Ist bisher vom Mailänder Ring die Rede gewesen, dann war der von Furtwängler gemeint. Das ist von nun an anders. Es gibt ein zweites, diesmal optisches Dokument, nämlich die Produktion des Teatro alle Scala in der Regie von Guy Cassiers. Daniel Barenboim dirigiert. Bis auf Götterdämmerung sind die anderen drei Teile bereits auch einzeln zu haben gewesen. Nun ist der Ring – selbstverständlich in bewegten Bildern – geschlossen. Bei Arthaus je nach Wahl und persönlicher Geräteausstattung als gewöhnliche DVD und als Blu-ray zu haben. Inzwischen ist dieses Doppel Norm. Es handelt sich um eine Koproduktion mit Staatsoper Berlin, deren GMD Barenboim ist. Ich habe mir die Blu-rays vorgenommen. Wenn es bloß losginge!
Denn ein endloser Vorspann wird schon mal mit einem musikalischen Querschnitt durch das Rheingold unterlegt, was sich in den anderen Teilen so ähnlich fortsetzt. Es fließt und hämmert so vor sich hin. Endlich der Blick auf den spärlich erleuchteten Orchestergraben des großen Hauses. Der Maestro erscheint, wird mit Beifall herzlich willkommen geheißen, die Kamera dreht. Nun ist er gegen den hellen Hintergrund der Grabenbrüstung gekehrt, die ihn für die Sänger und Musiker besser sichtbar werden lässt, dem Publikum aber aus gutem Grund verborgen bleibt. Die Zuschauer am Fernseher findet sich mit seiner Position unerwartet auf der Bühne wieder, sieht, was die Akteure sehen. Will er das? Ich könnte darauf verzichten, denn ich möchte anders eingestimmt werden, wenigstens die Illusion von Opernhaus in den eigenen vier Wänden spüren. Barenboim wirkt völlig entspannt, ganz Profi in Sachen Wagner. Er kennt die Stücke auf dem Effeff. Schnell noch ein letzter Griff in die Hosentasche. Nesteln. Sitzen auch die Knöpfe des Anzugs fest? Sie sitzen.
Den Taktstock geht zum Einsatz nach oben. Das berühmte tiefe Es kommt aus der Tiefe des Grabens herauf und nicht aus dem Rhein, wie es die Musik vorspielt. Das Gesicht Barenboims, nun gar bildschirmfüllend, sagt, dass es gut gelungen ist. Ich hätte mir etwas mehr Geheimnis und Mythos gewünscht. Barenboim schlägt klare und sachliche Seiten an, was eine von vielen Möglichkeiten ist. Lässt ihn die Kamera mal los, schwenkt sie gemächlich durch das Orchester. Celli glänzen wie alte Kommoden, die zu frisch gelackt sind. Manch einer der Musiker müssten auch mal wieder zum Friseur. Vorspiele können sehr lang sein. Blu-ray ist gnadenlos. Unerbittlich wird auch das sichtbar, was im Verborgenen bleiben sollte. Sänger altern binnen Stunden um Jahre. Schweiß rinnt ihnen von der Stirn. Wer das Bedürfnis verspürt oder Dentist ist, kann ihre Zähne zählen. Produzenten scheint noch gar nicht bewusst geworden zu sein, dass hoch aufgelöste Wiedergabe eine neue Sorgfalt im Detail verlangt. Die Plastinate in den Gesichtern von Alberich und seines ungeliebten Bruders Mime, die ihnen den Stempel der Hässlichkeit aufdrücken sollen, mögen ja aus der Ferne der Sitzreihen oder Logen ihren Zweck erfüllen, in der Nähe aber zerbröseln sie zu Budenzauber aus dem Schminkkasten. Unfreiwillig schärft sich mein eigener Blick, das Auge sieht wie durch ein Vergrößerungsglas auch noch die schiefe Naht, die sich auf einem Kostüm zu einer bösen Falte auswächst. Was die Idee, die Stimmung und die Wirkung stört, muss verborgen bleiben – auch der Pickel auf der Nase. Wir sind nicht im neorealistischen Kino im Italien der Nachkriegszeit. Wir haben uns die Mailänder Scala per Blu-ray ins Haus geholt. Es ist nicht damit getan, die Bilder noch gestochener zu machen, umso gestochener tritt auch die Kehrseite hervor. Die Magie am heimischen Fernseher ist hin. So geht das nicht. Blu-ray macht aus der Ente nicht automatisch den Schwan.
Mit den neuen technischen Möglichkeiten spielt die dekorative Inszenierung von Cassiers, des bildenden Künstlers. Sie ist mehr Design als Annäherung und Ausdeutung des gewaltigen Vierteilers. Dagegen ist nichts einzuwenden. Lieber so als noch eine schrille Verlagerung des Geschehens in die Gegenwart mit Küchenstühlen, Turnhosen und Fernsehern. Welcher Gott, Zwerg oder welche Walküre nun was und warum anstellen, wer nun wen und warum umbringt, verrät, verlockt oder liebt – das scheint weniger zu interessieren. Entscheidend ist, wie es geschieht und in Szene gesetzt ist. Dazu sind dem Ausstattungsteam sehr schöne und üppige Bilder eingefallen, die auch mich berührt und in Bann geschlagen haben. Die Lösung, Fasolt und Fafner als große Schatten zu Riesen zu machen, fand ich besonders gut gelungen. Projektionen holen den Rhein herbei, stapeln die Pferde der Walküren zu einem Turm wie bei Franz Marc, entfachen das Feuer, in dem Brünnhilde sehr unbequem auf eine Erhebung gebettet ist, die als Sockel eines Denkmals von Klinger durchgehen könnte. Bühnenbreite Panoramen rufen Erinnerungen an Wandbilder in ägyptischen Königsgräbern herauf. Beabsichtigt oder nicht, unterschiedlicher können die Assoziationen nicht sein. Allenthalben reckt sich der Wald im Hintergrund oder teilt sich zu leibhaftigen Baumstämmen, zwischen denen der aufgescheuchte Fafner in Wurmesgestalt grimmig herumwirtschaftet. Enttäuschend mickrig ist der musikalisch pompöse Einzug der Götter in Walhall ausgefallen – zumindest auf dem Bildschirm. Ein Bild jagt das andere. Wie ein bunter Bilderbogen mit Musik. Der Fernseher kann gar nicht groß genug sein. Wer nicht auf dem allerneuesten Stand ist, müsste eigentlich jetzt aufrüsten, zur Anschaffung des letzten Fernseh-Schreis schreiten. Tut es der Player noch? Wer weiß. Für PC oder Laptop muss unbedingt ein spezielles Laufwerk her. Ist das gekauft und angesteckt, geht die Sucherei nach der passenden Anspielsoftware los. Blu-ray kurbelt die Wirtschaft an.
Gesungen wird auch. Für mich habe ich festgestellt, dass die musikalische Seite bei diesem optischen Aufwand ins Hintertreffen gerät. Ist es so vielleicht auch dem Publikum in der Scala ergangen? Die Leistungen der Sänger rechtfertigen nicht immer den Aufschrei der Begeisterung nach jedem Vorhang und den lang anhaltenden, tobenden Applaus. Es ist viel Durchschnitt zu hören. Doch wer sollte besser sein, wo doch alle Namen schon aufgeboten sind, die heutzutage mit Wagneraufführungen in Verbindung gebracht werden? Wurde nicht genug geprobt? Rächt es sich, wenn Partien nicht durchgehend besetzt werden? Das fällt in so einer Edition wie dieser mehr ins Gewicht als bei den Aufführungen selbst, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, der manches vergessen lässt. Für Wotan respektive den Wanderer sind gleich drei verschiedene Sänger angetreten. René Pape im Rheingold, Vitalij Kowaljow im der Walküre und Terje Stensvold im Siegfried. Ich wäre bei Pape geblieben, der im Vergleich zu seinen Kollegen ein erstaunliches Gestaltungsvermögen einbringt und auch am besten zu verstehen ist. Und wer bitte schön ist auf die Idee gekommen, die in Erscheinung und Stimme fulminante Doris Soffel als Fricka in der Walküre durch die beliebige Ekaterina Gubanova auszutauschen? Die Soffel ist eines der wenigen wirklichen Ereignisse der ganzen Produktion, unübertroffen in Gestaltung und Wissen um Partie und Wirkung, beispielhaft im Wissen um Wort und Mitteilung. Das macht ihr kaum jemand nach. Der Praxis im Nachkriegsbayreuth der 1950er Jahre ähnlich, schwirrt die unverwüstliche Waltraud Meier gleich in mehreren Rollen durch zwei Abende. Ihre Sieglinde ist gestalterisch ein Highlight. Wunderbar. Wie einst Miss Havisham in Dickens' Roman "Große Erwartungen" scheint sie noch immer ihr Hochzeitkleid anzuhaben. In Gesellschaft des gewaltigen, stimmlich aber sehr schlanken Siegmund (Simon O’Neill), der ausgesprochen wild und nachlässig gewandet ist, wirkt das bizarr. Sie aber macht in jedem Fummel gute Figur.
Nur am Schluss des beliebten ersten Aufzuges, wenn sich das geschwisterliche Paar – drinnen liegt Hunding (John Tomlinson) in hartem Schlaf – liebestrunken auf dem Boden wälzen muss, wird das schauspielerische Talent der Meier unter dem stürmischen Werben des stattlichen Zwillingsbruders fast begraben. Das hätte sich auch anders lösen lassen. Ein Regieeinfall sollte sich auch an den Konfektionsgrößen der Sänger orientieren. Stimmlich hat Waltraud Meier in dieser Rolle ihren Zenit verlassen. Die Waltraute in der Götterdämmerung und die zweite Norn sind angemessener für die aktuelle Phase ihrer langen erfolgreichen Karriere. Anna Larsson bringt die richtige Erda-Stimme mit. Während sie im Rheingold noch hoheitsvoll aus der Tiefe heraufsteigt, krabbelt sie im Siegfried unter einem Chiffonberg hervor. Es sieht so aus, als habe es sich nicht mehr gelohnt, sich nochmal in die Spalten der unteren Erdschichten zu zwängen. Aus unerfindlichen Gründen ist sie nun mit Federn behangen, an denen beim armen Waldvogel (Rinnat Moriah) gespart wurde. Oder sind in der Geraderobe die Kostüme verwechselt worden?
Siegfried dürfte nicht schlecht gestaunt haben, dass er sich im Prolog der Götterdämmerung nicht in den Armen jener Brünnhilde wiederfindet, die er im Werk zuvor verlassen hat. In diese Rolle teilen sich Nina Stemme (Walküre und Siegfried) und Iréne Theorin (Götterdämmerung). Beide kommen im Fokus der Blu-ray-Kameras, die sich Frauen ihres Alters nicht eben charmant gegenüber zeigen, schlecht weg. Etwas mehr Respekt vor Damen darf es schon sein! Es stellt sich zudem auch hier die Frage, warum es nicht durchgehend bei der Stemme geblieben ist. Die Theorin kann es darstellerischen mit der Stemme nicht aufnehmen, fällt deutlich ab und hat Schwierigkeiten, gesangliche Linien zu halten. Mit diesem Problem kämpft auch Lance Ryan als Siegfried im Country-Wams. Er wackelt. Die endlose Szene in der Halle der Gibichungen, die unter Umständen spannend sein kann, wächst sich zu gähnender Langeweile aus, woran auch die messerscharfe Gutrune von Anna Samuil, mit der man bereits als Freia Bekanntschaft geschlossen hatte, ihren Anteil hat. Chice Projektionen können die Abwesenheit von Regie nicht vergessen machen. Nur Gerd Grochowski als Gunther versucht zu retten, was szenisch nicht zu retten ist. Plötzlich geht die Tendenz deutlich Richtung Regietheater. Mikhail Petrenko klingt über weite Strecken viel zu hell, beißt sich an manchen Buchstaben fast die Zunge ab – ist als Hagen fehlbesetzt, wenngleich mir gefällt, dass er so jung ist und nicht den schwarzen Bösewicht mimen muss. Daraus wäre noch mehr zu machen gewesen. Johannes Martin Kränzle ist der zweifache Alberich. Er kann ebenso wie Stephan Rügamer als umtriebiger Loge muttersprachlich punkten. Das gilt auch für den aufgespaltenen Mime von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Rheingold) und Peter Bronder (Siegfried). Für den jugendlichen Froh von Marco Jentzsch wäre mehr szenischer Pomp in seiner prachtvollen Szene zu wünschen gewesen, in der er der Regenbogenbrücke den Weg nach Walhall weist. Sie alle, den ruppigen Donner von Jan Buchwald eingeschlossen, gehören auf die positive Habenseite der Produktion. Wer, wie ein gestandener Wagnerianer, die Texte nicht auswendig weiß, kann bei ihnen die Untertitel getrost abschalten.
Gut gemeint ist der Einsatz der Eastman Ballet Company aus Antwerpen, die in den unterschiedlichsten Szenen tanzend in Erscheinung tritt, ohne dass der Inszenierung daraus ersichtlicher Nutzen erwächst. Meist sind die Einlagen nur dekorativ. Sie bringen die Handlung nicht voran und stören eher, sicher auch die Sänger. Ballett im Ring ist außerdem nicht neu. Das gab es schon in den 1970er Jahren bei Joachim Herz in Leipzig. Musikalisch, also aus dem Graben heraus, hatte ich mir mehr versprochen. Schließlich schafft sich Daniel Barenboim mit diesem Ring des Nibelungen selbst Konkurrenz zu seiner guten Bayreuther Aufnahme, die auch auf CD und auf DVD vorliegt. Wird die getoppt? Nein. Mir kommt diese Mailänder Produktion bei allen Aufwand wie eine solide Repertoirevorstellung vor. Mit seiner Berliner Staatskapelle macht Barenboim sehr viel mehr her. Warum also wurde nicht in Berlin, das ja Kooperationspartner ist, aufgenommen?
Mit Furtwängler habe ich begonnen, mit Furtwängler möchte ich schließen. Er hat also den Alleinvertretungsanspruch für den Mailänder Ring - der Begriff ist nicht geschützt – verloren. Das ist kein Unglück. Seit er sich 1950 an die erste geschlossene Aufführung des Werkes nach Ende des zweiten Weltkrieges machte, sind fünfundsechzig Jahre verstrichen, fast ein Menschenalter. Niemand von den Mitwirkenden lebt mehr. Genau hingehört, ist das Verfallsdatum des Mitschnitts, der bei den verschiedensten Labels – zuletzt in einer großen Box bei The Intense Media – erschienen ist, deutlich überschritten. Er ist so historisch wie Leo Slezak oder Lilli Lehmann. Und es wird nicht mehr so gut gesungen. Auch von Kirsten Flagstad, Max Lorenz, Günther Treptow oder Ludwig Weber nicht. Furtwängler ist in der eingeschränkten Klangqualität mehr Ahnung als Gewissheit. Und doch kommt da immer noch etwas aus grauer Vorzeit herüber, was an den heutigen Aufführungen zusätzlichen Zweifel sät.
Gruß Rheingold