Sind Klassikforen Nostalgieinseln ?

  • Unlängst hat mir ein Leser geschrieben, Internetforen zum Therma klassische Musik und vor allem Tamino seien in ihren Themen und bevorzugten Interpreten sehr rückwärtsgewandt und negierten sowohl gegenwärtige Konzerte, als auch Aufnahmen, Künstler und Werke, vor allem würden immer wieder Tonaufnahmen empfohlen, welche mehr als 40 Jahre alt seien - neues würde permanent negiert.


    Stellen wir uns mal die Frage ob das in dieser Form überhaupt stimmt:
    Irgendwas Wahres wird ja wohl dran sein, allerdings ist dieser Trend in internationalen Klassikforen (in englischer Sprache) teiweise noch viel ausgeprägter, da werden Aufnahmen empfohlen, die an die 70 und mehr Jahre auf dem Buckel haben.....


    Wenn wir - nur mal als Annahme - diese Frage mit ja beantwortet haben, dan könnten wir uns fragen warum dies so ist - und zusätzlich ob dies ein Manko darstellt....


    Also: Was soll daran schlecht sein, wenn weltbekannte Künstler der Vergangenheit immer wieder als Referenz herangezogen werden - und warum begegnet man den neuen Interpreten mit - mal vorsichtig gesagt - Zurückhaltung...?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Nun, lieber Alfred, ich meine, es liegt in der Natur des Menschen - und übrigens auch in der Natur des Tieres - , das "Alte" und "Bekannte" und "Gewohnte" als gut zu befinden. - Es bietet - um bei der Musik zu bleiben - dem Menschen eine gewisse Sicherheit, Berechenbarkeit, Vertrautheit, der Mensch muss sich nicht mit dem Neuen auseinander setzen.


    Bei dieser unserer komfortablen Internet-Technik ist es allerdings doch höchst interessant, alte Aufnahmen mit den neueren zu vergleichen und Rückschlüsse daraus zu ziehen, warum z.B. das Tempo zu "alten Zeiten" noch langsamer war, als heute. - Hat das schnellere Tempo, das wir heute für unsere Musik wählen, vielleicht doch etwas mit unserer schnelllebigen Zeit zu tun, oder besteht überhaupt kein Zusammenhang? -


    Wir werden morgen unter Anderem Das Te Deum von Bruckner aufführen. Und so habe ich mir auf YouTube verschiedene Interpretationen angehört. Ja! Die ehemaligen Dirigenten von vor 30 bis 40 Jahren haben langsamere Tempi gewählt, als wir das Werk morgen vorstellen werden!


    Was würde Bruckner zu diesem unserem Tempo sagen, wenn er noch leben würde? ;)


    Freundliche Grüße,


    Melisma :hello:

  • Mit Referenzaufnahmen habe ich so meine Probleme.Wenn eine Aufnahme sich den Status einer Referenzaufnahme erkämpft hat,scheint das auf "Lebenszeit" zu sein.
    Einmal Referenzaufnahme - immer Referenzaufnahme?
    Doch wurde sie zu einer Referenzaufnahme,weil sie zur damaligen Zeit herausragend war und heute keineswegs mehr herausragend sein muß,weil zwischenzeitlich bessere Aufnahmen vorliegen - von der Aufnahmetechnik ganz zu schweigen.
    Müßten sich die Referenzaufnahmen vergangener Zeiten mit den heutigen Aufnahmen im Blindtest zum Vergleich stellen,hätten sie es vielleicht schwerer,Referenzstatus zu erlangen.
    Vieleicht liegt es auch an den Forianers selbst?
    Sind es vornehmlich ältere Forianer,die sich mit klassischer Musik beschäftigen? Lieben sie ihre Aufnahmen aus vergangenen Zeiten,weil sie mit ihnen groß geworden sind,weil sie Werke erstmals so gehört haben? Haben junge Klassikliebhaber andere,neue Referenzaufnahmen in ihrer CD-Sammlung?


    Was das Tempo der Musik angeht,so sieht es so aus,als würde es sich dem schnelle Tempo unserer Zeit anpassen.Vergleicht man aber ältere Aufnahmen mit den heutigen,so kann man das nicht generell bestätigen.Es gab schon immer "schnelle" Dirigenten,vielleicht aber gibt es heute keine "langsamen" mehr.Was wäre Otto Klemperer heute,der damals schon nicht der schnellste war?


    Warum man neuen Interpreten mit Zurückhaltung begegnet? Weil man von ihnen eine Steigerung ihrer Fähigkeiten mit zunehmenden Alter und Erfahrungen erwarten kann.Wer ist schon ausgereift,wenn er die Bühne betritt? Die Werbung will uns natürlich vorgaukeln,jung und dynamisch muß der Künstler sein,von dem wir uns eine CD kaufen. Deshalb müssen bewährte Künstler ihr Label wechseln,weil sie dem Jugendwahn geopfert werden.Die Schnellebigkeit der neuen Künstler führt dazu,daß man sie nach 3-5 Jahren schon nicht mehr kennt.
    Ex und hopp.

    mfG
    Michael

  • Zitat

    Original von Schneewittchen
    Mit Referenzaufnahmen habe ich so meine Probleme.Wenn eine Aufnahme sich den Status einer Referenzaufnahme erkämpft hat,scheint das auf "Lebenszeit" zu sein.
    Einmal Referenzaufnahme - immer Referenzaufnahme?
    Doch wurde sie zu einer Referenzaufnahme,weil sie zur damaligen Zeit herausragend war und heute keineswegs mehr herausragend sein muß,weil zwischenzeitlich bessere Aufnahmen vorliegen - von der Aufnahmetechnik ganz zu schweigen.
    Müßten sich die Referenzaufnahmen vergangener Zeiten mit den heutigen Aufnahmen im Blindtest zum Vergleich stellen,hätten sie es vielleicht schwerer,Referenzstatus zu erlangen.


    Einige ganz gewiß. Es gab schonmal so einen thread. Ein Schallplattenführer von ca. 1958 hob z.B. damals Karajans Einspielung der h-moll-Messe aufgrund ihrer mustergültigen Präzision und Klarheit hervor. Die mag damals überdurchschnittlich gewesen sein; die Transparenz wäre wenige Jahre später allein wegen stereo viel besser gewesen, die Qualität des Chores ist für uns heute kaum mehr akzeptabel, wo wir professionelle Chöre gewohnt sind, die praktisch alles, was bis ca. 1970 (teils noch später) auf diesem Gebiet aufgenommen wurde, in solchem Maße übertreffen, daß große Toleranz gegenüber den alten Einspielungen gefordert ist.


    Unbestritten bleibt dabei, daß es einzelne exemplarische Dokumente geben kann. Mehr allerdings wegen der beteiligten Künstler. Aus dem alten Plattenführer wären das z.B. Beethovens Sonaten mit Schnabel, Mozarts Don Giovanni unter Fritz Busch, Verdis Otello oder Falstaff unter Toscanini und einige Sinfonien mit E. Kleiber gewesen.


    Zitat


    Vieleicht liegt es auch an den Forianers selbst?
    Sind es vornehmlich ältere Forianer,die sich mit klassischer Musik beschäftigen? Lieben sie ihre Aufnahmen aus vergangenen Zeiten,weil sie mit ihnen groß geworden sind,weil sie Werke erstmals so gehört haben?


    Ich glaube, daß das der entscheidende Punkt ist. Nostalgie kann und will überhaupt nicht faire Vergleiche anstellen.


    Ich persönlich habe bei der Musik bis einschließlich Mozart u. Haydn eher wenige "Referenzen", die älter als 30 Jahre sind.


    Zitat


    Was das Tempo der Musik angeht,so sieht es so aus,als würde es sich dem schnelle Tempo unserer Zeit anpassen.Vergleicht man aber ältere Aufnahmen mit den heutigen,so kann man das nicht generell bestätigen.Es gab schon immer "schnelle" Dirigenten,vielleicht aber gibt es heute keine "langsamen" mehr.Was wäre Otto Klemperer heute,der damals schon nicht der schnellste war?


    Ich halte die These von der Anpassung an das Zeittempo für äußerst fragwürdig (Was fühlt sich schneller an: Kutsche mit Tempo 25 km/h auf Kopfsteinpflaster, ein Pferd im Galopp oder 180 im Daimler auf der Autobahn...?)
    Klemperer war z.B. bei Bruckner und teils auch Brahms und Mahler oft schneller als der heutige Durchschnitt.
    Es gibt auch heute noch eher "langsame": Barenboim, Thielemann, Eschenbach und Celibidache, der langsamste von allen ist nun noch nicht so lange tot (selbst wenn er natürlich in die Generation Karajan, Solti usw. gehört).


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Hat das schnellere Tempo, das wir heute für unsere Musik wählen, vielleicht doch etwas mit unserer schnelllebigen Zeit zu tun, oder besteht überhaupt kein Zusammenhang? -


    Ich denke, daß da sehr wohl ein Zusammenhang besteht, weil man glaubt in eine Aufnahme eines Werkes aus dem 18. Jahrhundert etwas "Modernität" hineininterpretieren zu müssen, und "rasant" dirigieren zu müssen.


    Zitat

    Was wäre Otto Klemperer heute,der damals schon nicht der schnellste war?


    Na ja letzlich ist Musik kein Wettrennen.
    Ich glaube, Klemperer würde sich auch heute behaupten, er ersetzte die Schnellen Tempi durch andere Kunstkniffe um "Effekt" zu erzeugen...


    Zitat

    Einmal Referenzaufnahme - immer Referenzaufnahme?


    Von Ausnahmen mal abgesehen würde ich sagen: Ja


    Referenzaufnahme bedeutet ja nicht notwendigerweise "die Beste", sondern eine besonders gelungerne MARKANTE Aufnahme, an der man sich orientieren kann,
    So ist beispielsweise die erste Karajan-Aufnahme der Beethoven Sinfonien für DGG in Stereo eine meiner Referenzen.
    Das heisst nun nicht, daß es nicht Aufnahmen giäbe, die mir besser gefielen - aber an dieser "Referenz" kann ich feststellen inwieweit sich eine Neuaufnahme vom Karajanschen Beethovenideal - welches in der Tat für Jahrzehnte ein Standard war - entfernt, bzw wohin diese Neuaufnahme tendiert.
    Es ist immer gut wenn es etwas gibt worauf man sich beziehen kann:
    "Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe die Welt aus den Angeln!"
    sagte schon Archimedes...
    Referenzaufnahem sehe ich als solche feste Punkt, die mir helfen mich zu orientieren und Neuaufnahmen besser zu beurteilen....

    Zitat


    Vieleicht liegt es auch an den Forianers selbst?
    Sind es vornehmlich ältere Forianer,die sich mit klassischer Musik beschäftigen? Lieben sie ihre Aufnahmen aus vergangenen Zeiten,weil sie mit ihnen groß geworden sind,weil sie Werke erstmals so gehört haben


    Da ist sicherlich was Wahres dran -
    Andrerseits fehlt jüngeren Klassikfreunden zumeist der Backgrround um seriöse Vergleiche anstellen zu können: Sie kennen die Interpreten der Vergangenheit zumeist nur noch dem Namen nach - wenn überhaupt...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Da ist sicherlich was Wahres dran -
    Andrerseits fehlt jüngeren Klassikfreunden zumeist der Backgrround um seriöse Vergleiche anstellen zu können: Sie kennen die Interpreten der Vergangenheit zumeist nur noch dem Namen nach - wenn überhaupt...


    Hallo zusammen,


    Ich denke, mit den beiden obigen Aussagen ist das Wichtigste zusammengefasst. In kurzen, prägnanten Sätzen habt Ihr und JR zusammengefasst, was ich nach dem Lesen von Alfreds Eröffnungsbeitrag gedacht habe, dazu schreiben zu können.


    Viel Grüße vom noch "jungen", - weil unerfahrenen Klassikhörer
    Steffen :hello:

  • Lieber Steffen_P,


    in meinen Augen haben es die jüngeren Klassikliebhaber (und -kenner) besser. Die letzten 50 Jahre sind sicher besser dokumentiert als die glorreiche Vorvergangenheit.


    Jeder Klassikfan der jüngeren Generation kann in guten Aufnahmen die Vergangenheit kennenlernen und studieren und nimmt Anteil an der heutigen Generation. So steigt jedes Jahr die Anzahl der Künstler und Werke, die man kennenlernt.


    Ich erinnere mich mit Vergnügen an eine alte Dame, die auch mit 84 Jahren noch am Stehplatz in der STOP anzutreffen und sich noch an Caruso erinnern konnte. Sie teilte uns immer wieder mit, daß sie alle Tenöre gehört hätte, sich aber keiner mit Caruso messen könne. Was uns damals immer ein Schmunzeln entlockte. Aber Zeitzeugen sind immer interessant !


    Liebe Grüße -


    vom Operngernhörer :hello:

  • Zitat

    Original von Steffen_P


    Ich denke, mit den beiden obigen Aussagen ist das Wichtigste zusammengefasst. In kurzen, prägnanten Sätzen habt Ihr und JR zusammengefasst, was ich nach dem Lesen von Alfreds Eröffnungsbeitrag gedacht habe, dazu schreiben zu können.


    Viel Grüße vom noch "jungen", - weil unerfahrenen Klassikhörer


    Lieber Steffen,


    Du sagst es gut "Da ist sicherlich was Wahres dran".
    Ich kann so zwei Beispiele geben, wo man plötzlich durch eine Aufnahme bewegt wird. Die dann auch sofort auf Platz 1 steigt.


    Das erste ist eine Konzertarie von Mozart, KV 505. Als ich die Ausführung von Sylvia Sass mit Andras Schiff hörte... :jubel:
    Bist jetzt habe ich noch nie ein so inniges, so schönes Liebesduett gehört als hier.


    Das andere Beispiel ist eine Aufnahme der Matthäus Passion. Hunderte Male hatte ich bereits die MP gehört. Und als Harnoncourt mit seiner Aufnahme kam (ungefähr 1970) war ich sofort bewegt. Und noch immer habe ich nicht eine Aufnahme gehört, die sie übertrifft.
    Dennoch habe ich eine LP-Aufnahme von Raymond Leppard aus 1983, die etwas hatte, daß ich bei Harnoncourt nicht finde. Das Besteigen der Ölberg wird da durch Fagott und Cello begleitet. Und plötzlich hörte ich wirklich die Stufen.


    Es ist also sehr gut möglich, daß man plötzlich was hört, wodurch alle bis dann bekannten Aufnahmen an Wert verlieren. Aber oft... nein, das wird nicht passieren.


    LG, Paul

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