Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,
Die liebt' ich einst alle in Liebeswonne.
Ich lieb' sie nicht mehr, ich liebe alleine
Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine;
Sie selber, aller Liebe Wonne (Heine: „Bronne“),
Ist Rose und Lilie und Taube und Sonne.
(Ich liebe alleine die Kleine, die Feine,
Die Reine, die Eine, die Eine.)
Man kann diesen lyrischen Text und Schumanns Komposition darauf als von dem Geist, der lyrisch-musikalischen Grundaussage dieses Zyklus abweichend betrachten. Dietrich Fischer-Dieskau hat das getan, wenn er in seinem Schumann-Buch meint, dieses Lied „kontrastiere lebhaft“ zu dem „Morbid-Sentimentalen“ der vorangehenden Komposition, insofern der Text „etwas aus dem gegebenen Zusammenhang „herausfalle“ und hinzufügt: „Denn dieses atemlose kurze Glücksgeständnis will zur Bitternis und Wehmut des Zyklus nicht recht passen“.
Nun steht das Lied in seinem klanglichen Charakter und seiner musikalischen Aussage in der Tat in einem starken Kontrast zum vorangehenden und auch zum nachfolgenden. Gleichwohl würde ich nicht von einem „Herausfallen“ aus dem Zyklus sprechen. Schumann hätte dieses Gedicht Heines ja, wie er das im Folgenden immer wieder getan hat, in der Abfolge im „Lyrischen Intermezzo“ überspringen und zum nächsten, also zu „Wenn ich n deine Augen seh´“, übergehen können. Das hat er in diesem Fall aber nicht getan, und der Grund dafür ist eigentlich einsichtig.
Ihm geht es in seinem „Dichterliebe“-Zyklus um die liedmusikalische Gestaltung und dimensionale Auslotung des Themas „Liebe“, wie es in all seiner Vielfalt im lyrischen Ich bei Heine Gestalt annimmt. Und zu dieser Vielfalt gehört, neben all dem Sehnen, Seufzen und Leiden, auch das Sich-hinein-Steigern in das Bekenntnis von Liebe und den damit einhergehenden emotionalen Rausch. Das kann bei Heine zwar nur ein punktuelles Ereignis sein, eines, das nicht von Bestand ist und rasch wieder in sich zusammenfällt. Aber es gehört zu diesem Bild des lyrischen Ichs hinzu, wie es Schumann auf der Grundlage seiner Rezeption und Interpretation der Heine-Lyrik entworfen und zur inspiratorischen Quelle der Liedmusik seines Zyklus gemacht hat.
Das Berauscht-Sein in der Erfahrung von Liebe, das sich hier, im zyklischen Kontext betrachtet, diesseits aller potentiellen Erfüllung ereignet, drückt sich in einem wie von einem Rausch beflügelten Fluss der lyrischen Sprache aus, der auf ausdrucksstarke Weise immer wieder in seiner daktylischen Beschwingtheit über die kurzen metrisch-jambischen Phasen hinweg eilt und sich im Gestus der sich gleichsam überstürzenden Reihung entfaltet. Schumanns Liedmusik, die „munter“ vorgetragen werden will, greift diese spezifischen, die lyrische Aussage wesenhaft konstituierenden prosodischen Gegebenheiten des Gedichts nicht nur voll und ganz auf, sie potenziert sie sogar noch. Dies dergestalt, dass sie sich aus einem einzigen melodischen Motiv generiert, das sich wie atemlos in immer neuen Anläufen entfalten will, dabei aber zu keinen neuen Formen zu finden vermag und deshalb stets auf sich selbst zurückfällt.
Es ist das Wesen dieser rauschhaften Verzückung, das Sich um sich selbst Drehen des lyrischen Ichs in seiner Erfahrung von Liebe, das Schumann hier auf faszinierende, weil klanglich erfahrbar werdende Weise liedmusikalisch erfasst, umgesetzt und dabei Heines Lyrik in ihrer Sprachlichkeit und in ihrem poetischen Potential bis in die Tiefe ausgelotet hat. Indiz dafür ist die Tatsache, dass er den lyrisch-sprachlichen Gestus der Reihung intensiviert, indem er zum Prinzip der Wiederholung greift. Die Worte „Ich liebe alleine die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine, die Eine“ hat er, dabei aus dem sprachlichen Fundus Heines schöpfend, seiner Liedmusik hinzugefügt.
Das melodische Motiv, das die Liedmusik maßgeblich prägt, weil sich die Vokallinie in ihrer Struktur als eine Wiederholung und Fortentwicklung bei mehrfacher Wiederholung dieses Prozesses präsentiert, erklingt gleich am Anfang der auftaktig einsetzenden melodische Linie auf den Worten „Die Rose, die Lilie“ und wiederholt sich sofort bei den nachfolgenden Worten „die Taube, die Sonne“. Es besteht aus einem Quartsprung, einer Tonrepetition auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und einer Rückkehr zu dieser Repetition nach einem zwischengelagerten Sekundfall. Der melodische Akzent liegt dabei, in Gestalt einer leichten Dehnung, auf dem ersten und dem vierten deklamatorischen Schritt im jeweiligen Takt, so dass sich ein daktylischer Rhythmus ergibt, der das lyrische Metrum reflektiert. Die Harmonik Beschreibt dabei eine Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominate und von dort zur Dominante A-Dur, womit die Überleitung zur Wiederholung dieser Figur geschaffen ist. Fast durchweg bewegt sich die Harmonisierung der melodischen Linie des Liedes in dieser schlichten Weise im Raum der Tonika und ihren Dominanten. Nur wenige Male ereignen sich kurze Rückungen nach e-Moll, vor allem in der Melodik auf den Schumann dem Heine-Text beigegebenen Worten, und dies bezeichnenderweise bei den Worten „ich liebe alleine“ und „die Reine, die Eine“.
Dieser melodischen Figur wohnt in ihrem von Tonrepetitionen geprägten Auf und Ab im engen Intervall eine Sekunde in insistierend-nachdrücklicher Gestus inne, der in der Wiederholung eine besondere Eindringlichkeit entfaltet. Man empfindet das als Ausdruck der Emphase, mit der das lyrische Ich, so wie Schumann es verstanden wissen will, sein Liebesbekenntnis hinaus in die Welt sendet. Und wie wenn es dabei Atem schöpfen müsse, senkt sich die melodische Linie bei den Worten „Die liebt' ich einst alle in Liebeswonne“ aus der tonalen Ebene eines „Cis“ und „D“ in oberer Mittellage zu der eines „Fis“ in tiefer Lage ab. Dies freilich unter Beibehaltung des deklamatorischen Gestus, was sich darin zeigt, dass sich diese Absenkung der melodischen Linie ebenfalls in deklamatorischen Tonrepetitionen ereignet und dann, bei dem Wort „Liebeswonne“ einen expressiv gedehnten Fall beschreibt. Auf den Silben „Liebes“ liegt ein gedehnter Sekundfall.
Das bewegt sich noch im Rahmen des liedkompositorisch Üblichen. Auf dem zweiten Teil des Kompositums „-wonne“ ereignet sich jedoch melodisch Ungewöhnliches: Die Silbe „won“ erhält noch einmal eine Dehnung in Gestalt eines Sechzehntel-Sekundfalls und mündet auf der letzten Silbe in eine Staccato-Tonrepetition. Und sowohl die Harmonik, wie auch der Klaviersatz reflektieren und verstärken diesen Akzent, der als Ausdruck der tiefen Empfindungen des lyrischen Ichs diesem Wort melodisch verliehen wird. Die Harmonik beschreibt eine Rückung von einem wehmütig innigen e-Moll, das noch mehrfach in dieser Intention erklingen wird, über einen verminderten Akkord aus den Tönen „Gis-D-Fis“ hin nach A-Dur, was nun wiederum als harmonischer Auftakt zum neuerlichen Erklingen der melodischen Grundfigur auf den Worten „Ich lieb´ sie nicht mehr“ dient. Und im Klaviersatz ereignet sich ebenfalls Ungewöhnliches. Bislang bestand er aus einer viermaligen Aufeinanderfolge von Einzelton und bitonalem Akkord im Wert eines Sechzehntels. Im Bass herrschte Schweigen. Nun aber beschreiben die Sechzehntel dort eine Aufstiegsbewegung, während bitonale Sechzehntel-Terzen im Diskant dies auf einer fallenden Linie tun.
Auch wenn sich in dieser liedmusikalischen Gestaltung des Wortes „Liebeswonne“ große Emotionen des lyrischen Ichs ausdrücken, die melodische Fallbewegung auf dem zweiten Vers, in die das eingebettet ist, wirkt – und das auch in ihrer Harmonisierung – durchaus wie ein Atemholen der Liedmusik. Und die setzt nun mit dem dritten Vers erneut im emphatisch-insistierenden Gestus des Liedanfangs ein. Dabei ereignet sich wiederum Bedeutsames. Die melodische Linie führt die Grundfigur, mit der sie einsetzt, nicht zu Ende aus, sondern lässt sie bei dem Sekundfall auf den Worten „nicht mehr“ abreißen und in eine Sechzehntelpause münden. Das verleiht dieser lyrischen Aussage einen starken Akzent. Danach aber setzt die melodische Linie diese Entfaltung in ihrer Grundfigur in gewohnt intensiver Weise fort, indem sie wieder zweimal wiederholt, um am Ende, bei den Worten „Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine“ erneut in den Fall überzugehen, wie man ihn schon vom zweiten Vers her kennt, einschließlich der Dehnung in Gestalt eines Sechzehntel-Sekundfalls mit nachfolgender Tonrepetition auf dem Wort „eine“.
Die Vokallinie auf den Worten „Sie selber, aller Liebe Wonne“ mutet vom unmittelbaren Höreindruck her an, als finde die Melodik hier zu einer neuen Figur. Sie steigt aus dem Ansatz auf der tonalen Ebene eines tiefen „E“ in tatsächlich neuer Weise, nämlich mit zwei Dehnungen auf „aller“ und „Liebe“ in mittlere Lage empor. Aber dann, mit dem wieder in eine Repetition mündenden Sechzehntelfall auf dem Wort „Wonne“ kehrt sie wieder zu einem alten Gestus zurück und beschreibt auf den Worten „Ist Rose und Lilie und Taube und Sonne“ die melodische Grundfigur. Dies allerdings in einer gleichsam ausgeweiteten, in der Expressivität gesteigerten Gestalt. Die Sprung- und Fallbewegungen, die sich im melodischen Original der Figur über das Intervall einer Sekunde ereignen, nehmen nun das einer Terz und sogar einer Quarte ein. Die Worte „Lilie“ und „Taube“ entfalten auf diese Weise in ihrer Wiederkehr eine stark gesteigerte und darin das Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in sein Liebesbekenntnis reflektierende musikalische Ausdruckskraft.
Und dieser Haltung des lyrischen Ichs entspringt auch die melodische Linie auf den der Liedmusik von Schumann beigegebenen Worten. Sie mutet wie eine emphatische Steigerung jener an, die auf dem letzten Original-Heine-Vers liegt. Bis zu den letzten Worten, nämlich der Wiederholung von „die Eine“ bewegt sie sich nur in deklamatorischen Tonrepetitionen, wobei bei „alleine“ zunächst ein Quartsprung zur Ebene eines hohen „E“ erfolgt, sich danach ein Quintfall zur Ebene eine „A“ in mittlere Lage ereignet, und nach einem neuerlichen Quartsprung beschreibt die melodische Linie wieder einen Quintfall. Die Fallbewegungen drei Fallbewegungen enden also auf einer sich jeweils um eine Sekunde absenkenden tonalen Ebene, und das bewirkt, dass der nach einem Terzsprung einsetzende melodische Bogen auf der Wiederholung der Worte „die Eine“ eine starke Expressivität entfaltet. Zweimal liegt auf dem Wort „Eine“ eine Dehnung. Zunächst ist es ein Sechzehntel-Sekundfall auf der Silbe „ei“, dann aber wird daraus eine ritardando auszuführende lange Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels, das über einen Sechzehntel-Sekundfall in einen Quartfall übergeht, so dass die melodische Linie auf dem Grundton endet. Die Harmonik beschreibt hierbei eine Rückung von der Dominante in die Tonika A-Dur.
Die ohne eine Pause ruhelos, rasch und wie getrieben dahineilende, dabei nicht einmal eine halbe Minute in Anspruch nehmende und sich in der Emphase gegen Ende hin steigernde melodische Linie hat zur Ruhe gefunden. Das sechstaktige Nachspiel wirkt mit seinen aus dem sprunghaften Wechsel von Einzelton und zwei-, bzw. dreistimmigen Akkorden bestehenden Grundfiguren, mit denen es durchweg die melodische Line begleitete, nun, als wirke der diese antreibende Geist der Hektik in ihm noch fort, wobei die Harmonik permanent zwischen der Subdominante und der Tonika moduliert, bis dann das Klavier auch zur Ruhe finden kann: In Gestalt der Aufeinanderfolge eines jeweils fünfstimmigem A-Dur- und D-Dur-Akkords.