gefeiert hätte (oder feiert?!), auf ein Schneckentempo reduziert, als wolle er sich über Mozart lustig machen, oder es gilt auch für Beethovens "Appassionata", die Gould erklärtermaßen schon immer zuwider war, was man während der ganzen Aufnahme gut hören kann.
Ich füge hinzu den für mich eindeutig ärgerlichsten aller Gould-Ticks: Der von ihm selbst so bezeichnete blinde Fleck, der ihn für die Musik der Früh- und Hochromantik bis auf wenige Ausnahmen (Wagner [Orchester], etwas Schumann [Kammermusik], etwas Mendelssohn [Oratorien]) unempfänglich machte. Wegen dieses blinden Flecks haben wir von Gould nichts von Mendelssohn, nichts von Chopin, nichts von Liszt (Original), m.E. auch nichts von Schumann für Klavier Solo, und - geradezu unfassbar - nichts von einem der größten Melodiker überhaupt: Franz Schubert!
Hingegen spielte das heutige Geburtstagskind reihenweise (Schön-)Berg, Webern, Krenek und andere "Kopfkomponisten" ein, deren Werke auf jeden durchschnittlichen Klassik-Freund quasi blutleer anmuten. Was für ein absurder Geschmacks-Spagat, den Glenn Gould als Interpret da vollbrachte: Vom Frühbarock (Byrd und Gibbons, der sein erklärter Lieblingskomponist war!) über den Barock (Händel,Bach) zur Wiener Klassik (H.,M.,B.) und von dort mit einem epochalen Sprung von rund 60 Jahren (i.W. lediglich Brahms ausgenommen) zur Spätromantik (Mahler,R.Strauss), gefolgt von den Zwölftönern.
Der angeblich exzentrischste Pianist des abgelaufenen Jahrhunderts, nach allgemeiner Meinung, auch nach meiner persönlichen, zugleich der überzeugendste und kongenialste Interpret der Klavier- bzw. Cembalomusik Johann Sebastian Bachs, des von mir so empfundenen primus inter pares der Komponisten, wurde leider nur 50 Jahre alt und lebte praktisch sein ganzes Leben in seiner Geburtsstadt: Der kanadischen Metropole Toronto.
Ob es ihn amüsieren würde zu erfahren, dass auch im Jahre 2009 der zentrale Bahnhof der Weltstadt Toronto - anders als die Bahnhöfe der auf der Fahrt passierten Klein- und Mittelstädte - den Reisenden beim Aussteigen aus dem Zug auf keinem Bahnsteig mit Hinweisschildern darüber informiert, in welcher Stadt er sich befindet? Für einen Kanadier kann es sich ja schließlich nur um Toronto handeln...
Vermutlich eher verärgern würde ihn die Tatsache, dass auch 27 Jahre nach seinem Tod die Stadt, die soviele Gould-Memorabilia beherbergt, dem (Gould-)Touristen keine spezielle Gould-Tour anbietet. Als ich heuer Anfang Juni, vom Norden Detroits (USA) via Windsor (CND) kommend, auf seinen Spuren wandelte, weil mich die Neugier dazu zwang, endlich die Stätten Goulds (mit dem mich eine singuläre indirekte Beziehung verbindet, über die ich an dieser Stelle nicht sprechen möchte) mit eigenen Augen zu sehen, war ich vollkommen auf mich allein gestellt. Bereits sein Grab zu lokalisieren (ein Familiengrab gemeinsam mit den Eltern, wovon der Vater ihn mehr als zehn Jahre überlebte), grenzte trotz Kenntnis der Kennziffer des Gräberfeldes und trotz Mithilfe einer freundlichen verwitweten Portugal-Kanadierin meines Alters, die sich später neben dem Gould-Grab von mir fotografisch "verewigen" ließ, an ein Kunststück! Als es dann, völlig außer Atem, irgendwann gefunden war, beschlich mich ein Gefühl der Demut und Dankbarkeit: Man liest auf dem Grabstein die Anfangstakte der Goldberg-Variationen...
Doch: Ist er denn wirklich von dieser Welt gegangen? Mein Besuch eines seiner Apartments in der Innenstadt, wo vom Dach aus - laut Kazdin - eine musikbegeisterte ältere Dame Goulds nächtliches Klavierspiel belauschte, ohne dass er je davon Kenntnis erlangte, könnte uns (fast) vom Gegenteil überzeugen: Eine aktuelle Hausbewohnerin um die 50, die gerade herauskam, erzählte mir, dass - ein einziges Mal - kurz nach ihrem Einzug in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Gould-Apartments zu später Stunde eine ganze Weile mysteriöse wunderbare Klavierklänge(!) zu hören waren, die sie nicht näher ergründen konnte, und für die sich auch kein Bewohner oder Gast verantwortlich machen ließ. Sie selbst sprach es aus: "Das ist ihre Art, mit uns zu kommunizieren...".
Weil die Fahrt zu den querbeet über Toronto verstreuten Gould-Stätten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und ohne eigenes Auto fast nicht praktikabel ist, nahm ich mir ein Taxi, um eine weitere Wohnstätte anzusteuern: Das geheimnisumwitterte Hotel "Inn on the Park". Hier scheint er sich besonders wohl gefühlt zu haben und blieb etliche Jahre an diesem Ort wohnen. Der aus Indien oder Pakistan stammende Taxifahrer musste unfreiwillig schmunzeln, als ich ihm bei der Rückkehr zum Auto erklärte: Jetzt zu "32, Southwood Drive", ohne dabei zu verraten, dass es sich um das Elternhaus Glenn Goulds handelt. No problem! Zielsicher brachte er mich in die vornehme Villengegend im Südosten Torontos, keinen Kilometer vom Lake Ontario entfernt. Wäre er neugierig, könnte er sich freilich darüber erkundigen, was es mit dieser Adresse auf sich hat: Es ist eine Tafel aufgestellt, die über den Hintergrund dieses für Gould ganz besonders wichtigen Hauses informiert. Pech für mich: Leider hatte mein Fotoapparat keinen Strom mehr...
Das waren nur ein paar Beispiele von Gould-Stätten in seiner Heimatstadt. Natürlich zählt dazu auch das CBS-Studio unweit des berühmten Fernsehturms, das heutzutage seinen Namen trägt, aber für Fremde nur bei Konzerten zugänglich ist, in Verbindung mit der davor befindlichen Gould-Skulptur, die ihn auf einer Bank mit Mütze sitzend zeigt.
Fazit: Toronto lohnt wirklich einen Besuch, zumindest im Sommer, wenn es sich als bunte, wirbelnde Millionen-City präsentiert (mit unvergleichlichen Stadtführern!). Für alle Gould-Fans bleibt zu hoffen, dass die Stadt endlich ein Konzept ausarbeitet, wie Touristen die zahlreichen verstreuten Stätten des wohl berühmtesten Sohnes Torontos komfortabel erreichen können. Ich wage die Prognose: Die Gould-Tour wird kommen!
Spätestens ... anno 2032 ...