Ludwig van Beethoven - Klavierkonzert Nr 1 in C-dur op 15


  • Nachdem ich dieses Konzert gehört habe - eine unbestreitbar schöne Aufnahme - kam mir Folgendes in den Kopf. Stefan Zweig sprach einst vom deutschen Kaiserreich vor seinem Untergang im 1. Weltkrieg als dem (illusionären natürlich) "goldenen Zeitalter der Sicherheit". So hört sich dieser Beethoven für mich an: Als durch und durch gediegene, "bürgerliche" Musik, bei der man sich ruhig und bequem im Sessel zurücklehnen kann, so als könne einem selbst und der Welt gar nichts passieren. Eine durch und durch "seriöse" Klassizität, die nichts Aufrüttelndes, Beunruhigendes mehr hat. Man glaubt kaum bei Eschenbach/Karajan, dass Ludwig van Beethoven in Nachbarschaft so unruhiger Zeiten wie der französischen Revolution lebte und sogar einmal erwägte, seine "Eroica" Kaiser Napoleon zu widmen. Und wenn schon eine Widmung, dann denkt man bei diesem Vortrag eher an Kaiser Wilhelm. Besonders dem Finale fehlt finde ich jeglicher aufrührerische Stachel. Das ist alles dermaßen humorlos gespielt, ohne den Anflug von Kauzigkeit, von Exzentrizität, der zu Beethoven eben auch gehört. Gerade zu diesem. Ich komme mir da vor, als sitze ich in einem bürgerlichen Wohnzimmer mit einem großen die Wände füllenden Brockhaus-Lexikon im kostbaren Leder-Einband im Hintergrund.


    Aber fangen wir mit dem Anfang an. :D Wie schon als Begleiter bei Weissenberg kann ich Karajan auch hier schlicht nicht ertragen! Mein Gott, dass ist nicht das 5., sondern das 1. Beethoven-Konzert!!! Bei Karajan gibt es keine jugendliche Frische, nein, die Musik hört sich - schönfärberisch weichgespült - an wie geschaffen für einen gesetzten älteren Herrn, der es sich auf dem Plüschsofa bequem macht. Alles perfekt musiziert natürlich, aber eben mit dem Habitus des "Gesetzten". Warum diese Aufnahme so geschätzt wird, versteht man allerdings, wenn Eschenbach einsetzt. Das ist einfach ungemein natürlich musiziert, ohne jegliche Forcierung und intelligent gestaltet. Alles ist wunderbar stimmig was das Klavier betrifft, ja aber... bis die Kadenz kommt. Dann auf einmal zieht Eschenbach plötzlich das Tempo merklich an! Genau damit zeigt sich schließlich, dass diese kommode Gangart eine ästhetisierende Glättung ist. Ich bewundere Svajotslav Richter, dass er sein "langsames" Konzept, wo er es verfolgt, auch gnadenlos konsequent durchsetzt. Genau diesen Mut hat Eschenbach letztlich nicht. Das, was er bewusst zurückhält in diesem Satz, die virtuose Brillanz des Konzertierens, auf sie will er in der (wirklich famos gespielten!) Kadenz dann doch nicht verzichten. Vielleicht kommt so aber unfreiwillig heraus: So geht es letztlich doch nicht! Das Virtuos-Konzertante, eigentlich gehört es unverzichtbar zu diesem Satz, es darf und soll nur nicht sein.


    Der langsame Satz ist mir eindeutig zu behäbig, von Karajan aus aufs betonte Schönspielen abzielend. Da wird Beethoven als Beethoven "zelebriert", so dass er Beethovenscher klingt als er eigentlich ist. Man hat das Gefühl, es wird hier doch etwas "Weihrauch" ausgeschüttet, etwas hineinzugeheimnissen versucht, wo einfach kein Geheimnis ist. Es ist dies aber nun mal kein später Beethoven, sondern "nur" der frühe. Und die Grenze zur Banalität mit den "Hm-Tata"-Begleitbässen (bei 8 Minuten auf der CD), sie wird leider leicht überschritten wegen des betuhlichen, behäbigen Vortrags. Beethovens Kunst, das Banale eben doch nicht banal erscheinen zu lassen, verlangt diese gewisse Läuterung ins Abstrakte und Strenge, die hier fehlt.


    Eine zweifellos sehr schöne Aufnahme und vom Pianistischen her hervorragend. Solist und Dirigent haben sich dabei zu dieser Karajan-Ästhetik in perfekter Übereinstimmung verständigt. Nur ist das letztlich kein früher, frischer und frecher Beethoven, sondern ein bürgerlich monumentalisierter. Mir fehlt da vor lauter ergrauter Sekurität das Aufrüttelnde, Exzentrische - der erfrischende, jugendlich-unbedarfte Humor.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    wie bedauerlich, dass Du meine Begeisterung für die Aufnahme nicht teilen kannst ;)
    Du beschreibst und bewertest gleichzeitig auf Deine Weise den eigentlich gleichen "Gegenstand" wie ich, aber ich bewerte es tatsächlich genau anders herum.


    So hört sich dieser Beethoven für mich an: Als durch und durch gediegene, "bürgerliche" Musik, bei der man sich ruhig und bequem im Sessel zurücklehnen kann, so als könne einem selbst und der Welt gar nichts passieren. Eine durch und durch "seriöse" Klassizität, die nichts Aufrüttelndes, Beunruhigendes mehr hat. Man glaubt kaum bei Eschenbach/Karajan, dass Ludwig van Beethoven in Nachbarschaft so unruhiger Zeiten wie der französischen Revolution lebte und sogar einmal erwägte, seine "Eroica" Kaiser Napoleon zu widmen. Und wenn schon eine Widmung, dann denkt man bei diesem Vortrag eher an Kaiser Wilhelm. Besonders dem Finale fehlt finde ich jeglicher aufrührerische Stachel. Das ist alles dermaßen humorlos gespielt, ohne den Anflug von Kauzigkeit, von Exzentrizität, der zu Beethoven eben auch gehört.


    Da ist eine Menge dran, aber finde es gerade positiv, dass jener aufrührerischer Stachel und die beethovensche Exzentrizität einer serösen Klassizität gewichen ist. Den Humor Beethovens kennt man doch schon - wer von den Kennern kennt denn dieses Stück nicht mit jedem Ton?
    Bei Michelangeli/Giulini ist es eigentlich ähnlich. Von Humor höre ich da auch nichts, wohl aber von einer Klassizität, die bei denen allerdings herb-maskuliner und weniger kultiviert/abgeklärt daherkommt. Wenn da möglichweise Kauzigkeit enthalten ist, dann schon die Art eines älteren Herren, sozusagen eines alten "komischen Kauzes", der sich öfter mal räuspert, sich nicht dreinreden lässt und sich niemals von seinen eigenwilligen, und immer sehr gradlinigen "So und und anders-Ansichten" abbringen lässt ( bei Herren ab einem gewissen Alter kommt das ja zum Altherrenhusten oft dazu.....).


    Den revolutionär aufrührerischen Beethoven mag ich eigentlich immer weniger hören, es sei denn, der Gulda langt hin ( nicht jedoch Korstick).


    Es gibt da auch viele Aufnahmen im symphonischen Bereich, bei der mit den alten Instrumenten geknallt und gefetzt wird, dass auch der letzte Zuhörer nun endlich glaubt, wie schockierend der vulkanische Revoluzzer Beethoven doch sei.


    Aber schockiert uns das noch, die wir eine ganz andere Retrospektive auf die Musikgeschichte haben? Ich finde eher nicht.
    Am wenigsten schockiert es mich, wenn einer mit Beethovennoten auf sein drahtiges Hammerklavier eindrischt. Was früher vielleicht noch ein Schock war, wirkt dann heute eher bemüht, wenn nicht gar lächerlich.


    Das ist es doch, was wir beide bei der Live-Interpretation der letzten drei Mozartsymphonien unter Harnoncourt übereinstimmend feststellten: die Ideen und das Verständnis der aus dem Barock kommenden sprechenden Klangrede sind zwar vorzüglich und sehr richtig, aber die Heftigkeit der Akzente und der gewollten Schockeffekte sorgt irgendwann dafür, dass man es als angestrengt, vorhersehbar (man kennt ja die Werke in und auswendig) und eben gar nicht mehr schockierend empfindet.
    Man will es dann lieber in einer etwas sublimierten, weniger rohen Fassung hören.
    Ob es dabei dramatische Schocks oder nur (derber) Humor ist, scheint mir egal zu sein. Jede Pointe eines guten Witzes lebt davon, dass etwas Unerwartetes, also wenigstens ein bisschen Schockierendes kommt.


    Bei Karajan gibt es keine jugendliche Frische, nein, die Musik hört sich - schönfärberisch weichgespült - an wie geschaffen für einen gesetzten älteren Herrn, der es sich auf dem Plüschsofa bequem macht. Alles perfekt musiziert natürlich, aber eben mit dem Habitus des "Gesetzten". Warum diese Aufnahme so geschätzt wird, versteht man allerdings, wenn Eschenbach einsetzt.


    Auch hier höre ich das anders. Den typische Karajanschen Legato-Klangstrom, den er z.B. beim zweiten Satz der 7. von Beethoven ausbreitet, kommt hier noch m.E. nicht zur Anwendung. Es wird schon noch deutlich und angemessen artikuliert. Allerdings stimmt es, dass die Orchesterkultur schon hier auf ein extremes Maß der Perfektion und der Klangschönheit gebracht wurde. Für mich ist das einfach ein Hochgenuss so etwas zu hören. Dass es langweilig oder uninspiriert klänge, kann ich nicht finden. Innerhalb dieser perfektionierten Klangwelt steckt viel Leidenschaft und Energie, die allerdings in meisterlich klassischer Manier beherrscht und realisiert wird.
    Wäre dem nicht so, dann würde es mich wohl nicht so berühren.
    Wenn man es denn manuell und künstlerisch-musikalisch kann ( manche Orchester und Dirigenten erreichen so ein High-End-Niveau in der Spielkultur vielleicht erst gar nicht), dann hat so etwas den großen Vorteil der Langzeittauglichkeit und ist damit für das Medium CD usw. besonders geeignet. Es ist ja eine andere Situation, wenn man - so wie wir- dieses Konzert x-fach aus allen verschiedenen Aufnahmen kennt, oder wenn damals der gute Beethoven es vor einem -vielleicht in der Tat geschockten oder durch den Humor erheiterten- Publikum zum ersten Mal aufführte.


    Es stimmt schon: Hier kannst Du Dir gleichsam zum Hören eine gute Flasche Wein aufmachen, das Licht im Abhörraum herunterdimmen und Dich im Bequemsessel zurücklegen. Ich finde, gerade dann öffnet man seinen Geist und nimmt das bei dieser Einspielung irgendwie auch schon "vergeistigte" Konzentrat des einstmals der Revolution nahestehenden Komponisten in seiner Substanz umso intensiver wahr. Wenn man also abgeklärt und klassisch ausgewogen spielt, dann ist die Gefahr der Langeweile beim Hörer natürlich immer gegeben. Hier nehme ich jedoch eine hohe Konzentration und Innenspannung wahr, die den Blick auf die zeitlose Essenz des sich vom Komponisten etablierenden Kunstwerkes in Kombination mit der beherrschten Hochkultur in besonderer Klarheit freilegt.
    Man kann es ja auch andersherum sehen: Wenn man die ganzen "Witze" und den Sturm und Drang herauspielt ( wie z.B. auch Argerich bei der DG-Aufnahme ) dann kann einem dieses "Schau- mal hier und schau mal da" eben jenen Blick auf die genannten Essenz des Kunstwerkes verstellen.


    Man wird oberflächlich erregt und beeindruckt....aber wie lange hält das an? Das wird jeder Hörer individuell antworten. Ich für meinen Teil bin froh, wenn ich nach x-"Revolutionseinspielung" mit Beethovenmusik ( kenne jetzt keine reinrassige mit dem 1. Klavierkonzert, weil ich die mir eh nicht hole, aber eben andere Sachen, wie z.B. Symphonien mit Gardiner...) endlich wieder etwas hören darf, dass auf jenes "schau mal, wie das damals doch gewirkt haben muss" verzichtet. Ich lebe ja heute und nicht damals...


    Wie ich bereits in meinem ersten Beitrag hierzu schrieb, hätte ich noch als Jugendlicher oder vielleicht sogar als Mann unter 40 eine fetzig-feurige Interpretation bevorzugt, bei der die Funken fliegen. Doch das langweilt mich heute eher.....


    Dieser Text ist nun eindeutig der Versuch, meinen aktuellen subjektiven Geschmack diesbezüglich selbst irgendwie zu verstehen, zu begründen und zu formulieren. Meine oben angeführte Empfehlung halte ich auch mehrmaligem Hören aufrecht, wobei ich ja auch dort schon schrieb, dass es die Einspielung je nach Hörertyp recht unterschiedlich aufgefasst werden dürfte.


    LG :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • wie bedauerlich, dass Du meine Begeisterung für die Aufnahme nicht teilen kannst ;)
    Du beschreibst und bewertest gleichzeitig auf Deine Weise den eigentlich gleichen "Gegenstand" wie ich, aber ich bewerte es tatsächlich genau anders herum.

    Lieber Glockenton,


    das ist ja gerade spannend! Es ist ja nicht so, dass ich die Qualitäten dieser Aufnahme nicht schätzen würde. Nur in ästhetischer Hinsicht finde ich das dann doch sehr diskussionswürdig. Wie schon in seiner Aufnahme mit Weissenberg halte ich die Karajan-Ästhetik bei der orchestralen Einleitung für Fehl am Platze. Hör Dir mal an, wie (vorzüglich, finde ich!) Eschenbach als Dirigent das macht - als Begleiter von Lang Lang (zu hören bei jpc):



    Eschenbach dirigiert das mit einer fast schon tänzerischen Beschwingtheit. Das ist nämlich nun mal ein Marsch. Generell finde ich: Die "Schwäche" von Karajan ist sein Hang zur sensualistischen Schönfärberei. Nicht umsonst warnen die Klassiker unter den Ästhetikern davor, das Schöne mit dem Angenehmen zu verwechseln. Karajan ist dieser Verwechslung für meinen Geschmack leider allzu oft erlegen. So auch hier: Da wird versucht, einen angenehm "wohligen" Klang zu erzeugen und damit dem Marsch seine Markigkeit und Beschwingtheit zu nehmen, damit er irgendwie deutsch-gemütlich und feierlich klingt. Aber ein Marsch ist nun mal nicht "gemütlich". Ich kenne keine andere Aufnahme, wo mich das Orchester so stört wie hier Karajan. Mehr Grazie und weniger Schönfärberei hätte ich mir bei Karajan gewünscht.

    Da ist eine Menge dran, aber finde es gerade positiv, dass jener aufrührerischer Stachel und die beethovensche Exzentrizität einer serösen Klassizität gewichen ist. Den Humor Beethovens kennt man doch schon - wer von den Kennern kennt denn dieses Stück nicht mit jedem Ton?
    Bei Michelangeli/Giulini ist es eigentlich ähnlich. Von Humor höre ich da auch nichts, wohl aber von einer Klassizität, die bei denen allerdings herb-maskuliner und weniger kultiviert/abgeklärt daherkommt.

    Was steht im Wikipedia-Artikel:


    Das ganze Rondo erinnert in seiner humorigen Art und Weise an Schlusssätze Joseph Haydns, weist jedoch schon die für Beethoven typischen schärferen Akzente auf.


    Worin besteht der Humor? Genau in diesen scharfen Akzenten! Stellen wir uns vor, ein Sänger sollte das singen! Das ginge gar nicht! Das Melodische, Gesangliche wird von Beethoven auf ziemlich verrückte Weise "zerstört", die melodischen Bögen werden schon fast schockhaft aufgebrochen. So wunderbar Eschenbach das spielt, so muss man doch sagen, dass er hier auf der Linie von Karajan liegt, nämlich der einer ästhetisierenden Glättung. Wo Beethovens Humor nämlich die melodischen Rundungen durch Ecken und Kanten aufbricht, werden von Karajan/Eschenbach genau diese Ecken und Kanten rund geschliffen, es wird "melodisiert". Genau da zeigt sich die Größe von ABM. Er selbst ist ja ein großer "Melodiker" (bei einem Italiener auch nicht verwunderlich :D ). In der Probe zu der Aufnahme mit den Mozart-Konzerten singt er mit seiner sonoren Bassstimme Cord Garben vor, wie er den Mozart dirigieren soll. Aber ABM versteht Beethovens "Klassizität" und klassische "Ästhetik" hier völlig anders als Karajan: nämlich im Sinne des Plastischen, Eidetischen, der puristischen Klarheit. Da werden die Kontraste eben nicht gemildert, sondern in ihrer ganzen Schärfe herausgespielt. (Und das in höchstem Sinn kultiviert, so subtil ausgehorcht und feinzeichnend im Detail spielt den langsamen Satz niemand, auch Eschenbach nicht!) Und damit erscheint auch Beethovens Humor, "subversiv" das Melodische durch amelodische Akzente und "Stachel" sozusagen zu zerstören. Genau so zeigt er sich als Revoluzzer, denn das traditionelle Musikverständnis, dass Musik "Melos", "Gesang" ist, wird hier spielerisch-frech aufgekündigt. Da muss ich einfach sagen, dass die Eschenbach/Karajan-Aufnahme, so schön sie ist, hier Beehoven doch ein wenig zu sehr ins Harmlos-Gemütliche transformiert. Dass dieses Konzept eben dann doch nicht 100% stimmig ist, zeigt sich an kleinen Unstimmigkeiten wie dem Anziehen des Tempos in der Kadenz des 1. Satzes, der gewissen Langatmigkeit muss ich doch sagen des 2. (wirklich empfindsam gespielt im Geist des 18. Jhd. ist das dann nämlich doch nicht wie bei Solomon z.B. (die Aufnahme kriege ich noch!), sondern auch ästhetisierend) oder aber im Rondo-Finale. Merkwürdig nämlich, dass dieser Satz eben dann, wenn man ihm die Ecken und Kanten nimmt, "technischer" klingt als er ist, obwohl Eschenbach alles andere als ein virtuos-überdrehtes Tempo spielt.


    Die Argerich-Aufnahme gefällt mir auch weniger!


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich habe eben noch einmal ein wenig Vergleich gehört: Karajan mit Weissenberg ist noch schrecklicher! Mit Eschenbach ist die Watte bei der Orchestereinleitung wenigstens noch ein bisschen mit Zuckerguss erhärtet, zeigt also ein wenig Stabilität, mit Weissenberg ist dieser "Marsch" wirklich ein Watteberg - Karajan-Plüsch, wo ich leider sagen muss: zum Weglaufen! Mir gefällt Eschenbach auch deutlich besser als Weissenberg, denn anscheinend hat sich Weissenberg Karajans Konzept total untergeordnet, was seinem Naturell eigentlich widerspricht. Eschenbach dagegen gelingt es, seiner eigenen Linie treu zu bleiben. Weissenberg war wohl zu eng mit Karajan befreundet und zollt dem Tribut (was man z.B. auch bei der Aufnahme des Tschaikowsky-Konzertes merkt). (Weissenberg war ja der einzige Solist, der bei den Karajans privat übernachten durfte!) :D Zum Vergleich habe ich auch nochmals Geza Anda herangezogen: Die beiden Anda-Aufnahmen unterscheiden sich merklich! Die Studio-Aufnahme mit Galliera hat die Anmut eines Mozart-Konzerts. Interessanter Weise nimmt Anda in der Aufnahme aus dem SWR, wo er selber dirigiert, das Allegro eine dreiviertel Minute langsamer, hat also ein ähnlich gemächliches Tempo wie Karajan. Nur wattiert er eben nicht! Hier, in der SWR-Aufnahme, artikuliert er auch plastischer schärfer, der langsame Satz ist empfindsamer und der Finalsatz herber - also hier klingt der Beethoven deutlich weniger "mozarthaft" als in der Studioaufnahme. Bei Anda fällt die Kadenz auch nicht aus dem (Tempo-)Rahmen wie Eschenbach, weil er klug einfach eine andere wählt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    die Eschenbach-Aufnahme mit dem Lang Lang-Pianisten habe ich mir auf Spotify ( kaufe so selten Lang Lang....) angehört, danach bin ich noch einmal zu Eschenbach/Karajan gewechselt.


    Neben der Tatsache, dass die erstgenannte neuere Einspielung für mich vor allem eine Eschenbach-CD mit solidem Orchesterspiel ist, viel mir hinsichtlich des Pianisten kaum etwas auf. An einer Stelle lässte er das Pedal liegen und macht so eine Impressionismus-Effekt in den oberen Lagen - ein völliger Stilbruch. Obwohl Eschenbach ihn ganz gut disziplinieren konnte, musste dann wohl doch an einer Stelle der Schalk mit ihm durchgehen. Ansonsten fiel mir bei ihm kaum etwas etwas auf, was seinen Ruf als weltbesten Pianisten, der sogar schon vor Obama spielte, irgendwie rechtfertigen könnte. Aber falsche Töne sind nicht dabei - das muss man erst einmal hinbekommen.


    Eschenbach macht das als Dirigent in der Tat nicht schlecht, aber nun auch nicht außerordentlich bemerkenswert. Beim Orchestervorspiel des ersten Satzes scheint ihm die zweiteilige Aussage des Themas manchmal geradezu in zwei Teile zu zerfallen, obschon sie durchaus zusammenhängen sollte.
    Wenn es aber um sprechende Phrasen mit Gestik, Bewegungsrichtung, Satzteilen, verschiedenen emotionalen Ausdrucksgehalten von Phrasengedanken ("Sätzen" im Sinne der Klangrede, also nicht erster Satz, zweiter Satz etc...) , um Interpunktion und einzelnen "Worte" gehen soll, dann ist man als Hörer ganz sicher bei Harnoncourt und dem COE am besten aufgehoben. Da wird einem alles dargelegt, was tatsächlich auch in den Noten aus"gesagt" wird.
    Bei dieser Aufnahme finde ich z.B. beim ersten Satz allerdings das Orchestervorspiel vor dem Einsatz des Pianisten am interessantesten.
    Wenn man nun aber das Bedeutungskonzept Harnoncourts durchzieht, dann wird es im Laufe des ersten Satzes etwas schwer, nicht den Faden zu verlieren, d.h. der Gesamtzusammenhang steht - vielleicht je nach Hörer- in Gefahr, etwas aus dem Blickfeld zu geraten.
    Nichts gegen den hervorragenden Pianisten, aber ich bin mir fast sicher, dass diese Aufnahmen zu Traumaufnahmen geworden wären, wenn sie mit Gulda stattgefunden hätten. Der hatte so etwas ganz Besonderes, was mit dem Dirigenten Harnoncourt für mich immer - bei Mozart- hervorragend harmonierte.


    Auch das sehr lebendige Dirigat von Rattle ( Brendel/Rattle/WPO) finde ich hier im Zusammenspiel mit den exquisiten Wiener Philharmonikern noch ansprechender als Eschenbachs dirigierte Version, wenngleich ich mich frage, ob das Tempo nicht doch etwas schnell wäre. Es wirkt einerseits wie ein Feuerwerk, dann aber zwischendurch stellenweise hektisch.


    An der Eschenbach-Karajan-Aufnahme finde ich so gut, dass sie ein klares Konzept verfolgt und das auch sehr gekonnt umsetzt.
    Diese Aufführung unterscheidet sich stark von allen anderen.


    Als ich nun den Dirigenten Eschenbach im Ohr hatte und zur alten Eschenbach-Karajan-Aufnahme zurückkehrte, da sind mir in der Tat diese Dinge wie "Melodisierung" usw. viel stärker als vorher aufgefallen, wenngleich ich hier nicht finde, dass Karajan seinen Klangstrom wirklich in voller Ausprägung spielt, wie er es z.B. in den 70ern besonders stark pflegte zu tun. Hier denke ich an seine zweite analoge Aufnahme der Brahms-Symphonien ( DG), oder vor allem auch die Bruckner-Aufnahmen aus diesen Jahren bei der DG. Da wirkt es wiederum erholsam, wenn man von diesen Einspielungen zu Jochum oder Wand wechselt.


    Doch zurück zu Beethoven.
    Es ist, so glaube ich, auch eine Frage, wie Du als Hörer an die Aufnahme herangehst. Durch das Hören von Vergleichsaufnahmen bildet sich eine gewisse Erwartungshaltung aus, die dann ggf. enttäuscht wird.
    Natürlich kannte auch ich dieses Werk sehr gut, habe es aber seit Monaten nicht mehr gehört, bin also ohne gewisse Klangbilder, die ich ihm Ohr hatte an die Einspielung herangegangen.
    Von dem ach so bekannten Werk war ich auf einmal angerührt und neu fasziniert, was mich schon verwundern und begeistern konnte.


    Es mag daran liegen, dass die Musik bei Karajan mehr singt als "bellt" ( obwohl es ggf. damit nicht immer Beethovens ursprünglichen Wünschen entspricht), dass die klangliche Hochkultur immer vorhanden ist und der Pianist einfach unglaublich kultiviert und ohne Effekthascherei aufspielt. Wenn ich mir das also besonders gerne anhöre, dann in dem vollen Bewusstsein, dass es der Komponist sich wohl anders gedacht haben wird.
    Ich mag es aber zunehmend, es in dieser unforcierten, ausgewogenen und klangschönen Spielweise zu hören.
    Gegenüber dem, wie man heute Beethoven häufig spielt ( ich höre da auf NRK immer so aktuelle Aufführungen) empfinde ich das als wohltuend und geradezu herrlich anachronistisch.
    Wenn man heute z.B. meint, die Harnoncourt-Spezialität mit den Blechbläsern nachmachen zu müssen ( Naturtrompeten in moderner Stimmung im modernen Orchester) oder wenn die Pauken so ein barock-trockenes peng bei Beethoven haben müssen, dann ist mir so eine Eschenbach-Karajan-Einspielung wie eine Oase. Bei aller Wertschätzung für Harnoncourts ohrenöffnende Wirksamkeit habe ich diesen Mischklang aus Barocktrompeten und modernem Orchester immer als zweifelhaft und irgendwie als Stilbruch empfunden.


    Vielleicht ist ja die Schoondervoert-Aufnahme am dichtesten beim eigentlichen Beethoven. Er verzichtet im ersten Satz wohltuend auf irgendwelche HIP-Rasereien oder -Knallereien.
    Der Bläserklang im ersten Orchestervorspiel des ersten Satzes erinnert viel stärker als bei den üblichen Einspielungen an eine Marschandeutung, man hört in den Orchesterteilen ein Continuo spielendes Hammerklavier und eben jenes Hammerklavier als Soloinstrument.
    Das hat durch die solistische Besetzung des Orchesters durchaus viele kammermusikalische Reize, die z.B. Ausdrucksgehalte in der Bratschenstimme offenbart. Über so manches Detail kann man diskutieren, wie etwa die Verweiblichung des ersten Klaviereinsatzes im ersten Satz mit langen Barockvorhalten. So ein Hammerklavier hat interessante Klangfarben, wenn der Pianist mit der linken Hand in die unteren Lagen geht und harmoniert vor allem klanglich mit dem Rest des Orchesters, ja er mischt sich vom Obertongehalt her recht gut.


    Das gilt natürlich auch für den Steinway mit dem normalen Orchester, wobei der sich nicht mischt, aber dennoch insgesamt harmoniert, jedoch auch nach stärkeren Streicherbesetzungen verlangt.


    Es ist eben eine Frage, wie man es denn als Hörer gerne hätte. Jetzt, wo ich gerade die Schoonderwoerd-Einspielung höre, finde ich das auch sehr hörenswert, kann aber immer noch nicht finden, dass sein Klavier so besonders gut sänge. Das übernehmen dann andere Instrumente, z.B. die erste Geige. An einer Stelle im zweiten Satz deutet er eine Stelle wirklich mit derben Humor und spielt geradezu "billig" eine Hum-ta-ta Walzerbegleitung. Nun ja, ich weiss nicht, ob Beethoven das meinte, aber selbst wenn, dann reicht es mir, wenn der Witz einmal erzählt wird.
    Im dritten Satz gibt es einige Bogenstriche, Artikulatione und Akzente, die gegen den Strich gehen, aber aufgrund des kleinen Instrumentariums trotzdem nicht bellend-aufgesetzt sondern ausgewogen klingen. Das ist schon eine sehr interessante Aufnahme. Mir gefällt auch wie gesagt das phantasievolle Spiel der solistischen Streicher. Wer sich jedoch eine symphonisch klingenden Beethoven wünscht ( vielleich mit traditionellen Aufnahmen der Beethoven-Symphonien im Ohr) der wird hier garantiert vollkommend ablehnend reagieren.


    In der Karajan-Eschenbach-Aufnahme sind die Erfahrungen des Musizierens mit späteren romantischen Stilen usw., sowie mit so manche Interpretationstraditionen enthalten, während Schoondervoert radikal davon Abstand nimmt.
    Ich hätte früher immer gesagt, dass es richtig sei, wenn man diese ganzen Traditionen über Bord wirft und sich "mit den Mitteln der Zeit" den Werken neu nähert. Da es nun aber so viele hervorragende Aufnahmen in für uns "gewohnter Manier" mit einem romantischen Klaviervirtuosen und dem dazugehörenden Dirigenten eines großen Symphonieorchester gibt, finde ich mittlerweile, das beide Ansätze ihre volle Berechtigungen haben.
    Auch wenn Hard-Core-Hipper mich dafür wohl gerne steinigen würden, aber ich sage es dennoch: Karajan/Eschenbach und Schoenderwoord haben tatsächlich eines gemeinsam: moderate Tempi und ein Musizieren, dass "im Rahmen" bleibt, d.h. man nimmt sich nicht vor, die Leute vom Stuhl fallen zu sehen. Die Qualitäten spielen sich innerhalb des gesteckten Rahmens ab - ich mag das eigentlich zunehmend sehr.


    Manchmal kommt es weniger darauf an, wie das Konzept aussieht, sondern erst einmal, ob man denn überhaupt über in solches verfügt, dass es in sich stimmig ist, und vor allem, wie man es dann praktisch umsetzt, d.h. mit Leben und Seele erfüllt.
    Hört man sich jedoch Eschenbach-Karajan, Brendel-Rattle, Aimard-Harnoncourt und dann noch den Schoonderwoerd an, dann kann man kaum glauben, dass es sich um das gleiche Werk handelt. Es klingt wie vier verschiedene Kompositionen, wobei die letztgenannten sich am stärksten unterscheidet.



    Gruß
    Glockenton


    PS.: bei Spotify läuft gerade das zweite Klavierkonzert mit Schoenderwoord weiter. Es ist schon eine sehr interessante und hörenswerte Aufnahme. Sie ist in sich schlüssig und kann überzeugen. Man meint, völlig neue Werke zu hören, die man dennoch irgendwo schon einmal gehört hat. Merkwürderweise erscheint mir das Thema des dritten Satzes ( zweites Konzert) hier nicht so furchtbar banal zu klingen, wie sonst immer.
    Ich glaube, ich werde die mir einmal bestellen, obwohl ich sie schon jetzt in guter technischer Qualität hören kann. Nicht nur bei Eschenbach-Karajan ist es von Vorteil, sondern gerade auch hier, wenn man diese "Kammermusik" sozusagen ohne jahrzehntelange Vorerwartungen und mit frischen Ohren hört. Für die CD scheint mir die intime Besetzung sehr gut geeignet zu sein, für den großen Saal der Berliner Philharmonie wohl kaum. Aber dafür war die Musik wohl auch nicht konzipiert.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Neben der Tatsache, dass die erstgenannte neuere Einspielung für mich vor allem eine Eschenbach-CD mit solidem Orchesterspiel ist, viel mir hinsichtlich des Pianisten kaum etwas auf. An einer Stelle lässte er das Pedal liegen und macht so eine Impressionismus-Effekt in den oberen Lagen - ein völliger Stilbruch. Obwohl Eschenbach ihn ganz gut disziplinieren konnte, musste dann wohl doch an einer Stelle der Schalk mit ihm durchgehen. Ansonsten fiel mir bei ihm kaum etwas etwas auf, was seinen Ruf als weltbesten Pianisten, der sogar schon vor Obama spielte, irgendwie rechtfertigen könnte. Aber falsche Töne sind nicht dabei - das muss man erst einmal hinbekommen.

    Lieber Glockenton,


    Verrisse über Lang Lang habe ich ja eigentlich genug geschrieben. :D Auch diese CD hatte ich im Lang Lang-Thread glaube ich besprochen. Gerade bei Beethoven ist er nun wirklich nicht der "leuchtende Pfad" (Übersetzung seines Namens). Während er beim 4. Klavierkonzert mit seinen Klangsäuseleien komplett scheitert, finde ich allerdings, dass man sich das 1. Konzert durchaus anhören kann. In meiner Kritik stand damals zu lesen (s.u.!): interpretatorisch zwar anachronistisch, aber hörbar. Die bekannten Lang Lang-Schwächen fallen hier so gravierend finde ich nicht ins Gewicht. Aber natürlich: Auf das Marketing-Gefasel vom "besten Pianisten..." fallen wir sowieso nicht rein ... :D :D :D


    Lang Lang - Strohfeuer oder Dauerbrenner


    Eschenbach macht das als Dirigent in der Tat nicht schlecht, aber nun auch nicht außerordentlich bemerkenswert. Beim Orchestervorspiel des ersten Satzes scheint ihm die zweiteilige Aussage des Themas manchmal geradezu in zwei Teile zu zerfallen, obschon sie durchaus zusammenhängen sollte.

    Ich hatte Eschenbach ja auch nur als Beispiel gebracht, weil er der Solist in der Karajan-Aufnahme ist, aber als Dirigent wohl doch eine ganz andere Auffassung vertritt als Karajan. Und ich gebe zu, dass ich was Karajan angeht insofern "geschädigt" bin, als ich ihn über die Aufnahme mit Weissenberg kennengelernt habe. :D Damals habe ich mir die kompletten Konzerte mit Weissenberg besorgt und fand Karajan eigentlich sehr gut, bis ich dann die Orchestereinleitung des 1. Konzerts vernehmen musste. Da kam dann gleich der Moment, der bei mir selten, aber ab und zu auch mal vorkommt und ich denke: "So geht es absolut nicht"! Wenn ich also jetzt Eschenbach höre, vergleiche ich natürlich unwillkürlich Karajan mit Karajan im Kopf und höre deshalb vielleicht stärker als Du die Dinge, die mich in der Aufnahme mit Weissenberg so extrem stören. Natürlich ist Karajan hier deutlich besser. Aber trotzdem gefällt mir seine Orchester-Einleitung immer noch nicht. Wenn ich vielleicht etwas überspitze in meinem Vergleich Karajan mit Karajan, tust Du es vielleicht damit, dass es bei Dir immer geht um ein ausschließendes Entweder-Oder, nämlich: "Karajan oder HIP!" :D Nun habe ich mich gestern stichprobenartig durchgehört: Die Leinsdorfs, Krips, Munchs, Leinsdorfs, Gallieras, Leitners und Guilinis sind ja nun von HIP wirklich völlig unbeleckt, aber machen es eben in toto anders als Karajan - und für meinen Geschmack einfach besser. Besonders aufschlussreich ist vielleicht der Vergleich mit Josef Krips (mit Rubinstein - ich habe auf CD allerdings nicht diese Aufnahme, sondern die mit Erich Leinsdorf). Krips ist nämlich einerseits Karajan sehr ähnlich, doch es gibt kleine aber entscheidende Unterschiede, die für mich eindeutig für Krips sprechen. Erst einmal hat er diese rhythmische Leichtigkeit, die Karajan einfach nicht hat, sondern im Vergleich etwas behäbig wirkt. Und zum anderen fällt im Vergleich mit Krips auf, dass der Klang bei Karajan dann doch merklich betont "streicherlastig" ist. Das passt aber letztlich hermeneutisch nicht wirklich zu den Marschcharakteren. Musikgeschichtlich sind Märsche ja keineswegs usprünglich Militärmusik (Szell klingt mir als Einziger eine Spur zu "miltärisch"), sondern so was wie Fest-Aufspiel-Musiken. Von daher haben auch die Bläser die Dominanz, und nicht die Streicher. Karajan kehrt das um im Sinne des wohligen Streicher-Schönklangs, den er erzeugen will. Und das passt für mich letztlich nicht. Ich halte das für eine ästhetische Verirrung - die natürlich in der Aufnahme mit Weissenberg noch drastischer auffällig wird, wo sich Karajan nicht so zurückhält wie in der Aufnahme mit Eschenbach.


    Nun komme ich auch noch einmal zum Finale und zum Problem des Humors. Es geht um das zweite Thema - Eschenbach/Karajan ab 33.43 (Youtube). Ich habe mich nun durch die illustre Reihe der namhaften Beethoven Interpreten durchgehört. Alle spielen den Akzent dort widerborstig stachelig - selbst die großen Melodiker Artur Rubinstein und Wilhelm Kempff. Da ist im Notentext unter Garantie ein Keilakzent oder sogar ein Sforzato notiert. Nur Eschenbach/Karajan fallen hier aus dem Rahmen. Der Akzent wird bei ihnen so gemildert, dass er seinen Betonungscharakter verliert und sich als quasi unbetonter Vorschlag in die melodische Phrase schön integriert. Genau damit aber wird es humorlos glatt, nämlich anstelle des Aufrührerischen, Desintegralen gibt es eine gutbürgerlich-biedere, wohlgeordnete schön-melodische Phrase. Wobei ich sagen muss, dass mir das Tempo gefällt und auch das rhythmische Spiel. Nur: Wenn ich dann bei Kempff/Leitner reinhöre, dann schmelze ich wieder dahin vor Wilhelm Kempffs einnehmender, flexibel-lebendiger Musikalität. Dagegen wirkt Eschenbach dann doch etwas etüdenhaft steif fast schon - was natürlich auch damit zusammenhöngt, dass er die Akzente im Sinne der Karajan-Ästhetik glättet, was Kempff eben nicht tut - ohne jemals ordinär rustikal zu werden! Bei Kempff merkt man wirklich etwas von dem "scherzando", was Beethoven ja notiert ("Allegro scherzando" ist die Vortragsbezeichnung des Satzes) - übrigens auch in Rubinsteins Aufnahme mit Leinsdorf mit Rubinsteins einnehmender polnischer Eleganz.





    Nichts gegen den hervorragenden Pianisten, aber ich bin mir fast sicher, dass diese Aufnahmen zu Traumaufnahmen geworden wären, wenn sie mit Gulda stattgefunden hätten. Der hatte so etwas ganz Besonderes, was mit dem Dirigenten Harnoncourt für mich immer - bei Mozart- hervorragend harmonierte.

    Ich fand allerdings Gulda beim 1. Beethoven-Konzert als nicht so übermäßig überzeugend! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    vielen Dank für Deinen Beitrag!


    Ich habe kurz in die Musikbeispiele hineingehört und fand beide Dirigenten ziemlich gut, vor allem Krips. Das ist sehr transparent und exakt, klingt irgendwie gar nicht so sonderlich "alt", d.h. aus einer fernen Interpretationszeit.


    Nun muss ich leider in wenigen Minuten das Haus verlassen.
    Vielleicht komme ich später noch dazu, näher auf die Dinge einzugehen.


    Alles was Du zum Orchesterklang bei Karajan schreibst, stimmt ja auch. Für mich steht ohne Zweifel fest, dass hier ein hochkultivierter Wohlklang zu hören ist, der es - und jetzt kommt es - zum Glück nicht an Transparenz fehlen lässt. Obwohl die Bläser nicht - wie leider so oft- durch von der Tontechnik durch Stützmikros auf eine Reihe mit den Streichern geholt wurden, sondern schön tief und ortungsscharf aus dem Raum hinter den Streichern kommen ( schöne 3D-Tiefenstaffelung) kann man doch alles gut hören. Die Streicher spielen nicht mit so einem Druck auf dem Bogen, wie er das bei Brahms z.B. macht ( aber da gefällt es mir ja auch...), sondern trotz der Streicherdominanz dennoch durchsichtig und kultiviert.
    Dass dieser Klang nicht das wahr, was Beethoven voraussetzte, ist auch klar.
    Nur: Wenn man es denn hören mag und es in sich gut gemacht ist - warum nicht?


    Zum Thema widerborstig-synkopische Akzente und Humor: Hier kann man den Standpunkt vertreten, dass die heutigen modernen Instrumente diese "gegen den Stachel löckenden" Akzente mehr betonen, als es auf den zeitgemäßen Instrumenten der Fall gewesen wäre.
    Ein moderner Steinway hat da einfach ganz andere Möglichkeiten, ebenso ein symphonisch besetztes Großorchester.
    Von daher ist es vielleicht schon eine vertretbare ästhetische Entscheidung, diese Akzente etwas abzumildern und sie in den Melodiefluß organisch einzubauen. Generell kann man das natürlich nie sagen, es kommt immer darauf an.


    Ich meine ja nicht, dass es zwischen den Extremen Karajan und Schoonderwoerd keine Zwischenlösungen gäbe .....natürlich nicht :D


    Aber ich fand es gestern doch sehr aufschlussreich, mir einmal diese ganz und gar andere Klangwelt anzuhören, ohne dabei direkt von irgendeiner "konventionellen" CD her zu kommen ( sonst ist der Schock zu groß).


    Ich habe Dir einmal diese Aufnahme hier als youtube-Link gepostet.



    Wenn Du keine Zeit hast, dann reicht es vielleicht mit der von der erwähnten Stelle. Wenn Du bei 24.30 einsteigst, dann kommt sie irgendwann. Bei 24.46 müsste es dann losgehen.
    Diese Akzente auf leichten, eigentlich unbetonten Taktteilen sind hier zu hören, bleiben aber, bedingt durch die Besetzung, im Rahmen.
    Wenn Du Dir den ersten Satz anhörst ( Orchestervorspiel), dann stellst Du fest, dass diese - wohl auch nicht so ernstgemeinte- Marschandeutung durch die fehlende Streicherdominanz viel deutlicher herauskommt.
    In meinen Ohren hat das eine Berechtigung, es so zu machen. Es öffnen sich neue Einsichten in das Werk, das man meinte zu kennen.
    Allerdings ist es - finde ich - ja auch schön, sich im Clubsessel englischer Machart bei einem geistlichen Getränk und einer Zigarre/Pfeife zurückzulehnen, und dann den vollmundig- hochkultivierten Sound der Herren Eschenbach und Karajan zu hören.
    Es ist dann eine total anderes Hören - weniger analytisch, mehr genießerisch.
    Auch das ist legitim, wie ich finde, so lange es in sich gut gemacht ist und nicht irgendwelche Geschmacklosigkeiten auftreten.


    So, nun muss ich aber wirklich los - Alles Gute nach Münster :)


    Gruß
    Glockenton


    PS: Es lohnt sich durchaus, längere Abschnitte der Aufnahme anzuhören, wenn es die Zeit erlaubt. Würde mich interessieren, was Du dazu meinst :)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Eine in meiner Erinnerung sehr hörenswerte Aufnahme von Beethovens 1. Klavierkonzert hat vor ein paar Jahren der polnische Pianist Piotr Anderszeweski mit der Bremer Kammerphilharmonie vorgelegt. Attila Csampai hatte sie im Fono Forum in höchsten Tönen gelobt, was bei mir eine Bestellung auslöste. Einen Ausschnitt seiner Begründung findet sich auf der website des Werbepartners. Weiter Belobigungen auch beim anderen Werbepartner.


  • Zum Thema widerborstig-synkopische Akzente und Humor: Hier kann man den Standpunkt vertreten, dass die heutigen modernen Instrumente diese "gegen den Stachel löckenden" Akzente mehr betonen, als es auf den zeitgemäßen Instrumenten der Fall gewesen wäre.
    Ein moderner Steinway hat da einfach ganz andere Möglichkeiten, ebenso ein symphonisch besetztes Großorchester.
    Von daher ist es vielleicht schon eine vertretbare ästhetische Entscheidung, diese Akzente etwas abzumildern und sie in den Melodiefluß organisch einzubauen. Generell kann man das natürlich nie sagen, es kommt immer darauf an.

    Wenn Du Dir den ersten Satz anhörst ( Orchestervorspiel), dann stellst Du fest, dass diese - wohl auch nicht so ernstgemeinte- Marschandeutung durch die fehlende Streicherdominanz viel deutlicher herauskommt.
    In meinen Ohren hat das eine Berechtigung, es so zu machen. Es öffnen sich neue Einsichten in das Werk, das man meinte zu kennen.
    Allerdings ist es - finde ich - ja auch schön, sich im Clubsessel englischer Machart bei einem geistlichen Getränk und einer Zigarre/Pfeife zurückzulehnen, und dann den vollmundig- hochkultivierten Sound der Herren Eschenbach und Karajan zu hören.
    Es ist dann eine total anderes Hören - weniger analytisch, mehr genießerisch.

    Lieber Glockenton,


    diese Schoonderwoerd-Aufnahme ist finde ich HIP zum Abspenstigmachen. Der Klang des Instruments ist einfach fürchterlich, das klingt mehr nach Cembalo als überhaupt nach Klavier und das Soloinstrument wird vom Orchester völlig zugedrückt selbst in dieser Besetzung. Einen besseren Beleg, dass ein solches klassisches Konzert wirklich adäquat letztlich nur mit einem modernen Konzertflügel wiedergegeben werden kann, könnte es nicht geben. :D (Ich habe allerdings schon klanglich deutlich bessere Hammerflügel gehört!) Grundsätzlich finde ich, was ebenfalls an dieser Aufnahme klar wird, dass HIP auf einer grundsätzlichen - ziemlich unhistorischen - Verwechslung beruht: nämlich der der Empfindsamkeit der Klassiker mit Barocker Affektivität. Das Orchester klingt ja, als wäre Beethoven Händel, nämlich Barockmusik. Da sollte man doch einmal auf die Zeitzeugnisse hören: Die Empfindsamkeit empfindet die rhetorische Affektiertheit des Barock - motiviert letztlich durch Rousseau - als manieriert. Wenn man Beethoven heute also mit solchen Manierismen spielt wie Schwelltönen, knalligen Pauken etc., dann glaube ich, hat das mit dem, wie man um 1800 Beethoven tatsächlich aufgeführt hat, reichlich wenig zu tun. Wie drückte das ein Beethoven-Zeitgenosse (Novalis) aus: "Poesie soll keine Affekte machen. Affekte sind so etwas wie Krankheiten!"


    Deine These, dass Karajans Ästhetisierung die Transformation von HIP auf das moderne Orchester sei, leuchtet mir allerdings so gar nicht ein. Denn Karajans Klangbild ist von der Romantik geprägt integral und HIP ist dagegen überhaupt nicht integral, sondern es geht um die Erzeugung verschiedener, gegensätzlicher Affekte. Dazu gehören gerade die scharfen Akzente. Natürlich, wenn überall scharf akzentuiert wird, fällt ein einzelner scharfer Akzent nicht mehr so scharf heraus. Aber weil das Klangideal gar nicht integral ist, gibt es auch für die Glättung der Akzente keinen triftigen Grund.


    Wie weit sich Karajan mit seinem ästhetischem Genuss aber wirklich vom 18. Jhd. entfernt, das zeigt wiederum die Empfindsamkeit: C. PH. E. Bach war es, der für die Zeitgenossen einen Einschnitt im Vortragsstil bedeutete durch seine betont expressive Vortragsweise. Bei Sulzer, einem der bekanntesten Ästhetiker des 18. Jhd., liest man dann über das Allegro einer Symphonie, es enthielte "kühne Gedanken, freie Behandlung des Satzes, anscheinende Unordnung (!!!) in der Melodie und Harmonie, stark markierte Rhythmen (!!!!) kräftige Baßmelodien und Unisoni (...) plötzliche Übergänge und Ausschweifungen von einem Ton zum anderen. (...) Ein solches Allegro in der Symphonie ist, was eine pindarische Ode in der Poesie ist: es erhebt und erschüttert, wie diese, die Seele des Hörers."


    Am Schluss steht das Entscheidende: Der empfindsame Hörer des 18. Jhd. will überhaupt nicht ästhetisch genießen, er will "gerührt" werden ("Rührung" ist das Grundwort der Empfindsamkeit) und entsprechend ist die ästhetische Kategorie, mit der die Expressivität begriffen wird, auch nicht das Schöne, sondern das Erhabene (der Hörer wird erschüttert und zugleich erhoben, steht bei Sulzer!). Was macht Karajan? Er beseitigt mit seiner Ästhetisierung genau das, was die Grundlage der Rührung und Erschütterung ist, die "Unordnung", die stark markierten Rhythmen, die er glättet, die schroffen, plötzlichen Übergänge und Ausschweifungen, die in ein immer weiches, bruchloses Streicher-Kontinuum versetzt werden. Sulzer würde dazu sagen: So verschwindet das Erhabene und macht einem sensualistischen Schönen Platz, einer ästhetischen Genusssucht, welche das Herz kalt lässt und es nicht wirklich tief erschütternd berührt! :D


    Noch eine Ergänzung: Das Problem taucht bei Wagner und im Wagner-Kreis wieder auf, nämlich in dem Vorwurf, dass Musik, die nur formalistisch schön ist, ausdrucks- und seelenlos wird. Dann wird in diesem Kontext die These formuliert, dass das Ausdrucksvolle im "Ataktischen" und "Formwidrigen" überhaupt besteht. Warum ist Karajan letztlich an Gustav Mahler komplett gescheitert? Weil er genau das in seinem Leben nie verstanden hat! :D :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Im Beitrag 219 wurde eine neuere Aufnahme erwähnt, der ich eine weitere hinzufügen möchte


    Wahrscheinlichst werde ich mir die Gesamtaufnahme der Beethoven KKs mit Vogts doch zulegen, da ich heute morgen in www.klassik-heute .de über die KKs 2+4 eine sehr gute
    Kritik las.
    Frage : wer kennt diese Aufnahmen?


    VG
    Justin

    Ich verliere nie! Entweder ich gewinne oder ich lerne. (Unbekannt)

  • Lieber Holger,


    ich empfinde Deine Argumentation als teilweise in sich schlüssig, teilweise auch nicht so recht.
    Einerseits sprichst Du Dich gegen knallende HIP-Pauken aus, andererseits wirfst Du Karajan vor, genau solche für Beethoven wichtigen Dinge einzuebenen.... ;)


    Hier z.B.:

    Er (Karajan)beseitigt mit seiner Ästhetisierung genau das, was die Grundlage der Rührung und Erschütterung ist, die "Unordnung", die stark markierten Rhythmen, die er glättet, die schroffen, plötzlichen Übergänge und Ausschweifungen, die in ein immer weiches, bruchloses Streicher-Kontinuum versetzt werden.


    Diese markierten Rhythmen und das Schroffe kommt natürlich immer dann besser heraus, wenn z.B. die (HIP)-Pauken knallen, statt nur dumpf im Hintergrund zu grummeln.....


    Die aufgestellte Behauptung, dass man bei Schoonderwoerd die Empfindsamkeit der Klassiker mit der barocken Affektenlehre verwechselt, also sozusagen Barockmusik mit Beethovens Noten spielt, kann ich hörend so nicht bestätigen.
    Diesen Vorwurf würde ich für Gardiners Brahms unterschreiben, jedoch in diesem Falle nicht, einfach deshalb, weil ich das hier am konkreten Beispiel anders höre.


    Wenn man Beethoven heute also mit solchen Manierismen spielt wie Schwelltönen, knalligen Pauken etc., dann glaube ich, hat das mit dem, wie man um 1800 Beethoven tatsächlich aufgeführt hat, reichlich wenig zu tun.


    Hier möchte ich gerne etwas einhaken, denn das, was Du als "Schwelltöne" bezeichnes, kann man tatsächlich als ein Erbe aus der Barockmusik ansehen, jedoch weniger als Manierismus oder gar als in der Klassik schon verurteilte "Affektiertheit", sondern als grundlegenden Baustein der Klangrede, wie sie bei Matheson und den anderen Theoretikern beschrieben wird. Der Einzelton entspricht den Sylben von Wörtern der gesprochenen Rede.
    Die sprechende Artikulation, die immer ganz elementar mit der Kleindynamik verbunden ist ( z.B. : die erste Note unter einem Artikulationsbogen, der oft gar nicht vom Komponisten eingetragen wurde, ist immer die lauteste, die letzte immer die leiseste, aber eben auch artikulatorisch die längste und die letzte dementsprechend die kürzeste) kann gar nicht funktionieren, wenn man einen Ton von Anfang bis Ende mit gleicher Lautstärke spielt, so wie es vielleicht ein Sinustongenerator macht.
    Es wurde erwartet, dass man eine sehr kurze Anschwellphase hat, auf die dann sofort eine längere Abschwellphase folgt. Bei den Gambisten war da vom perfekt gestalteten "Damenbein die Rede" ( hier wohl das Teil unterhalb des Knies).
    Man merkt es z.B. sehr gut bei Fugen: die polyphone Konstruktion wird erst durchhörbar, wenn man die Noten als Streicher nicht mit schwerem Strich bis zum äußersten Ende in schnurgerader gleichbleibender Lautstärke spielt, sondern eben zurückfedernd.
    Selbst wir Organisten müssen ihn verwenden, obwohl die Orgel ja einen kontinuierlichen Ton hat, nämlich in Verbindung mit der Kirchenakustik. Da muss man die Taste oft früher loslassen, als es der Notenwert vorgibt. Akustisch ergibt sich im Zusammenhang dann auch etwas, was an gute Barockstreicher erinnert.
    Dieser "Glockenton" ( !...) entsteht bei alten Barockbögen der Streicher ganz natürlich; man zieht locker bis zum Ende durch, während der Sinuston schwerer hinzubekommen ist und extra in die Noten mit "tenuto" oder "tasto solo" eingetragen wurde, wenn der Komponist ihn ausnahmsweise einmal haben wollte.
    Er ist keineswegs eine Sache von affektiertem Denken, sondern vielmehr Ausdruck einer an Natürlichkeit und Menschlichkeit orientierten Philosophie innerhalb der Musik, so unglaublich es vielleicht in Verbindung mit der Überschrift "Barock" klingen mag. Wenn man beim Lungentest so stark wie nur möglich ausatmen soll und sich dann anschließend den Graphen auf dem Ausdruck ansieht, dann ist der durchaus mit unserer Glockentondynamik vergleichbar. Erst geht es sehr kurz hoch, dann kommt ein Phase, bei der die Kurve geschwungen abnimmt. Dass die barocke Tonkunst wesentlich natürlicher in ihrer Expressions-Philosophie als die gleichzeitige bildende Kunst oder Architektur wäre, sehe nicht nur ich so, sondern wird auch von Leuten, die das besser wissen ( z.B. Ton Koopman) so angeführt. Doch es würde zu weit (weg) führen, dies jetzt zu vertiefen.


    Manche denken, der "Schwellton", bei dem sehr stark bis zur Mitte des Tons crescendiert wird ( und danach ein spiegelbildliches Decrescendo) sei nun das wichtigste Modell der Klangrede ( anstelle des Glockentons), was aber so nicht stimmt. Er kommt - immer je nach dem!- eher dann zum Einsatz, wenn man einen ziemlich langen Notenwert hat, und wurde bisweilen von den Zeitgenossen als "Messa di voce" ( das "Ausziehen" der Stimme) bezeichnet. Ob aber der dynamische Höhepunkt bei solchen langen Tönen tatsächlich in der Mitte liegt, hängt sehr von der zugrundeliegenden Harmonik ab. Hier gilt die Regel, dass der Ton für den Fall, dass er zum Teil einer Dissonanz wird, lauter sein müsse und dementsprechend andersherum, wenn es konsonant wird.


    Mit Beethoven ist nun das Ende der artikulierten und an sprachlich-rhetorischen Vorbildern wie Satzteilen, Abschnitten usw. orientierten "Klangrede" keinesfalls beschrieben, wobei man jedoch sagen muss, dass die beethovensche Version der ehemals barocken Klangrede sich im Laufe seiner Karriere immer mehr ins Agitatorische steigern konnte. Manche lieben ihn ja deswegen, andere lehnen ihn gerade deswegen ab.
    Er setzt diese historisch gewachsene "Rede in Tönen" paradoxerweise sehr bewusst ein, um sie dann - vor allem in seiner 9. Symphonie- durch eine neue und gesellschaftspolitisch gewollte "Einfachheit" zu überwinden, die sich in der Mitsing-Melodie des Schlusschores manifestiert.
    Seine rhetorische Agitation wirkt dabei manchmal schon als Zerstörung eines vormals an der Natürlichkeit orientierten "Sprachflusses", vielleicht ganz gut auch in der "Eroica" zu hören.
    Solche extreme Charakterisierungen würde ich auf jeden Fall für den Beginn des vierten Satzes der 9. Symphonie gelten lassen, nicht jedoch für das hier diskutierte Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur.
    Obwohl auch hier - ich schrieb schon darüber- "gegen den Stachel gelöckt"wird, bleibt es doch im Rahmen und kann - da widerspreche ich ja keineswegs- als Humor verstanden werden.


    Es gibt jedoch eine Stelle in der Durchführung des 5. Klavierkonzerts, 1. Satz, bei der sich das Orchester und der Solist regelrecht gegenseitig anbrüllen, wobei ein punktierter Rhythmus zur Anwendung kommt. Die Stelle ist schon so extrem und agressiv, dass ich mich nicht wundern würde, wenn der (Hammer)klavierist in seiner Rage aufstünde, und sein ganzes Instrument in Richtung Mitmusiker würfe.... ;) , wobei wir bei manchen Extremrockern wären, die tatsächlicher auf der Bühne im Rausch der Agression ihre Gitarren zerstörten.
    Dieses Verlassen der bürgerlich-zivilisierten Sitten ist es wohl auch, was bestimmte Leute anspricht, die von einer der Rebellion verschriebenen Rockmusik herkommend, als späterer Klassikhörer vorzugsweise Beethoven hören mögen.
    Die dabei zu erfahrende rhetorische Komponente nenne ich in einigen Teilen schon weniger Rede, oder "Vortrag", sondern Agitation. Wer extrem agitiert und als Redner Agressivität in sein Publikum hineinbläst, der kommt selten ohne eine gewisse Brüllerei aus, und er schlägt vielleicht auch noch mit der Faust auf das Rednerpult. Zwar benutzt er noch die tradierte Sprache, aber das in einer derart extremen Art und Weise, dass der Übergang von Sprache zur Aktion nach seiner Rede geradezu zwingend erscheint ( man möchte dann glatt zu den Waffen greifen, etwa zur Mistgabel, aber leider auch zum Militär, um einen Weltkrieg anzufangen)
    Beethoven hat ästhetisch auch etwas davon, obwohl ich ihn keineswegs so monochrom sehe, denn er ist ja auch ein nahezu romantischer Liebhaber friedvoller Naturidylle und ein humanistischer Idealist in vieler Hinsicht. Zudem hat Beethoven bei seiner Agitation hehre Ziele, d.h. er macht sich dieses utopische "Alle Menschen werden Brüder" des Dichters zu eigen.


    Nun bin ich leider etwas abgeschweift, deshalb zurück zu Schoonderwoerd: Ich höre hier zwar eine durchaus sprechende und bei bestimmten synkopischen Akzenten auch leicht "bellende" Spielweise, die jedoch durch die kleine Streicherbesetzung und das dynamisch im Ambitus naturgemäß begrenzte Hammerklavier immer noch in einem kultivierten und gleichzeitg auch natürlich-organische Rahmen bleibt.


    Der Klang des Instruments ist einfach fürchterlich, das klingt mehr nach Cembalo als überhaupt nach Klavier und das Soloinstrument wird vom Orchester völlig zugedrückt selbst in dieser Besetzung.



    Das empfinde ich vielleicht so ähnlich, wenn ich vorher Aufnahmen mit dem Steinway hörte ( z.B. die im Anschlag weiche Uchida mit Sanderling, sehr zu empfehlende Aufnahmen sind das übrigens) und dann auf diese Einspielung gehe.
    Wenn ich aber meine Erwartungen, dass es irgendwie so ähnlich wie die mir bekannten Aufführungen zu klingen habe, erst einmal zur Seite lege, dann fällt mein Urteil diesbezüglich nicht so vernichtend aus.
    Historisch gesehen entwächst der Hammerflügel ja dem Kielflügel, von daher sage ich mir, dass man sich nicht gleich ärgern muss, wenn es dann so ähnlich wie ein Cembalo klingt. Bei Schuberts Winterreise hingegen könnte ich diesen Klang auf keinen Fall ertragen....


    Es ist schon so, dass man bei Mozart und Beethoven nicht von dem herumreisenden großen romantischen Virtuosen ausgehen sollte, den man von solchen Figuren wie Liszt, Clara Schumann oder Paganini her kennt. Der Solist war weniger eine Art Star ( bei den Opernsängern gab es das auch schon damals sehr ausgeprägt) und das Orchester auch nicht auf jene untergeordnete, anonym-austauschbare Backgroundrolle reduziert, wie man es z.B. bei den Schwarz-Weiß-Filmen mit Maria Callas sieht, bei denen als total egal erscheint, wer das dirigiert oder wer das jeweils im Orchester spielt)
    Die Solovioline oder der Pianist war vielmehr als Teil einer Orchestermusik zu sehen, nur eben mit hervorgehobenen Aufgaben.
    Klanglich kann dieser Aspekt mit dem Hammerklavier ( wie Du weißt höre ich ja auch am liebsten den voller klingenden Flügel) eher realisiert werden, weil sich seine Obertöne recht gut mit dem Orchesterklang mischen und weil das immer noch vorausgesetzte Continuospiel hier leichter in einer überzeugenden Art und Weise realisiert werden kann. Bei heutigen normalen Aufführungen mit großem Orchester und schwarzem Flügel schweigt der Solist andächtig während des Vorspiels, was das Gewicht dessen, was er dann ab seinem Einsatz endlich beizutragen hat, schon auf eine romantische Art und Weise überhöht oder verklärt.
    Von daher kann man zwar beklagen, dass der Pianist Schoonderwoerd von seinem Kammerensemble zugedeckt wird, oder es eben als Wert an sich ansehen, dass er als Teil eines Ensembles agiert, also mehr mit dem Kammerensemble spielt, als gegen einen großen Klangapparat als gewaltiger Virtuose anspielt.


    Wie gesagt, ich behaupte auf keinen Fall, dass mit diesen Schoonderwoerd-Aufnahmen alle bisherigen Aufführungen obsolet würden. Dazu sind die ja auch viel zu gut. Ich lehne zunehmend so einen Extremismus ab, auch im kulturellen/musikalischen Bereich. Aber ich finde schon, dass es die Ohren für eine andere Aufführungstradition öffnet, als jene, in der all die großen Namen - auch Eschenbach/Karajan- stehen.


    Deine These, dass Karajans Ästhetisierung die Transformation von HIP auf das moderne Orchester sei, leuchtet mir allerdings so gar nicht ein.


    Nun, die habe ich ja so in dieser krassen Form nicht aufgestellt,was , so hoffe ich, aus meinem obigen Exkurs über die Klangrede, den Glockenton etc. ebenfalls hervorgeht, denn Karajan ist ein extremer Vertreter des geraden tenuto-Tons, kann also niemals HIP in die moderne Klangwelt transferieren.
    Es kommt ja immer auch und vor allem auf die Musiker selbst an. Es gibt HIP-Vertreter, die schroffe Akzente, schnelle Tempi usw. stark herausspielen, während andere mehr auf einen natürlichen Fluß setzen.
    Aimard/Harnoncourt ist wohl eher so ein eigentlich postmoderner Versuch, die HIP-Erkenntnisse auf das moderne Klangbild und die heutige Klangstärke zu bringen.
    Karajans Ästhetik hat für mich auch immer etwas mit dem warmen Streicherteppich eines Wagners zu tun. Bei ihm wird man vieles finden, den zurückfedernden Glockenton aber mit Sicherheit - wie gesagt- nicht.


    Die einzige Vergleichbarkeit mit dem Schoonderwoerd-Resultat sehe ich darin, dass die Akzentuierungen bei beiden noch am natürlich-organischen Fluß orientiert sind. Bei Schoonderwoerd ergibt es sich aus den Instrumenten, der Besetzungsstärke und der seinen Leuten eigenen Spielweise, bei Karajan kommt es aus seinem eher unwissenschaftlichen, genialen Musikantentum, aus einer eigenen Ästhetik, die zwar auch historisch gewachsen ist - z.B. Wagner- , die aber, so scheint es mir, auch von ihm selbst entwickelt wurde.
    Die klassizistische Balance, die ich z.B. bei Krips und vor allem Böhm höre, scheint er mir auch hier anzustreben und es mit seinem in späteren Jahren noch ausgeprägterem Klangstrom verbinden zu wollen.


    Dass Schoonderwoerd und Karajan hier ästhetische Extrempositionen einnähmen, kann man so sehen, je nach eigenem Standpunkt. Ich kann mich in beide Musizierhaltungen etc. hineindenken und es auch mit Freude hören, jedoch nicht so vorteilhaft hintereinander. Da habe ich dann an beiden Aufnahmen keine Freude mehr...


    Wenn es um die Aufnahmen für die "einsame Insel" ginge, nähme ich nach heutigem Stand mit:


    Michelangeli/Giulini
    Eschenbach/Karajan
    Uchida/Sanderling
    Pollini/Jochum ( Böhm oder Abbado sind es wohl nicht ?.. habe nur die CDs nur in iTunes, also kein Booklet)
    Schoonderwoerd


    Die letztgenannte Aufnahme eben gerade wegen ihrer Andersartigkeit und ihrer Abkehr von der romantischen Vorstellung des angebeteten Virtuosen vs. eines großen Klangapparates, Eschenbach/Karajan weil da konsequent und gekonnt ein an Schönheit orientiertes Genusskonzept umgesetzt wird.


    Sollte es tatsächlich nur eine CD sein, die ich behalten dürfte, dann wäre es Schoonderwoerd bestimmt nicht. Die Wahl fiele mir sehr schwer. Es kommt auch darauf an, in welcher Verfassung ich mich gerade befinde. Diese Aufnahmen haben alle ihre Meriten.
    Es kann durchaus sein, dass es dann auf Michelangeli/Giulini hinausliefe, also genau das, was vermutlich auch Deine Wahl wäre.. :D


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)


  • Hallo Justin,


    habe in die Aufnahme hineingehört.
    Hier wird der Versuch unternommen, Erkenntnisse aus der HIP in die Klangwelt von Flügel und Kammerorchester zu übertragen.
    Anfangs steht das Tempo meinem ersten Eindruck nach im Orchestervorspiel nicht so ganz fest. Auf beim ersten Klaviereinsatz spielt er m.E. zu schnell im Verhältnis zu den davor erklungenen Takten.
    Für mein Dafürhalten kann man den ersten Satz etwas langsamer nehmen ( Brendel und Rattle nehmen das ähnlich schnell). Dann könnte man sich an bestimmten Stellen auf die Dynamik als Ausdrucksmittel beschränken, nämlich da, wo der Puls an sich weitergehen soll.
    Vogt macht hier und da agogischer Verzögerungen und gewisse "Klöpse" die mich persönlich weniger überzeugen. Michelangeli/Giulini verzichten nahezu vollständig darauf und vertrauen auf den (langsameren) Grundpuls, dieses rhythmisch dynamische Atmen, welches sich als eine Art Kontinuum durch den Satz zieht.


    Im dritten Satz fallen einige für mich zu gewollte und aufgesetzte Gags auf, mal dynamisch mal agogisch, manchmal auch artikulatorisch in den Streicherrepliken.
    Nach meinem Dafürhalten hat Beethovens Musik das nicht nötig. Es reicht vollkommen aus, wenn man es "anständig" aber doch mit Innenspannung durchspielt.
    Ständig den Leuten zu sagen: "seht hier, dort ein Gag, hier eine Pointe, und da, ja da ist ja schon wieder so etwas unglaubliches Witziges", das mag ich nicht. Es klingt wie eine Humor über den schon längst eingebauten Humor, denn der ist tatsächlich schon in der Musik selbst vorhanden. Ich brauche da keinen riesigen Zeigefinger, der mich mit der Nase auf diese Dinge hinweist. Oder mit anderen Worten: doppelt gemoppelt muss nicht sein.
    Aber das ist auch hochgradig eine Geschmacksache.
    Was der eine furchtbar findet, kann für den anderen Hörer eine Offenbarung sein.


    Ich empfehle daher: Selbst auf Spotify, auf iTunes-music oder vielleicht auch Tidal anhören. Es bewahrt einem vor Fehlkäufen und macht einen auf bislang unbekannte Schätze aufmerksam.


    Mein Eindruck von der Aufnahme: je länger ich sie höre, desto ärgerlicher, fast peinlicher finde ich diesen Ansatz ( peinlich wegen der durchschaubaren Absicht).


    Aber da gäbe es bestimmt eine Menge Leute, die mir da sehr scharf widersprächen.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Tja Lieber Glockenton,
    Angfang März hatte ich den Naim-Atom Streamer bestellt, etwas Mitte Mai soll er geliefert werden.
    Ich kann das abwarten, und werde mir dann über Tidal die Stücke anhören vor einer Kaufentscheidung.


    Danke für deine Eindrücke.
    VG
    Justin

    Ich verliere nie! Entweder ich gewinne oder ich lerne. (Unbekannt)

  • ich empfinde Deine Argumentation als teilweise in sich schlüssig, teilweise auch nicht so recht.
    Einerseits sprichst Du Dich gegen knallende HIP-Pauken aus, andererseits wirfst Du Karajan vor, genau solche für Beethoven wichtigen Dinge einzuebenen.... ;)

    Lieber Glockenton,


    :D das war mir schon klar, dass dieser Einwand kommt! Das ist auch ein Forschungsgebiet, an dem ich herumlaboriere! Diese Irritation liegt aber letztlich in der Natur der Sache, denn die Empfindsamkeit ist eine hoch komplexe, sehr ambivalente Angelegenheit. Einerseits feiert sich darin die moderne Subjektivität, andererseits erscheint sie immer wieder damit suspekt, dass ihr eben dieses Affektivitätsmoment, das im Ergriffenseinwollen steckt, anhaftet, was die ästhetische Wahrnehmung und damit den Genuss stört und zugleich der Ausdruckserfassung im Wege steht. Deshalb erfährt die Empfindsamkeit auch diverse Brechungen schon in der Klassik und Romantik. Deshalb wäre es in der Tat zu einfach, wenn man Karajans Ästhetisierung vorhalten würde, er wäre ganz und gar der Beethovenschen Musik wesensfremd. Bei Kant steht ja zu lesen "Das Rührende ist nicht das Schöne" - die Ästhetisierung ist ein mögliches Mittel, um die Affektiertheit auszuschalten. Die Frage ist immer nur, wie weit das geht. Da geht es letztlich um die Rezeptionshaltungen von uns Hörern - und wie sie sich im Laufe der Zeit ändern, indem sich die Gewichtungen verschieben. Und die Gewichtung war im 18. Jhd. doch anders - der "Genuss" war sicher auch da, aber er war nicht das Dominierende, wonach man gesucht hätte. Den dominierenden Genuss (wie auch die Unterhaltung) wertet man als tendentiell gefühlskalt, weil zu wenig empfindsam.

    Diese markierten Rhythmen und das Schroffe kommt natürlich immer dann besser heraus, wenn z.B. die (HIP)-Pauken knallen, statt nur dumpf im Hintergrund zu grummeln.....


    Die aufgestellte Behauptung, dass man bei Schoonderwoerd die Empfindsamkeit der Klassiker mit der barocken Affektenlehre verwechselt, also sozusagen Barockmusik mit Beethovens Noten spielt, kann ich hörend so nicht bestätigen.
    Diesen Vorwurf würde ich für Gardiners Brahms unterschreiben, jedoch in diesem Falle nicht, einfach deshalb, weil ich das hier am konkreten Beispiel anders höre.

    Auch hier ist es so, dass diese Verwechslung nicht von Ungefähr kommt, sondern in der Natur der Sache liegt. Ich habe ja im letzten Jahr hier in Münster Händels "Alcina" gehört und das in meinem Bericht mit einer antiken Tragödie verglichen. Da erfährt man noch die elementare Kraft der Affekte - aber was es eben noch nicht gibt, ist moderne Subjektivität, wie wir sie gewohnt sind. Deshalb wirkt so eine Händel-Arie dann doch irgendwie "archaisch". Es gibt einen viel diskutierten Aufsatz von H.H. Eggeberecht, der eine "expressivistische Wende" in der Musikrezeption um 1850 feststellt. Die Quellen belegen, dass der expressive Vortragsstil von C. Ph. E. Bach als etwas revolutionär Neues gewertet wurde von den Zeitgenossen. Da fragt man sich ja zunächst: Warum eigentlich? War "rhetorische" Barockmusik nicht gerade hoch expressiv? Unter den Dokumenten, die Eggebrecht anführt, findet sich nun hoch aufschlussreich u.a. Daniel Schubart, der davon spricht, es solle endlich auch in der Musik darum gehen "sein Ich" "herauszutreiben". Da ist es, das Ausdrucksbedürfnis des "Ich", d.h. moderne Subjektivität, die eben neu ist gegenüber der Affektivität des Barock. Die Zeit von Beethoven ist nicht zufällig die Zeit des Deutschen Idealismus, der das "Ich" (Fichte) durch den "Willen" gefasst hat. Bezeichnend gehört als dominierende Tendenz zur Beethoven-Rezeption, dass Beethoven ein Willensmensch gewesen sei und seine Musik den "Willen" ausdrücke. Es ist nun sehr interessant: Aus der angelsächsischen Philosophie stammt aktuell eine Richtung in der Musiktheorie, die sogenannte "Persona"-Theorie. Sie sagt, dass man eine musikalische Phrase als ausdrucksvoll nur erleben könne, indem man imaginiert, dass dies der Ausdruck einer Person, eines "Subjekts" sei. Die Generalisierung, die da vorgenommen wird, finde ich zwar problematisch, aber auf die Empfindsamkeit passt das: Mit den scharfen Akzenten des "erhabenen Stils" im Sinne von Sulzer sollen deshalb nicht wie im Barock Affekte erregt werden, sondern dies ist als ein subjektives Ausdrucksprinzip zu verstehen: In Bezug auf Beethoven drückt sich in solchen exzentrischen Akzenten ein aufrührerischer, trotziger Geist aus mit allem was dazu gehört wie eben auch dem kauzigen Humor, ein "Wille", eben Beethovens Wille. Genau da liegt nun die Möglichkeit der Verwechslung der HIP-"Barockisierung", die Akzente vordergründig knallig affektiv zu interpretieren und diese Subjektivierung zu einem Ich-bezogenen Ausdruckserlebnis nicht mitzuvollziehen. Das Problematische einer Ästhetisierung al la Karajan wiederum ist, dass mit der Milderung der Affektivität der "Akzente" zugleich auch die Ausdrucks-Subjektivität zu verschwinden droht. (Wenn Wagner Hanslicks Klassizismus des Musikalisch-Schönen Glätte und sogar Oberflächlichkeit vorwirft, dann wollte er damit natürlich nicht zur barocken musikalischen Rhetorik und ihrer Affektivität zurück, sondern zu dieser modernen Ausdrucks-Subjektivität gelangen.)

    Hier möchte ich gerne etwas einhaken, denn das, was Du als "Schwelltöne" bezeichnes, kann man tatsächlich als ein Erbe aus der Barockmusik ansehen, jedoch weniger als Manierismus oder gar als in der Klassik schon verurteilte "Affektiertheit", sondern als grundlegenden Baustein der Klangrede, wie sie bei Matheson und den anderen Theoretikern beschrieben wird. Der Einzelton entspricht den Sylben von Wörtern der gesprochenen Rede.
    Die sprechende Artikulation, die immer ganz elementar mit der Kleindynamik verbunden ist ( z.B. : die erste Note unter einem Artikulationsbogen, der oft gar nicht vom Komponisten eingetragen wurde, ist immer die lauteste, die letzte immer die leiseste, aber eben auch artikulatorisch die längste und die letzte dementsprechend die kürzeste) kann gar nicht funktionieren, wenn man einen Ton von Anfang bis Ende mit gleicher Lautstärke spielt, so wie es vielleicht ein Sinustongenerator macht.
    Es wurde erwartet, dass man eine sehr kurze Anschwellphase hat, auf die dann sofort eine längere Abschwellphase folgt. Bei den Gambisten war da vom perfekt gestalteten "Damenbein die Rede" ( hier wohl das Teil unterhalb des Knies).

    Das ist sehr spannend, was Du schreibst. Aber damit bezeichnest Du die Orientierung der traditionellen Musik am Sprechtonfall (die erst durch die Neue Musik und den Expressionismus aufgekündigt wird), die natürlich durch die musikalische Rhetorik geprägt ist. Es kommt aber noch etwas hinzu in der Rhetrorik, und das ist der "konstitutive" Manierismus des rhetorischen Vortragsstils, der in dem Motiv der Sinnverdeutlichung durch Affektverstärkung liegt. Der rhetorische Stil hat immer diese "Übertreibung" an sich um der Deutlichkeit willen. Der Schwellton ist eine solche gewollte Übertreibung im Sinne der gezielten Affektsteigerung. Die Empfindsamkeit - die letztlich zurückgeht auf Rousseau - ist nun geprägt vom "Zurück zur Natur", sie spielt deshalb das Naturschöne gegen das Kunstschöne aus: ihr Ideal ist das einfache, völlig ungekünstelt gesungene Lied. Entsprechend stört sich Empfindsamkeit am artifiziellen Charakter von barocker Rhetorik und empfindet diesen als unnatürlich manieriert - weswegen ja die Schwelltöne schließlich in der Klassik und Romantik verschwunden sind. Genau deshalb passt HIP auch nicht zu Brahms! :D

    Es ist schon so, dass man bei Mozart und Beethoven nicht von dem herumreisenden großen romantischen Virtuosen ausgehen sollte, den man von solchen Figuren wie Liszt, Clara Schumann oder Paganini her kennt. Der Solist war weniger eine Art Star ( bei den Opernsängern gab es das auch schon damals sehr ausgeprägt) und das Orchester auch nicht auf jene untergeordnete, anonym-austauschbare Backgroundrolle reduziert, wie man es z.B. bei den Schwarz-Weiß-Filmen mit Maria Callas sieht, bei denen als total egal erscheint, wer das dirigiert oder wer das jeweils im Orchester spielt)
    Die Solovioline oder der Pianist war vielmehr als Teil einer Orchestermusik zu sehen, nur eben mit hervorgehobenen Aufgaben.

    Ja, aber die Souveränitätserklärung des modernen Subjekts findet sich auch schon bei Mozart, indem nämlich der Solist mit dem Orchester dialogisiert (was man z.B. ABM hört wie bei kaum Jemandem sonst!). Das kann er nur, wenn er eben doch in das Orchester nicht integriert ist.

    Die Solovioline oder der Pianist war vielmehr als Teil einer Orchestermusik zu sehen, nur eben mit hervorgehobenen Aufgaben.
    Klanglich kann dieser Aspekt mit dem Hammerklavier ( wie Du weißt höre ich ja auch am liebsten den voller klingenden Flügel) eher realisiert werden, weil sich seine Obertöne recht gut mit dem Orchesterklang mischen und weil das immer noch vorausgesetzte Continuospiel hier leichter in einer überzeugenden Art und Weise realisiert werden kann. Bei heutigen normalen Aufführungen mit großem Orchester und schwarzem Flügel schweigt der Solist andächtig während des Vorspiels, was das Gewicht dessen, was er dann ab seinem Einsatz endlich beizutragen hat, schon auf eine romantische Art und Weise überhöht oder verklärt.
    Von daher kann man zwar beklagen, dass der Pianist Schoonderwoerd von seinem Kammerensemble zugedeckt wird, oder es eben als Wert an sich ansehen, dass er als Teil eines Ensembles agiert, also mehr mit dem Kammerensemble spielt, als gegen einen großen Klangapparat als gewaltiger Virtuose anspielt.

    Jetzt wiederholst Du die theoretische Erklärung von HIP. Die ist mir aber zu theoretisch! Willi hat doch schön berichtet, dass so ideal wie auf der CD HIP im Konzert eben nicht klingt: das Klavier wirklich unterzugehen droht mangels Durchsetzungsfähigkeit. Den modernen Aufführungebedingungen sind diese Instrumente einfach nicht gewachsen - und waren es schon im 19. Jhd. nicht mehr. Und: Liszts Klavierkonzerte sind ja doch deshalb so bedeutend, weil er die starre Soli-Tutti-Gegenüberstellung aufgelöst hat zu einem kammermusikalischen Miteinander von Klavier und Orchester. Und das gerade geht mit dem modernen Konzertflügel hervorragend. Bei Schoonewoerld finde ich den Gegensatz zwischen dem saft- und kraftvollen Orchester und dem schmalbrüstigen, fast schon rachitischen Ton des Klaviers nun wirklich krass. Wenn da jemand behaupten will, dies sei das Ideal eines Beethoven-Konzerts, dann komme ich da einfach nicht mehr mit. Du wahrscheinlich auch nicht.... :D


    Ich gebe Dir Recht: Karajan/Eschenbach ist eine exemplarische, absolute Spitzenaufnahme! Ich mag nämlich keinen Populismus. Kunst soll nicht gefällig sein, sondern darf ruhig frag-würdige Seiten im wörtlichen Sinne haben, woran man sich reiben kann. Gerade die besten Aufnahmen sind immer die fragwürdigsten - nur biederes Mittelmaß ist "unanstößig". Anders als viele andere Aufnahmen hat er sein Konzept ohne Schwächen exemplarisch umgesetzt. Er hat eine Balance gefunden - und das ist gekonnt, die freilich in eine bestimmte Richtung ausfällt, die "diskussionswürdig" ist. Ich würde allerdings (1.) noch Rubinstein dazunehmen. Wenn ich Rubinstein höre denke ich sogar: War er vielleicht Eschenbachs Vorbild mit dieser seiner unaffektierten Natürlichkeit? Leinsdorf ist sehr gut, aber in der Einleitung vielleicht ein bisschen bieder. Barenboim/Rubinstein habe ich nicht - in den Hörschnipseln, die ich gehört habe, finde ich sein Dirigat ziemlich plakativ. Die Aufnahme mit Krips ist vielleicht die beste - die Krips-Box habe ich bestellt, aber wahrscheinlich ist sie nicht mehr lieferbar. Dazu nehmen würde ich (2.) Anda mit der Camarata Salzburg und natürlich (3.) Wilhelm Kempff. Seine Aufnahmen (es gibt zwei bei der DGG, in Mono und in Stereo) der Beethoven-Konzerte finde ich unverzichtbar. Kempff ist einfach der Inbegriff von Musikalität. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich empfehle daher: Selbst auf Spotify, auf iTunes-music oder vielleicht auch Tidal anhören. Es bewahrt einem vor Fehlkäufen und macht einen auf bislang unbekannte Schätze aufmerksam.

    Dazu braucht man aber ein (bezahltes) Abo?

    Ständig den Leuten zu sagen: "seht hier, dort ein Gag, hier eine Pointe, und da, ja da ist ja schon wieder so etwas unglaubliches Witziges", das mag ich nicht. Es klingt wie eine Humor über den schon längst eingebauten Humor, denn der ist tatsächlich schon in der Musik selbst vorhanden. Ich brauche da keinen riesigen Zeigefinger, der mich mit der Nase auf diese Dinge hinweist. Oder mit anderen Worten: doppelt gemoppelt muss nicht sein.

    Mein Eindruck von der Aufnahme: je länger ich sie höre, desto ärgerlicher, fast peinlicher finde ich diesen Ansatz ( peinlich wegen der durchschaubaren Absicht).


    Aber da gäbe es bestimmt eine Menge Leute, die mir da sehr scharf widersprächen.

    Ich nicht, lieber Glockenton. :D Da reichen mir schon die Hörschnipsel und ich weiß, dass mir das so gar nicht zusagt. Das sind letztlich alles postmoderne Mätzchen. Wenn der Ausdruck nicht von innen kommt, versucht man das zu kompensieren durch äußerliche Gesten.


    Wie ein Interpret seine Subjektivität ins Spiel bringen kann, ohne dass es "aufgesetzt" wäre, zeigt Altmeister Wilhelm Kempff:



    Das Wunder, was hier passiert, ist, dass Kempff mit dem ganz hervorragenden Ferdinant Leitner und dessen klassizistischer Durchsichtigkeit wirklich harmoniert, weil sein subjektiver Vortragsgestus auf der Einfühlung in den subjektiven Geist von Beethovens Musik beruht. Die Subjektivität der Musik steckt sozusagen den Interpreten an, der die Subjektivität der musikalischen Ausdrucksgeste durch seinen Vortragsgestus übernimmt als eine sich im Spiel des Pianisten potenzierende Beethoven-Subjektivität. All das macht aber Beethovens Klassizität niemals kaputt, wodurch Kempff beweist, dass man Beethoven keineswegs objektivistisch-neusachlich interpretieren muss, um eine "moderne", zeitgemäße Interpretation zu geben.


    Ich werde noch folgende Aufnahmen von ganz großen Beethoven-Kapazitäten hören und kurz berichten:


    1) Solomon, wenn ich sie bekomme.
    2) von Emil Gilels eine russische Aufnahme mit Kurt Masur sowie eine zweite mit Kurt Sanderling und der Tschechischen Philharmonie
    3) Claudio Arrau


    Schöne Grüße
    Holger

  • "Dazu braucht man aber ein (bezahltes) Abo?"


    Stimmt. Kostet etwa 20.-€/Monat.


    Viele andere Aussagen lassen mich als Laien ratlos zurück:
    Ist es so, daß in den 40/50/60 Jahren alle KLassiker in Referenzaufnahmen eingespielt wurden?
    Was danach kam und kommt ist entweder Kopie oder Klamauk/Gag/ gegen den Strich gebürstet oder sonstwas etc., also eines Kaufes nicht wert?


    VG


    Justin

    Ich verliere nie! Entweder ich gewinne oder ich lerne. (Unbekannt)

  • Ein Abo bei Spotify oder itunes Music kostet 10,- Euro!
    Auch in den letzten Jahren sind wunderbare Aufnahmen des 1. Klavierkonzertes erschienen, aber die legendären älternen Aufnahmen sollte man schon kennen, finde ich. Sie haben ihren Status nicht von ungefähr. Kempff/Leitner fand ich aber bspw. immer ein bisschen fade und wenig mitreißend. Meine Lieblingsaufnahmen sind von ABM/Giulini und Brendel/Levine aus den 80ern. Noch nicht gehört habe ich die neue Aufnahme von Minnaar/De Vriend, das ist eine spannende Konstellation, auch vom Orchester her.



    Viele Grüße
    Christian

  • Auch in den letzten Jahren sind wunderbare Aufnahmen des 1. Klavierkonzertes erschienen …


    Lt. der Zeitschrift »Gramophone« gehört auch diese Gesamt-Aufnahme in die ganz oberen Reihen:


    BBC Symphony Orchestra,
    Jiri Belohlavek


    Paul Lewis, Piano


    Aufnahme von 2010

    Einer der erhabensten Zwecke der Tonkunst ist die Ausbreitung der Religion und die Beförderung und Erbauung unsterblicher Seelen. (Carl Philipp Emanuel Bach)

  • Dazu braucht man aber ein (bezahltes) Abo?


    Ja, aber zum Glück bezahlt es meine Frau, die das eigentlich für die Kinder als Familienpaket oder so etwas abonniert hat .... ;)


    Diese Sache mit Spotify hat mich eigentlich dazu gebracht, vom CD-Player zunehmend weg-und zum PC als Abspieler hinzugehen. Ich bin ja aktuell dabei, in der wenigen Freizeit meine CDs in iTunes einzulesen, hier in uneingeschränkter Qualität. Ich bin mittlerweile bei Bruckner angekommen. Bei mir sind die CDs nach Musikgeschichte sortiert: es fängt bei Christobal Morales an....

    Wenn man einen guten DAC oder eine externe USB-Soundkarte mit gutem Wandler hat ( die sind meistens wesentlich billiger!), dann ist das schon eine sehr angenehme Sache, wenn man alle Aufnahmen sozusagen nur einen Mausklick entfernt im Zugriff hat. Auch für das Vergleichen von Aufnahmen empfinde ich es als sehr praktisch. Das geht sogar in der Mitte von langen Sätzen einer Brucknersymphonie, wenn man denn so vergleichen will. Einfach sich merken, wo der Zeitstrahl ( oder wie nennt man das...?) prozentual gerade angekommen ist, dann die andere Aufnahme anklicken, den Cursor an eine ca. vergleichbare Stelle positioniern, play und schon kann man hören, wie z.B. Böhm oder Celi bestimmte Stellen machen.


    Spotify ist für mich ein höchst komfortabler virtueller Ort, an dem ich zur Probe hören kann.
    Wenn ich total von einer CD überzeugt bin, dann besorge ich sie mir, um sie dann anschließend wieder bei iTunes einzulesen. Musik nur zu streamen, sagt mir nicht zu. Ich will auch hören können, wenn das Internet aus irgendwelchen Gründen nicht geht.
    Da ich jetzt von den großen B&W-Boxen weggegangen und zu Adam-Monitoren übergegangen bin, befinde ich mich am PC bereits als Nahfeldhörer an der richtigen Stelle, sowohl für das entspannte Hören als auch für die leider allzu oft mich davon abhaltende Arbeit.
    Den Gamingchair kann ich sehr bequem nach hinten legen, so dass ich nicht nur in Arbeitshaltung hören muss.
    Doch das nur als private Bemerkung am Rande...



    Was Kempff angeht, habe ich schon einige schöne Stücke in meiner Brahms-DG Box neulich von ihm gehört. Wenn im Radio seine völlig unhistorischen aber dennoch wahnsinnig unter die Haut gehenden Bach-Bearbeitungen mit ihm am Flügel höre, dann sind das immer die Höhepunkte einer Autofahrt.
    Da es bei Spotify diese Aufnahme auch gibt, werde ich sie mir demnächst anhören. Jetzt muss ich aber erst einmal auf das Wochenende hinarbeiten. Am Samstag eine Konfirmation, am Sonntag eine Messe und viele Dinge, die ich im Kopf, in den Fingern und in den Füßen haben muss.


    Gruß
    Glockenton


    PS.: habe gerade kurz hineingehört: klingt schon vielversprechend, sowohl Dirigent als auch Pianist! Gegenüber der von mir oben angesprochenen Vogt-Aufnahme wirkt es auf mich wie eine einzige Erholung.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat von »Glockenton«
    Mein Eindruck von der Aufnahme: je länger ich sie höre, desto ärgerlicher, fast peinlicher finde ich diesen Ansatz ( peinlich wegen der durchschaubaren Absicht).


    Aber da gäbe es bestimmt eine Menge Leute, die mir da sehr scharf widersprächen.


    Ich nicht, lieber Glockenton. :D Da reichen mir schon die Hörschnipsel und ich weiß, dass mir das so gar nicht zusagt. Das sind letztlich alles postmoderne Mätzchen. Wenn der Ausdruck nicht von innen kommt, versucht man das zu kompensieren durch äußerliche Gesten.



    Hallo Justin,


    Ich möchte hier mal kurz was einwerfen. Mir geht es ja zwischendurch genauso. Wichtig scheint mir das selber ausprobieren. Und vertraue deinem Bauchgefühl. Ich möchte Holger und Glockenton nicht widersprechen, die beiden haben sehr viel mehr Hörerfahrung als ich. Ich tippe mal auf 40 Jahre, während ich auf ganze 2 Jahre komme.


    Und deswegen ist das, was für Holger postmoderne Mätzchen sind, für mich oder auch für dich vielleicht etwas, dass wir ohne diese Mätzchen gar nicht bemerkt hätten. Ein Witz, den ich nicht als Witz erkenne, ist ja für mich nicht witzig. Ich merke das ja bei mir, dass Hörverständnis wächst, aber es wächst langsam. Bis ich die musikalische Sprache wirklich verstehe.....


    Wenn dich die CD anspricht, dann hol sie dir. Ich glaube nicht, dass man da wirklich etwas falsch machen kann. Die Erfahrung wächst, da ist es nicht so dramatisch, ob es diese oder jene Interpretation ist. Ich denke viel wichtiger ist das intensive, aktive Hören und die Freude an der Musik. jeder hier kauft auch CDs, die ihm irgendwann doch nicht mehr so gut gefallen. Das gehört dazu. Und dafür freut man sich um so mehr, wenn man eine gefunden hat, die einem richtig gut gefällt.


    Und das mit den Referenzen. Such mal im Forum, da findest du einige kontroverse Diskussionen.


    So ihr Lieben, entschuldigt fürs off topic. Aber es war mir wichtig, dass mal eben für Justin einzuwerfen

  • Es ist wirklich die ganz, ganz große Ausnahme, dass ich einer Aufnahme von Emil Gilels nichts abgewinnen kann. Das ist aber beim 1. Beerhoven-Konzert der Fall.


    Die Aufnahmen mit Kurt Masur und dem Russischen Staatsorchester wie die mit Kurt Sanderling und der Teschechischen Philharmonie gleichen sich: Da hört man einen Emil Gilels, wie er vielleicht in seinen ganz jungen Jahren geklungen hat: burschikos, rustikal, derb. Bezeichnend, dass er die Paukenschläge des Hauptthemas im Bass wirklich als Imitationen der Orchesterpauken spielt. Das Orchester spielt ebenfalls herb. Einzig der langsame Satz zeigt die überragenden Gilels-Qualitäten mit seiner russischen Getragenheit. Bei Sanderling ist es auch nicht besser. Man merkt, dass Sanderling Assistent von Mrawinsky in Leningrad war, auch er russifiziert. Der sonst ja so elegante, beschwingte Klang der Tschechischen Philharmonie ist verschwunden, die man gar nicht mehr erkennt. Die Studio-Aufnahme mit Vandernoord zeigt dieselben Seiten. Die einzig wirklich hörbare Aufnahme ist die EMI-Studioaufnahme mit George Szell. Da zeigt sich der große Beethoven-Spieler Gilels mit seiner vornehmen Klassizität. Allerdings hat Szell nicht seinen besten Tag. Da fehlt die Inspiration und das Feuer eines Carlo Maria Guilini. Ideal ist also keine der Gilels-Aufnahmen. Schade, er hätte das Konzert mit Jochum oder Böhm aufnehmen sollen, mit denen er ja auch Brahms und Mozart musiziert hat.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Gilels trifft hier irgendwie nicht den richtigen Ton, finde ich auch, aber auf den jungen Serkin ist Verlass!
    Erst kürzlich erschienen ist seine frühe Aufnahmen aus den 50ern mit Ormandy! Was für ein feuriges Klavierspiel! Ich höre ja eigentlich lieber Aufnahmen jüngeren Datums, da die besser klingen, aber im Vergleich zu Serkin sind die halt alle sehr, sehr langeweilig.
    Mein neuer Favorit bei diesem Konzert! Und wie gesagt: das ist eine andere Aufnahme als in seiner Beethoven Box - für den ersten Satz benötigt er hier 16:03, zehn Jahre späer ist er bei 17:03, live mit Kubelik sind es dann 17:21 (Orfeo) und in seiner letzten Aufnahme mit Ozawa braucht er dann 18:20.


    Muss man gehört haben!


    Nicht zu verwechseln mit der späteren Aufnahme aus den 60er Jahren mit Ormandy:


    1977:




    Viele Grüße
    Christian

  • Viele andere Aussagen lassen mich als Laien ratlos zurück:
    Ist es so, daß in den 40/50/60 Jahren alle KLassiker in Referenzaufnahmen eingespielt wurden?
    Was danach kam und kommt ist entweder Kopie oder Klamauk/Gag/ gegen den Strich gebürstet oder sonstwas etc., also eines Kaufes nicht wert?

    Wer hat denn so etwas behauptet? :D

    Auch in den letzten Jahren sind wunderbare Aufnahmen des 1. Klavierkonzertes erschienen, aber die legendären älternen Aufnahmen sollte man schon kennen, finde ich. Sie haben ihren Status nicht von ungefähr.

    Da hat Christian richtig geantwortet!

    Wenn dich die CD anspricht, dann hol sie dir. Ich glaube nicht, dass man da wirklich etwas falsch machen kann. Die Erfahrung wächst, da ist es nicht so dramatisch, ob es diese oder jene Interpretation ist.

    Das ist auch richtig. So mache ich das ja auch. Was mir spontan gefällt, kaufe ich. Ich rate allerdings immer den Anfängern, die das Werk noch nicht kennen, sich zunächst die Spitzenaufnahmen zuzulegen. Das ist für die Geschmacksbildung dann doch wichtig, erst einmal sich dem auszusetzen, was hohen und höchsten Maßstäben genügt.

    Und deswegen ist das, was für Holger postmoderne Mätzchen sind, für mich oder auch für dich vielleicht etwas, dass wir ohne diese Mätzchen gar nicht bemerkt hätten. Ein Witz, den ich nicht als Witz erkenne, ist ja für mich nicht witzig. Ich merke das ja bei mir, dass Hörverständnis wächst, aber es wächst langsam. Bis ich die musikalische Sprache wirklich verstehe.....

    Ich müsste mir die Vogt-Aufnahme in der Tat komplett anhören, um da etwas genauer zu werden. Vogt arbeitet damit, dass er vom modernen Prinzip des einheitlichen, durchgehenden Grundtempos abweicht, wie Glockenton das ja auch beschrieben hat. Das haben die "Alten" freilich auch gemacht - z.B. Kempff in den 30iger Jahren. Und ich finde faszinierend, wie sich dieser Vortragsstil dann bei ihm ändert (deshalb habe ich mir gerade alle seine Aufnahmen der Beethoven-Sonaten aus den 30igern und 40igern bestellt). Allerdings stammt diese Spielart aus der Wagner-Tradition, die noch lebendig und nicht abgebrochen war (Furtwängler!). Der Unterschied von Kempff und Vogt ist, dass man das, was Vogt macht, nach 1 Minute Hören ausrechnen kann. Das ist ein Konstruktivismus nach dem "Schema F". Dagegen kann man den alten Kempff überhaupt nicht ausrechnen, die gibt es eine intuitionistische Lebendigkeit, die in kein Schema passt und trotzdem niemals unnatürlich wirkt. Der postmoderne Aufgriff von von solchen "protomodernen" Stilen wirkt leider oft gewollt und aufgesetzt im Vergleich zum protomodernen Original, so wie ein Stil-Zitat.

    Sie haben ihren Status nicht von ungefähr. Kempff/Leitner fand ich aber bspw. immer ein bisschen fade und wenig mitreißend.

    Ich habe ja auch noch die Mono-Aufnahme mit Paul van Kempen, die müsste ich nochmals im Vergleich hören. Hier ist sie drin:



    Beim späten Kempff fällt oft auf, dass er "Lebendigkeit" anders erzeugt als in früheren Zeiten, nämlich durch eine mehr rhetorische Phrasierung. Insofern empfinde ich das gar nicht als fade, es ist nur anders.


    Serkin hast Du mir schmackhaft gemacht! Es gibt von Serkin aber noch eine andere Aufnahme aus den 40igern, die sicher ähnlich sein wird, die ist in dieser Box:



    Ja, aber zum Glück bezahlt es meine Frau, die das eigentlich für die Kinder als Familienpaket oder so etwas abonniert hat .... ;)

    Du Glückspilz!

    Diese Sache mit Spotify hat mich eigentlich dazu gebracht, vom CD-Player zunehmend weg-und zum PC als Abspieler hinzugehen. Ich bin ja aktuell dabei, in der wenigen Freizeit meine CDs in iTunes einzulesen, hier in uneingeschränkter Qualität. Ich bin mittlerweile bei Bruckner angekommen.

    Wenn Du da alphabetisch vorgehst, bist Du aber erst beim Buchstaben B... Vor so was graut es mir! :D

    Wenn man einen guten DAC oder eine externe USB-Soundkarte mit gutem Wandler hat ( die sind meistens wesentlich billiger!), dann ist das schon eine sehr angenehme Sache, wenn man alle Aufnahmen sozusagen nur einen Mausklick entfernt im Zugriff hat.

    Da liegtr bei mir der Casus knacktus... :D :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • In der von Dir abgebildeten 10CD-Collection ist diese Aufnahme von 1958, die ich mir auch noch anhören muss:



    Dauer erster Satz: 16:33 - mir Ormandy war er etwas schneller.

  • Dauer erster Satz: 16:33 - mir Ormandy war er etwas schneller.

    Lieber Christian,


    interessant! Das ist ja dasselbe Orchester und derselbe Dirigent (Caracciolo), mit dem ABM auch das 5. Konzert aufgenommen hat. Könntest Du mir die Aufnahmen vielleicht mal zukommen lassen? ;)


    Schöne Grüße
    Holger


  • Lieber Christian,


    das ist in der Tat eine Serkin-Sternstunde. :) In dieser Zeit war Serkins Handschrift der "Expressionismus", wobei er hier eben nicht die Klassizität in einem musikalischen Feuerrausch wegbläst, sondern ihm in der Tat eine Synthese gelingt. Bemerkenswert auch, wie unsentimental-klassisch er den langsamen Satz spielt. In späteren Jahren neigt er dagegen manchmal etwas zur Glättung, wo dann das Bemühen um Ausgewogenheit dominiert.



    Ganz anders Solomon, aber singulär: Solomon spielt mit einer puristischen Klarheit und Schlichtheit, einer musikalischen Lauterkeit, die auch diese Aufnahme zu einer singulären macht.



    Dagegen kann ich mich mit der Arrau/Galliera-Aufnahme nicht so recht anfreunden. Natürlich ist Arrau zu hören immer ein Gewinn und das alles ist ungemein überlegen interpretiert. Nur geht es mir mit Arrau so wie Christian es zu Emil Gilels sagte: Arrau trifft hier irgendwie den richtigen Ton nicht. Das ist mir zu schwer, zu massiv, mit zu viel Patina gespielt. Bezeichnend die "orgelhafte" Kadenz, die er spielt, die musikalisch natürlich hoch interessant ist. Leider habe ich die spätere Philips-Einspielung mit Haitink und dem Concertgebouw-Orkest nicht und mit C. Davis nicht das 1. Konzert.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    hör Dir doch mal bitte den Live-Mitschnitt mit Glemser, den Duisburger Philharmonikern unter Weil aus 2003 an (MDG).


    LG Siamak

  • hör Dir doch mal bitte den Live-Mitschnitt mit Glemser, den Duisburger Philharmonikern unter Weil aus 2003 an (MDG).

    Lieber Siamik,


    die Aufnahme habe ich nicht, aber durch Zufall heute gebraucht diese hier erstanden:



    Schöne Grüße
    Holger

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