Bravo, Edwin!
Nur den Tristan, wie Wagner ihn wirklich wollte, kannst Du vergessen:
haben wir den nicht schon von Lenny, denn war es nicht Karl Böhm, der bei den Proben Bernsteins zu dem Werk sagte "Endlich einer, der sich traut, den Tristan so lüstern aufzuführen, wie Wagner ihn eigentlich gemeint hat"?
Lieber Alfred:
Ich habe bislang nur leider nicht mal einen Aufschrei der Musikwissenschaft hören können. Auch ich werde mich hüten, aufzuschreien -- jedem das Seine, auch Herrn Marthé. Die Resultate sprechen ohnehin immer für sich selbst.
Was mich an der Sache ärgert, ist in den Pressemitteilungen des Herrn Marthe die demagogische Herangehensweise: Man erfindet zunächst ein Feindbild ("Die Musikwissenschaft", "Gralshüter" und so weiter), dann steht man selbst als Märtyrer da, und das nutzt der PR: Zeitungen drucken natürlich die Sache mit dem "Protest der Musikwissenschaft" ungeprüft ab ... Ich habe bisher von keinem einzigen Musikwissenschaftler irgendwo ein Wort gegen das Unternehmen von Herrn Marthe gelesen, daher meine entsprechende Bitte weiter oben, mir solche Artikel zukommen zu lassen, wer immer einen findet.
Andrerseits möchte ich daran erinnern, daß schon 1986 VOR der ersten Aufführung des Samale/Mazzuca-Finales in der damaligen Version ausgerechnet in der Wiener "Presse" ein Artikel mit dem Titel "Und wieder kein Bruckner. Wider die Vollendungswut von Musikern" erschien. Soweit ich weiß, wurde Herrn Marthe bisher eine solche "Ehre" nicht zuteil ...
Ich teile allerdings Deine Einschätzung nicht, daß solche "Vollendungen" der Auseinandersetzung mit der Sache an sich -- nämlich Bruckners ureigener Musik, soweit sie uns überliefert ist -- zugute kommen. Der Hörer hört so etwas im allgemeinen unreflektiert (wenn man nicht, wie ich es damals in Tokyo machte, oder wie das Berlin-Unternehmen 1986 mit Peter Gülke, oder die Harnoncourt-Aufführungen, einen Workshop anbietet und das Fragment präsentiert). Ich glaube eher, die Leute haben das Thema langsam über. Marthe war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein. Ich weiß zum Beispiel von einem Belgier namens Jacques Roelands, der eine wie ich finde recht absurde "komplettierte Fragment-Fassung ohne Coda" in Vorbereitung hat (und sich um die Philologie auch einen Teufel schert; seine Partitur, die mir in Kopie vorliegt, ist diesbezüglich eine Katastrophe).
Ich weiß auch von einer Komplettierung, die Martin Bernhard aus Freiburg in Vorbereitung hat, und auf die ich besonders gespannt bin -- auch wenn es mich ärgert, daß Herr Bernhard den e-mail-Kontakt mit mir abgebrochen hat, nachdem ich "wagte", ihm eine längere Mail mit ein paar philologischen Hintergrund-Informationen zu schicken. Das hat mir dann von seiner Seite nur Spott und Hohn eingetragen (im Yahoo-Bruckner Club sprach er mal von Sherlock Phillips und Watson Cohrs) - das scheint mir nun auch nicht die rechte Art des Umgangs zu sein. Dessen ungeachtet denke ich, seine neue Version könnte der Sache durchaus nutzen, wenn sie in der philologischen Methode nachvollziehbar und mitsamt eines Bearbeitungs-Kommentars präsentiert wird. Das würde dann vom Verantwortungsgefühl des Bearbeiters zeugen. Und dann kann man wenigstens in der Sache diskutieren (und natürlich sind viele Entscheidungen unserer eigenen Aufführungsfassung auch eine Sache der persönlichen Interpretation der Quelle!).