Alles zu seiner Zeit - Betrachtungen über Moden der Interpretation

  • Eigentlich sollte der Threadtitel ja lauten:


    ALLES ZU SEINER ZEIT - Betrachtungen über Moden der Interpretation, Freiheiten, Unarten und dergleichen...


    Aber das wäre natürlich zu lang........


    Worum dreht es sich bei diesem Thread eigentlich ?


    Es geht schlicht und einfach um die oft geleugnete Tatsache, daß "klassische Musik" nicht "zeitlos ist" -man möchte sogar anfügen: Ganz im Gegenteil.


    Allein die Änderungen im Geschmack was Interpretationen betrifft waren ind den letzten 100 Jahren erheblich.
    Viele rümpfen die Nase, wenn man ihnen eine Aufnahme vorlegt, die vor 50 oder mehr Jahren gemacht wurde, der musikalische Geschmack war damals ein anderer , so sagt man...


    Stimmt das wirklich ?
    Kann man wirklich nur Aufnahmen mit Genuss hören, die heutgen Richtlinien entsprechen ?
    Über allem anderen liegt Staub der Jahrzehnte (???!!!)
    Wenn dem so wäre, dann wäre jedes Sammeln von klassischer Musik vergeudete Liebesmüh.
    Alte Aufnahmen, besonders, wenn sie durch ein "historisches" Klangbild stigmatisiert sind, bedeuten ja schon zumesit technisch bzw akustisch eine Einengung für den Hörer - Warum nimmt er dies auf sich - wo es doch sooo viele hervorragende Aufnahmen von heute gibt....


    Heutige Aufnahmen sind nicht nur tontechnisch überzeugender, nein (angeblich) klingen sie auch viel authentischer, sind näher am einstigen Original. Ausserdem WEISS man jetzt, wie die Musik des (als Beispiel)18. Jahrhunderts interpretiert werden soll (Mozart wusste das natürlich nicht) - in den vergangene Jahrzehnten stümperten wahrscheinlich ein paar musikalische Anaphabethen auf ihren Instrumenten herum und ein Tyrann vorn am Pult koordinierte das ganze oft mehr schlecht als recht.
    Und sowas nahm man dann auch noch für die Schallplatte auf...


    Das damalige Publikum nahms gelassen - und oft sogar begeistert auf - wahrscheinlich war es anspruchslos....


    Soll man sich wirklich die Ohren mit solch alten Auifnahmen verbiegen ?
    Soll man wirklich all die Unarten und eitlen Eigenheiten über sich ergehen lassen, die scheinbar nur zum alleinigen Zweck in die Interpretation eingebaut wurden auf sich aufmerksam zu machen ?


    Oder war da mehr ?
    Etwas, das inzwischen weitgehend verloren gegangen scheint: Individualität !!


    Historische Aufnahmen - egal wie historisch -
    müssen immer nach den geschmacklichen Richtlinien ihrer Zeit
    bewertet werden. Man muß wie durch ein Zeitfenster eintauchen in längst vergangne Zeiten.....


    Dann wird man (vielleicht) Erfüllung finden .....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    ich persönlch schätze alte Aufnahmen und hab schon mehr als einmal erlebt, dass eine gute Mono aus den 50ern deutlich besser war als eine hochgepuschte Digitale aus den 2000ern. Denn wie du schon zu anderer Zeit festgestellt hast, damals wollte man Aufnahmen für die Ewigkeit machen und ist folglich ganz anders an sie herangegangen, als wie heute, wo nur die absuluten Verkaufszahlen zählen.
    Als Extrembeispiel ist dafür der Solti-Ring anzuführen, aber auch Karajans Ariadne oder de Sabatas Tosca oder Beechams La Boheme oder, oder, oder, wobei das auch noch dadurch bestätigt wird, dass der Preis einer solchen Gesamtaufnahme in Relation zum damaligen Stundenlohn um ein vielfaches höher war, als heutzutage und auch der klassischen Musik und ihrer Interpreten ein höherer Stellenwert zugestanden worden ist als es heute der Fall ist.


    Außerdem merkt man doch völlig unabhängig vom Interpretationsansatz alten Aufnahmen an, dass sie gleichsam mit "Herzblut" eingespielt worden sind und von dem her wesentlich mehr Leidenschaft und Pathos drin steckt als bei so mancher neuen, die auf mich dann meist reserviert und unterkühlt wirkt.


    Und zur Authetizität möchte ich noch bemerken, dass mir zwischenzeitlich eine Reihe von Aufnahmen vorliegen, die alle schon die 50 weit überschritten haben und trotzdem so authentisch sind, wie es nur irgendwie geht: Ravels Bolero unter Leitung von Ravel, eine Reihe Elgar-Kompositionen unter Leitung von Elgar, Weingartners Orchestrierung der Hammerklaviersonate unter Weingartner aber auch die Rachmaninov-Konzerte mit Rachmaninov am Klavier und noch eine Reihe anderer Konzerte mit ihren Widmungsträgern am Soloinstrument. Denn man möge doch bitte beachten, vieles, was heute zum Standardrepetoire gehört ist im 20. Jhdt. komponiert und mit den Komponisten eingespielt worden. Und wenn auch dabei die Aufnahme- und Wiedergabequalität nicht mehr gerade zu den besten gehört, will ich davon keine einzige missen.


    Viele Grüße
    John Doe

    Einmal editiert, zuletzt von John Doe ()

  • Ich kann mich mit diesem "früher war alles besser" nicht anfreunden.


    Es gab sicherlich Sternstunden. Solti-Ring. Rachmaninoff. Alles bestens.


    Aber: Ist es nicht mit den alten Aufnahmen wie mit alten Möbeln? Haben die nicht einfach einen besonderen antiquarischen Wert, völlig unabhängig von der Leistung selbst?


    Vor einigen Wochen, kurz vor meiner aktiven Forum-Teilnahme, habe ich mir mal die Threads zum Thema beste Mahler-Einspielungen angesehen und war erstaunt, wie viele "alte" Aufnahmen und wie wenig "neue " Aufnahmen dabei waren.


    Ich habe mich damals gefragt - und tue es jetzt anhand dieses Themas erneut - was eigentlich diskutiert wird? Die besondere Aufnahme aus den 30ern als Sammlerstück oder die tatsächliche Orchesterleistung und - nicht zuletzt - der Hörgenuss?


    Ich habe den Furtwängler-Ring von 1950. Den kann man nur im Auto hören, weil einem da das Rauschen, Husten und die schlechten Schnitte nicht so auffallen.
    Am Wochenende habe ich, weil ich im 2nd Hand zufällig die Bach-Violinkonzerte mit Fischer und Hahn gefunden habe, die mit meinen Aufnahmen mit Szernyg und ASMF bzw Perlman/Barenboim/ECO verglichen.
    Julia Fischer ist der eindeutige Gewinner. Sie hat auch mit der ASMF gearbeitet, aber ihre Aufnahme ist im Vergleich zu Szernyg ein ganz anderes Stück. Da wird der schwere Pathos, das tragend-schleppende Spiel, das zwar zum Einmrsch des Königs in einem Historienfilm passen mag, weggewischt und alles ist leicht und tänzerisch. Der erste Satz des E-Dur-Konzerts ist bei Fischer ca. 3:20, bei Szernyg knapp 4 min! Und jetzt komme mir bloß keiner und sage, Bach müsse wie ein Trauermarsch gespielt werden. Bei den Bach-Solo-Suiten achtet man ja auch sehr auf das Tänzerische in der Musik und die Aufnahmen von Fournier und z. B. Queyras unterscheiden sich insgesamt um wenige Minuten bei über 2h Gesamtdauer und 36 Stücken. Das hat aber auch was mit der Interpretation an sich zu tun und weniger mit einer allgemeinen Beschleunigung.


    Wo wir schon dabei sind: Ich habe außerdem noch einen Hörvergleich gemacht: Bach, h-moll-Messe. Klemperer vs Cantus Cölln vs eine neue Einspielung auf Mirare mit Corboz und Musikern aus Lausanne. Klemperer braucht für das Kyrie sage und schreibe 4 min länger! Da ist natürlich ein größeres (New Philharmonia) Orchester und ein größerer Chor. Trotzdem denkt man kurz, ob man den CD-Spieler schneller schalten kann wie einen Plattenspieler.


    Ich vertrete jedoch keineswegs die Ansicht, schneller sei besser. Bernsteins 9. von Mahler ist ca. 8 min länger als Barenboims, gefällt mir aber viel besser.


    Mein Ansatz ist der: Was erwarte ich von einem Stück? Wenn ich davon ausgehe, je zeitlich näher am Komponisten, desto besser, dann ist es mir mit der Klangoptik eben nicht ganz so wichtig.
    Für mich gehört das aber zusammen. Heifetz' Konzerte (Sibelius, Tschaikowsky) sind von der Solostimme her wunderbar. Es fehlt aber das Gesamtklangerlebnis, weil der Dialog mit dem Orchester aufnahmetechnisch unausgewogen ist. Da ist eine Aufnahme mit Mutter oder Shaham eben klanglich besser.


    Die Herzblut-Nummer glaube ich nicht. Wenn ich heute in die Musikhochschule gehe und die Studenten ihre Probekonzerte geben, dann sind die sehr wohl mit Herzblut dabei. Ganz im Gegenteil: Die Konkurrenz ist riesig und das Niveau so hoch, dass jeder Abstrich an Wille sich negativ auf die Karrierechancen auswirkt.
    Es ist ganz im Gegenteil die höhere Erwartungshaltung an die Künstler, die den Eindruck vermitteln kann, diese seien nicht mehr so mit Herzblut dabei. Aber dabei wird eben vergessen, wie schnelllebig das Geschäft geworden ist. Keine 5 Tage Ozeandampfer von Hamburg nach New York, sondern 7 Stunden Flug und Jetlag. Auch keine tagelangen Aufnahmesitzungen mehr, sondern zackzack. Und dann sitzen einem immer die Alten im Nacken. Ist die Aufnahme wirklich vergleichbar mit...? Kommt er als Solist wirklich an ... heran?


    Klassische Musik hat doch das Problem, dass insbesondere im Standardrepertoire jede Neuaufnahme mit Dutzenden anderer konkurriert und die meisten Hörer doch schon eine Lieblingsaufnahme haben.


    Deshalb: Ein wirklicher Vergleich kann nur "live" gelingen, also Referenzaufnahme von früher gegen Live-Auftritt von jetzt. Sonst hat man im heimischen Wohnzimmer schnell die altbewährte Einspielung im Ohr und der noch so gute Neuansatz ist dahin.



    Moden und Unarten hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ich fange jetzt nicht wieder mit HIP an. Außerdem gibt es auch die Einspielwellen. Kommt das kleine Label mit Künstler A und Werk X, muss das große Label sofort mit Künstler B X ebenfalls auf den Markt werfen. Und dann verschwindet das Werk wieder für 20 Jahre in der Versenkung.


    Worüber man auch diskutieren kann, ist, ob jedes der niedlichen Klassiksternchen (egal ob Gesang oder Soloinstrument) wirklich so gut ist, dass man damit eine Platte füllen sollte. Marketing ist sicher eine Argument, das für die früheren Aufnahmen spricht. Da konnten Musiker noch Hornbrillen und groß karierte Sakkos tragen. Nicht zu vergessen das Cover von Kremers Bach-Partiten. Hier ist mit Sicherheit eine Entwicklung, die beobachtet werden sollte. Andererseits: Eine schlechte Aufnahme, ob mit hübscher Solistin auf dem Cover oder nicht, bleibt eine schlechte Aufnahme und damit im Verkäufer-Regal.


    Klassische Musik als Musikrichtung unterliegt genauso Entwicklungen wie andere Musikrichtungen auch. Die Tempi werden schneller, weil man die (langsamen) Tempi als unzeitgemäß empfindet. Besetzungen werden geändert (kleinere Ensembles), der Klang wird leichter (nicht immer, aber durchaus).
    Das hat nicht unbedingt nur etwas mit dem Versuch der Rekonstruktion früherer Aufführungspraktiken zu tun, sondern eben sehr wohl mit dem heutigen Hörverständnis.


    Ich traue mich deshalb nicht, früher gegen heute zu werten. Ich kaufe ein Werk aus Interesse und empfinde jeden Neuerwerb als Bereicherung, und sei es nur an Erfahrung, dass die schon vorhandene Einspielungeben doch die bessere ist.
    Auch klassiche Musik muss sich entwickeln. Da ist sie nicht anders als Architektur oder bildende Kunst. Ich finde es wichtig, dass die Beethoven-Sinfonien weiterhin aufgenommen werden, auch wenn mir meine schon gut gefallen. Nur so besteht doch auch die Möglichkeit, dass sich auch in Zukunft Menschen mit bereits vorhandenen Kunstwerken (und als solche sind Kompositionen zu betrachten) auseinandersetzen.

  • Lieber Alfred,


    Musterbeispiel ist vielleicht die Aufnahme von Kathleen Ferrier der Händel- und Bacharien (8-10 Oktober 1952).


    Die Aufnahme ist altmodisch, die Tempi sind altertümlich, aber... der Gefühlswert womit gesungen wird, ist bis jetzt noch immer (m.E.) unerreicht.



    Ich erinnere mich noch die Sensation, als in dern Sechziger Jahren Decca diese Aufnahme in Stereo ausbracht!!
    Das Orchester spielte die Musik neu ein; Sir Adrian Boult dirigierte mit einem Kopfhörer auf und hörte dort die Mono-Ausführung. Später wurde das Stereosignal auf der Monospur kopiert. Nur an Stellen, wo sie ohne Begleitung singt, hört man, daß es eine Monoaufnahme war.


    Nur einmal habe ich eine Interpretation von "He was despised" gehört, daß dieses Gefühl für den Text und die Musik annähernd vermitteln konnte: Anne Sophie von Otter in Pinnocks "Messiah".



    Mein Geschmack hat sich geändert, dergestallt daß ich Musik schneller hören will und schlanker ausgeführt. Nicht aber die Musik, die ich mag. Das blieb ungeändert.
    Diese Aufnahme aber bleibt für mich ein Tondokument, daß uns alle überleben wird. Und dann noch immer Menschen rühren wird. Die Intensität der Gefühle entstand nur durch eine einmalige Kombination von Faktoren. Sie wurde während der Aufnahme durch das Krankenhaus angerufen, und man sagte ihr, daß keine Krebsmetastasen gefunden waren. Gleich danach sang sie "O Thou that tellest good tidings to Zion". So rührend, so lebensfroh.
    Eine einmalige Sängerin hinterließ uns ein einmaliges Zeugnis.


    LG, Paul

  • Luis Keuco schrieb:


    Zitat

    Vor einigen Wochen, kurz vor meiner aktiven Forum-Teilnahme, habe ich mir mal die Threads zum Thema beste Mahler-Einspielungen angesehen und war erstaunt, wie viele "alte" Aufnahmen und wie wenig "neue " Aufnahmen dabei waren.


    Irgendwie ist das eine "Forenkrankheit" (ich will mich nicht drüber beschweren, neige ich ja selber dazu das Alte zu glorifizieren und das Neue in Zweifel zu ziehen :D) -besonders Ausgeprägt in der internationalen Newsgroup, wo man sich nicht damit begnügt ,die eine 50 Jahre alte Mono Aufnahme zu empfehlen, nein zumreist ist es eine 75 Jahre alte Schellack-aufnahme (natürlich digital überspielt)


    Aber es gibt natürlich auch die Gegenbewegung - wo jede alte Aufnahme als "verstaubt", zu "romantisch" und "interpretatorisch nicht zeitgemäß" runtergemacht wird...


    Foren sind ein Gebilde von Leuten, deren Geschmack entweder allmählich einheitlich wird - trotz aller gegensteuernden Maßnahmen.
    Es gibt natürlich Forianer mit anderen Präferenzen, die werden aber in der Regel subtil "niedergemacht" . so daß sie sich gar nicht zu schreiben getrauen. Solche Vorgänge spielen sich teilweise so leise ab, daß sie von der Moderation gar nicht bemerkt werden - ganz abgesehen davon, daß auch Moderatoren nur Menschen sind, die gewisse Aufnahmen lieben und andere ablehnen.....


    Die Problematik beim Empfehlen neuerer Aufnahmen liegt oft darin, daß diejenigen, denen sie gefallen, die alten Aufnahmen gar nicht (mehr) kennen - und somit gar nicht begründen können was an der Neuaufnahme besser sein soll als bei der schon seit 40 Jahren als solchen gehandelten Referenzeinspielung....
    Da hat dan die "alte Garde" ein leichtes Spiel (Vorsicht - ich gehöre selber zur "alten Garde")


    Mein Ansatz zu diesem Thread war und ist, daß man schwer von einer 40 Jahre alten Aufnahme erwarten kann, daß sie heutigen Kriterien entspricht - man muß ihr das museale Zubilligen - und kann sie trotzdem geniessen.
    Wenn eine Neuauzfnahme nach Meinung eines Mitglieds besser ist als alles bis her dagewesene, dann darf das gern geschrieben werden - aber natürlich wird sich auch Widerspruch regen - Davon lebt letztlich ein Internetforum....



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Mein Ansatz zu diesem Thread war und ist, daß man schwer von einer 40 Jahre alten Aufnahme erwarten kann, daß sie heutigen Kriterien entspricht - man muß ihr das museale Zubilligen - und kann sie trotzdem geniessen.


    Lieber Alfred,


    Hier liegt der Crux. Es ist möglich (vide Ferriers Einspielung), daß bis jetzt noch kein Musiker die Musik derart ausgeführt hat.


    Ich nehme Clara Haskil. Auch wenn es falsche Noten auf dem Blatt sind, auch wenn sie vielleicht Fehler machte, die Empathie die sie für Mozart hatte, habe ich bis jetzt auch noch nie von einem derart gehört. Nicht alles was alt ist, ist darum schlecht(er).
    Es gibt rara avis, Unika. Dann wurden solche Meisterleistungen gebracht, daß die kaum oder nicht zu übertreffen sind.


    Was sind denn heutige Kriterien? Rauschfrei? Stereo oder sogar noch mehr?
    Hat die Musik nicht das letzte Wort?


    LG, Paul

  • Reden wir von Ausnahmen oder eben von einem roten Faden, wonach ab irgend einem Zeitpunkt (wann eigentlich?) keine guten Aufnahmen mehr entstanden sind?


    Ausnahmen gibt es immer und für alles.
    Aber was ist denn mit den Bach-Aufnahmen Peraihas oder Hewitts? Was ist mit den Cello-Suiten von Fournier oder Rostropovich oder Isserlis?
    Welcher Beethoven-Zyklus Karajans ist denn der beste? Was ist mit Karajans Bruckner 7, kurz vor seinem Tod?
    Ist die moderne Umsetzung der Bachkantaten durch Gardiner, Suzuki, Herreweghe schlechter als Richter oder Harnoncourt?
    Sind die Gulda-Aufnahmen der Beethoven'schen Sonaten besser als Brautigam oder Lewis?
    Muss ich die Mahler-Sinfonien mit Walter, Klemperer, Leinsdorf denen von Bernstein, Solti oder Chailly vorziehen?
    Muss ich Rauschen und Mono grundsätzlich schön finden, weil da so viel mehr Gefühl dabei ist?


    Die Musik hat sicher das letzte Wort, aber eben unvoreingenommen und ohne alt=gut.
    Geniessen kann man, was gefällt. Und da ist jeder auf Grund seiner individuellen Prägung, seiner Interessen und seiner HiFi-Ausstattung frei. Nur eben das alt=gut ist nicht gut.


    Oder ist alt=gut die regelmäßige Fortsetzung des früher war alles besser?

  • Liebe Forianer :


    es müsste zunächst verbindlich geklärt werden , was jemand unter "alten" und "neuen" Aufnahmen versteht .


    Alfred hat hier einige Hinweise gegeben .


    Die MAHLER - Renaissance hat laut Norman Lebrecht , einem Mahler - Experten , etwa mit Bruno Walter in Wien um 1955 begonnen . Sind Walters Aufnahmen "alt" ? Was besagt den interpretatorisch "alt" . Was will "neu" audrücken .


    Vor etwa 50 Jahren gab es eine relativ breite Palette von hochkarätigen Opernaufführen , Konzerten ( gerade auch in Wien ! 9 und Einspielungen auf LP .


    Anders als er dies mit grosser PR darzustellen versuicht hat , war Leonrad BERNSTEInb nicht die "Reinkarnation" von Mahler als er in Wien hochwillkommen , seinen Mahler - Zyklus mit den Wiener Philharmonikern aufnahm . Und mehrere andere Werke noch dazu . Nicht wenige Kenner mesen übrigens Benrsteins New Yorker Mahler-Interpretationen die grössere Bedeutung zu .


    Zur Erinnerung : Bei den Brahms - Symphonien hatten wir um 1965 , also zehn Jahre nach Bruno Walters Rückkehr nach Wien und er Wiedreeröffnung der dortigen weltberühmten Staatsoper , Aufnahmen , die bis heute an ihre interpretatorischen Virlseitigkeit bis heute ihre Bedeutung ohne Abstriche behalten haben . So zjm Beispiel Bruno Walter selbst ( CBS / LPs ) , Toscanini ( zweimal ) , Giulini , Cantelli , Steinberg , Furtwängler , den frühen Karajan , die c-Moll-Symphonie mit van Beinum , , Szell , Ormandy , reioner , martinon ( nicht mehr erhältlich derzeit ) .


    Wer Brahms' Werke schätzt wie ich dies seit vielen Jahren tue , der wird wahrscheinlich die Chailly - Aufnahmen ( GA ) haben . Herrliche Musizieren . Durchaus den "alten" Interpretationen auch in der rein handwerklichen Leistung ebenbürtig .


    Dann die nicht immer leicht zugänglichen Aufnahmen etwa mit dem Tschechisch Philharmonischen orchester ( Label : Supraphon ) . Diese Aufnahmen gab es während meiner Schülerzeit in Grossbritannien in London für damals 1 engl. Pfund ; das entsprach feast genau 12,00 DM pro LP . Meines Wissens hat es bis in die CD - Zeit gedauert bis immer mehr Aufnahmenb aus den Archiven von Supraphon auch in Deutschland ( eta die mit V. TALICH ) zugänglich geworden sind . Eine für mich enorme Bereicherung .


    Ist dies dann für den Klasikfreund "alt" oder "neu" . Sicherlich ein neues auch anders Musikerleben , weil wir die Aufnahmen grossenteils nicht kannten .


    In Zusammenhang mit der Edition "Great Pianists of the Century" ( 1998 / 1999 ) habe ich mich nach einem umfangreichen Artikel in "Gramophone" mit der Kunst von Ivan MORAVEC beschäftigen wollen . es hab nur wenige Aufnahmen dieses grossen Pianisten zu kaufen . Die meisten Aufnahmen hat er wohl in den USA gemacht mit nicht immer herausragenden Klangkörpern bei den Klavierkonzerten .


    Wenn man die Solkoaufnahmen alleine heranzieht , dann waren viele hervorragende Interpretationen , wei etwa Chopins 'Barcarolle' , Opus 60 , für mich vom künstlerischen Eindruck her "neu" .


    Von den Leningrader philharmonikern gab u d gibt es seltesamerweis ebis heute wenige Aufnahmen zu kaufen, obwohl es sich um ein erstklassiges Orchester handelt ( Zeitpunkt der mir bekannten Aufnahmen) .


    Man wird auch Aufnahmen aus der LP - Zeit aussortiert haben ( Alfred hat hier ja geschreiben, das er dies bei sich nicht täte ) Manche "neuen" Aufnahmen der Symphonien von Johannes Brahms oder Beethoven sin d auch schon weider 20 Jahre und mehr "alt" . Manche dieser etwa von Gardiner bis heute
    gemachten Interpretationsansätze halte ich zumindest für interessant ; daher habe ich mir diese Aufnahmen gekauft ( und würde sie erneut kaufen ) .


    Wer sich über das Schaffen von Anton BRUCKNER informieren möchte , der wird kaum irgendwo anders soviel Informationen bekommen wie im Tamino-Klassikforum ; also hier ! Die mesiten Aufnahmen mögen rein zeitlich gesheen "alt" sein im Hinblick auf ihre Aufnahmedaten . Aber sind sie nicht in ihrer Gültigkeit "neu" geblieben ?


    Alfred wiess dies aus seinen Jahren als auch kritischer begleiter der Klassik - Forenwet genau , dass es immer sehr unterschiedliche "Hörmeinungen" gegben hat .


    Hier , aktuell , hat sich , vorgestellt von "Joseph II" eindeutig ergeben , dass es fast nur einen überragenden Parsifal - Dirigenten nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat : Knappertbusch . Warum ist dies so geblieben ?


    Sind die berühmten MOZART - Dirigenten wie Böhm , Krips oder Bruno Walter "alt" . Was bedeutet dies eigentlich ; dieses "alte Aufnahmen" ?


    Ein sehr problematisches Thema bleibt ( jetzt nach meinem Eindruck n i c h t mehr ) die Frage der dominierenden Meinungsmache und Meinungs-"Gestaltung" in einem Forum .


    Mir ist alledings kein einziger Fall bekannt , dass ein neues oder jüngers Mitglied nicht in vollem Umfang seine Meinungen ganz allgmein hier schreiben und disktutieren kann .


    Auch das , was ich mit "Höranstössen" bezeichne , also Hinweisen auf neue ( zeitlich gesehen ) Aufnahmen , ist als tatsächliche Bereicherung willkommen . Und auch aus meiner Sicht sher gerne gelesen . Niemand kann sehr viele Neuerscheinungen auf dem CD - Markt wirklich hören .


    Beste Grüsse ,



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Muss ich Rauschen und Mono grundsätzlich schön finden, weil da so viel mehr Gefühl dabei ist?


    Die Musik hat sicher das letzte Wort, aber eben unvoreingenommen und ohne alt=gut.
    Geniessen kann man, was gefällt. Und da ist jeder auf Grund seiner individuellen Prägung, seiner Interessen und seiner HiFi-Ausstattung frei. Nur eben das alt=gut ist nicht gut.


    Oder ist alt=gut die regelmäßige Fortsetzung des früher war alles besser?


    Ho ho, dies ist eher hineininterpretieren als meine Worte korrekt wiedergeben.


    Ich sagte nicht "Weil es alt ist, ist es gut". Nein, ich sagte deutlich "Es gibt vereinzelt alte Aufnahmen, die so einzigartig sind, daß sie alles schlagen".
    Davon gibt es natürlich nur ganz wenige. Und Clara Haskil, wie sehr ich sie auch schätze, zählt für mich persönlich dazu. Aber ihre Aufnahmen haben nicht den Status von Ferriers Bach-Händelaufnahme.


    Ferriers Aufnahme hat mehr als Haskils Aufnahmen: nicht nur fehlerfrei (was man von Haskils Aufnahme nicht immer sagen kann) und ist ziemlich rauscharm (auch hier hat Haskil es manchmal schwerer). Beide haben aber gemeinsam ein Gefühl für Musik, daß man nur sehr selten so stark entwickelt erlebt.
    Bei Ferrier kam aber der Zusatzfaktor: die Mitteilung, man hatte keine Metastasen gefunden. Und diese Stimmung führte dazu, das ein Unikat entstand.


    LG, Paul

  • Lieber Paul,


    ich denke , dass man die Aufnahmen von Ferrier mit denen von Haskil vergleichen kann .


    Anders ist es , wenn man Haskil mit sich selbst und demselben Werk vergleicht oder Haskils Interpretation mit denen anderer Pianisten ( hier im Forum etwa nachzulesen in "Zelenkas" Beitrag zu Schuberts Klaviersonate B - Dur 960 ).


    Nebenbei : Auf ihrem jeweiligen Gebiet schätze ich die beiden Künstlerinnen ausserordentlich.



    Viele Grüsse,


    Frank



    PS.: Hat van Beinum nach deinem Wissenstand auch die anderen Brahms - Symphonie a) dirigiert und b) aufgenommen ?

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

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  • Ich finde, dieser Thread entwickelt sich sehr gut.


    Ich versuche jetzt mal ein paar Definitionen - ohne Anspruch darauf zu erheben, daß die stimmen.


    Zitat

    Reden wir von Ausnahmen oder eben von einem roten Faden, wonach ab irgend einem Zeitpunkt (wann eigentlich?) keine guten Aufnahmen mehr entstanden sind?

    Ich glaube nicht, daß ab einem gewissen Zeitpunkt keine guten Aufnahmen mehr entstanden sind - eher scheint es mir, daß ab einem gewissen Zeitpunkt der Markt gesättigt war.


    Ein Interpret von heute steht vor zwei Optionen:


    a) Er spielt "traditionell" - und fällt somit nicht auf
    Er muß ja gegen alle bereits verstorbenen Kollegen antreten - und gegen glorifizierte Tote hat man in der Regel wenig Chancen.


    b) Er versucht "anders" zu spielen als bisher, macht villeicht ein paar hellhörige Kritiker auf sich aufmerksam, - und wird vom Publikum gemieden - weil er nicht den Hörerwartungen entspriecht.


    Zum Trost sei angemerkt, daß es immer wieder - wenn auch selten - Interpreten gelingt, aus desem Teufelskreis auszubrechen. Das werden dann vielleicht die Referenzen der Zukunft.


    Zu alten Bruckner-Aufnahmen (gilt aber für vieles andere auch):



    Zitat

    "Aber sind sie nicht in ihrer Gültigkeit "neu" geblieben ?"

    Das ist eine Frage, die von verschiedenen Altersgruppen vermutlich unterschiedlich beantwortet werden wird.



    Zitat

    Ein sehr problematisches Thema bleibt ( jetzt nach meinem Eindruck n i c h t mehr ) die Frage der dominierenden Meinungsmache und Meinungs-"Gestaltung" in einem Forum .

    Ich bin persönlich der Auffassung, daß dies nicht unbedingt ein Spezificum dieses Forums ist, das ist allgemein so,
    In meiner jugend war ich in einer "Schick-Micki Gruppe", wo Karajan
    das non plus ultra war...
    Wertungen gelten immer nur innerhalb eines Kreises der Gesellschaft,
    räumlich UND zeitlich abgegrenzt.
    Somit beeinflusst das Tamino Forum (das ist ja generell nichts schlechtes) nach wie vor den persönlichen Musikgeschmack.
    Lediglich sind andere Leute meinungsbildend. Wo Karajan einst ein rotes Tuch war, ist er nun geschätzt, bewundert, oder akzeptiert.
    Aber natürlich gibt es auch weiterhin Kritiker und Gegener dieses Dirigenten im Forum -und das ist ganz in Ordnung - solange es nicht dahingehend ausufert, daß es "öffentliche künstlerische Meinungen" innerhalb des Forums gibt.



    Zitat

    Ist die moderne Umsetzung der Bachkantaten durch Gardiner, Suzuki, Herreweghe schlechter als Richter oder Harnoncourt?

    Wahrscheinlich nicht, aber die Neugier auf Neues, die in der Nachkriegszeit - auch wegen der neuen Stereotechnik da war - dürfte abgestumpft sein.



    Zitat

    Da wird der schwere Pathos, das tragend-schleppende Spiel, das zwar zum Einmrsch des Königs in einem Historienfilm passen mag, weggewischt und alles ist leicht und tänzerisch

    Hier wird wieder sehrgut das Threadthema DIREKT angesprochen.


    "Schwerer Pathos" ist HEUTE für einige (aber längst nicht für alle - wie man uns gerne glauben machen will) ein UNWORT, alles muß schnell, schlank und sportlich sein, Barock ist überladen, alte Sprache zu "blumig"


    Ich will es an einem Beispiel aus Geschäftsbriefen deklarieren:


    verbleibt dero gehorsamster Diener
    mit dem Ausdrucke äusserster Werschätzung
    Alfred Schmidt
    ______________________________


    verbleibe ich
    mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung
    Ihr sehr ergebener
    Alfred Schmidt
    __________________________________


    mit vorzüglicher Hochachtung
    Alfred Schmidt
    ____________________________________


    Hochachtungsvoll
    Alfred Schmidt
    _____________________________________


    Mit freundlichen Grüßen
    Alfred Schmidt
    _____________________________________


    m.f.g
    A.S.
    ____________________________________


    Die hier oben gezeigte Entwicklung ist nur ein Beispiel für das, was sich innerhalb unserer Gesellschaft abgespielt hat - eine Nivellierung nach unten.


    Diese Vereinfachung, Beschleunigung und der Verzicht auf alles Veredelnde findet sich meiner Meinung nach auch in der Musikwelt wieder - Schönheit ist nicht mehr gefragt. (Von der Architektur möchte ich erst gar nicht reden)
    Man arbeitet bei Interpretationen mit Vorliebe "Brüche" heraus -
    Brüche die frühere Dirigentengenerationen natürlich auch gesehen haben, aber es war ihnen peinlich die "offensichtlichen Schwachstellen" von Kompositionen berühmter Komponisten freizulegen - sie kitteten sie zu - teilweise auf dratische Weise.
    kein Wuinder, daß viele Leute den alten Interpretationen nachtrauern....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Luis.Keuco, du vergleichst alte Aufnahmen mit alten Möbeln. Ja, bloß ist halt das Bauhaus auch schon 90 Jahre alt und mit Verlaub, so mancher Entwurf dieser Designschule ist halt immer noch moderner, als so manches spätere Produkt.


    Ist die alte Aufnahme gut, überdaurt sie, ist sie schlecht verschwindet sie in der Versenkung.
    Die Frage ist doch viel mehr, ob früher mehr Gutes produziert worden ist, als heute. Ich meine ja. Als Beweis braucht man doch nur in die Opernsektion dieses Forums gehen und nach dem Zufallsprinzip ein paar Threads öffnen: Überwiegend werden dort Werke gelobt, die alle älter als 30 Jahre sind und von dem her definitiv nicht mehr als neu bezeichnet werden können.
    Aber auch deswegen ja, weil früher grundsätzlich mehr in die Breite produziert worden ist. Denn wieviele neue Boris Godunow, Wallys, Igors, Tieflands, Dimitris, aber auch Obertos, Adriana Lecouvreuers, Lakmes, Stiffelios und Luisa Millers etc. gibt es denn überhaupt?
    Interessiert mich der kompositirisch-musikalische Werdegang Verdis, komme ich um 30, 40, 50 Jahre alte Aufnahmen nicht umhin, will ich mich mit dem Verismo allgemein befasse, stehe ich vor der gleichen Situation.
    Neue Studioaufnahmen von Opern werden immer seltener und das, was produziert wird, ist hauptsächlich Hauptrepertoire, will man doch auf Nummer sicher gehen.


    Anders verhält es sich mit dem barocken und klassischen Repertoire, wobei aber da die Anfänge der HIP auch schon auf die 50 zugehen und auch in diesem Bereich so manches ein Unikat geblieben ist und in dieser Existenz immer älter wird.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Guten Morgen,


    ich hoffe, die fruchtbare gestrige Diskussion setzt sich heute fort. Ich finde das Thema sehr gut.


    Folgendes möchte ich richtig stellen:

    Zitat


    Ho ho, dies ist eher hineininterpretieren als meine Worte korrekt wiedergeben.


    Ich sagte nicht "Weil es alt ist, ist es gut". Nein, ich sagte deutlich "Es gibt vereinzelt alte Aufnahmen, die so einzigartig sind, daß sie alles schlagen".
    Davon gibt es natürlich nur ganz wenige. Und Clara Haskil, wie sehr ich sie auch schätze, zählt für mich persönlich dazu. Aber ihre Aufnahmen haben nicht den Status von Ferriers Bach-Händelaufnahme.


    Lieber musicophil, ich vertrete die gleiche Ansicht wie du.
    Ich schrieb, dass es früher eben Sternstunden gab, die nach wie vor unerreicht sind. Da sind wir einer Meinung.
    Mein Ansatz ist - und das sehen andere ja auch so - dass "alt" gleich ein Qualitätssiegel ist, egal, welches Schülerorchester sich einen aus den Armen nudelt.
    Die Qualität einer einzelnen Aufnahme, egal, wann sie entstanden ist, kann sehr hoch sein. Nur muss das individuell bewertet werden.



    Zitat

    es müsste zunächst verbindlich geklärt werden , was jemand unter "alten" und "neuen" Aufnahmen versteht .


    Da stimme ich mit Frank Georg Bechyna überein. Wann fängt alt denn an? Für einen 20-Jährigen ist Karajan gestrige Zeit. Für einen 40-Jährigen ist Toscanini Vergangenheit und ein 75-Jähriger kennt Caruso von den Platten des Vaters. Alter ist relativ und damit fällt jedem die Eingrenzung schon schwer.


    Aber: Das Thema lautet ja Moden der Interpretation. Wir können uns also ein wenig davon entfernen, das Alter zu definieren.


    Nur: Was sind Moden? War der Beginn des Stereo-Zeitalters, als Bernstein und Szell (nur zB) mit Stereoaufnahmen experimentierten, Mode? War Karajans satter Streicherton Mode, oder Folge der immer besser werdenden Technik?
    War Harnoncourt mit seinen historischen Instrumenten Mode oder der Versuch einer Gegenargumentation zu Richter, Karajan, Klemperer?



    Die von Alfred_Schmidt dargestellte Änderung der Briefschlussformeln ist sehr schön, ich spare mir das Zitat an dieser Stelle.
    Es soll damit verdeutlicht werden, wie sich Moden ändern, hier am Beispiel der Briefetikette. Das wird mit der Barock-Interpretation verglichen. Das halte ich allerdings für falsch.
    Reduzierung gab es in der Kunst, also weniger in der Interpretation, sondern in der Komposition. Musik wurde aus der eher handwerklich-mathematischen Komposition in die freie Assoziation geführt (ohne natürlich die Grundregeln der Kompositionstechnik zu missachten, s. zB Schostakowitschs Klavier-solo-Stücke) und, durch Schönberg, in ein abstrakteres Klangbild durch die Zwölftonmusik transformiert. Das ist in etwa wie der Vergleich eines Rubens-Werkes mit Rothko oder dem späten Kandinsky. Alles ist brilliante Kunst, aber der Gedankenansatz ändert sich, wobei aber die Grundtechnik, welche Farben korrespondieren, bestehen bleibt.


    Es ist also nicht so, dass Julia Fischers Bach-Violinkonzerte, um beim eigentlichen Beispiel zu bleiben, nur schneller sind, sondern sie werden schlicht anders interpretiert und klingen dadurch leichter und freier und - wie ich finde - sie werfen ein ganz neues Licht auf Bachs Werk, dass eben - und hier ist nach meinem Empfinden ein wichtiger Diskussionspunkt - Bach die Stücke möglicherweise ganz anders gedacht hat, als sie gespielt wurden bzw bisher interpretiert wurden.


    Wer sagt uns denn, dass die langsamen, schweren Bach-Aufnahmen so sind, wie Bach sie erdachte oder erwünschte? Sind die neuen Aufnahmen mit kleiner Besetzung nicht filigraner in der Ausgestaltung, viel mehr auf die kleinen Verzierungen der Musik ausgerichtet als ein großes Wums eines großen Orchesters?


    Sind wir nicht den "dicken" Sound einfach nur gewohnt?


    Zitat

    Luis.Keuco, du vergleichst alte Aufnahmen mit alten Möbeln. Ja, bloß ist halt das Bauhaus auch schon 90 Jahre alt und mit Verlaub, so mancher Entwurf dieser Designschule ist halt immer noch moderner, als so manches spätere Produkt.


    Es geht bei dieser Aussage um das Möbelstück an sich. Ob Bauhaus oder Louis XVI spielt keine Rolle. So, wie man mit seinen Möbeln umzieht, zieht man mit seinen Büchern und CDs/LPs um. Und so, wie man sich abends in den Lieblingssessel fallen lässt, auch wenn der schon verschlissen ist, hört man die eine oder andere Aufnahme wieder und wieder, weil man mit ihr "befreundet" ist, egal, ob es bessere oder einfach nur originellere Alternativen gibt. Man hat sich auf einen Sound eingehört, verknüpft Erinnerungen mit ihr. Es fällt dann nicht immer leicht, sich umzustellen, sich neu einzulassen auf ein Werk.
    Ein Beispiel: Eine meiner ersten Klassikanschaffungen war Mahlers 1. mit RPO und einem russ. Dirigenten. 5 € bei Saturn(!). Habe ich viel gehört, auch im ersten Urlaub mit meiner damaligen Freundin. Mit dem zunehmenden Interesse an der Klassik hörte ich auch Alternativen zu dieser Aufnahme. Mittlerweile ist die Aufnahme in der zweiten Regalreihe verschwunden und die ehemalige Freundin ist meine Frau. Es ist tatsächlich die Frage, ob man eben diese Entwicklung auch möchte.


    Dagegen spricht:

    Zitat

    weil früher grundsätzlich mehr in die Breite produziert worden ist. Denn wieviele neue Boris Godunow, Wallys, Igors, Tieflands, Dimitris, aber auch Obertos, Adriana Lecouvreuers, Lakmes, Stiffelios und Luisa Millers etc. gibt es denn überhaupt?


    Klassik bediente bis vor 25 Jahren noch einen ganz anderen Markt als früher.


    Deshalb auch:

    Zitat

    Die Frage ist doch viel mehr, ob früher mehr Gutes produziert worden ist, als heute.


    Natürlich, weil viel mehr Geld sich auf weniger Leistungsträger verteilte.


    Folge:

    Zitat

    Ein Interpret von heute steht vor zwei Optionen:


    a) Er spielt "traditionell" - und fällt somit nicht auf
    Er muß ja gegen alle bereits verstorbenen Kollegen antreten - und gegen glorifizierte Tote hat man in der Regel wenig Chancen.


    b) Er versucht "anders" zu spielen als bisher, macht villeicht ein paar hellhörige Kritiker auf sich aufmerksam, - und wird vom Publikum gemieden - weil er nicht den Hörerwartungen entspriecht.


    Und genau hier ist das Problem. Um im Markt zu bestehen, muss ich entweder herausragend sein und muss den Kampf mit den Toten aufnehmen, oder ich muss so ein gutes Konzept haben, dass mein neuer Ansatz auf breites Hörinteresse stößt. Das wird in Zeiten, in denen jeder jeden und alles sofort kopiert, allerdings schwer.
    Was machen die Labels: Setzen auf Jugend. Wie schon oft von mir bemerkt, Sex sells. Hübsches Gesicht vorn aufs Cover und denn wird das sicher ein Selbstläufer. Aber so funktioniert Klassik eben nicht, weil es keine Videoclips, kein MTV, keine Bunte und Gala dazu gibt, außer vielleicht bei AS Mutter. Wobei die unbestritten was kann.
    Lege ich aber eine CD ein, betrachte ich nicht mehr das Cover, sondern höre Musik. Und das Ohr ist gnadenlos, weil blind. Und so werden viele dieser Gesichter bald verbrannt und ihre Karrieren sind dahin, weil sie sich nicht wirklich entwickelt haben. Dieser Leistungsdruck bestand früher in der Form nicht. Klar, Wunderkindsensationen wollte die Welt immer (s. Mozart). Aber vielen Musikern ließ man früher mehr Zeit, sich ein Repertoire zu erarbeiten. Heute wird ein Repertoire einfach vorausgesetzt.


    Gestern, im jpc-Magazin. Eine 21-jährige Studentin der Münchner Musikhochschule bringt ihr Debut heraus, DGG, Liszt(!). Es wird gepusht, gepusht, gepusht. Und dann wird natürlich der Hans-Sachs-Ruf des eingefleischten Klassikfans nach den Alten laut.


    Ich kann nur empfehlen, sich durchaus offen zu zeigen für das Neue. Nicht alles ist Weltklasse. Aber spätestens im Konzertsaal muss man sich der Wahrheit stellen, dass die Richters, Oistrachs und Karajans unwiderruflich Geschichte sind.
    Alternativ bleibt einem sonst nur, es mit Mahler in seinem Abschiedslied zu Rückerts Versen zu halten.


    Ich entschuldige mich für die Länge meiner Ausführungen.


    Grüße
    L

  • Zitat

    Original von Frank Georg Bechyna
    PS.: Hat van Beinum nach deinem Wissenstand auch die anderen Brahms - Symphonie a) dirigiert und b) aufgenommen ?


    Lieber Frank,


    Das muß ich nachschauen. Ich weiß nicht so die Antwort.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Und genau hier ist das Problem. Um im Markt zu bestehen, muss ich entweder herausragend sein und muss den Kampf mit den Toten aufnehmen, oder ich muss so ein gutes Konzept haben, dass mein neuer Ansatz auf breites Hörinteresse stößt. Das wird in Zeiten, in denen jeder jeden und alles sofort kopiert, allerdings schwer.
    Was machen die Labels: Setzen auf Jugend. Wie schon oft von mir bemerkt, Sex sells. Hübsches Gesicht vorn aufs Cover und denn wird das sicher ein Selbstläufer. Aber so funktioniert Klassik eben nicht, weil es keine Videoclips, kein MTV, keine Bunte und Gala dazu gibt, außer vielleicht bei AS Mutter. Wobei die unbestritten was kann.


    Ich denke, daß hier kleinere Label eine Lösung gefunden haben, die die "großen" Label bis jetzt nicht folgen.


    Ich nenne hier bewußt drei Namen: JPC, Naxos und Brilliant.
    1: JPC ==> Was tut JPC? Die hat eine sehr direkte Zusammenarbeit mit Rundfunkstudios. Dadurch werden Produktionen ausgebracht, die es sonst kaum gäbe.
    2: Naxos ==> Naxos hat einen Weg gefunden, die zuerst unmöglich schien. Unbekannte Musiker nahmen ziemlich unbekannte Werken auf. Die Preise waren nicht hoch, weil aber eine sehr große Anzahl CDs verkauft wurde, lohnte sich dieses Konzept.
    3: Brilliant ==> Zuerst wurden in Lizenz ältere Aufnahmen ausgebracht (wobei manchmal unglaublich schöne). Inzwischen bringt Brilliant aber auch neue, selbstgemachte Aufnahmen gegen "fancy" Preisen aus. Ich denke da an Brixis Orgelkonzerte, Giulianis Gitarrenkonzerte und natürlich (last but not least) die sechs Boxen mit Volksliedbearbeitungen von Haydn. :jubel: :jubel:
    (Nebenbei bin ich noch persönlich dafür verantwortlich, daß die Lieder von Haydn, damals bei Philips ausgebracht in einer LP-Einspielung von Elly Ameling und Jörg Demus, durch Brilliant auf CD ausgebracht wurden :])


    LG, Paul

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  • Die Liste der kleinen Labels mit Sonderwegen ist lang und zeigt auch, dass sich Klassik entwickelt.
    Wir bewegen uns weg von einem Kanon der Standardeinspielungen und hin zu sehr individuellen Sammlungen. Siehe das Forum. Ist das auch eine Mode? Oder ein neuer Zugang zu klassicher Musik?


    Vergessen wir mal nicht, dass Klassik bis eben vor ca. 25 Jahren eine große Verkaufsnummer war. Und wie man am Lieblingskomponistenthread sehen kann, besteht doch ein recht übersichtlicher Kreis an Lieblingskomponisten. Um es mal böse zu sagen: Die Standardkomponisten aus dem Kreuzworträtsel.
    Solange man mit denen Platten verkaufen konnte, musste auch nicht viel anderes eingespielt werden. Und da haben wir jetzt auch unsere Klassiker. Wurde uns da nicht aber eine bestimmte Vorstellung, ein bestimmtes Klangbild von der Industrie vorgegeben und als große Meisterschaft honoriger älterer Herren verkauft? Sieht so ein Knappertsbusch, ein Karajan, ein Fournier, ein Richter nicht vertrauenserweckend so aus, wie wir uns einen ernsten Musiker vorstellen? So eine Art Santa Claus der Schallplattenbranche? Doch vielleicht war das eben auch eine Mode: das große Orchester, das volle Klangbild, der ernste Maestro.


    Erinnern wir uns: Was ist das meistverkaufte Klassikalbum? Vivaldis 4 JZ mit Nigel Kennedy. Hier hat also der Hörer entschieden und hat sich für einen unkonventionellen, aber qualitativ hochwertigen Künstler mit einer neuen Herangehensweise an ein eher verstaubtes, vielleicht auch übermäßig strapaziertes Werk, entschieden.


    Mode ist erst das, was wir so empfinden. Da, wo wir eine lange Tradition erkennen, reden wir schneller von Mode als bei neuentdeckten oder unbekannteren Werken. Das Händel-Revival. Mode? Oder Wiederkehr eines zu Unrecht vergessenen oder auf wenige Werke beschränkten ganz Großen?
    Beethoven mit Kammerorchesterbesetzung. Mode? Oder der Versuch eines möglicherweise von Beethoven eher angedachten Klangbildes? Bestelle mir Beethoven 1.+2. Sinf. mit Antonini und KO Basel und bin gespannt.


    Wesentlich, das wurde von musicophil ja auch angesprochen, ist sicherlich der Preis der CDs. Erst dadurch, dass CDs nicht mehr zu Apothekenpreisen in Kleinstdosen gekauft werden, sondern in der Brilliant-Box für Cent-Beträge, fängt man doch überhaupt erst an, mal im großen Maßstab auch unbekanntere Werke zu kaufen oder Vergleichsaufnahmen zu bestellen.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Die Problematik beim Empfehlen neuerer Aufnahmen liegt oft darin, daß diejenigen, denen sie gefallen, die alten Aufnahmen gar nicht (mehr) kennen - und somit gar nicht begründen können was an der Neuaufnahme besser sein soll als bei der schon seit 40 Jahren als solchen gehandelten Referenzeinspielung....
    Da hat dan die "alte Garde" ein leichtes Spiel


    Vorausgesetzt, die "alte Garde" kennt alle Neuaufnahmen.
    :beatnik:
    Also Aufnahmen vor ca. 1960 sind wirklich schon ein bißchen sehr alt.
    Die haben, denke ich, auch nur einen kleinen Kenner- und Liebhaberkreis.


    Musik bis ins 19. Jahrhundert sammle ich ja so weit wie möglich auf Originalinstrumenten, bis zum 18. Jahrhundert ausschließlich. Dabei gefallen mir zwar frühe Harnoncourt-, Leonhardt-, Kuijken- und Hogwood-Aufnahmen auch gut, im Falle preislich vergleichbarer jüngerer Aufnahmen ähnlich gemochter Damen und Herren dürfte ich letztere wahrscheinlich bevorzugen.


    Im 19. Jahrhundert bin ich wegen meiner Originalklang-Präferenz in meiner Sammeltätigkeit recht gehemmt, meine Aufnahmen auf Originalinstrumenten sind aber soweit ich mich erinnere erst ab ca. 1980 eingespielt. Bei der Oper habe ich ein ziemliches Problem, abseits von Weber und Rossini schaut es schlecht aus. Versuchsweise habe ich nun Boieldieu in der Steinzeitversion beschafft und bin mir unsicher, ob ich mich mit diesem (undeutlichen) Klang anfreunden werde können - und vor allem mit der fragwürdigen Ballance.


    Übers 20. Jahrhundert mache ich mir in einem späteren Beitrag Gedanken.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ausserdem WEISS man jetzt, wie die Musik des (als Beispiel)18. Jahrhunderts interpretiert werden soll (Mozart wusste das natürlich nicht)


    Du scheinst da etwas ein wenig mißverstanden zu haben.

    Zitat

    Oder war da mehr ?
    Etwas, das inzwischen weitgehend verloren gegangen scheint: Individualität !!


    :wacko:


  • Es kommt auch immer darauf an, wem man schreibt - selbst Mozart hat da schon entsprechend differenziert:


    Euer Hochfürstl: Gnaden
    meines Gnädigsten LandsFürsten
    und Herrn Herrn unterthänigster
    und gehorsammster
    Wolfgang Amade Mozart
    _____________________________________


    Euer Gnaden gehorsamste Kinder
    W. A. u. C. Mozart
    _____________________________________


    gehorsamster danckbarster Diener
    wolfgang Amadè Mozart.
    _____________________________________


    trés affectioné Neveu et Cousin
    Wolfg: Amadé Mozart
    _____________________________________


    C: W: Mozart
    _____________________________________


    Mozart.
    _____________________________________


    Mzt.
    _____________________________________


    :hello: ( <---- derzeit modernste Art)


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)


  • ...da antworte ich mal, weil es mich auch interessiert:


    jawohl, hat er (Concertgebouw Orchestra, Philips), derzeit aber wohl nirgends erhältlich.



    Gruß
    Uwe

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