Liebe Opernfreunde,
ich möchte hier noch einmal die Trommel schlagen, für eine der interessantesten italienischen Opern des 19. Jahrhunders, die ich für eher unterbewertet halte: Mefistofele.
Ich finde, diese Oper hat eine Menge zu bieten, nämlich:
- eine der intelligentesten Vertonungen von Goethes Faust, die den ausladenden Stoff zu einer zweieinhalbstündigen Oper verdichtet, ohne ihn völlig zu verfremden,
- ein spannendes Stück Musiktheater, einerseits in der besten italienischen Operntradition, andererseits aber auch mit Anklängen an französische und deutsche Opern,
- mit der Rolle des Mefistofele eine der interessantesten Basspartien der Opernliteratur.
Der Komponist und Librettist dieses Werks ist Arrigo Boito ( 1842-1918 ). Bekannt ist er vor allem als Librettist von Verdis Spätwerken Otello und Falstaff, aber auch von Ponchiellis La Gioconda. Mefistofele ist seine einzige vollständige Oper. Sein zweites großes Werk „Nerone“, an dem er etwa 40 Jahre lang arbeitete, blieb unvollendet.
Boitos Entschluss, eine Oper nach Goethes Drama zu schreiben, entstand während einer Reise durch Deutschland und Frankreich. Wieder zurückgekehrt, machte sich Boito sogleich an die Arbeit. In den Jahren 1866 bis 1868 entstanden sowohl das Libretto wie auch die Musik.
Die Uraufführung des Mefistofele am 05.03.1868 geriet zum absoluten Fiasko. Boito gehörte zur sog. Scapigliatura, einer Gruppe Intellektueller, die gegen die Konventionen des frühen 19. Jahrhunderts rebellierte und auch Sympathie mit dem Musiktheater Richard Wagners zeigte. Die gegnerische Claque nutzte die Premiere zu einer Abrechnung mit Boito. Allerdings dürften auch die epischen Ausmaße der Urfassung und die mangelnde Qualität des Sängerensembles sowie des Dirigenten - Boito leitete die Aufführung selbst - zum Misserfolg beigetragen haben.
Das Debakel bei der Uraufführung stürzte Boito in Selbstzweifel. Er arbeitete die Oper grundlegend um und verbrannte Teile der Partitur. Die Oper wurde dabei in ihrem Umfang fast auf die Hälfte zusammengekürzt. Fundamentale Eingriffe waren die Streichung eines kompletten Aktes, der in der Kaiserlichen Pfalz spielen sollte, sowie die Umarbeitung der Partie des Faust, die zunächst für einen Bariton konzipiert war, zu einer Tenorpartie. Die überarbeitete Fassung, die als einzige heute noch erhalten ist, wurde erstmals am 04.10.1875 in Bologna gespielt.
Während sich Charles Gounod (bewusst) mit seiner Faust-Oper so weit vom eigentlichen Gehalt des Goetheschen Dramas entfernt, dass diese kaum mehr als Umsetzung des Werks ernst genommen werden kann, war es das erklärte Ziel Boitos, möglichst viel vom Geist der Vorlage Goethes einzufangen. Dementsprechend greift er einzelne Szenen der beiden Faust-Dramen heraus, die fast schon schlaglichtartig aneinandergereiht werden. Gounod hat den Faust-Stoff fast ausschließlich auf die Beziehung Faust-Margerethe reduziert. Bei Boito bildet die Gretchentragödie demgegenüber nur eine Episode des Geschehens. Wie schon der Titel andeutet, liegt das Interesse des Komponisten eher auf dem Kampf Mefistofeles um Fausts Seele.
Der Prolog der Oper handelt von der Wette Mefistofeles mit Gott, welcher in der Oper als Chorus Mysticus dargestellt wird. Daran anschließend behandelt der erste Akt den Osterspaziergang Fausts mit Wagner, bei dem sie statt von einem Pudel von einem geheimnisvollen „grauen Mönch“ umkreist werden. Die Szene verwandelt sich in Fausts Studierzimmer, wo sich der Mönch als „Geist, der stets verneint“ zu erkennen gibt und mit Faust den teuflischen Pakt schließt. Im zweiten Akt gelingt es dem verjüngten Faust, Margherita zu verführen. Anschließend führt ihn Mefistofele auf den Brocken, wo ein gespenstischer Hexensabbat stattfindet. Der dritte Akt zeigt Margherita, die ihre Mutter und ihr Kind, Frucht der Beziehung mit Faust, getötet hat, im Kerker. Faust kommt mit Mefistofele, um sie zu befreien, aber sie stößt ihn angewidert fort. Der vierte Akt ist von Faust II inspiriert. Mefistofele beschwört eine Vision herauf, in der sich Faust in Arkadien wieder findet, wo ihn die Schönheit der antiken Helena überwältigt. Der Epilog zeigt den in Melancholie versunkenen, wieder gealterten Faust, der erkennt, dass Mefistofele ihm kein vollkommenes Glück verschaffen konnte. Er wendet sich dem Evangelium zu, das ihm die Liebe zu Gott und damit vollständige Befriedigung verschafft. Mefistofele ist besiegt.
Mefistofele ist von der zeitgenössischen Kritik teilweise ratlos, teilweise äußerst ablehnend aufgenommen worden. Zu den musikalischen Qualitäten der Oper meinte Giuseppe Verdi: „Boito versucht, originell zu sein, das Ergebnis klingt aber sonderbar.“ George Bernard Shaw bescheinigte dem Komponisten wenn auch keinerlei musikalisches Talent, so doch immerhin ein Übermaß an Kultur und Geschmack. Richard Wagner soll die Partitur als „Stickerei einer reizenden jungen Dame“ bezeichnet haben. Aber auch das Textbuch der Oper wurde heftig beanstandet. Insbesondere in Deutschland war man mit den dramatischen Freiheiten und Streichungen, die sich dieser Italiener erlaubt hatte, ganz und gar nicht einverstanden, so dass es mitunter geradezu hasserfüllte Kritiken gab. Hugo Wolf war von der Oper derart aufgebracht, dass er äußerte, er könne es nicht mit ansehen, wie durch diese „erbärmliche Karikatur“ „der Stolz seiner Nation, Goethes Faust, vor seinen Augen geschändet“ werde.
Auch wenn man die heutige Opernliteratur durchforstet, scheinen viele Experten nicht ganz zu wissen, was man von Boitos Oper zu halten hat. Eine der am häufigsten verwendeten Vokabeln bei der Charakterisierung des Werkes dürfte „originell“ sein, was eigentlich ohne besondere Aussagekraft ist. Zumeist werden Boito immerhin großes Geschick bei der Instrumentation und großer melodischer Einfallsreichtum attestiert.
Während die kompositorische Qualität wohl immer kontrovers bleiben wird, lässt sich wohl nur schwer bestreiten, dass es sich bei der Oper um ein sehr effektvolles Werk handelt, das durchaus etwas Beachtung verdient hat. Musikalisch besonders eindrucksvoll ist (aus meiner Sicht) der Prolog, der mit seinem massigen Orchestersatz auf den Einfluss von Hector Berlioz auf Boito hinweist. Die musikalische Inspiration Boitos zeigt sich auch in Fausts herrlichem ariosen „Colma il tuo cor d’un palpito“ (seine Antwort auf die Gretchenfrage) sowie dem anschließenden Teil des Gartenquartetts, in dem Boito mit dem rhythmischen Gelächter ein schönes Beispiel musikalischen Humors geschaffen hat. Der einige Jahre später aufkommende Verismo kündigt sich schon in der Arie der Margherita „L’altra notte in fondo al mare“ an. Auch im Monolog der Elena „Notte cupa, truce“, in dem sie den Horror der Zerstörung Trojas schildert, stellt der Komponist seine Qualität zur Erzeugung von Stimmungen unter Beweis. Ein letzter Höhepunkt ist der gesamte Epilog, der zunächst von resignativem Schwermut beherrscht wird, dann aber mit dem Erscheinen der himmlischen Heerscharen die musikalischen Themen des Prologs wieder aufnimmt.
Diskografie (nur Studio):
1931 Mailand: Lorenzo Molajoli - de Angelis, Melandri, Favero, Arangi-Lombardi
1952 Mailand: Franco Capuana - Neri, Poggi, Noli, Dall’Argine
1955 Rom: Vittorio Gui - Christoff, Prandelli, Moscucci, (-)
1956 Turin: Angelo Questa - Neri, Tagliavini, Pobbe, de Cecco
1958 Rom: Tullio Serafin - Siepi, Di Stefano, Tebaldi, (-) (nur Auszüge)
1958 Rom: Tullio Serafin - Siepi, del Monaco, Tebaldi, Cavalli
1973 London: Julius Rudel - Treigle, Domingo, Caballé, Ligi
1980 London: Oliviero de Fabritiis - Ghiaurov, Pavarotti, Freni, Caballé
1985 Sofia: Ivan Marinov - Ghiuselev, Kaludov, Evstatieva, Bareva
1988 Budapest: Giuseppe Patané - Ramey, Domingo, Marton, Marton
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