Was ist dran an Karajan? - Versuch einer Analyse



  • Hallo Nemorino,


    ich habe auch diese EMI-Aufnahme.
    Für mich sind die identischen Stücke auf der DG-Aufnahme sowohl musikalisch als auch klangtechnisch überlegen.
    Ich mag hingegen sehr die Meistersinger-Ouvertüre in dieser EMI-Einspielung ( Holger mag sie nicht, glaube ich mich zu erinnern), die mich mit ihrem großem Atem, den langen Anläufen bis zum eigentlichen Höhepunkt und dem strahlenden Orchesterklang zu begeistern vermag. Wenn ich im Radio oder sonstwo andere Interpretationen höre, bin ich meistens enttäuscht....


    Mein persönliches Fazit:
    Man sollte beide Aufnahmen haben, vor allem aber die DG-CD.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Wolfgang,


    ich habe noch einmal nach der alten EMI-Aufnahme der Tschaikowsky-Sinfonie Nr. 4 aus dem Jahr 1960 recherchiert. Sie erschien erstmals in Deutschland ca. 1962, noch unter dem Columbia-Label, in dieser Aufmachung:

    Später wurde sie dann u.a. wie folgt wieder veröffentlicht, in einer 16 DM-Serie:

    und zuletzt auf LP in der Billig-Serie "Das Meisterwerk" wie folgt:




    Mit diesem Label befindet (befand) sie sich in meiner Plattensammlung, die ich leider vor einigen Jahren aus Platzmangel großenteils auslagern mußte. Ich denke, daß sie noch vorhanden ist, kann sie aber auf Anhieb nicht finden. Es handelt sich, wie gesagt, um eine der allerersten Berliner Nachkriegsaufnahmen Karajans, die 1960 - noch unter der Regie von Walter Legge - in der Berliner Grunewaldkirche produziert wurde.


    Nicht zu verwechseln mit den späteren EMI-Aufnahmen (zusammen mit Nr. 5 & 6) von 1971/72, die längst nicht so überzeugend gelungen sind. Deren deutsche Erstausgaben sahen so aus:



    Eine Abbildung der Vierten als Einzel-LP kann ich leider nicht finden, aber es gab sie in gleicher Aufmachung wie rechts abgebildet, nur in anderer Farbgebung. IMO verzichtbare Aufnahmen, die weder die alte Vierte von 1960 noch die DGG-Ausgabe von 4, 5 & 6 von 1965/66 ersetzen kann. Die EMI hat sie mit enormem Werbeaufwand auf den Markt gebracht, vor allem zog damals das Zauberwort "Quadrophonie", wovon heute kein Mensch mehr spricht. Bei SATURN in Köln, dem damaligen Platten-Mekka, hingen riesige Plakate auf allen freien Flächen. Ob sich der Rummel gelohnt hat, weiß ich nicht. Ich habe kurz reingehört und dann einen Fachverkäufer gefragt, was er von dem neuen Karajan-Tschaikowsky halte. Er sagte nur ein Wort: Abstand!


    LG, Nemorino



    P.S.: Ich habe die Bilder leider nicht anders reingekriegt :untertauch: !


    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Man sollte beide Aufnahmen haben, vor allem aber die DG-CD.


    Guten Abend, Glockenton,


    da werde ich wohl oder übel doch die DGG-Ausgabe anschaffen müssen! Wie schon gesagt, der Preis spielt in dem Fall keine Rolle, dafür umso mehr der (fehlende) Platz. Nun ja, auf eine CD mehr oder weniger wird es nicht ankommen, aber das sage ich mir schon seit mindestens 10 Jahren, und so werden die Stapel immer höher ….. :D


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).


  • Diese Aufnahme aus dem Jahre 1987 mit den Wiener Philharmonikern stellt Karajans einzige offizielle Einspielung der "richtigen" "Tannhäuser"-Ouvertüre (Dresdner Fassung) dar. Sie ist sicherlich gut gelungen und vom orchestralen Niveau gewohnt hoch. Allerdings vermisse ich doch, ehrlich gesagt, die Detailschärfe, die andere Dirigenten hier zu Tage förderten. Die fulminante Coda am Ende gerät hier sehr klangschön, aber ich vermisse das Aufwühlende, Eruptive. Es verkommt zu einer zu polierten Oberfläche. Die Aufnahmetechnik ist leider auch nicht ideal zu nennen. Die Pauken sind eher zu erahnen. Die Blechbläser sind mir viel zu pauschal und gehen nicht in die Vollen. Wo sind denn bitte die fanfarenartigen Posaunen beim Höhepunkt? Exemplarisch in Aufnahmen wie denen von Leibowitz (Royal Philharmonic Orchestra), Markevitch (Orchestre Lamoureux), Solti (Wiener Philharmoniker - nicht die Gesamtaufnahme!), Wakasugi (Staatskapelle Dresden) oder Celibidache (Münchner Philharmoniker) zu vernehmen (die meisten problemlos auf Spotify zu finden). Da ist für mich also noch Raum nach oben.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Man vergleiche mal besonders das Ende:



    Wiener Philharmoniker/Herbert von Karajan (1987)



    Staatskapelle Dresden/Hiroshi Wakasugi (1984)


    Karajan bei ca. 14:28 zu zurückhaltend. Wakasugi bei ca. 14:51 ideal.


    Die CD bekommt man mittlerweile fast geschenkt:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Und ziemlich teuer sind beide Boxen auch noch! Deshalb lohnt sich die Anschaffung eigentlich nicht.


    Genau die Box habe ich, lieber Nemorino. Damals unglaublich günstig bei 2001 in Düsseldorf gekauft! In der Neuauflage ist Ravel "Das Kind und die Zauberwelt" mit drin, das ist wirklich eine tolle Aufnahme, die damals den "Grand Prix du Disque" erhielt. Es gibt sie aber auch einzeln.

    Es gibt sie sogar noch auf CD, man muss nur etwas suchen. Sie erschien Anfang der 90er Jahre in der Billig-Serie "Resonance" und sieht so aus:



    Bei Amazon gibt es sie (gebraucht) für sage und schreibe 65 Cent + Porto. Als schöne Zugabe ist noch das "Capriccio Italien" von 1966 drauf.
    Ich bin ehrlich, die Aufnahme schlägt für mich sogar die legendäre Mrawinsky-Version von 1960 aus dem Feld

    Das werde ich dann mal nachprüfen - für die 65 Cent habe ich sie mir gerade bestellt! :D

    Ich mag hingegen sehr die Meistersinger-Ouvertüre in dieser EMI-Einspielung ( Holger mag sie nicht, glaube ich mich zu erinnern),

    Ich habe generell Probleme mit der Ouvertüre, lieber Glockenton, die Karajan-Einspielung ist mir jetzt gar nicht präsent... :D

    Staatskapelle Dresden/Hiroshi Wakasugi (1984)


    Karajan bei ca. 14:28 zu zurückhaltend. Wakasugi bei ca. 14:51 ideal.

    Wakasugi kenne ich von der Rheinoper, wo ich etliche Abende mit ihm erlebte - den Parsifal entweder mit ihm oder Peter Schneider. Er war ein großartiger Dirigent - mit ihm war es musikalisch immer gelungen! :)


    Das ist typisch Karajan, die Bläser so zurückzunehmen. Das hat mir früher auch nie gefallen. Ich werde das noch eingehender studieren. :hello:


    Schöne Sonntagsgrüße
    Holger

  • Hab noch ein besseres Angebot gefunden - für 5 Euro gebraucht (1964iger Aufnahme) - so kann ich alle Symphonien (4-6) vergleichen :) :



    Und Celi zum Vergleich ist auch bestellt! :)


    :hello:

  • Genau die Box habe ich, lieber Nemorino. Damals unglaublich günstig bei 2001 in Düsseldorf gekauft!


    Guten Abend, lieber Holger,


    als die Box herauskam, hatte ich schon einiges darauf auf Einzel-CDs, so daß ich mit dem Kauf so lange gezögert habe, bis sie völlig überteuert war. Aus der gleichen Serie habe ich allerdings die Boxen "Ferenc Fricsay" und "Igor Markevitch". Sie sind sehr opulent ausgestattet, mit illustriertem Textbuch und vielen wertvollen Informationen.
    Maazel hat in seinen frühen Berliner Jahren bemerkenswert gute, noch heute Referenzstatus beanspruchende Aufnahmen gemacht, später war vieles nur noch mehr routiniert als inspiriert.

    Das werde ich dann mal nachprüfen - für die 65 Cent habe ich sie mir gerade bestellt!

    Ich bin echt gespannt, wie Dir die Aufnahme gefällt. Ich finde sie einfach hinreißend, kein Vergleich mit seinen späteren Doubletten bei EMI (1971) und DGG (1977 und 1985, digital, mit den Wienern). Und klanglich kann sie auch noch gut mithalten. Ich denke, die 65 Cent sind gut angelegt! :D


    LG und schönen Abend,
    Nemorino :hello:



    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Hab noch ein besseres Angebot gefunden - für 5 Euro gebraucht (1964iger Aufnahme)


    Lieber Holger,


    die hätte ich mir auch zugelegt, aber leider ist ausgerechnet die Fünfte (meine Lieblingsversion) getrennt auf 2 CDs verteilt! :( Deshalb habe ich lieber die Resonance-Ausgabe gekauft. Aber für 5 € kannst Du sicher nichts falsch machen!


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • die hätte ich mir auch zugelegt, aber leider ist ausgerechnet die Fünfte (meine Lieblingsversion) getrennt auf 2 CDs verteilt! :( Deshalb habe ich lieber die Resonance-Ausgabe gekauft. Aber für 5 € kannst Du sicher nichts falsch machen!

    Das Storno hat nicht funktioniert, lieber Nemorino, also bekomme ich nun beide. :D Ich weiß noch nicht, ob ich die CD dann tatsächlich zurückschicke oder beide behalte. Zurückschicken lohnt sich eigentlich bei dem Preis nicht und auf einer CD die komplette Symphonie ist natürlich besser! :)


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Wenn man hinter das "Karajanitische" (ich nehme den Ausdruck von Glockenton auf :D ) kommen will, lohnt es sich, den wirklich klugen Klappentext zur oben abgebildeten Aufnahme zu lesen, den Werner Breig geschrieben hat. Dort weist er - Bezug nehmend auf Wagners Ausführungen zur Ouvertüre - darauf hin, dass es nämlich zwei Prinzipien der Ouvertüre bei Wagner gibt. Das erste verkörpert die Tannhäuser-Ouvertüre, die sich am Sonatensatzdrama mit seinen Themenkontrasten und seiner Gegensatzdramatik orientiert. Genau dieses Kontrastprinzip hat Wagner dann im Tristan aufgegeben zugunsten eines kontinuierlichen Klangstroms, der in einem finalen Höhepunkt gipfelt.


    Wenn man sich nun beide Aufnahmen der Tannhäuser-Ouvertüre anhört - die Berliner (s.o.) und diese spätere aus Wien - dann merkt man bei Karajan eine Entwicklung, die noch weiter in Richtung des Tristan-Prinzips geht. Sind in der Berliner Studioaufnahme beim Tannhäuser-Thema noch Kontrastierungen zu entdecken, so haben sie sich dann in Wien nahezu vollständig aufgelöst. Dass bei Karajan die Bläser so gar nicht dominant sind und schmettern, die Rhythmen weiche Knie bekommen haben, hängt genau damit zusammen: Die Bläserdominanz bedeutete nämlich das Kontrastierungsprinzip (weiche Streicher im schroffen Gegensatz zu scharfen Bläsern), von dem Karajan gerade abrücken will. Er dirigiert also die Tannhäuser-Ouvertüre so, als sei sie die Ouvertüre zu "Tristan".


    Danach habe ich wiederum Furtwänglers Mitschnitt aus Rom von 1951 im direkten Vergleich gehört:



    Eigentlich wollte ich mir nur den Beginn vornehmen - konnte es dann aber nicht lassen, die komplette Ouvertüre bis zu Ende zu hören! Ich finde - das sage ich nun ketzerisch gegen alle Karajan-Fans - dass ich hier eher den "originären" Wagner höre und nicht bei Karajan. :D Ich bin ja nun auch Leser von Wagners Schriften. Wagner zeigt sich dort als radikaler Ästhetik-Kritiker. In seiner Beethoven-Schrift von 1870 polemisiert Wagner gegen das Musikalisch-Schöne, das er für glatt und oberflächlich hält und plädiert statt dessen für den "tönend-bewegten Ausdruck". Bei Furtwängler vernimmt man genau das - wirkliche Leidenschaft! Bei Karajan dagegen gibt es eine hier (wo es um das Kontrastprinzip geht) so gar nicht Wagner-affine Ästhetisierung des Dramatischen, eine Schwelgerei in schwül-sinnlicher Fin de siecle-Morbidezza, sublim, selbstverliebt statt einer expressionistisch-direkten Ausdrucksgeste. Wie Karajan das umsetzt, ist natürlich konsequent und in sich absolut stimmig - in ästhetischen Fragen gibt es letztlich nur ein Entweder-Oder. Man kann nicht ein bisschen Furtwängler und ein bisschen Karajan haben wollen. Eine solche Kritik, die daran herummäkeln würde und sich wünschen: Warum sind die Bläser nicht schärfer? ginge fehl. Denn zu Karajans ästhetischem Konzept gehören die Bläser, welche im Streicherstrom untertauchen. Ich jedenfalls muss sagen: Die Furtwängler-Aufnahme zieht mich in den Bann trotz Mono und Plattenknistern auf der CD. Die Karajan-Aufnahmen dagegen nötigen mir höchsten Respekt ab - aber Furtwängler fesselt mich weit mehr.


    Dagegen ist "Isoldes Liebestod" mit Jessye Norman natürlich ein Ereignis.


    Als nächstes werde ich beim "Siegfried-Idyll" den späten Karajan mit dem späten Celibidache vergleichen. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es gibt zu dieser faszinierenden Aufnahme auch ein Video von der Probe:

    Ja, lieber Christian. Der fast schon arrogant-ironische Schulmeister Karajan erinnert mich an das, was Gustav Mahler einst zu den Wiener Philharmonikern sagte: "Was ihr Tradition nennt, nenne ich Schlamperei!" Sachlich Recht hat er natürlich! :D




    Vergleiche haben manchmal das Missliche, dass sie relativieren. Wie höre ich Karajan im Vergleich mit Kleiber?


    Bei Kleiber beeindruckt schon die Eröffnung, das "Still und leise", ungemein: Er baut da in seiner nachdrücklichen Verhaltenheit eine unglaubliche Intensität und Spannung auf und kostet das "Leise" intensivierend aus. Das Problem ist ja bei "Isoldes Liebestod", dass nach dem ersten dynamischen Höhepunkt noch eine weitere Steigerung kommt, also das Orchester sein Pulver an Dynamik nicht zu früh verschießen darf. Kleiber schafft es wirklich bis hin zur Orgiastik, die Steigerung mehr und mehr immer wieder noch einmal zu steigern. Und das Fallen in den Tod, das "unbewusst, höchste Lust", ist bei Kleiber eine wirkliche Entspannung nach so viel Anspannung und klanglich einfach magisch, man bekommt eine Gänsehaut! Margeret Price ist auch ganz großartig - ich kann nicht sagen, wer von beiden - Norman oder Price - mir letztlich besser gefällt.


    Und Karajan? Im Vergleich mit Kleiber wirkt er deutlich "nüchterner". Der Beginn "still und leise" hat diese unglaubliche Intensität der Verhaltenheit von Kleiber einfach nicht. Bei Karajan konzentriert man sich auf Jessye Normans betörenden Gesang und weniger auf das Orchester. Weder kommt Karajan finde ich an Kleibers große Fähigkeit heran, die Spannung kontinuierlich zu steigern, noch hat er seine Leidenschaft. Auch der Schluss ist eigentlich wenig betörend - wo Kleiber sinnlich duftendes Orchester-Parfum vergießt und die Musik aushauchen lässt. Da ist mir Karajan zu satt - und insgemein ist Kleiber in den feinen und feinsten Abstufungen wesentlich subtiler. Karajans Stärke sind die Streicherfiguren zu Beginn, die er da herausarbeitet. Ansonsten finde ich ihn eigentlich nicht so sonderlich mitreißend, wenn ich Kleiber im Ohr habe. Die Musik ist natürlich so überwältigend, dass man auch bei Karajan zutiefst beeindruckt ist.


    Das Einzige, was mich bei der Kleiber-Aufnahme wirklich stört, ist die mäßige Aufnahmetechnik der Deutschen Grammophon. :( Das Orchester ist viel zu weit hinten und die Sängerin davor zu präsent. Auch hört man die Doppelschlagfiguren der Klarinetten fast nicht - eine eindeutige Schwäche der Aufnahmetechnik. Da ist die Karajan-Aufnahme einfach besser.


    P.S. Vom Orchester her ist die symphonische Version mit den Berliner Philharmonikern wirklich unvergleichlich besser. Da bleiben keine Wünsche offen. Eine Karajan-Sternstunde! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Warum nur spielte der "Tannhäuser" im Vergleich mit anderen Werken Wagners für Karajan eine scheinbar unwichtige Rolle? Die Frage hatte Joseph II. aufgeworfen. Dafür, dass er sich – wie Stimmenliebhaber mit O-Ton einwarf – über die Ouvertüre sogar lustig machte, hat er sich auffallend oft damit beschäftigt. Die Ergebnisse auf Tonträgern wurden hier ausführlich besprochen. Ich erinnere mich noch an das erste Erscheinen der ganz späten Grammophon-Platte, die mit der Ouvertüre beginnt. Von Vermächtnis war da die Rede. Große Worte, die vielleicht Sinn machen. Nun überraschte Christian B. mit dem Probevideo, das ich nicht kannte (492). Das habe ich mir mehrfach vorgeführt und den "fast schon arrogant-ironische Schulmeister Karajan" nicht so wahrgenommen wie Holger. Mein Eindruck ist, dass da einer um die beste Deutung ringt, die ihm möglich ist. Und als die Posaunen ihren Soloeinsatz zu seiner Zufriedenheit beendeten, sagte er den für mich wichtigsten Satz des Videos: "So hab' ich's mir immer in meinen Träumen vorgestellt." Das drückt doch viel aus über das Verhältnis zu dem Werk. Der in solchen Dingen ehr scheue und zurückhaltende Dirigent lässt uns tief in sein Inneres schauen. Ist er vielleicht gar am "Tannhäuser" gescheitert? Die Wiener Produktion, deren Premiere – wie Joseph ebenfalls vermerkte – bei der Deutschen Grammophon als Mitschnitt herausgekommen ist, offenbart nach meinem Dafürhalten ein Desaster. Das beginnt schon mit der Fassung. Karajan wählt eine Mischform aus so genannter Pariser (was ja eigentlich die Wiener ist) und der Dresdener Fassung im zweiten Akt. Wie bei Richard Osborne (Herbert von Karajan: Leben und Musik, DTV 2008) nachzulesen ist, sollte die Premiere an Weihnachten 1962 stattfinden, wurde aber wegen einer angeblichen Unpässlichkeit von Wolfgang Windgassen, der für die Titelrolle besetzt war, auf den 8. Januar 1963 verschoben. In Wahrheit soll Karajan, der auch die Inszenierung besorgte, mehr Zeit für Proben gebraucht haben. Zur verspäteten Premiere sei Windgassen nun tatsächlich indisponiert gewesen. Er kam erst in der dritten Vorstellung zum Einsatz. Für ihn sprang Hans Beirer ein. Und was der ablieferte, ist unglaublich grobschlächtig und frei in der Gestaltung. Auch wesentlich versiertere Sänger wie Gottlob Frick (Landgraf) und Eberhard Waechter (Wolfram) kamen mit den Tempovorstellungen Karajans hörbar nicht zurecht. Eine Enttäuschung auf der ganzen Linie war auch die Elisabeth von Gré Brouwenstijn. Und Christa Ludwig forcierte als Venus in den hochdramatischen Passagen ganz fürchterlich. Osborne: "Der junge Hirt von Gundula Janowitz war ein Lichtstrahl in der allgemeinen Düsternis, aber der Hirte allein kann eine Tannhäuser-Inszenierung nicht tragen.“ Für den Dirigenten muss das ein Trauma gewesen sein, von dem er sich vielleicht nie richtig freimachen konnte, wenngleich es hinreißend schöne musikalische Stellen in diesem Mitschnitt gibt. Es lohnt sich also, ihn wieder einmal hervorzuholen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Was du zur verunglückten Wiener Neuproduktion schreibst, scheint mir alles plausibel. Ich kenne allerdings Dirigenten, die gerade dann, wenn sie - selbstverschuldet oder unverschuldet - mit einem Werk einmal Misserfolg hatten, alles daran gesetzt haben, diese Scharte auszuwetzen und dieses Stück unbedingt noch einmal (und besser!) zu machen. Vielleicht hat Karajan auch einfach der ideale Titelinterpret für einen "Tannhäuser" nach seinen Wünschen und Vorstellungen gefehlt?

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Was du zur verunglückten Wiener Neuproduktion schreibst, scheint mir alles plausibel. Ich kenne allerdings Dirigenten, die gerade dann, wenn sie - selbstverschuldet oder unverschuldet - mit einem Werk einmal Misserfolg hatten, alles daran gesetzt haben, diese Scharte auszuwetzen und dieses Stück unbedingt noch einmal (und besser!) zu machen. Vielleicht hat Karajan auch einfach der ideale Titelinterpret für einen "Tannhäuser" nach seinen Wünschen und Vorstellungen gefehlt?


    Dem ist zuzustimmen. Nur, Karajan war ja nicht nur der Dirigent. Als solcher hat er nach meinem Eindruck bestens und sehr spannend agiert. Verunglückt scheint mir der "Tannhäuser" als ganzes zu sein. Vielleicht hat er deshalb die Hände in Salzburg davon gelassen, wo ein neuer Ansatz gewiss möglich gewesen wäre. Wenigstens aus meiner Sicht. Es ist auch nicht zu übersehen und zu überhören, dass "Tannhäuser" ein besonders schwieriges Stück bleibt. Ich habe die Oper nie so gesehen, wie ich mir das gewünscht hätte. Auch an den vielen Aufnahmen und Mitschnitte fehlt immer etwas. Ich kenne - im Gegensatz zu den anderen Werken des so genannten Bayreuther Kanons - kein Ideal, wo alles stimmt. :(

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Nun überraschte Christian B. mit dem Probevideo, das ich nicht kannte (492). Das habe ich mir mehrfach vorgeführt und den "fast schon arrogant-ironische Schulmeister Karajan" nicht so wahrgenommen wie Holger. Mein Eindruck ist, dass da einer um die beste Deutung ringt, die ihm möglich ist. Und als die Posaunen ihren Soloeinsatz zu seiner Zufriedenheit beendeten, sagte er den für mich wichtigsten Satz des Videos: "So hab' ich's mir immer in meinen Träumen vorgestellt."

    Lieber Rüdiger,


    Karajan kommt gut gelaunt, witzig - aber das ist ein Humor nur zu seinem Vergnügen. Von den Musikern lacht keiner! "Ihr glaubt, ihr habt das drauf! Ihr habt das drunter! So schwer kann es doch nicht sein!" Er behandelt seine Musiker doch eher wie kleine Kinder, die man erziehen muss, weil sie zur Schlampigkeit neigen, nach dem Motto: "Ihr glaubt, ihr könnt es, ich zeige euch, ihr könnt es nicht und müsst noch viel von mir lernen!" Sicher ist das ein Habitus, den seine und auch die vorherige Dirigentengeneration hatte - Toscanini, Mrawinsky etc. waren sicher nicht anders. (Wenn Probenfanatiker Mrawinsky sich zur Probe ankündigte, hieß es als Vorauswarnung bei den Orchestermusikern: "Der Feind kommt!" :D )


    Sachlich gesehen steckt da doch ein tieferes Problem. Ich sehe gewisse Analogien mit der Schumann-Probe. Karajan sagt: Ihr spielt etwas, was nicht in den Noten steht und keiner verlangt hat. Es ist aber so, dass bestimmte Dinge nicht in den Noten stehen aber unwillkürlich so gemacht werden. Das will Karajan eliminieren. Stichwort (er sagt es bei Wagner: ) "Ich will das ansatzlos gespielt haben, den vollen Ton!" Das ist aber nicht die natürliche Artikulation. Die natürliche Artikulation baut unwillkürlich Betonungen ein, weil sie um Sprachdeutlichkeit bemüht ist. Diese durch die Spielpraxis eingeübte "Rhetorik" passt aber nicht zu Karajans Klangideal - er will den puren Ton gespielt haben und sonst nichts. Die Musiker sind in Wahrheit also gar nicht schlampig und haben zu wenig geübt, sondern machen ganz natürlich etwas, was jeder andere Dirigent in der Regel akzeptiert. Karajan hätte auch kooperativer sein können und sagen: "Ich verstehe ja, was ihr macht, dass ihr hier eine Phrase denkt und spielt und betont. Aber seht mal: Wenn ihr das nicht macht, ist das viel wirkungsvoller. Da geht es um Tonmalerei." Das wäre eine Erklärung gewesen, wo der Dirigent das Orchester als Partner sieht und sich verständlich zu machen sucht. Für den autoritären Orchesterlehrer sind die Musiker aber nicht Partner, sondern unartige Kinder. Deshalb erklärt er nicht, sondern sagt einfach: Ihr sollt oder sollt nicht, das ist richtig oder falsch. Für Karajan zählt nur seine Klangästhetik als "richtig". Die Bläser gefallen ihm, weil sie seinem Ideal entsprechen, sie spielen so für ihn, wie er will: ansatzlos blasen. In der Regel machen sie es natürlich anders. Und bei so manchem anderen Orchester würde er auf massiven Widerstand stoßen.


    Ich weiß auch nicht, dafür kenne ich Karajan zu wenig, ob es zu seinem Selbstbewußtsein gehört, zu zweifeln. Vielleicht glaubt er gar nicht, an Tannhäuser gescheitert zu sein und sdchiebt das auf die ungünstigen Umstände... :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger, Du argumentiert wieder sehr klug. Es ist schwer, dagegen anzukommen. Du nimmst dieses Video aus einer anderen Perspektive wahr als ich. Das ist gut so. Vielleicht sollte man auch den Hintergrund dieser Arbeit mehr in Betracht ziehen. Karajan war ein gebrechlicher Mann, der geführt werden musste. Es war für ihn gewiss auch deprimierend, so vor diese Musiker zu treten, die er aus besseren Zeiten gut kannte. Er hatte die Rechnung im Streit mit seinen Philharmonikern offen. Ich fand ihn gar nicht humorvoll "nur zu seinem Vergnügen". Ich nahm ihn ehr als sarkastisch und verbittert nach Karajanscher Art war. Im Grunde ist es mir egal, wie er die Musiker behandelt. Da befindet er sich in guter Gesellschaft. Du hast selbst Namen genannt. Wenn nur das Ergebnis stimmt. Darauf kommt es doch an.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Wieder ein sehr interessanter Gesprächsfaden!


    Ich möchte nur die Vermutung einstreuen, daß es nach dem Solti-Tannhäuser von 1970, den ich für einen Geniestreich halte, eigentlich kein Raum mehr für eine weitere Aufnahme gab. Das mag K. selbst so empfunden und sich auf andere Projekte konzentriert haben.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Wieder ein sehr interessanter Gesprächsfaden!


    Ich möchte nur die Vermutung einstreuen, daß nach dem Solti-Tannhäuser von 1970, den ich für einen Geniestreich halte, eigentlich kein Raum mehr für eine weitere Aufnahme gab. Das mag K. selbst so empfunden und sich auf andere Projekte konzentriert haben.

    Ich halte den Solti-"Tannhäuser" für keinen Geniestreich, könnte mir aber in der Tat vorstellen, dass Karajan 10 oder 15 Jahre später vielleicht doch eine Studio-Aufnahme mit Kollo in der Titelpartie gemacht hätte, wenn dieser nicht schon (viel zu früh) durch Solti diesbezüglich "verbraten" worden wäre. Natürlich kann man auch spekulieren, ob Karajan nicht Anfang der Achtziger einen Studio-"Tannhäuser" eingespielt hätte, wenn vielleicht Fritz Wunderlich so weit gewesen wäre, diese Rolle (zumindest im Studio) zu singen, aber um 1980 stand Karajan eben kein Tenor-Überflieger zur Verfügung, der ihn zu einem solchen Projekt gereizt hätte (Wenkoff war auch schon durch die Bayreuther Produktion, die ja veröffentlicht wurde, "verbraten", zumal er auch nicht wirklich ein "edler" Studio-Sänger nach Karajans Vorstellungen war.)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Ich möchte nur die Vermutung einstreuen, daß nach dem Solti-Tannhäuser von 1970, den ich für einen Geniestreich halte, eigentlich kein Raum mehr für eine weitere Aufnahme gab.


    Lieber Hans Heukenkamp,


    Deine Vermutung und den Solti-Tannhäuser in Ehren, aber (für mich) wird er eindeutig durch diese einmalige, damals noch gesamtdeutsche Produktion übertroffen:




    die es u.a. in diesen beiden Ausgaben auf CD gibt. "Eine Sternstunde der Wagner-Diskographie" heißt es auf der Rückseite der rechts abgebildeten Edition, und das ist ausnahmsweise mal kein Werbegag, sondern eine schlichte Tatsache. Zugegeben, mit Hans Hopf in der Titelpartie und mehr noch mit Marianne Schech als Venus hat sie zwei Schwachstellen, dafür aber mit Elisabeth Grümmer (Elisabeth), Gottlob Frick (Landgraf), Dietrich Fischer-Dieskau (Wolfram) und Fritz Wunderlich (Walther) eine solche Traumbesetzung aufzuweisen, die jedes große Opernhaus der Welt heute vor Neid erblassen ließe!
    Und - nicht zuletzt - in Franz Konwitschny einen erfahrenen, großartigen Wagner-Dirigenten, der leider bei uns nie die Reputation genossen hat, die er aufgrund seines Könnens verdient gehabt hätte. Konwitschny, dessen Beethoven-Sinfonien-Zyklus von 1960/61 (Philips) unvergessen ist, braucht sich wahrlich nicht hinter dem viel bekannteren Solti zu verstecken! Und was die Solisten angeht, so ist Konwitschny nach meiner Meinung eindeutig im Vorteil. Einzig Christa Ludwig als Venus schlägt M. Schech klar aus dem Felde, aber weder Kollo als Tannhäuser noch Sotin als Landgraf oder Victor Braun als Wolfram und erst recht nicht die Elisabeth der Helga Dernesch vermögen gegen Konwitschnys Besetzung zu punkten, obwohl Hans Hopf sicher keine Idealbesetzung der Titelrolle ist. Da hätte ich mir Wolfgang Windgassen gewünscht, aber der war vertraglich anderweitig gebunden.


    Es handelt sich im übrigen um eine der letzten gesamtdeutschen Produktionen, die vor dem Mauerbau 1961 noch verwirklicht werden konnten, mit dem Chor und dem Orchester der Staatsoper Berlin (Ost). Die Aufnahmesitzungen fanden in der (West-)Berliner Grunewaldkirche statt.


    Über Karajans "Tannhäuser-Abstinenz" kann man natürlich trefflich spekulieren, aber ich denke, weder die Konwitschny- noch die spätere Solti-Aufnahme hätten ihn von einer eigenen Produktion abgehalten, wenn er ernsthaft die Absicht gehabt hätte, diese Oper im Studio aufzunehmen. Die wahren Gründe werden im Dunkeln bleiben, genauso, wie er nie das 1. Klavierkonzert von Brahms oder Händels "Messias" eingespielt hat. So bleibt es zu bedauern, daß der bedeutende Wagner-Interpret Karajan uns keinen "richtigen" TANNHÄUSER hinterlassen hat. Meine persönliche Meinung ist, daß ihm diese Oper wohl nie so richtig "gelegen" hat, denn weshalb hat er sie nicht einmal in Salzburg in seinem Programm gehabt?


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Vielleicht sollte man auch den Hintergrund dieser Arbeit mehr in Betracht ziehen. Karajan war ein gebrechlicher Mann, der geführt werden musste. Es war für ihn gewiss auch deprimierend, so vor diese Musiker zu treten, die er aus besseren Zeiten gut kannte. Er hatte die Rechnung im Streit mit seinen Philharmonikern offen. Ich fand ihn gar nicht humorvoll "nur zu seinem Vergnügen". Ich nahm ihn ehr als sarkastisch und verbittert nach Karajanscher Art war. Im Grunde ist es mir egal, wie er die Musiker behandelt. Da befindet er sich in guter Gesellschaft. Du hast selbst Namen genannt. Wenn nur das Ergebnis stimmt. Darauf kommt es doch an.

    Lieber Rüdiger,


    ich kenne Karajan einfach zu wenig in dieser Hinsicht und glaube das sofort mit dem Sarkasmus. Dann kennen das die Musiker natürlich. Aber auffallend ist schon, wie "erstarrt" sie da sitzen und das über sich ergehen lassen. Celibidache war auf seine Weise auch so ein Tyrann. Aber das Verhältnis zum Orchester ist in Probem, die ich kenne, viel lebendiger. Er erklärt, erzählt Anekdötchen, nervt sich bisweilen richtig und es gibt auch für das Orchester etwas zu lachen. Bei Celi ist es so ein bisschen die Art: "Ihr wisst im Grunde sowieso, dass ich immer Recht habe und ihr seid das beste Orchester der Welt, wenn ihr nur immer genau das macht, was ich sage!" In München hat er seine Musiker sogar geduzt!


    Von Wagner, insbesondere der Tannhäuser-Ouvertüre, habe ich auch einen Probenmitschnitt mit Mrawinsky (Erato-CD). Das müsste ich mir nochmals anhören. In Erinnerung habe ich, dass er mit stoischer Ruhe agiert. Allerdings spricht er nur Russisch, was ich nicht verstehe. Da müsste ich mal Austüge meiner Frau vorspielen, damit sie mir einiges übersetzt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die Mrawinsky-Probe ist derzeit erhältlich in dieser Box:



    Die Tannhäuser-Ouvertüre in dieser Aufnahme klingt deutlich anders als in dem älteren russischen Mitschnitt, den ich habe. Den Interpretationsvergleich werde ich nachreichen - und natürlich den zu Tschaikowsky. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bzgl. Karajan und "Tannhäuser" ließe sich noch hinzufügen, dass die DG Ende der 60er Jahre (1968/69) ja durchaus eine eigene Produktion machte, die heute aber weit abgeschlagen unter ferner läuft:



    Man muss beinahe sagen "seltsamerweise" hat man dafür Otto Gerdes engagiert, der eher als Proudzent der DG zu einiger Berühmtheit kam denn als Dirigent. Kurz darauf soll sich ja auch die Geschichte ereignet haben, in der Gerdes Karajan angeblich "Herr Kollege" nannte - und wenig später seinen Job verloren haben soll. Wieviel daran wahr ist, sei mal dahingestellt.


    Gerdes leitet Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin. Die Besetzung liest sich zunächst sehr prominent (Birgit Nilsson, Theo Adam, Dietrich Fischer-Dieskau, Wolfgang Windgassen, Horst R. Laubenthal), kann aber im Ergebnis nur bedingt zufriedenstellen (besonders die Nilsson gilt als krasse Fehlbesetzung).


    Vermutlich hätte Karajan als damaliger Exklusivkünstler der DG diese Produktion schon bekommen, wenn er sie wirklich gewollt hätte. Gerdes erscheint aus heutiger Sicht wie eine Verlegenheitslösung.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões



  • Das ist wirklich sensationell!!!! :) Da muss ich mich bei Nemorino für den Tip bedanken! :hail:


    Man denkt sich ja: Da treffen zwei Egozentriker aufeinander und jeder spielt sein Ding! Von wegen! Offenbar waren beide voneinander tief beeindruckt und trafen sich in ihrer Liebe zu Beethoven. Glenn Gould habe ich noch nie so klangsinnig und wenig Bach-puristisch spielen gehört. Streckenweise meint man fast, er sei Arrau-Schüler. :D Karajan spielt einen Beethoven in der romantischen Tradition des "Erhabenen", groß im Gefühl und dicht im Klang, ohne aber jemals undurchsichtig zu werden. Vielmehr versteht er es, sich äußerst einfühlsam auf die Eigenart von Gould einzulassen. Im zweiten Satz zeigt sich der jugendliche Quergeist - aber nicht etwa in irgendwelchen Manierismen, vielmehr in improvisatorischer Freizügigkeit in der Tradition von Busoni. Gould zeigt da zugleich viel Stilgefühl, denn er zerstört dabei Beethovens Klassizität nicht. Und Karajan hält sich wiederum unglaublich einfühlsam zurück, sekundiert ihm absolut stimmig. Beindruckend auch das Finale! Keine Oberflächenbrillanz, kein virtuoser Leerlauf. Fast schon sachte zurückhaltend wie ein Mozart beginnt dieses Finale, so dass es den Sinn eines lieto fine bekommt. Gould setzt seine eigenen Rhythmen und Karajan folgt dem genau - aber absolut passend zu Beethoven. Das ist freigeistiges Musizieren von Gould aber eben mit Geschmack und sicherem Stilempfinden, mit dem Karajan mit all seiner Beethoven-Kenntnis in jeder Hinsicht vollkommen harmoniert. Man sieht, dass sich auch zwei Individualisten zusammenfinden können, wenn sie sich aufeinander einlassen! Hier zeigt sich zudem, dass Karajan keineswegs musikalisch selbstverliebt nur in seiner Welt lebte, sondern sich von anderen bedeutenden Musikern, von denen er überzeugt war, auch inspirieren ließ.


    Die Platte ist einfach ein absolutes "Muss" für jeden Klavier- und Beethoven Freund! :) :) :)


    Nun höre ich noch Karajan mit Sibelius´ 5. von derselben CD!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    es freut mich sehr, dass Dir die Gould/Karajan-CD gut gefällt. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass ich mit diesem Tip bei Dir ins Schwarze treffen würde.


    Du hast übrigens eine sehr treffende, wunderbare Analyse des Zusammenspiels der beiden abgegeben, für die ich mich sehr bedanke. So professionell und fundiert hätte ich das nicht beschreiben können. Mit Deinem Beitrag hättest Du noch eine schöne Ergänzung des Booklets liefern können!


    Erfreulich ist auch, dass die technische Seite des Mitschnitts bestens gelungen ist; obwohl nur Monotechnik angewandt wurde (die Rundfunkanstalten waren Ende der 50er noch nicht auf dem neuesten Stand), ist der Klang durchweg erfreulich und transparent. Vor allem ist Goulds Klavierspiel sehr natürlich abgebildet worden. Ich stimme Dir uneingeschränkt zu, dass diese Version in jede gute Klassiksammlung gehört.


    Schönen Abend und liebe Grüße,
    Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Gerdes leitet Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin. Die Besetzung liest sich zunächst sehr pominent (Birgit Nilsson, Theo Adam, Dietrich Fischer-Dieskau, Wolfgang Windgassen, Horst R. Laubenthal), kann aber im Ergebnis nur bedingt zufriedenstellen (besonders die Nilsson gilt als krasse Fehlbesetzung).


    Lieber Joseph II.,


    ich habe die Aufnahme nie besessen; sie wurde bei ihrem ersten Erscheinen von der Fachkritik fast einhellig verrissen. Otto Gerdes war, wie Du richtig schreibst, eigentlich Produzent bei der DGG, doch wurde er einige Male auch als Dirigent eingesetzt, jedoch mit mäßigem Erfolg. Es gab auch eine "Neue Welt" von Dvorak sowie ein paar seltene Wagner-Stücke mit ihm, sie hielten sich aber nur kurz im Katalog bzw. wurden sehr bald im Billig-Repertoire auf HELIODOR vermarktet. Und Birgit Nilsson, bei allem Respekt, aber als Elisabeth von Thüringen kann ich sie mir wirklich nicht vorstellen!


    Die Geschichte mit Karajan und Gerdes' jovialer Anrede "Herr Kollege" wurde immer wieder kolportiert, so recht glauben kann ich sie nicht. Es wäre ja wirklich ein Armutszeugnis für den bedeutenden Künstler Herbert von Karajan, wenn er auf diese kleinkarierte Weise darauf reagiert hätte. Man weiß zwar, dass Karajan sehr empfindlich und leicht beleidigt sein konnte, aber die Story klingt mir doch recht unglaubwürdig. So oft sie auch erzählt wurde, authentisch belegt oder widerlegt wurde sie nie. Nichts genaues weiß man nicht.


    Aber große Geister können mitunter auch sehr kleingeistig sein …… Wer weiß?!


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Erfreulich ist auch, dass die technische Seite des Mitschnitts bestens gelungen ist; obwohl nur Monotechnik angewandt wurde (die Rundfunkanstalten waren Ende der 50er noch nicht auf dem neuesten Stand), ist der Klang durchweg erfreulich und transparent. Vor allem ist Goulds Klavierspiel sehr natürlich abgebildet worden. Ich stimme Dir uneingeschränkt zu, dass diese Version in jede gute Klassiksammlung gehört.

    Danke nochmals, lieber Nemorino! Die Aufnahmetechnik ist wirklich erstaunlich gut! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Nemorino: Gottlob Frick (Landgraf), Dietrich Fischer-Dieskau (Wolfram) und Fritz Wunderlich (Walther) eine solche Traumbesetzung aufzuweisen, die jedes große Opernhaus der Welt heute vor Neid erblassen ließe!
    Und - nicht zuletzt - in Franz Konwitschny einen erfahrenen, großartigen Wagner-Dirigenten, der leider bei uns nie die Reputation genossen hat, die er aufgrund seines Könnens verdient gehabt hätte.


    Und mit Gottlob Frick, Dietrich Fischer-Dieskau und Fritz Wunderlich gab es noch eine andere Wagner-Oper, die unter Franz Konwitschny m. E. diesen Rang innehatte:


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Tja, wer weiß, ob und wie weit Konwitschnys Wagner-Zyklus vielleicht noch fortgesetzt worden wäre, wenn er nicht so viel gesoffen und schon 1962 gestorben wäre...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner