Was ist dran an Karajan? - Versuch einer Analyse

  • Man getraut sich ja kaum hier einzusteigen - aus Angst etwas zu zerstören - aber ich machs trotzdem.
    Die Titelfrage beantwortet ihr quasi selbst, indem Ihr spontan diesen alten Thread wiederbelebt der nun fast zu glühen beginnt:
    Karajan ist einePersönlichkeit die aben einfach interessant ist. Dazu gehört einerseits der hochmusikalische Dirigent, andrerseits die Kunstfigur Karajan, die mit der Realität nur wenig Gemeinsames hat.
    Karajan war eigentlich nicht wirklich "schwierig" es wurde nur gern behauptet. Er war vom Wesen her eher introvertiert, aber als er erkannte, welche Vorteile ihm die Medien boten, da hat er sich ihrer bedient. Er war ferner ein intellektueller Schöngeist und ebenso ein Technikfreak. Der heute von vielen beanstandete Schönklang war einer der Parameter zu seinem Erfolg. Dieser Breitwandklang mit relativ wenig räumlicher Tiefe war aber zum Gutteil ein Markenzeichen des damaligen DGG Klanges.
    Karajans Klangphilosophie war seiner Zeit angepasst.
    Ich halte es übrigens für übertrieben, wenn gesagt wird, er habe den Berliner Philharmonikern viel zu verdanken. Umgekehrt wird auch ein paar Schuhe draus, Denn immer wenn er mit den Berlinern Differenzen hatte, waren die Wiener willig zur Stelle und das funktionierte medial und musikalisch genauso gut.


    Wenn heute keine solch hervorragenden (im Sinne von charismatisch)Künstler mehr zur Verfügung stehen, dann liegt das IMO daran, daß "Projektionen" von Seiten des Publikums derzeit ausbleiben. Da macht dann natürlich auch die Marketingabteilung der jeweiligen Plattenfirma mit.
    Künstler werden nicht mehr als "Pultstrategen", Diven oder "entrückte Pianisten" präsentiert, sondern als "einer von uns". Das hat natürlich auch seinen Preis, denn der Nimbus braucht auch Wehrauch und Distanz.


    Aber keine Angst - das kommt schon wieder. Th. und C. sind hier ein erster Ansatz.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Alfred Schmidt: Ich halte es übrigens für übertrieben, wenn gesagt wird, er habe den Berliner Philharmonikern viel zu verdanken. Umgekehrt wird auch ein paar Schuhe draus,


    Wie wahr, wie wahr! Die Musiker haben in der Zeit, in der sich ihre Aufnahmen mit Karajan wie "geschnitten Brot" verkauften, nicht schlecht daran verdient, und ich weiß nicht, wie viele Musiker sich nachträglich "irgendwohin gebissen" haben, als sie seinerzeit verhinderten, dass Sabine Meyer, die Karajan unbeindgt als Soloklarinettistin haben wollte, ins Orchester aufgenommen wurde.
    Übrigens war Karajan der erste Dirigent, bei dessen Interpretation einer Beethoven-Sinfonie 1962/63 (Larghetto der 2. Sinfonie) ich geweint habe. Die Schönheit dieser Interpretation war an der Stelle (große Streichersteigerung in der Mitte des Satzes) so intensiv, ging so tief, dass ich gar nicht anders konnte. So ging es mit vielen Stellen in allen neun Sinfonien. Es ging immer tief. Man musste nur mit dem Herzen hören.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Karajan repräsentierte die alte bürgerliche Gesellschaft, sie hatte ihn zu einer Gott erhoben und irgendwann werden alle Götter, Halbgötter oder Göttchen (man möge sich aussuchen, was davon auf HvK zutrifft) vom Sockel gestoßen. In den 70er und 80er Jahren vollzog sich ein tiefgreifender gesellschaftlicher Mentalitätswandel - auch im Bereich der Klassischen Musik. Die Alte-Musik-Bewegung galt als progressiv, demokratisch, entschlackt, entstaubt und dergleichen mehr. Pultherrscher mit Silbertolle, entrückt geschlossenen Augen, im Frack und mit Herrenallüren waren nicht mehr gefragt. Der neue Dirigententypus verkörperte sich in den 80er Jahren im jungen Simon Rattle.
    In dieser Zeit damals wurde Karajan in einem beinahe schon politisierten Streit viel Unrechtes nachgeworfen. Auch ich war nicht frei davon.
    Um 1990 hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich jemals wieder mit Interesse, ja sogar mit Begeisterung zu HvK's Bachinterpretationen greifen würde. Aber seit einiger Zeit greife ich nach rund dreißigjähriger Unterbrechung wieder genau dazu. Man kann darin soviel gutes Musizieren entdecken. Und wenn Bach durch den breiten Orchestersound der Berliner einen romantischen Touch bekommt, macht mir das nichts mehr aus. Ich betrachte diese Art der Interpretation von Barockmusik als einen für mich gültigen Weg. Und dann höre ich tags drauf auch wieder Barockes in völlig anderer Interpretation. So kommt beides zu seinem Recht!


    Grüße
    Garaguly

  • Lieber Garaguly - wir beide sind ganz offensichtlich aus dem Puristen-Kreis ausgeschieden. Mir ging es mit Karajans Bach ebenso wie Dir: Das ist eine unmögliche Interpretation, sagt ich mir. Und sie standen ungenutzt jahrelang herum - die Aufnahmen. Das hat sich so'n bisschen geändert, denn heute höre ich da schon wieder öfters hinein. Die alte Strenge ist bei mir auch gewichen. Das betrifft übrigens auch die aus den Anfangszeiten der Bewegung 'Hin zu den Quellen' entstandenen Einspielungen von Barockwerken, sei es Leppard oder auch bei den Aufnahmen mit Geistlicher Musik jene mit Wilhelm Ehman und seinem Herforder Kreis. Es sind eh nicht viele davon in meinen Regalen, aber ich bin doch froh, dass ich sie nicht alle auf den Müll gegeben habe...
    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Mit Absicht greife ich nun zu dieser Box, die ich vor zwei Tagen in einem Frankfurter CD-Second-Hand-Laden für 3 Euro gebraucht in sehr gutem Zustand erwarb. Das Cover-Artwork (wenn man das hier überhaupt so nennen mag!) ist genau das Karajan-Bild, das ich im Beitrag oben gerade skizzierte. Es ist der "Jacobs-Krönung"-Karajan, der in Wohnzimmern gehört wurde, deren Fenster mit Rüschengardinen verhängt waren, die mit der "Ado-Goldkante" gesäumt waren. Kein Wunder, dass jüngere Leute vor 25 bis 30 Jahren sich beinahe schon angewidert von solchen Darstellungen abwandten. Die Aufnahmen sind natürlich davon unberührt von hoher Qualität. Hier also nun CD 2 aus der abgebildeten 5er-Box:



    Edvard Grieg
    Peer Gynt-Suiten Nr. 1 und Nr. 2, opp. 46 und 55


    Jean Sibelius
    Finlandia, op. 26
    Valse triste, op. 44
    Tapiola, op. 112


    Berliner Philharmoniker
    Herbert von Karajan
    (AD: 1965 / 1967)


    Grüße
    Garaguly

  • Lieber Garaguly - wir beide sind ganz offensichtlich aus dem Puristen-Kreis ausgeschieden.


    Definitiv, lieber musikwanderer. Du erwähntest noch Leppard in diesem Zusammenhang, ich werfe noch Marriner in den Ring. Von Sir Neville hatte ich zur selben Zeit die Nase voll wie von Karajan. Dabei ist Marriners Mozart- oder auch seine Haydndarstellung wunderschön!
    Ich erkenne an solchen Entwicklungen, dass ich mich doch damals dem Zeitgeist nicht entziehen konnte.


    Grüße
    Garaguly

  • und ich weiß nicht, wie viele Musiker sich nachträglich "irgendwohin gebissen" haben, als sie seinerzeit verhinderten, dass Sabine Meyer, die Karajan unbeindgt als Soloklarinettistin haben wollte, ins Orchester aufgenommen wurde.

    Lieber Willi, auch wenn ich nicht glaube, dass sich die Berliner Philharmoniker oder auch nur einige von ihnen "nachträglich irgendwohin gebissen" hätten, hätte diese Phase, selbst wenn es sie gegeben haben sollte, ja nicht sehr lange angehalten, denn Karajan legte sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker im April 1989 nieder und starb drei Monate später. Man muss wohl davon ausgehen, dass Frau Meyer nur ein willkommener Anlass war, ihn aufs Abstellgleis zu schieben, die Ursache aber war, dass es einfach nicht mehr ging (er war mittlerweile 80 und seit Jahren gesundheitlich angeschlagen).

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Um 1990 hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich jemals wieder mit Interesse, ja sogar mit Begeisterung zu HvK's Bachinterpretationen greifen würde.


    Mir ging es mit Karajans Bach ebenso wie Dir: Das ist eine unmögliche Interpretation, sagt ich mir. Und sie standen ungenutzt jahrelang herum - die Aufnahmen. Das hat sich so'n bisschen geändert, denn heute höre ich da schon wieder öfters hinein.


    Ich kann euch nur unbedingt beipflichten. Karajans Bach ist viel besser als sein Ruf. Ich würde ihn jetzt zwar nicht über Karl Richter stellen, aber das ist schon auf einem hohen Niveau interpretiert und musiziert, eben bis zuletzt einem Klangideal verhaftet, das man eher mit der (Spät-)Romantik verbindet. Karajan hat in den 80er Jahren nochmal das Magnificat dirigiert (es existiert auch als Video). Also ich fand das alles andere als übel.


    Deine Analyse zum tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel ab ca. 1970 ist übrigens ganz hervorragend, lieber Garaguly. Karajans ganz große Zeit waren wohl die 60er Jahre. Viele seiner besten Aufnahmen entstanden m. E. in dieser Dekade. Sein gottgleiches Auftreten wurde in dieser Zeit noch vorbehaltlos akzeptiert und bewundert. Ab den 70ern gab es dann wohl schon allmählich Vorbehalte. Ende der 80er hatte es sich schlicht und ergreifend überlebt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Mit Absicht greife ich nun zu dieser Box, die ich vor zwei Tagen in einem Frankfurter CD-Second-Hand-Laden für 3 Euro gebraucht in sehr gutem Zustand erwarb. Das Cover-Artwork (wenn man das hier überhaupt so nennen mag!) ist genau das Karajan-Bild, das ich im Beitrag oben gerade skizzierte. Es ist der "Jacobs-Krönung"-Karajan, der in Wohnzimmern gehört wurde, deren Fenster mit Rüschengardinen verhängt waren, die mit der "Ado-Goldkante" gesäumt waren. Kein Wunder, dass jüngere Leute vor 25 bis 30 Jahren sich beinahe schon angewidert von solchen Darstellungen abwandten.

    :D :D :thumbsup: Genau! Die Zeit des Wirtschaftswunders! Dazu kommt noch, dass die durch den verlorenen Weltkrieg und den ganzen NS gedehmütigte "deutsche Seele" endlich wieder sagen konnte: "Mit Karajan und den Berliner Philharmonikern sind wir wieder die Nr. 1 in der Welt!" Das Deutsch-Erhabene, zu dem man weltweit aufschaut, ist restituiert. Und Karajan war der Erste, welcher die Gesetze des Medienzeitalters offensiv nutzte und sich und dem Orchester dieses Image verschaffte. An meiner Prägung was Orchesterliteratur angeht ist Karajan komplett vorbeigegangen. Die Dirigenten, von denen ich mir Platten kaufte, als ich mir das Orchesterrepertoire erschloss, waren vor allem Claudio Abbado und Pierre Boulez! Später kam dann Vaclav Neumann und die Tschechische Philharmonie dazu (eigentlich wegen des idiomatischen, so ganz anderen Klanges erst das Orchester und dann der Dirigent!). :D


    Heute würde ich sagen: Die Karajan-Abneigung und Kritik hat ihre Gründe. Aber aus der Distanz ist auch klar: Es geht letztlich um die künstlerische Qualität. Und da zählt: Wo hat die Karajan-Ästhetik musikalisch Großartiges vollbracht und wo ist sie gescheitert? Den frühen Karajan zu entdecken ist da ein Weg, um auch das Phänomen Karajan nicht zu eindimensional zu betrachten. Was mir nur an dieser Schumann-Orchesterprobe damals auffiel, als sie mal im Fernsehen gesendet wurde, war, dass er den Bläsern quasi jegliche "Rhetorik" und Individualität verbot: sie sollten nur den abstrakten Ton spielen, den er dann nach Belieben formen und beherrschen konnte.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Liebe Freunde,


    ich habe mir bei meinem neulichen Wien-Besuch einige CDs von Live-Mitschnitten der Wiener Philharmoniker, welche sie unter ihrem eigenen Label herausgaben. Darunter ist eine Live-Aufnahme des alten Karajan mit Mozarts Jupiter-Sinfonie aus dem Jahre 1987. Ich muss sagen, wirklich toll: luftig-leicht, kammermusikalisch in den Durchführungen. Gerade die Bläser werden stark motiviert und entfalten sich herrlich.


    LG Siamak

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • vor zwei Tagen in einem Frankfurter CD-Second-Hand-Laden für 3 Euro


    Hört sich nach Oxfam-Liebfrauenberg an, wo sie (meist) null Ahnung und Gespür für eine sinnvolle Preisauszeichnung haben. Massenwareschrott für 7 Euro und unbezahlbare Raritäten für 3 Euro die CD. Rischdisch? Aber hey, sie sind so modern und scannen mit der amazon-app die Strichcodes ab. Und ziehen oft völlig falsche Schlüsse daraus.

    Er hat Jehova gesagt!

  • Hört sich nach Oxfam-Liebfrauenberg an, wo sie (meist) null Ahnung und Gespür für eine sinnvolle Preisauszeichnung haben. Massenwareschrott für 7 Euro und unbezahlbare Raritäten für 3 Euro die CD. Rischdisch? Aber hey, sie sind so modern und scannen mit der amazon-app die Strichcodes ab. Und ziehen oft völlig falsche Schlüsse daraus.


    Nix da, ga net rischdisch, Kollesch! Isch war in de Wallschtras' in Dribbdebach! Do geh isch immä hi, wann isch e gebraachde Silbääscheib' kaafe will, direkt beim Händlää, dem me noch so rischdisch in sei Aaagesischt gugge ka. Ansonsde halt gern Gebraaachdes immä im Indääned.


    Hessisch, respektive Frankfurterisch, zu schreiben, ist verflucht schwer. Isch hoff', isch habb's gedroffe. Mä muss hald aaach de endspreschende Donfall im Oää habbe.


    Grüße
    Garaguly

  • Noch ein Nachtrag zum Design der oben abgebildeten "Karajan-Festival"-Box. Die Box wurde von der DGG im Jahr 1990 veröffentlicht als Reaktion auf Karajans Tod im Jahr zuvor. Ich habe mal gelesen, dass diese Box, die in den 90ern lange Zeit im Handel regulär erhältlich blieb, ein gutes Geschäft dargestellt hatte; sie muss sich verkauft haben wie 'geschnitten Brot'.
    Die Zielgruppen sind durch das Design klar zu erkennen: es war zum einen die damals längst im Rentenalter angekommene Generation meiner Großeltern und auch die nachfolgende Generation meiner Eltern (damals so um die 50), bei der ein solches Design wenigstens in Teilen noch genau den Geschmacksnerv traf (bei meiner Mutter zum Beispiel :wacko: , ich erinnere mich noch genau, wie mir als 18jährigem um 1990 ihre biedere Rüschengardinenseligkeit auf den Wecker ging. Ergebnis dieses Geschmacksterrors: bei mir gibt's heute keine Gardinen mehr!! :D ). Alle Jüngeren konnten von diesem goldblitzenden Festival-Karajan kaum noch angesprochen werden. Vergleicht man das mit dem heutigen Coverdesign von Klassik-CD's, seien es nun Neuaufnahmen oder Wiederauflagen alter Einspielungen, sieht man, wie sich der Geschmack radikal verändert hat.


    Grüße
    Garaguly

  • Ich verstehe und begreife nicht, wie man Karajan da noch "Glätte" und ähnlichen Quatsch vorwerfen kann, wie es die Karajan - Gegner so gerne machen, weil ihnen nichts anderes an Worten mehr einfällt.


    Lieber Wolfgang,


    das Karajan-Bashing gehörte und gehört in gewissen Kreisen unbedingt dazu. Meist hat es mit musikalischen Gründen wenig oder gar nichts zu tun. Diese Haltung ist bis heute, fast 30 Jahre nach dem Tod des Dirigenten, noch nicht ausgestorben. Aber deshalb müssen wir uns die Freude an seinen Aufnahmen nicht verleiden lassen. Dass er ein großer Künstler und kein "Wohlstands-Emporkömmling" war, wie manche ihn versucht haben abzustempeln, beweist seine auch heute noch unübersehbare Präsenz im Klassik-Geschäft. Kunst kommt von Können, und kein "Schaumschläger" hätte jemals solche Höhen ersteigen können, wie es Karajan gelungen ist. Natürlich hat da auch Geschäftssinn keine geringe Rolle gespielt, aber ohne sein künstlerisches Werk hätte Karajan damit allein nicht viel anfangen können. Er war ohne jeden Zweifel der erfolgreichste, aber auch der folgenreichste Dirigent des 20. Jahrhunderts. Viele künstlerische und technische Projekte wären ohne seine Anstöße und sein Charisma nicht zu verwirklichen gewesen.


    Wie wahr, wie wahr! Die Musiker haben in der Zeit, in der sich ihre Aufnahmen mit Karajan wie "geschnitten Brot" verkauften, nicht schlecht daran verdient, und ich weiß nicht, wie viele Musiker sich nachträglich "irgendwohin gebissen" haben, als sie seinerzeit verhinderten, dass Sabine Meyer, die Karajan unbeindgt als Soloklarinettistin haben wollte, ins Orchester aufgenommen wurde.

    Lieber Willi,


    das ist genau der Punkt, den ich gestern bereits in meinem Beitrag Nr. 352 angesprochen hatte. Die Mitglieder der Berliner Philharmoniker konnten sich zu Karajans Zeiten einen Lebensstandard leisten, den sie sich 1955, als Karajan sein Amt "mit tausend Freuden" antrat, niemals hätten zu erträumen gewagt. Das gilt für alle Orchestermitglieder, für einige aber im Besonderen.
    Man denke z.B. an die "12 Cellisten der Berliner Philharmoniker", die ja stets ohne Karajan auftraten, aber praktisch jeder Konzertgänger und Plattenkäufer dachte bei "Berliner Philharmoniker" gleich quasi zwangsläufig an Karajan, der bis weit über seinen Tod hinaus das eigentliche Zugpferd der unzähligen Aufnahmen des Orchesters blieb.
    Zwei weitere Orchestermitglieder kommen mir spontan in den Sinn: Einmal der Hornist Gerd Seifert, dessen Aufnahme der Mozart-Hornkonzerte durch den Zusatz auf dem Cover "Berliner Philharmoniker. Herbert von Karajan" wie warme Semmel über die Ladentheke ging, erst als LP und später auch in diversen Auflagen als CD. Seifert war zweifellos ein tadelloser Hornist, aber sein Name war unter den Klassikfreunden praktisch unbekannt, bis diese Aufnahme erschien. Durch Karajans Name wurde sie praktisch zum Selbstläufer, während die Vorgänger-Aufnahme mit Dennis Brain als Solist (EMI, 1954) wohl hauptsächlich wegen des Solisten zum Verkaufsschlager wurde. Das hat Seifert aber nicht daran gehindert, an Karajan während und nach den Streitereien kein gutes Haar zu lassen. Ähnliches lässt sich von Werner Thärichen, dem langjährigen Solopauker der Berliner Philharmoniker, sagen, der in seinem Buch "Paukenschläge. Furtwängler oder Karajan" ziemlich hart mit letzterem ins Gericht geht, und zwar nicht nur persönlich, sondern auch künstlerisch. Selbst Michel Schwalbé, der von Karajan ins Orchester geholt und viele Jahre unter ihm Konzertmeister des Orchesters war, äußerte sich nach dem Tod des Dirigenten sehr abfällig, obwohl er von Karajan immer auffallend bevorzugt behandelt wurde.
    Fakt ist, dass die Philharmoniker ohne Karajan niemals den Status bekommen hätten, den sie spätestens ab den 1970er Jahren einnahmen. Sie sind fast ausnahmslos durch ihn reich geworden, während Karajan auch ohne die Berliner zu Weltruhm und Reichtum gelangt wäre. Wahr ist aber auch, dass sich das Verhältnis zwischen Karajan und dem Orchester nach fast 30 Jahren enger Zusammenarbeit abgenutzt hatte. Auf beiden Seiten hatte sich Frust aufgebaut, und Sabine Meyer war sicher nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Verhalten auf beiden Seiten war erbärmlich, zum Teil kindisch. Anders kann man es nicht bezeichnen. Ein trauriges Ende einer einmaligen Erfolgsgeschichte.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • das Karajan-Bashing gehörte und gehört in gewissen Kreisen unbedingt dazu. Meist hat es mit musikalischen Gründen wenig oder gar nichts zu tun.

    Genau, dass es einfach um künstlerische Kritik gehen könnte, die vielleicht sogar berechtigt ist, ist natürlich völlig ausgeschlossen... :no:


    Die Mitglieder der Berliner Philharmoniker konnten sich zu Karajans Zeiten einen Lebensstandard leisten, den sie sich 1955, als Karajan sein Amt "mit tausend Freuden" antrat, niemals hätten zu erträumen gewagt. Das gilt für alle Orchestermitglieder, für einige aber im Besonderen.

    Ja, das war nun allgemein so, dass der Lebensstandard in (West-) Deutschland zehn Jahre nach Kriegsende noch nicht so hoch war wie 30 Jahre nach Kriegsende.



    Fakt ist, dass die Philharmoniker ohne Karajan niemals den Status bekommen hätten, den sie spätestens ab den 1970er Jahren einnahmen.

    Fakt ist, dass die Berliner Philharmoniker ihren Sonderstatus schon vor Karajan hatten, nämlich spätestens seit Furtwängler.


    Sie sind fast ausnahmslos durch ihn reich geworden, während Karajan auch ohne die Berliner zu Weltruhm und Reichtum gelangt wäre.

    Naja, nachdem er sich 1964(?) in Wien überworfen hatte und dort als Staatsoperndirektor zurücktrat, wäre es ohne die Berliner für ihn verdammt schwer geworden.



    Wahr ist aber auch, dass sich das Verhältnis zwischen Karajan und dem Orchester nach fast 30 Jahren enger Zusammenarbeit abgenutzt hatte. Auf beiden Seiten hatte sich Frust aufgebaut, und Sabine Meyer war sicher nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

    Da stimme ich nun mal absolut zu.


    Ein trauriges Ende einer einmaligen Erfolgsgeschichte.

    Es war alles andere als ein tragisch frühes Ende, sondern ein notwendiger Schnitt. Ich finde es ja auch schön (zumindest manchmal), wenn Dirigenten im Alter 80+ noch immer dirigeren und Gastdirigenten herumtingeln, da kann durchaus Grandioses bei herauskommen (ich denke ur an Günter Wand oder Kurt Sanderling, die ich beide mit 80+ noch häufig erlebt habe), aber eine feste Leitungsposition muss man in diesem Alter nun wirklich nicht mehr bekleiden.


    Und so "einmalig" war diese Erfolgsgeschichte nun auch nicht, auch wenn sie durch die damalige Zeit mit ihrem LP-Boom natürlich sehr unterstützt wurde, aber Furtwängler und die Berliner Philharmoniker waren eben auch eine Erfolgsgeschichte und Abbado auch und Rattle letztlich auch. Die Philharmoniker haben keinen Grund, der Vergangenheit nachzutrauern. Wenn es allen Kulturinstitutionen so gut gehen würde wie ihnen, hätte wir eine heile Klassik-Welt bzw. das Klassik-Paradies auf Erden.


    Mich stört überhaupt nicht, dass die, die Karajan noch immer als ihren Abgott verehren, dies auch weiterhin tun und dies hier und anderswo auch kund tun. Mich stört nur, dass das immer mit einer Attitüde geschieht, die Kritik an Karajan als völlig unberechtigt und moralisch verwerflich ansieht.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Naja, nachdem er sich 1964(?) in Wien überworfen hatte und dort als Staatsoperndirektor zurücktrat, wäre es ohne die Berliner für ihn verdammt schwer geworden.


    Das ist eine interessante Frage. Der neben Karajan seinerzeit wohl weltweit bekannteste und begehrteste Dirigent, Leonard Bernstein - er war 1958-1969 Musikdirektor des New York Philharmonic -, hat sich nach 1969 an gar kein Orchester mehr fest gebunden (sieht man mal von seinem Titel President des London Symphony Orchestra zwischen 1987 und 1990 ab). Seiner Karriere schadete es scheinbar nicht.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Das ist eine interessante Frage. Der neben Karajan seinerzeit wohl weltweit bekannteste und begehrteste Dirigent, Leonard Bernstein, hat sich nach 1969 an gar kein Orchester mehr fest gebunden (er war 1958-1969 Musikdirektor des New York Philharmonic). Seiner Karriere schadete es scheinbar nicht.

    Er blieb halt regelmäßiger Gastdirigent bei einigen Orchestern. Karajan kehrte hingegen für ca. 20 Jahre nicht mehr in die Wiener Staatsoper zurück. Und in Salzburg hatte er kein eigenes gutes Orchester, insbesondere für seine Osterfestspiele brauchte er seine Berliner Philharmoniker. Und für viele Plattenaufnahmen eben auch.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Leonard Bernstein - er war 1958-1969 Musikdirektor des New York Philharmonic -, hat sich nach 1969 an gar kein Orchester mehr fest gebunden

    Lieber Joseph II.,


    Bernstein und Karajan hatten außer ihrer weltweiten Popularität wenig gemeinsam. Ein Karajan nur als Gastdirigent ist für mich schwer vorstellbar, er brauchte schon ein Orchester, dem er seinen Stempel aufdrücken konnte. Und dass für ihn die Berliner Philharmoniker seit seinen jungen Jahren die erste Adresse waren, hat er nie in Frage gestellt. Vielmehr hat er sein Amt als "Lebenslänglicher" nach eigenen Worten "mit tausend Freuden" angetreten mit der "ehrlichen Absicht, diese Arbeit bis ich nicht mehr kann oder bis zu meinem Tode fortzuführen". Nichts spricht dagegen, dass diese Worte aus seiner Antrittsrede im April 1956 nicht ernst gemeint waren.


    Nach dem verhängnisvollen Zerwürfnis in der Mitte der 1980er Jahre war das Verhältnis zwischen Karajan und den Berlinern nachhaltig gestört, und trotz vieler Versöhnungsversuche blieb es bis zuletzt gespannt, was im April 1989 schließlich zum Rücktritt des Dirigenten führte (Brief an den Berliner Senat vom 24.4.89 "Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen …"). Die Einzelheiten kann man in diversen Karajan-Biographien nachlesen. Das hat den Dirigenten aber nicht gehindert, bis kurz vor Jahresende 1988 Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern zu machen (seine m.W. letzte war die Brahms Nr. 4 vom November 1988).


    Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass Karajan auch ohne die Berliner Philharmoniker seine weltweite Tätigkeit ungehindert fortgeführt hätte. Es gab ernstgemeinte Angebote von der renommierten Staatskapelle Dresden, Wagners "Zauberharfe", wobei ich meine Zweifel habe, ob Karajan bereit gewesen wäre, sich von den roten Betonköpfen des DDR-Regimes Vorschriften machen zu lassen bzw. sich mit denen über Programme, Auftritte und Aufnahmen auseinanderzusetzen. Sicher hätte er da mehr Probleme gehabt als mit dem Westberliner Senat oder der Wiener Regierung.


    Aber, davon abgesehen, standen die Wiener Philharmoniker jederzeit "Gewehr bei Fuß", um Karajan behilflich zu sein, sei es bei den Salzburger Festspielen oder weltweiten Gastspielen. Die von ihm gegründeten Salzburger Osterfestspiele waren zwar vertraglich mit den Berlinern verknüpft, aber auch da wären die Wiener Philharmoniker im Ernstfall eingesprungen, wie sie es bei den Pfingstfestspielen 1984 bereits praktiziert hatten (Karajan bedankte sich dafür artig mit roten Rosen), als die Berliner während der ersten Eskalation des Streites ihre Auftritte kurzfristig abgesagt hatten. Die Wiener Philharmoniker haben zwar traditionell keinen Chefdirigenten, aber einer ausgedehnten lukrativen Zusammenarbeit mit dem Weltstar Karajan wären sie ganz bestimmt nicht abgeneigt gewesen. In seiner späten Phase hat Karajan auch wieder verstärkt Aufnahmen mit den Wienern gemacht, z.B. die letzten drei Tschaikowsky-Sinfonien, Bruckner 7 und 8, Schumann 4, Dvorak 8 und 9 etc.


    Ich bin mir sicher, dass Karajan seine einmalige "Erfolgsgeschichte" mit einem anderen führenden Orchester nahtlos hätte weiterführen können, wenn ihm dazu noch genügend Zeit geblieben wäre.
    Es hat nicht sollen sein ……


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Ein Karajan nur als Gastdirigent ist für mich schwer vorstellbar, er brauchte schon ein Orchester, dem er seinen Stempel aufdrücken konnte. Und dass für ihn die Berliner Philharmoniker seit seinen jungen Jahren die erste Adresse waren, hat er nie in Frage gestellt.

    So ist das!

    Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass Karajan auch ohne die Berliner Philharmoniker seine weltweite Tätigkeit ungehindert fortgeführt hätte.

    Da ist aber ein Widerspruch zu obiger Aussage.

    Es gab ernstgemeinte Angebote von der renommierten Staatskapelle Dresden, Wagners "Zauberharfe", wobei ich meine Zweifel habe, ob Karajan bereit gewesen wäre, sich von den roten Betonköpfen des DDR-Regimes Vorschriften machen zu lassen bzw. sich mit denen über Programme, Auftritte und Aufnahmen auseinanderzusetzen.


    Wenn dies ein ernst gemeintes Angebot war, wovon man ausgehen kann, dann kam dieses von den "roten Betonköpfen", denn ohne diese hätte die Staatskapelle Dresden ihm kaum ein solches erstgemeintes Angebot machen können. Und Karajan hat sich ja mit diesen "auseinandergesetzt" bzw. arrangiert, sonst gäbe es die wunderbaren Dresdner "Meistersinger" ja nicht. Und was hätte ihn an diesem Arrangement hindern sollen. Er hatte sich ja vor 1945 mit ganz anderen Leuten arrangiert...


    Werner Egk ist in der DDR auch sehr hofiert worden und hat es sich gerne gefallen lassen. Hätte sich Karajan also schon um 1970 mit den Berliner verkracht, hielte ich einen Wechsel nach dresden absolut für denkbar. Die "roten Betonköpfe" (solche Begriffe kommen dann meistens von der anderen Seite, wo auch reichlich Beton vorhanden war...) waren nämlich gar nicht so dogmatisch und hätten Karajan ALLES gestattet und ermöglicht, wenn Sie sich nur seiner als Aushängeschild hätten bedienen können (vgl. auch Felsenstein an der Komischen Oper Berlin, der auch Dinge durchsetzen konnte, die nirgends sonst in der DDR durchsetzbar waren, wie dass Westberliner auch nach dem Mauerbau weiterhin an der Komischen Oper Berlin weiterarbeiten kontnen, ohne deshalb DDR-Bürger werden zu müssen usw.)
    Ein anderer Österreicher, Otmar Suitner, hat sich übrigens in Dresden und dann mehr als ein Vierteljahrhundert lang an der Deutschen Staatsoper Berlin auf ein solches Engagement in der DDR eingelassen. Das ging nicht ohne Krisen und Auszeiten ab, aber es ging dann insgesamt doch erstaunlich gut und erstunlich lange gut.

    Ich bin mir sicher, dass Karajan seine einmalige "Erfolgsgeschichte" mit einem anderen führenden Orchester nahtlos hätte weiterführen können, wenn ihm dazu noch genügend Zeit geblieben wäre.

    Ich bin mir sicher, dass Karajan noch immer der führende Dirigent der Welt sein könnte, wenn Menschen nicht krank werden und sterben würden und die Welt um 1980 aufgehört hätte sich weiterzudrehen und seitdem still stehen würde... :D

    Es hat nicht sollen sein ……

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Habe die Anregung dieses Threads aufgegriffen, und ein wenig Karajan gehört. Sogar - was ich sonst eher nicht tue - auch mit Bach; weiterhin Strauss (Heldenleben), Berg, Webern, Wagner.


    Leider kann ich seinen Bach-Interpretationen weiterhin nur sehr wenig abgewinnen. Schade, ich hab's probiert. Auch der Strauss war mir zu "schön" (da bevorzuge ich beispielsweise Thielemanns Einspielung, die gerade im Hintergrund läuft). Manches mal scheint mir bei Karajan doch seine Art Filter zum Einsatz zu kommen, der mir zu viel nivelliert, was an Spannung und Dynamik vorhanden sein könnte (für mich: sollte).


    Wie viele andere schätze ich weiterhin sehr seine Musik der Neuen Wiener Schule, die ich immer wieder gern höre. Diese Einspielung ist in diesem Thread bestimmt vielfach genannt worden (ich war - Entschuldigung - zu faul zum scrollen).


    Auch auf diese beiden Wagners möchte ich nicht verzichten:



    Auch das ist nicht originell, ich weiß.


    Im Übrigen bin ich zu einer Zeit groß geworden (Jahrgang 66), als "Karajan" gleichbedeutend mit "Meisterdirigent" war. Das muss einem den Musiker nicht sympathischer machen, mir jedenfalls ging es so. Da war so viel Selbstdarstellung. Als Norddeutscher kommt man damit nicht so gut zurecht.


    Ich kann ihn mir deshalb auch nicht ohne "sein" Orchester, den Zirkus Karajani vorstellen. Das gehörte einfach zusammen - der Dirigent mit dem deutschen Orchester. Ein Dirigent wie ein Papst, unfehlbar und (nahezu) bis ans Lebensende im Amt (gut, Benedikt lassen wir hier mal besser außen vor).


    Und dennoch habe ich zuhause zwei Karajan-Biografien stehen. Warum? Weil er für mein Empfinden so typisch für die Nachkriegs-Bundesrepublik ist. Spannend, seinen Lebensweg mit all den Abkürzungen, Umwegen, Ausflüchten zu verfolgen.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • ein wenig Karajan gehört. Sogar - was ich sonst eher nicht tue - auch mit Bach; weiterhin Strauss (Heldenleben)


    Hallo, Lohengrins,


    darf ich fragen, welches "Heldenleben"?



    Es gibt da m.W. mindestens drei Studioproduktionen:



    von links nach rechts: Aufnahme 1959, 1975 & 1985 (digital),
    dazu gibt es noch diverse Live-Mitschnitte.
    Mir persönlich gefällt die älteste von 1959 am besten, sie ist zwar nicht aufgedonnert, aber von dem berühmt-berüchtigten "Schönklang", den man Karajan gern nachsagt, weit entfernt. Die Klangqualität ist trotz des Alters überdurchschnittlich gut. Es handelt sich um Karajans allererste Nachkriegsaufnahme für die DGG.


    Das gehörte einfach zusammen - der Dirigent mit dem deutschen Orchester.

    "Gesucht wurde eine Idealfigur, die nach Herkunft, Alter und Ausstrahlung den neuen Geist des alten Germany verkörpern sollte, ein Botschafter deutscher Kultur mit feinen Manieren, erlesenem Geschmack virilem Image und hohem technischen Standard. Gefunden wurde Herbert von Karajan", schreibt nicht ohne Ironie Klaus Umbach in seiner "Geldscheinsonate", und trotzdem trifft er damit exakt den Geist der damaligen Zeit um 1955, als man sich auf dem Berliner Thron als würdigen Furtwängler-Nachfolger schlicht niemand anderen ernsthaft vorstellen konnte. Und dass es ein Glückgriff war, hat sich ja nun in den mehr als 30 Jahren der Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Orchester eindrucksvoll bewiesen.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).


  • Definitiv, lieber musikwanderer. Du erwähntest noch Leppard in diesem Zusammenhang, ich werfe noch Marriner in den Ring. Von Sir Neville hatte ich zur selben Zeit die Nase voll wie von Karajan. Dabei ist Marriners Mozart- oder auch seine Haydndarstellung wunderschön!
    Ich erkenne an solchen Entwicklungen, dass ich mich doch damals dem Zeitgeist nicht entziehen konnte.


    Grüße
    Garaguly


    Ich sei in Eurem Bunde der Dritte. Nicht, was Karajans Bach betrifft, aber doch das Wiederbesinnen auf die Meister, die in (unserer?) meiner Jugend Stars waren. Sir Neville ist gefallen, Raymond Leppard ich füge noch Karl Münchinger hinzu, es wären gewiss noch einige mehr zu nennen. Sie standen damals für ein Form von Establishment, das Garaguly perfekt beschrieben hat. Es war gar nichtmal das Establishment als solches, weas mich auf die Palme trieb (Kommunardenwohnungen der 68er haben mich ähnlich abgestoßen wie später die chaotischen studentischen WG's); es war eher das Gefühl der Wahlunfreiheit. Es war eher der kategorische Imperativ, mit dem einem diese Meister serviert wurden, sie waren die Small-Talk Versicherung der Ahnungslosen. Denn unterhielt man sich mit Musikern oder anderen Fachleuten, dann kamen andere Namen ins Spiel. Dafür können freilich Karjan, Bernstein, Marriner und andere wenig. Und, Hand aufs Herz: es ist nicht die Aufführungspraxis, die Wirkung des aufgeführten Werkes ausmacht. Das ist mir aufgefallen, als Ton Koopmann mit den Händelschen Orgelkonzert in HIP auf den Markt kam und ich mir die CD-Box mit der unumstößlichen Sicherheit zulegte, dass das Ergenis wissenschftlich begründet das unumstößliche Richtige und von Händel gemeinte sei. Mein damaliger Schwiegervater hingegen hatte die alte Richter-Aufnahme im Bestand. Ich muß nun, glaube ich, nicht eigens erwähnen, welche der beiden Aufnahmen für mich bis heute unumstöliche Gültigkeit hat, sekundiert von der ebenfalls hinreissenden Aufnahme unter August Wenzinger.
    Soviel habe ich jedenfalls im Laufe der Jahre gelernt: der gute Karajan zu Lebenzeiten und vor allem auch danach mit soviel außermusikalischem Ballast beladen worden (allein das ganze politische Gerede um ihn wie auch über Karl Böhm et. alt. geht mir ausgesprochen auf die Nerven, weil es mit der Musik nichts, aber rein gar nichts zu tun hat) dass man sich rgelrecht davon frei machen muss, um zu verstehen, daß sich Karajans großer Hinterlassenschaft einige unglaubliche Perlen -und zwar über alle Perioden seines Schaffens verteilt- befinden.
    Liebe Grüße vom Thomas :hello:
    PS: Ado mit der Goldkante - gute Idee, ich suche derzeit Gardinen.

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • So ist das!

    Da ist aber ein Widerspruch zu obiger Aussage.


    Wenn dies ein ernst gemeintes Angebot war, wovon man ausgehen kann, dann kam dieses von den "roten Betonköpfen", denn ohne diese hätte die Staatskapelle Dresden ihm kaum ein solches erstgemeintes Angebot machen können. Und Karajan hat sich ja mit diesen "auseinandergesetzt" bzw. arrangiert, sonst gäbe es die wunderbaren Dresdner "Meistersinger" ja nicht. Und was hätte ihn an diesem Arrangement hindern sollen. Er hatte sich ja vor 1945 mit ganz anderen Leuten arrangiert...


    Werner Egk ist in der DDR auch sehr hofiert worden und hat es sich gerne gefallen lassen. Hätte sich Karajan also schon um 1970 mit den Berliner verkracht, hielte ich einen Wechsel nach dresden absolut für denkbar. Die "roten Betonköpfe" (solche Begriffe kommen dann meistens von der anderen Seite, wo auch reichlich Beton vorhanden war...) waren nämlich gar nicht so dogmatisch und hätten Karajan ALLES gestattet und ermöglicht, wenn Sie sich nur seiner als Aushängeschild hätten bedienen können (vgl. auch Felsenstein an der Komischen Oper Berlin, der auch Dinge durchsetzen konnte, die nirgends sonst in der DDR durchsetzbar waren, wie dass Westberliner auch nach dem Mauerbau weiterhin an der Komischen Oper Berlin weiterarbeiten kontnen, ohne deshalb DDR-Bürger werden zu müssen usw.)
    Ein anderer Österreicher, Otmar Suitner, hat sich übrigens in Dresden und dann mehr als ein Vierteljahrhundert lang an der Deutschen Staatsoper Berlin auf ein solches Engagement in der DDR eingelassen. Das ging nicht ohne Krisen und Auszeiten ab, aber es ging dann insgesamt doch erstaunlich gut und erstunlich lange gut.


    Entscheidend ist tatsächlich wohl nur die Frage, wie wichtig den Führern des Arbeiter- und Bauernparadieses dieser österreichische Adlige Heribert Ritter von Karajan (als der er geboren worden ist) gewesen wäre. Alleine davon ist abhängig, wie pragmatisch die roten Diktatoren in solchen Kulturangelegenheiten gewesen wären (in der Frage von Ausreisen ihrer eigenen Bürger in Richtung Westen waren diese Herrschaften ja im Allgemeinen recht unpragmatisch!) . Wäre Karajan 1956 in die DDR gegangen, wären sein Bekanntsheitsgrad und sein Wert als symbolischer Sieg des Ostens über den Westen im Wettstreit der Systeme noch nicht so groß gewesen als wenn dieser Schritt - sagen wir mal - 1972 vollzogen worden wäre. Ein 1972 in die DDR überwechselnder Karajan hätte wahrscheinlich, wie vom Stimmenliebhaber schon ausgeführt, alles von den Machthabern des DDR-Regimes verlangen können (außer natürlich den Abbau des "antifaschistischen Schutzwalls"). Das wäre ein Triumph für Ost-Berlin gewesen! Karajan war der Repräsentant der Klassischen Musik im Westen, sein Konterfei war Millionen von Menschen bekannt, die nichts mit Klassik am Hut hatten. Wenn der die (West-)Berliner Philharmoniker aufgegeben hätte, um in der DDR zu arbeiten (dauerhaft aufhalten müssen hätte er sich dort ja nicht), dann wäre das ein großer Propaganda-Coup für die DDR gewesen. Und ganz nebenbei hätte dieser Schritt sicher die Haltung der West-Linken zu Karajan, dem Klassik-Aushängeschild der Bourgeoisie, verändert. Wahrscheinlich würden die altgewordenen 68er seine Aufnahmen heute preisen. Von der Verachtung aus den Reihen der linken Kulturschickeria wäre er vielleicht verschont geblieben. :hahahaha::hahahaha:


    Grüße
    Garaguly

  • Entscheidend ist tatsächlich wohl nur die Frage, wie wichtig den Führern des Arbeiter- und Bauernparadieses dieser österreichische Adlige Heribert Ritter von Karajan (als der er geboren worden ist) gewesen wäre.


    Man war dankbar für jedes Aushängeschild, das man kriegen konnte. So viele waren das ja nicht, die von außen kamen. Mit Manfred von Ardenne hatte man ja aufgrund seines Adelsprädikats auch keinerlei Probleme und als Kard Eduard von Schnitzler bei seiner Übersiedlung von Westdeutschland in DDR Ulbricht anbot, das "von" in seinem Namen abzulegen, antwortete ihm dieser, dass er das mal schön bleiben lassen und das "von" behalten solle.
    Und dass die "Herrschaften" bezüglich der Ausreise ihrer Bürger gänzlich "unpragmatisch" waren, stimmt so auch nicht. Wer "freigekauft" wurde, kam anstandslos raus, egal, was er vorher "ausgefressen" haben mochte. Mit Recht und Unrecht hatte das nichts mehr zu tun, das war reiner Pragmatismus unter dem einzigen Gesichtspunkt der Devisenbeschaffung.
    Für den Fall, dass Karajan tatsächlich nach Dresden gegangen wäre, anzunehmen, dass die Westlinken ihn dann als ihren Abgott verklärt hätten, ist natürlich Unsinn. Das haben sie ja bei anderen, die in der DDR tätig waren und dort hofiert wurden (das Beispiel Werner Egk habe ich genannt), auch nicht getan. Da kommt man eben mit der völligen Politisierung diesens Themas, wenn man sich und anderen krampfhaft einreden will, dass Kritik an Karajan nie künstlerische, sondern eben nur politische Ursachen gehabt haben kann, nicht wirklich weiter, wie diese Annahme ja generell in die Irre geht. Der eher geglättete Schönklang Karajans, der Widersprüche eher übermalen als freilegen solle, hätte den Idealen derer, die Karajan nicht zu ihrem Abgott erklärten, ebensowenig behagt, wie wenn er - ab sagen wir mal 1972 - seine Aufnahmen in Dresden gemacht hätte (mit den "Meistersingern" als Türöffner vorneweg).
    Natürlich hätte er als Österreicher die Möglichkeit gehabt, in der DDR zu arbeiten (wie Suitner, Märzendorfer und andere es auch taten) - dass sein Ruhm und seine internationale Ausstrahlung dann nicht ganz so groß gewesen wären wie als Chef der Berliner Philharmoniker, ist auch klar. Insofern kann man den Ruhm von Dirigent und Orchester schwer trennen oder gegeneinander aufrechnen. Die Berliner Philharmoniker hatten Glück mit Karajan und Karajan Glück mit den Berliner Philharmonikern, die jeweils eine Seite profitierte von der anderen. :yes:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hallo,


    HvK hat den Berlinern über die langen Jahre einen Orchesterklang eingepflanzt, den sie bei Bedarf auch heute noch abrufen können. "Das hat bei mir richtig Gänsehaut erzeugt, als ich diesen Klang wieder hörte", erklärte Anne-Sophie Mutter.


    Es gibt nach wie vor Liebhaber dieses (über-)vollen Orchesterklanges, es gibt Werke, zu denen er sehr gut paßt, für mich ist es eine künstlierische Ära, die ihre Zeit hatte.


    Wie hat HvK am Ende seines Lebens in einer Doku gesagt: Er würde alles anders machen. Auf die etwas erstaunte Frage, ob ihm denn seine früheren Einspielungen nicht mehr gefallen würden, antwortete er: Das hat nichts mit Gefalllen zu tun, das ist abgeschlossen und vorbei.


    Nette Grüße


    Karl

  • HvK hat den Berlinern über die langen Jahre einen Orchesterklang eingepflanzt, den sie bei Bedarf auch heute noch abrufen können.

    Das halte ich für eine Legende. Nach 30 Jahren dürfte kaum noch ein Musiker mitspielen, der schon unter Karajan mitspielte.

    Das hat nichts mit Gefalllen zu tun, das ist abgeschlossen und vorbei.

    Das ist eine sehr vernünftige Einstellung!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich finde es ja auch schön (zumindest manchmal), wenn Dirigenten im Alter 80+ noch immer dirigeren und Gastdirigenten herumtingeln, da kann durchaus Grandioses bei herauskommen (ich denke ur an Günter Wand oder Kurt Sanderling, die ich beide mit 80+ noch häufig erlebt habe), aber eine feste Leitungsposition muss man in diesem Alter nun wirklich nicht mehr bekleiden.


    Ja, und nicht zu vergessen Herbert Blomstedt, geboren 1907!
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Ja, und nicht zu vergessen Herbert Blomstedt, geboren 1907!


    Nun, 111 Jahre ist er nun doch nicht alt, das wäre ja einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wert! Da ist Dir wohl ein falscher Fehler unterlaufen: Blomstedt wurde 1927 geboren. :D


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • das ganze politische Gerede um ihn wie auch über Karl Böhm et. alt. geht mir ausgesprochen auf die Nerven, weil es mit der Musik nichts, aber rein gar nichts zu tun hat


    Lieber Thomas,


    Du sprichst mir aus der Seele! Kein Mensch will wegleugnen, dass Clemens Krauss, Furtwängler, Böhm, Karajan etc. sich dem Nazi-Regime angebiedert haben, aber doch einzig und allein aus dem Grund, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Politisch haben sie sich alle, soweit bekannt ist, nicht betätigt, aber sie konnten ja nun nichts daran ändern, dass sie in eine solche Zeit hineingeboren wurden und nicht, wie Helmut Kohl, sich auf die "Gnade der späten Geburt" berufen konnten. Mir ist bis heute kein schlüssiger Beweis für ein schuldhaftes Verhalten zu Ohren gekommen. Wenn es welche gäbe, so wären sie längst genüsslich vor uns ausgebreitet worden.


    Es gibt Leute, und ihre Anzahl ist nicht klein, denen Karajans Eintritt in die NSDAP wichtiger ist als sein gesamtes künstlerisches Lebenswerk. Im (inzwischen eingestellten) Amazon-Forum hat sogar jemand die Behauptung aufgestellt, Furtwängler habe während der deutschen Besetzung in Paris in Nazi-Parteiuniform dirigiert. Nachfragen nach Beweisen in Form von Fotos oder entsprechenden Zeitungsberichten ist er ausgewichen und bis heute einen Nachweis schuldig geblieben, schlicht und ergreifend, weil es keinen gibt! Ich bezweifle sogar sehr, dass Furtwängler überhaupt eine SA-Uniform besessen hat. Wahr ist, daß Karajan in Paris vor einem Konzert das Horst-Wessel-Lied intoniert hat, schlimm genug, aber ein Verbrechen war es nicht. Mehr eine zähneknirschende Verbeugung vor einer Herrschaft, die seine Karriere von jetzt auf gleich hätte beenden können (was sie später ja auch gemacht hat). Es geht mir total auf den Zeiger, wenn so getan wird, als ob Böhm, Karajan & Co. ein KZ geleitet und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätten. Dabei sind sie nur ihrem Beruf nachgegangen, wie Millionen anderer Staatsbürger, die als Bäcker, Kaufmann oder Pfarrer tätig waren.


    In dem Zusammenhang erstaunt es mich immer wieder, dass niemand die Tatsache thematisiert, dass sowjetische Künstler vom Range eines Schostakowitsch, Gilels oder Richter Stalin-Preise und sonstige Staatsehrungen entgegengenommen haben. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass diese Künstler mit dem kommunistischen Zwangssystem einverstanden waren, aber sie haben sich angepasst, wie ihre deutschen Kollegen. Oder was war z.B. mit Kurt Sanderling, der bis kurz vor dem Ende das DDR-Unrechtsregime verteidigt hat? Niemand hat ihm m.W. nach der Wende deswegen an den Wagen fahren wollen. Nicht jeder ist zum Held geboren, und nicht jeder kann seinen Kulturkreis verlassen, ohne Schaden zu nehmen. Stefan Zweig ist dafür ein Paradebeispiel, während Thomas Mann der Spagat gelungen ist. Als Nachgeborene diesen Leuten deshalb Vorwürfe zu machen, gegen die sie sich nicht mehr wehren können, halte ich für selbstgerecht. Jeder sollte sich fragen, wie er sich denn damals verhalten hätte!


    Es wäre, 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, wirklich an der Zeit, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Ich würde anders urteilen, wenn diesen Künstlern schuldhaftes Verhalten, wie Denunzierung, Verleumdung oder Diskriminierung von Kollegen oder Freunden nachgewiesen werden könnte. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Da gibt es, als Gegenbeispiel, den bekannten Schauspieler Heinz Rühmann, der sich auf Druck des Regimes seiner jüdischen Frau entledigt hat. Karajan hat genau andersherum gehandelt: Er heiratete 1943, mitten im Krieg, die Halbjüdin Anita Gütermann, nicht ohne Folgen!


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

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