Der Alberich vom Dienst: Gustav Neidlinger

  • Selten hat es in der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts eine so enge Verbindung zwischen einem Sänger und einer Rolle gegeben wie zwischen Gustav Neidlinger und Alberich aus Wagners "Ring". Angeblich hieß es in der Presse nach Neidlingers Tod: "Alberich ist tot!".


    Der deutsche Bass-Bariton Gustav Neidlinger wurde am 21. März 1910 in Mainz geboren. Dort gab er nach dem Studium am Konservatorium in Frankfurt am Main auch sein Operndebüt. Während Bach-Cantatas.com mit Bezug auf "Baker’s Biographical Dictionary of 20th Century Classical Musicians" dieses Debüt auf 1929 datiert, ist im Wikipedia-Eintrag von 1931 die Rede. Nach Mainz und Plauen führte ihn sein Weg an die Hamburger Staatsoper, wohl eine seiner prägensten Stationen. Neidlinger war von 1936 bis 1950 Ensemble-Mitglied in Hamburg. Vom hohen Norden ging es dann in den tiefen Süden nach Stuttgart, wo direkt nach dem 2. Weltkrieg das "Winter-Bayreuth" aufblühte. Neidlinger wurde ständiges Ensemble-Mitglied, 1977 Ehrenmitglied. Seit 1956 war er zusätzlich Mitglied der Wiener Staatsoper.


    Sein großer Durchbruch gelang ihm aber sicher auf dem grünen Hügel in Bayreuth. Über Jahre, ja beinahe Jahrzehnte hinaus war er DER Alberich in Wagners Wohnzimmer. Wohl keine andere Rolle im "Ring" war dermaßen lang durch einen Sängerdarsteller geprägt. Und das hat mit Sicherheit weniger an mangelnden Alternativen als vielmehr an der idealen Verkörperung Neidlingers gelegen, der dem Alberich über die Jahre immer wieder neue Facetten abgewann. So ist mir sein später Alberich unter Böhm (66/67) aufgrund der gestalterischen Raffinesse fast am liebsten, obwohl die Stimme nicht mehr ganz die Gewalt aus den 50ern hatte und auch die Aufnahmen unter Solti (Studio), Krauss (Live), Keilberth (Live) und Knappertsbusch (Live) eine grandiose Leistung Neidlingers bieten können. Gänsehaut ist/war garantiert.


    Und obwohl Neidlingers "Steckenpferd" immer der Alberich war und es in memoriam auch stets bleiben wird, so hat er doch sehr wohl auch in anderen Rollen zu überzeugen gewusst. Persönlich fällt mir da seine herausragende Interpretation des Lysiart in Webers "Euryanthe" unter Ferdinand Leitner 1954 ein. Seine sonore Stimmgewalt erschließt sich einem dort trotz der tontechnischen Mängel der Aufnahme.
    Auch sein Don Pizarro im "Fidelio" unter Knappertsbusch (1961) gehört zu den besten der Plattengeschichte, auch hier war aber leider die suboptimale Tontechnik etwas hinderlich (die volle Wirkung seines Organs hat sich vermutlich nur denjenigen erschlossen, die ihn live gesehen/gehört haben) und die extrem langsamen Tempi von Kna verlangten den Sängern schon einiges ab.
    Hervorragend war sicher auch sein Klingsor im "Parsifal" unter Knappertsbusch.


    Weitere Rollen, die von Gustav Neidlinger gesungen wurde:


    - Hans Sachs in "Die Meistersinger von Nürnberg" (hier erschien unlängst bei Walhall ein Live-Mitschnitt aus Bayreuth)
    - Telramund im "Lohengrin"
    - Kurwenal in "Tristan und Isolde"
    - van Bett in "Zar und Zimmermann"


    Laut Wikipedia hat er auch den Holländer gesungen, leider hab ich in dieser Richtung noch keine Tondokumente gefunden.


    1985 verlieh ihm seine Geburtsstadt Stadt Mainz die Gutenberg-Medaille.


    Gustav Neidlinger verstarb am 26. Dezember 1991 in Bad Ems.


    Best, DiO :beatnik:

  • Ja, Gustav Neidlinger, war weit mehr als nur ein epochaler Alberich, auf den sein sängerisches Wirken häufig zu unrecht eingeengt wird. Dass er in Stuttgart einen beeindruckenden Boris (in deutscher Sprache) und in jüngeren Jahren einen urkomischen van Bett sang, zeigt die Spannweite des Repertoires, dass dieser Künstler beherrschte.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Wer die gesamte Bandbreite des Könnens von Gustav Neidlinger kennenlernen möchte, für den hat das Hamburger Archiv für Gesangskunst (HAfG) eine 3er Box herausgebracht, die es ab sofort zu kaufen gibt:



    Da ist natürlich nicht nur Wagner drauf: Von Colas Arie aus Mozarts "Bastien und Bastienne" Diggy daggy schurry murry bis hin zu Lortzings Bürgermeister van Bett aus "Zar und Zimmermann" ist alles vertreten....


    die genaue Titelliste findet ihr hier.


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Lieber Diabolus!


    Die 3CD-Box mit Neidlinger-Standards und -Raritäten habe ich betreut, auch den Wikipedia-Eintrag aktualisiert. Einen Holländer-Ausschnitt gibt es wohl leider-leider als Tondokument nicht; ich habe monatelang für die HAfG-Edition danach gesucht. Es gab mal einen kurzen TV-Ausschnitts-Spot mit einem Fragment aus dem Auftrittsmonolog für eine Portraitsendung, in der auch ein Jago-Auftritt vorkam. Den Jago haben wir aus Privatbesitz finden und auswerten können, Holländer scheint verschollen (wir konnten nur ein Rollenfoto mit der Senta Anja Silja ins Booklet stellen). In der Edition sind aber u.a. Ochs und Wotan in Studioqualität, weiter manche Fundsache, von Marschners VAMPIR bis Offenbachs MADAME FAVARD.


    Nachdem ich bis fast zuletzt keinerlei Informationen über den ersten - endlos langen und mit Dutzenden von Wurzen wie auch Basso profondo-Partien, insgesamt 97 Bühnenfiguren, vollgestopften - Laufbahnabschnitt in Hamburg vor dem eigentlichen Weltkarrierebeginn auffinden konnte, auch von Sohn und Tochter so gut wie Null, traf ich dann glückhaft auf die zauberhafte, kenntnisreiche, hilfsbereite Frau Barbara Neumann in der Dramaturgie der Hamburgischen Staatsoper, die diese Lücke schließen half, so dass wir mit der Edition auch biographisch Wichtiges für Erinnerung und Nachruhm ergänzen konnten.


    Falls Ihr interesse an diesem alleinständigen Sänger "zwischen den Fächern" und Bühnen-Schwergewichtler weiter reicht, senden Sie mir doch Ihre eMail-Adresse - an KUS@ku-spiegel.de. Ich übermittle Ihnen dann gern den kompletten Booklet-Text.


    Grüße, KUS

    Gilt es des Lebens höchsten Preis um Sang mir einzutauschen ...

  • Guten Abend!


    Ja, Gustav Neidlinger ist mehr als nur ein Alberich oder Wotan! In einem Querschnitt aus "Der Rosenkavalier" singt er einen ansprechenden Ochs. Auch wenn ihm etwas das "Tiefe" fehlt, macht er das durch seine hervorragende Gestaltungskraft wieder wett.



    Gruß Wolfgang

    W.S.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Habe mir die Tage mal wieder den Bayreuther "Meistersinger"-Mitschnitt von 1957 unter Cluytens auszugsweise angehört. Den Sachs singt Gustav Neidlinger, exquisit genug. Zwar kann man sich stellenweise des Eindrucks, einen "Alberich in Nürnberg" zu hören, nicht erwehren, aber dies ist vermutlich einfach auf die totale Identifikation Neidlingers mit dieser Rolle zurückzuführen.


    Hier ein Eindruck. Die CD ist unlängst bei Walhall erschienen:



    Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
    Live-Mitschnitt aus dem Festspielhaus Bayreuth, 10. August 1957


    Musikalische Leitung: André Cluytens
    Regie: Wieland Wagner (1956 neu inszeniert)
    Bühnenbild: Wieland Wagner
    Kostüme: Kurt Palm
    Chorleitung: Wilhelm Pitz
    Choreografie: Gertrud Wagner


    Hans Sachs, Schuster: Gustav Neidlinger
    Veit Pogner, Goldschmied: Josef Greindl
    Kunz Vogelgesang, Kürschner: Fritz Uhl
    Konrad Nachtigal, Spengler: Egmont Koch
    Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber: Karl Schmitt-Walter
    Fritz Kothner, Bäcker: Toni Blankenheim
    Balthasar Zorn, Zinngießer: Heinz-Günther Zimmermann
    Ulrich Eißlinger, Würzkrämer: Erich Benke
    Augustin Moser, Schneider: Hermann Winkler
    Hermann Ortel, Seifensieder: Hans Habietinek
    Hans Schwarz, Strumpfwirker: Alexander Fenyves
    Hans Foltz, Kupferschmied: Eugen Fuchs
    Walther von Stolzing: Walter Geisler
    David, Sachsens Lehrbube: Gerhard Stolze
    Eva, Pogners Tochter: Elisabeth Grümmer
    Magdalene, Evas Amme: Georgine von Milinkovic
    Ein Nachtwächter: Arnold van Mill


    P.S.: Es soll noch einen Mitschnitt von 1968 aus Buenos Aires geben, wo Neidlinger nochmal den Sachs singt:



    Kennt jemand diese Aufnahme oder gar beide und könnte einen Vergleich anstellen?
    Die vollständige Besetzungsliste von 1968 wäre auch interessant.


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Nachstehend die Besetzungsliste der Ferdinand Leitner-Aufnahme der Meistersinger von 1968 aus Buenos Aires, den Konya-Fans bestens bekannt:


    Aufnahme: 27.10.1968, live, Buenos Aires
    Dirigent: Ferdinand Leitner
    Orquesta Estable del Teatro Colón Buenos Aires
    Cor del Teatro Colón Buenos Aires
    Label: Living stage LS 1024 (4 CD)


    Rollen und Sänger
    Augustin Moser: Enzo Betti
    Balthasar Zorn: Horacio Mastrango
    David: Gerhard Unger
    Eva: Claire Watson
    Fritz Kothner: Angelo Mattiello
    Hans Foltz: Mario Verazzi
    Hans Sachs: Gustav Neidlinger
    Hans Schwartz: Tulio Gagliardo
    Hermann Ortel: Ricardo Yost
    Konrad Nachtigall: Giampiero Mastromei
    Kunz Vogelsang: Eugenio Valori
    Magdalene: Adriana Cantelli
    Nachtwächter: Walter Maddalena
    Pogner: Franz Crass
    Sixtus Beckmesser: Carlos Alexander
    Ulrich Eißlinger: Nicolás Cuttone
    Walther von Stolzing: Sándor Kónya


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Ich habe heute wieder einen meiner Lieblings-Fidelios:


    mitgebracht, in dem Gustav Neidlinger den Pizarro gibt, und zwar anlässlich seines Geburtstages.


    Heute ist Neidlingers 105. Geburtstag.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).