Anton Bruckner: Sinfonie Nr 9 mit "neukomponiertem" Finalsatz von Peter Jan Marthé

  • Bravo, Edwin!
    Nur den Tristan, wie Wagner ihn wirklich wollte, kannst Du vergessen:
    haben wir den nicht schon von Lenny, denn war es nicht Karl Böhm, der bei den Proben Bernsteins zu dem Werk sagte "Endlich einer, der sich traut, den Tristan so lüstern aufzuführen, wie Wagner ihn eigentlich gemeint hat"?


    Lieber Alfred:
    Ich habe bislang nur leider nicht mal einen Aufschrei der Musikwissenschaft hören können. Auch ich werde mich hüten, aufzuschreien -- jedem das Seine, auch Herrn Marthé. Die Resultate sprechen ohnehin immer für sich selbst.


    Was mich an der Sache ärgert, ist in den Pressemitteilungen des Herrn Marthe die demagogische Herangehensweise: Man erfindet zunächst ein Feindbild ("Die Musikwissenschaft", "Gralshüter" und so weiter), dann steht man selbst als Märtyrer da, und das nutzt der PR: Zeitungen drucken natürlich die Sache mit dem "Protest der Musikwissenschaft" ungeprüft ab ... Ich habe bisher von keinem einzigen Musikwissenschaftler irgendwo ein Wort gegen das Unternehmen von Herrn Marthe gelesen, daher meine entsprechende Bitte weiter oben, mir solche Artikel zukommen zu lassen, wer immer einen findet.


    Andrerseits möchte ich daran erinnern, daß schon 1986 VOR der ersten Aufführung des Samale/Mazzuca-Finales in der damaligen Version ausgerechnet in der Wiener "Presse" ein Artikel mit dem Titel "Und wieder kein Bruckner. Wider die Vollendungswut von Musikern" erschien. Soweit ich weiß, wurde Herrn Marthe bisher eine solche "Ehre" nicht zuteil ...


    Ich teile allerdings Deine Einschätzung nicht, daß solche "Vollendungen" der Auseinandersetzung mit der Sache an sich -- nämlich Bruckners ureigener Musik, soweit sie uns überliefert ist -- zugute kommen. Der Hörer hört so etwas im allgemeinen unreflektiert (wenn man nicht, wie ich es damals in Tokyo machte, oder wie das Berlin-Unternehmen 1986 mit Peter Gülke, oder die Harnoncourt-Aufführungen, einen Workshop anbietet und das Fragment präsentiert). Ich glaube eher, die Leute haben das Thema langsam über. Marthe war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein. Ich weiß zum Beispiel von einem Belgier namens Jacques Roelands, der eine wie ich finde recht absurde "komplettierte Fragment-Fassung ohne Coda" in Vorbereitung hat (und sich um die Philologie auch einen Teufel schert; seine Partitur, die mir in Kopie vorliegt, ist diesbezüglich eine Katastrophe).


    Ich weiß auch von einer Komplettierung, die Martin Bernhard aus Freiburg in Vorbereitung hat, und auf die ich besonders gespannt bin -- auch wenn es mich ärgert, daß Herr Bernhard den e-mail-Kontakt mit mir abgebrochen hat, nachdem ich "wagte", ihm eine längere Mail mit ein paar philologischen Hintergrund-Informationen zu schicken. Das hat mir dann von seiner Seite nur Spott und Hohn eingetragen (im Yahoo-Bruckner Club sprach er mal von Sherlock Phillips und Watson Cohrs) - das scheint mir nun auch nicht die rechte Art des Umgangs zu sein. Dessen ungeachtet denke ich, seine neue Version könnte der Sache durchaus nutzen, wenn sie in der philologischen Methode nachvollziehbar und mitsamt eines Bearbeitungs-Kommentars präsentiert wird. Das würde dann vom Verantwortungsgefühl des Bearbeiters zeugen. Und dann kann man wenigstens in der Sache diskutieren (und natürlich sind viele Entscheidungen unserer eigenen Aufführungsfassung auch eine Sache der persönlichen Interpretation der Quelle!).

  • Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch einmal die Rezension erhellend, die Peter Gülke 1987 über das erste Wissenschaftliche Symposium zur Finale-Problematik verfaßt hat und einiges Grundsätzliche dazu ausführt.


    *********
    (Bericht von Peter Gülke über das Symposium am 11./12. Mai 1987 in Rom)


    Rom, 11. und 12. Mai 1987: Bruckner-Symposion


    Gegenstand des vom Österreichischen Kulturinstitut Rom und der italienischen Anton Bruckner-Gesellschaft / Sektion Rom veranstalteten Symposions war der jüngste, von Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca unternommene Versuch, eine spielbare Fassung des Finales der Neunten Sinfonie herzustellen. In Deutschland ist er durch Aufführungen unter Eliahu Inbal (Frankfurt) und dem Berichtenden (Berlin) bekanntgeworden. Glücklicherweise konnten auch die Fassungen von Neill/Gastaldi und Carragan verglichen werden, wobei sich die italienische einerseits als die umfangreichste, zugleich als die dem überlieferten Material getreueste erwies; nirgendwo haben deren Autoren, wo die Maßgaben der Skizzen verschwimmen, ›drauflosgebrucknert‹. Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß er neben Detailfragen, die hier nicht referiert werden können, zu grudsätzlichen Erwägungen einlädt. Dies wurde in Rom auch dadurch nahegelegt, daß prominente Vertreter der Brucknerforschung kurzfristig absagten.


    In den 1934 von Alfred Orel veröffentlichten Skizzen finden sich 172 vollständig und 268 teilweise orchestrierte Takte, um kleinere Skizzen vermehrt insgesamt ein 580 Takte umfassendes Material; dieses ausschließlich als ein durch das factum brutum von Bruckners Tod tabuisiertes Trümmerfeld anzusehen und nicht als Aufforderung zu intensiver Beschäftigung, erfordert ein gehöriges Maß von orthodoxer Verstocktheit. Zwangsläufig gerät derlei Beschäftigung rasch an die Frage, wie sich das Material etwa im Sinne Bruckners zu einem Ganzen ordnen oder wenigstens den Plan eines solchen durchschimmern lasse. Das erfährt man am genauesten unter dem Druck eines praktischen Anliegens, eben einer hypothetischen Orchestrierung. Sehr Wesentliches einer Musik begreift sich erst dann, wenn man sie in der Dimension erlebt, in die sie hineingedacht war. Schon der Erkenntnisgewinn, den Samale/Mazzucas Arbeit erbringt, ist so gewaltig, daß prinzipieller Einwand hiergegen sich desavouiert als Denkfaulheit im Gewande von Demut.


    Allemal besteht die Crux solcher Vervollständigungen darin, daß diejenigen, die sie unternehmen, wohl der Maßgabe verpflichtet sind, was der Meister getan hätte, und zugleich genauer als jeder andere wissen, inwiefern sie dieser nicht genügen können. Ihnen vorzurechnen, inwiefern sie hinter jenem zurückbleiben, erscheint u. a. insoweit unredlich, als dabei unterstellt ist, sie hätten unter gleichem Anspruch zu Ende zu komponieren beansprucht; noch unredlicher freilich die Annahme, über Wert und Unwert werde entschieden anhand der Tatsache, ob sich das Ergebnis im Musikleben durchsetzen werde. Fraglos hat Bruckner mit dem Adagio der Neunten und ganz und gar mit dessen Ausklang in kaum überbietbarer Weise Ende und Abschluß komponiert. Ähnliches freilich ließe sich auch von den langsamen Sätzen der vorangehenden Sinfonien sagen – manche Sicherheit der Beurteilung verdankt sich vornehmlich dem Wissen darum, wie es um die Stellung oder Authentizität der betreffenden Passage bestellt ist. Am Kriterium ›brucknerisch‹ hängt allemal viel subjektives Ermessen: Das gesamte Trio der Neunten etwa klingt viel weniger im Normalverständnis ›brucknerisch‹ als lange Passagen der Rekonstruktionen.

    Die überlegtesten, am schwersten wiegenden Einwände in dem lebhaften, mit viel Detailkenntnis geführten Disput in Rom kamen von Robert Simpson (Irland), der sehr genau zwischen Erkenntniswert des Unternehmens und musikalischen Defiziten unterschied, zumal einer eher ›zitierten‹ als aus dem Material neu hereingeschaffenen großen Dimension. Mit guten Gründen wurde und wird die Diskussion in derlei Fragen immer fragwürdig, wenn sie aufs alternative Ja oder Nein hindrängt. Selbst wenn wir Fragmente (ganz und gar nach den Maßgaben eindeutiger Authentizität) verloren geben müssen, bleibt das unschätzbare Verdienst von Versuchen wie demjenigen von Samale/Mazzuca, daß sie uns einen deutlichen Begriff davon geben, was da verloren ging.

  • Hallo BBB!
    Wie bitte? Sprichst Du von der Kurzfassung meines "Grimmingtors"? 5 Opern zu je 5 Akten, so ist's angelegt. Oder hat da der Marthé schon etwas geändert, noch ehe ich es komponiert habe...? :hahahaha:
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Ich habe bislang nur leider nicht mal einen Aufschrei der Musikwissenschaft hören können. Auch ich werde mich hüten, aufzuschreien -- jedem das Seine, auch Herrn Marthé. Die Resultate sprechen ohnehin immer für sich selbst.


    Nein die Musikwissenschaft schreit doch schweigend.
    Indem sie schweigt klagt sie (schreiend ) an - diese Verhaltensweise kannten schon die alten Römer.


    Aber von allen Argumenten fachlicher Seite mal abgesehen ?


    Was wird vorausiochtlich passieren ?


    Es gibt natürlich viel Möglichkeiten, aber ich habe hier nur EINIGE herausgeklaubt.


    a) Die Marthé Version tritt einen Siegeszug an, der seinesgleichen sucht ....


    b) Durch Diskussiionen wie diese wird das Interesse an der wissenschaftlich stichhaltigsten Ergänzung gefördert und ein Ruf nach Einspielungen der Semale - Philips - Cohrs - Mazzuca -Fassung unüberhörbar.


    c) Die "Öffentlichkeit" (hier ist das brucknerliebende "Klassikpublikum gemeint) nimmt alle diese Aktivitäten kaum zur Kenntnis ....


    Es wurde schon 1987 etwas wichtiges geschrieben, und von Ben hier veröffentlicht - Ich möchte einen wichtigen Satz hier herauspicken:


    noch unredlicher freilich die Annahme, über Wert und Unwert werde entschieden anhand der Tatsache, ob sich das Ergebnis im Musikleben durchsetzen werde.


    Volle Zustimmung von meiner Seite.



    @Edwin Baumartner:


    Eine ernste Verwarnung - wegen Strapazierung der Lachmuskeln des Moderators :yes:


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Masetto
    @ Edwin Baumgartner


    :D:jubel:


    :jubel::hahahaha: Dem kann man nur zustimmen!!! :hahahaha::jubel:


    Den Text müsstest Du eigentlich im Feuilleton veröffentlichen! Wär viel zu schade, wenn er hier nur im kleinen Kreise wirken kann...
    Vielleicht entdecken dann auch noch andere, dass ihnen des Nachts vom Ludwig noch die Leonorenouverturen Nr. 4-27 geflüstert wurden, die unbedingt niedergeschrieben werden müssen, damit v.B. endlich mal seine Ruhe mit der Oper finden kann :D
    (Nr. 17 ist natürlich mit Marimba, Streichquartett und 12 Hubschraubern, aber die gabs ja leider vor 1827 noch nicht :angel: )

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von Barezzi
    (Nr. 17 ist natürlich mit Marimba, Streichquartett und 12 Hubschraubern, aber die gabs ja leider vor 1827 noch nicht :angel: )


    Man hätte die Musiker damals ja auch in Mongolfièren stecken können und LvB "dirigiert" dann per Signalflaggen vom eigenen Ballon aus...


    Ansonsten :jubel: :jubel: :jubel: für Erwins Meldungen aus dem Reigen sel´ger Geister.

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Nee, das mit den Signalflaggen kommt nur in "Wellingtons Sieg" vor, wo die Kampf-Parteien auf diese Weise miteinander kommunizieren können.
    :baeh01:


    Von Ferne winkt der neue Befehlshaber vom Münchner Feldherrenhügel mit der Reichsfahne --- steht da auch wieder Bruckner an?
    :D


    Aber vielleicht startet ja im Augst 2006 ein Heißluftballon über Österreich, um Bruckners Geist im Musikerhimmel zu erreichen?
    :baeh01:


    Leonore Nr. 4 gibt es schon von Gerard Hoffnung - Du meinst also sicherlich die berühmten Gemeinschafts-Neuorchestrierungen der Leonoren 5 bis 27 von Busoni und Schreker? Oder war das der Bruder von Tücke -- äh, Liszt...?
    ?(


    Ich bin verwirrt! Das bringt mich jetzt völlig vom Finale ab!!!
    :untertauch:

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Ich bin verwirrt! Das bringt mich jetzt völlig vom Finale ab!!!
    :untertauch:


    Hallo Ben,


    Dich wollen wir natürlich nicht von der Arbeit abhalten, daher verordnen wir Dir einfach, die humorvollen Passagen hier zu überlesen :baeh01:


    @ GiselherHH:


    dachte eigentlich, dass die Produktivität hier im Forum im humoristischen Bereich in letzter Zeit am Wetter lag. Aber irgendwann kann mans dem auch nicht mehr zuschieben und muss zugestehen, dass es wohl an uns selbst liegt :D


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Wie sagte schon ein anderer Großer der Musikgeschichte:


    "Ein bisschen Spaß muss sein!"


    :pfeif:


    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner

  • :baeh01:"... dann ist die Welt voll Regenschein!" :baeh01:



    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Oder hat da der Marthé schon etwas geändert, noch ehe ich es komponiert habe...? :hahahaha:


    Erfahrener Edwin,


    besteht die Gefahr der Tröpfcheninfektion? Sollte ich meine Partituren in luft- und wasserdichten Safes unterbringen? Ich habe nämlich absolut keine Lust, rekonstruieren zu müssen!


    :no:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo, lieber Brucknerfreunde,


    gestern wurde in im Liebherr-Werk Bischofshofen das erste Konzert von Marthé mit seiner Vollendung von Bruckners 9. Sinfonie gegeben. Vom Gesamteindruck her kann ich allen, die dieses Werk lieben, einen Besuch nur empfehlen. Wie schon letztes Jahr bei der 3. Sinfonie zeigt sich einfach, wie wertvoll es ist, wenn jemand mit so viel Leidenschaft für Bruckner sich ausreichend Zeit nehmen kann, das Werk zu studieren und ein engagiertes Orchester dafür zu begeistern. Das hebt sich deutlich von der üblichen Konzert-Praxis ab. Dass dies einem meiner Lieblings-Komponisten zugute kommt, freut mich um so mehr.


    Aber zunächst ein Wort zum „Konzertsaal“: In der Endmontage-Halle von Liebherr werden die letzten Teile an die gigantischen Bulldozer (Radlader) angebracht, Kotflügel und Rückspiegel, bevor sie für den Transport zum Kunden ausgeliefert werden. An diesem Abend waren die Bulldozer an die Ränder der Halle geschoben, aber natürlich immer präsent. Alles roch nach Asphalt und frischer Lackfarbe. In der Höhe ragten riesige Stahlträger, durch große Glasfassaden waren die Berge zu sehen. Der Regen prasselte bei leichtem Gewitter bis vor Konzertbeginn an die Scheiben. Bisweilen ließ ein Windhauch den oberen Teil der Halle vibrieren. Das Orchester spielte auf einem Podium vor Holzwänden. Der Klang war sehr trocken, im Gegensatz zu den Auftritten in Kirchen gibt es überhaupt keinen Hall. In ähnlicher Umgebung sind bisher wohl nur nach 1917 die Werke der russischen Avantgarde aufgeführt worden und in den letzten Jahren Techno-Konzerte.




    Und doch war die Halle mit bestimmt über 1.500 Plätzen praktisch ausverkauft. Ist das als Provokation gegen den Salzburger (und allgemein den bürgerlichen) Kulturbetrieb gedacht, der Bruckner erst zu akzeptieren begann, als der sich für den entstehenden österreichischen Nationalismus zu gebrauchen schien? In Salzburg trat vor wenigen Jahren Pierre Boulez für 150 € und mehr mit dem gleichen Werk auf, hier war es für 15 € zu hören, und bestimmt nicht schlechter. Ist Bruckners Musik fähig, einer solchen Umgebung standzuhalten? Gewinnt sie vielleicht gerade aus dieser Spannung eine gesteigerte Wirkung? Oder ist das nur eine originelle Marketing-Maßnahme? Das junge Orchester fühlte sich hier sichtlich wohl. Und die Musik ließ wirklich zu großen Teilen die Hässlichkeit der Umgebung vergessen. Es klang manchmal unwirklich, wie eine Erinnerung an Verlorenes, und soll hier wohl zeigen, dass die Sehnsucht nach solcher Musik noch lebendig ist und sich selbst an solchem Ort ansprechen lässt.


    Stärken und Schwächen des Konzerts waren im Grunde ähnlich wie vor einem Jahr bei der 3. Sinfonie. Das sehr junge Orchester schien noch besser aufgelegt. Dem ersten Satz fehlte jedoch erneut ein wenig die Intensität, die dann aber mit dem zweiten Satz voll da war. Marthé gelang es auch bei diesem Werk besser als ich es von anderen Aufnahmen kenne, den Puls von Bruckners Musik klingen zu lassen. Die Klangfarben waren bis in die letzten Details ausgeleuchtet und ich kann gar nicht alle Beispiele aufzählen, wo besonders an den leisen Stellen die Holzbläser im Wechselspiel zu hören waren, wo sonst oft nur ein Mischklang zu erkennen ist. Die unterschiedlichen Blechbläser-Gruppen waren sehr gut zu hören, und wieder kamen die tiefen Bass-Klänge besonders gut zur Geltung. Nur der wichtige und schwer zu spielende Einsatz der Streicher am Beginn des Adagio kam leider recht ungenau.


    Der letzte Satz hat mich allerdings ehrlich gesagt nicht überzeugt. Was Marthé bieten wollte, war klar zu erkennen. Manches klang etwas nach Verdi, anderes erinnerte an Mahlers frühe Sinfonien. Sein Ansatz war stark vom Orchesterklang her gedacht und gab dem Orchester Gelegenheit zu brillieren, auch wenn irgendwann die Kräfte etwas nachließen, Bruckner selbst hätte wohl mehr auf Kontrapunktik und Architektonik Wert gelegt. So waren eine Reihe von Szenen zu hören, die jeweils für sich ganz gut klangen, aber als Satz bei weitem nicht mehr die Steigerung und Intensität herzustellen vermochten wie die vorangegangenen Sätze.


    Die intensive Beschäftigung mit der Vollendung hat sicher dazu beigetragen, dass dann auch die ersten drei Sätze besser gelangen. Am besten gefiel es mir, wenn Marthé es bisweilen wagte, von Bruckner ausgehend die Klangfarbe nochmals greller zu gestalten und Effekte zu erzielen, wie sie von der Musik nach 1945 bekannt sind.


    So bleibt für mich für den 4. Satz das Fazit: Am überzeugendsten finde ich das Konzept, wie ich es vor wenigen Monaten in der Fassung von Josephson gehört habe. Er hatte nicht den Ehrgeiz, alles zu Gehör zu bringen, was überliefert ist oder im Geiste Bruckners weiter zu komponieren, sondern das Material so weit zu reduzieren und aufzubereiten, dass für den Hörer gut zu erkennen ist, woran Bruckner gearbeitet hat, - und nicht mehr. Alles andere ist Aufgabe kritischer Werkausgabe und Nachlassverwaltung. Alternativ wäre für mich denkbar, dann ganz deutlich weiter zu gehen, und ausgehend von der langen original überlieferten ersten Passage ein ganz eigenes Stück zu komponieren, das am Ende möglicherweise auf die von Bruckner konzipierte Fuge zurückkommen könnte. Dann würde sich auch die Idee, dies Werk außerhalb gewohnter Konzertsäle zu spielen, noch besser umsetzen lassen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Hallo Walter,


    danke für die sehr ausführliche Eindrücke, die mir gut gefallen haben.


    Ich denke, der Markt ist groß genug, um mehr als eine "ultimative Fassung" des Finales "ertragen" oder aufnehmen zu können. Wenn Marthés Ergebnis seinem Selbstbewußtsein nur halbwegs entspricht, dann hat er imo einen interessanten Beitrag zu Bruckners 9. geleistet. Und wenn nicht, dann ist Marthé genau so schnell wieder verschwunden wie er emporgekommen ist.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • walter


    Ist der vierte Satz eine komplette Neukomposition, oder verwendet er Fragmente des von Bruckner angedachten Finalsatzes?

  • Welche Schelte, lieber Stefan! Dabei bin ich doch für ein Spässchen immer zu haben und lasse mich auch gern von der Arbeit abhalten ... Besonders bei dem Dauerregen, den wir gerade in Bremen haben.

  • Lieber Alfred: Nachfolgend einmal das Beispiel dafür, wie die Pressearbeit von Herrn Marthe wirkt und sofort aufgenommen wird. Der nachfolgende Artikel ist an Klischees, Widersprüchlichkeiten und Fehlinformationen kaum zu überbieten. Zum Erfolg unserer eigenen Komplettierung möchte ich nur anmerken, daß die Samale et al-Partitur in ihren verschiedenen Stadien die mit am Stand am häufigsten aufgeführte Version des Finales ist - in den letzten 20 Jahren mit immerhin gut 50 Aufführungen weltweit, etlichen Rundfunkproduktionen und drei CD-Einspielungen ...


    ***************************************



    Heilbronner Stimme, 9. 8. 2006


    Finale für den lieben Gott


    Was würde Anton Bruckner wohl sagen, wenn er erführe, dass seine 9. Sinfonie nun doch noch vollendet wird?


    (Foto: dpa)


    110 Jahre nach dem Tode Anton Bruckners begeht der österreichische Dirigent Peter Jan Marthé bei den Bruckner- Tagen in St. Florian bei Linz ein Sakrileg. In der Kirche von St. Florian, der Wallfahrtsstätte der Brucknerianer, wird er am 18. August eine Version von Bruckners 9. Sinfonie uraufführen, die heftige Kontroversen in der Musikwelt auslösen dürfte. Denn im Gegensatz zur üblichen Aufführungspraxis belässt es der Bruckner- Spezialist nicht bei den drei vollständigen Sätzen der Sinfonie „für den lieben Gott“. Marthé beendet das Werk mit einem von ihm selbst komponierten großen Finale.


    Als der am Ende geistig verwirrte Bruckner 1896 starb, hinterließ er die ersten drei Sätze seiner 9. Sinfonie sowie Fragmente für das Finale. Obwohl der Komponist empfohlen hatte, sein „Te Deum“ an Stelle des Schlusssatzes zu spielen, beschränkte sich die Musikwelt bis heute überwiegend auf die Aufführung des unvollständigen Meisterwerks.


    Erst Anfang der 90er Jahre nahmen einige Dirigenten das von vier Musikwissenschaftlern aus zahllosen Fragmenten zu einem 23-minütigen Satz komplettierte Finale auf. Doch durchsetzen konnte sich dieser Abschluss von Nicola Samale, Giuseppe Mazzuca, John A. Phillips und Benjamin Gunnar Cohrs nicht. Es werde, so meinen Kritiker, den Intentionen des Komponisten nicht gerecht, der mit seiner harmonisch kühnen 9. eine ganz neue Klangwelt schaffen wollte. Bruckner selbst über die voraussehbaren Reaktionen der Kritik: „Da werd’n die sich aber mächtig giften. Aber dös erleb i ja eh nimmer!“


    Alle Versuche, die Sinfonie unter Verwendung des bruchstückhaften Materials im Sinne Bruckners zu vollenden, sind von Brucknerianern skeptisch verfolgt worden. Denn viele Musikhistoriker meinten, die Neunte bedürfe des Finales nicht; sie sei bereits mit dem visionären Adagio abgeschlossen. Doch Bruckner hatte seine Sinfonie von Beginn an auf vier Sätze angelegt.


    Marthé, ehemaliger Meisterschüler von Sergiu Celibidache, der sich seit Jahren gegen das musikalische Establishment vor allem in Österreich stellt, wollte diesen Zustand beenden. Er komponierte einen eigenen Ausklang. „Die von Bruckner hinterlassenen Finale-Fragmente sind zu skizzenhaft, weisen zu gravierende Lücken auf, als dass sie in dieser Konstellation einen schlüssigen Finalsatz hergeben würden.“


    Marthé hatte mit dem European Philharmonic Orchestra 2005 eine beachtliche Neufassung von Bruckners 3. Sinfonie in St. Florian aufgeführt, in der er zwei der drei Fassungen des Adagios in einem halbstündigen Satz vereinte. „Der entscheidende Impuls für das Durchhalten der einmal begonnenen Arbeit war für mich Bruckners verzweifeltes, sich buchstäblich bis zu seinen letzten Atemzügen erstreckendes Ringen um das Finale.“


    Den 750 Takte oder etwa 25 Minuten langen Satz komponierte Marthé im Herbst 2005 innerhalb weniger Monate. Dabei habe ihm „Bruckner die Hand geführt“, meint der Dirigent. Dass er sich damit der Häme der Kritik aussetzen könnte, störe ihn nicht. „Ich rufe ihnen entgegen: Hier steh ich, ich kann nicht anders!“

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    „Ich rufe ihnen entgegen: Hier steh ich, ich kann nicht anders!“


    Wie schade ....:baeh01::baeh01:



    Theatralischer und auf den vordergründigen Efekt bedacht geht es ja kaum noch ... und sich dann noch auf eine Stufe mit Luther stellen ... tststs. Da kann man wiedeinmal mal sehen, was dabei herauskommt, wenn sich Journalisten die Mühe seriöser Recherche sparen.


    Also ich finde wir sollten wieder zu den Bräuchen der guten alten Zeit zurückkehren und die heilige Inquisition wieder ins Leben rufen, wenn Herr Marthe sich schon auf Luther beruft. :D:DWenn man es einmal unter diesem Aspekt betrachtet, begeht Marthe ja schon Ketzerei wenn er auf Stimmen aus dem Jenseits hört. Vielleicht ist da ja ein böser Geist am Werk? :D


    Lieber Ben


    wie reagiert den die überregionale Presse? In der FAZ habe ich bisher nichts gelesen.


    Herzliche Grüße,:hello::hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Welche Schelte, lieber Stefan! Dabei bin ich doch für ein Spässchen immer zu haben und lasse mich auch gern von der Arbeit abhalten ... Besonders bei dem Dauerregen, den wir gerade in Bremen haben.


    Ach Ben, bei uns ist es doch auch nicht besser mit dem Wetter :no:
    Wenn Du Dich gern ablenken lässt und dann umso produktiver bist, dann wird der Erlass natürlich für nichtig erklärt :angel:
    Wie lange werdet Ihr vorraussichtlich noch am guten Bruckner Toni seinem Finalwerk zu knobeln haben?


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Dabei habe ihm „Bruckner die Hand geführt“, meint der Dirigent. Dass er sich damit der Häme der Kritik aussetzen könnte, störe ihn nicht. „Ich rufe ihnen entgegen: Hier steh ich, ich kann nicht anders!


    :hahahaha: Irgendwie hat mir der Geist von Freud sowie eine Erscheinung C.G.Jungs letzte Nacht die Erleuchtung gebracht, dass nicht nur der späte Bruckner etwas geistig verwirrt war :baeh01:
    Ist ja interessant, wenn jemand versucht, sich zu einem eigenen Satz inspirieren zu lassen, nur sollte er nicht so viel von dem Kraut rauchen, dass er nimmer runterkommt von dem Trip :stumm:

    Viva la libertà!

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Barezzi
    Wie lange werdet Ihr vorraussichtlich noch am guten Bruckner Toni seinem Finalwerk zu knobeln haben?


    Das dürfte sich hinziehen... Herr Marthé ist derzeit offenbar schwer beschäftigt...


    :rolleyes:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)


  • deswegen frage ich ja diejenigen, die nicht so wirrer Zeug faseln :rolleyes:
    Wenn M. Marthé so weitermacht qualifiziert er sich, das Spätwerk Schumanns umzukrempeln (und alles zu notieren, was dieser in den letzten beiden Lebensjahren nicht mehr geschafft hat) :baeh01:

    Viva la libertà!

  • Die Neunte ist beachtlich und einfach nur ganz ganz groß. Der erste Satz ist eine Offenbarung. Pure erhabene Schönheit - wie ich sie bei Bruckner (noch) nirgends derart unverblümt gehört habe. Das Scherzo ist gewaltig. Als ob dieser alte Mann schon der Welt entwachsen war.


    Leider ist es so, dass wir nichts anders tun können als an Gedankenfragmenten teilhaben. Wie oft hätte Bruckner den Finalsatz noch geändert, hätte er Zeit gehabt? Den Glanz des geschlossenen Kreises der Neunten hat Bruckner mit ins Grab genommen. Der liebe Gott wollte diese Sinfonie wohl ganz für sich haben :rolleyes:


    Eine Vervollständigung kann nur kurzzeitiges Faszinieren, vielleicht sogar erstauntes Verzücken hervorrufen (ich muss mich diesbezüglich dringend fortbilden) kann aber keine dauerhafte Linderung des Schmerzes verschaffen, den ich empfinde, wenn mir klar wird, dass es die Neunte von Bruckner nicht auf unsere Welt geschafft hat.


    Dieses Fragment ist wunderschön, aber gerade dass es ein Fragment ist, verschafft mir bei dessen Schönheit großen Schmerz und eine klaffende Lücke.


    *Pathetikmodus aus*

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • ich liebe die neunte auch sehr, aber mir geht der vollendete vierte satz
    nicht ab. ich hatte letztes jahr das glück, die neunte mit anschliessendem
    te deum (als vierten satz, ohne pause) zu hören. für mich bleiben bei
    dieser kombination keine wünsche offen.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • In einem Forum-Beitrag ist schon der Begriff 'brucknerlastig' gefallen. Es ist in der Tat erstaunlich, wie sehr sich hier mit Bruckner beschäftigt wird, wie sehr dieser Komponist aber auch generell und nicht nur hier an Interesse, Aufmerksamkeit, Anerkennung, schierer Bedeutung, Verehrung, ja Liebe seit seinem eigentlichen Durchbruch mit der Verbreitung der 'Originalfassungen' auf Tonträgern gefunden hat. Kein vorübergehender Effekt von wenigen Jahren, sondern eine andauernde Entwicklung.


    Da kann es leicht vorkommen, daß einer wie Marthé diesen Braten riecht und die Welle auf ihrem Kamm abzureiten versucht. Das schadet aber Bruckner bei weitem nicht.


    Und es mindert nicht die Tatsache, daß Bruckner in dieser Zeit eine Stellung erlangt, die in ihren Dimensionen noch kaum abzuschätzen ist und die über das kompositorisch Notierte hinausragt: die Bruckner-Sinfonie als noch weitgehend unverstandene, aber fundamentale Botschaft an und über das Wesen unserer Existenz.

  • Ich finde es sehr schön, dass in diesem Forum eine besonders schöne Kerze für Bruckner leuchtet.


    Zu Lebzeiten wurde Bruckner viel angefeindet und seine Musik wurde lächerlich gemacht - dies von denen, die in der Lage waren, dies zu tun - die auch gewichtig genug waren, eine Stimme zu erheben, die bis heute überliefert ist. War die Zeit nicht reif für diese Musik? Wenige kamen sicherlich in den Genuss dieser Musik, es gab noch keine Schallplatten. Spielten insofern der Neid und die Konventionen der Priviligierten eine Rolle? Es ist eine Schande, wie zu Anton Bruckners Lebzeiten mit seiner Musik umgegangen wurde. Insofern stellen Threads im Internet, wie dieser einen Segen dar.


    Das Scherzo kommt mir gerade vor wie der Tanz, den Bruckner nie mit einer Frau getanzt hat und gleichzeitig auch das Warum, die Hingabe an Musik, an "Gott". Vielleicht auch nur ein flüchtiges Bild. Allerdings halte ich ein Bild, was darin eine Mechanisierung der Weld und die Industiralisierung hervorruft für unangebracht.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo Holger,


    vom Höreindruck her hat Marthé große Passagen neu geschrieben und auch die überlieferten überarbeitet. Bereits die ersten Takte klangen anders als ich es von anderen Aufnahmen kenne.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Zitat

    Bereits die ersten Takte klangen anders als ich es von anderen Aufnahmen kenne.


    Wenn das stimmt, ist es allerdings wirklich schlimm. Denn diese Takte sind von Bruckner keineswegs fragmentarisch hinterlassen, sondern im vollen Partiturbild.

    ...

  • Zitat

    Original von helmutandres
    Es ist in der Tat erstaunlich, wie sehr sich hier mit Bruckner beschäftigt wird, wie sehr dieser Komponist aber auch generell und nicht nur hier an Interesse, Aufmerksamkeit, Anerkennung, schierer Bedeutung, Verehrung, ja Liebe seit seinem eigentlichen Durchbruch mit der Verbreitung der 'Originalfassungen' auf Tonträgern gefunden hat. Kein vorübergehender Effekt von wenigen Jahren, sondern eine andauernde Entwicklung.


    Ich denke, dass in unserer hochspezialisierten und säkularisierten Welt Bruckners "transzendente Musik" (wenn ich das mal so nennen darf) eine Sehnsucht nach etwas bedient, was es sonst kaum mehr gibt, oder eben nur noch in Institutionen, denen man nicht trauen will und kann. Dadurch, dass diese Transzendenz in der Musik aufscheint, also in einem zeitlichen Fortschreiten, das nie innehält, kann man diese Tranzendenz auch immer wieder neu entdecken. Von daher scheint mir Bruckners Musik in unserer Zeit etwas ganz Besonderes zu sein, er bringt Saiten zum Schwingen, die eben nur mehr selten angeschlagen werden.


    Viele Grüße,
    Christian B.

  • Da ziehe ich Berios "Version" von Schuberts 10. vor. Der hat nämlich nichts weiter gemacht als die Fragmente von Schubert zu nehmen und zwischendrin seine eigene Musi zu schreiben. Klingt zwar auf den ersten "Blick" recht gewöhnungsbedürftig, aber Schubert dürfte deswegen - vermutlich ganz im Gegenteil zu Bruckner - in seiner Grabesruhe nicht gestört haben.. :stumm::D


    :hello:
    Wulf.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner