Robert Schumann und Heinrich Heine. Eine künstlerische Begegnung und ihre liedmusikalischen Folgen

  • Der Gedanke zu einem Thread mit diesem Thema stellte sich während der Beschäftigung mit dem liedkompositorischen Werk von Robert Franz ein und entwickelte in deren Verlauf eine immer höhere Dringlichkeit. Rein vordergründig hing das damit zusammen, dass sich beim Hören und Sich-Einlassen auf die Heine-Vertonungen von Franz automatisch die entsprechenden Schumann-Lieder einstellten und so beharrlich an der Seite stehen blieben, dass man sich nur mit Mühe von ihnen lösen konnte, um den Blick frei für Franz zu haben. Aber dahinter tat sich eine Reihe von Fragen auf, die sich um ein Thema von grundsätzlicher Art rankten: Heines Lyrik als Gegenstand von Liedkomposition.
    Stellt diese, so musste ich mich fragen, infolge ihrer spezifischen Eigenart besondere Anforderungen an die Liedkomposition, und bringt sie etwa ganz eigene, darin vom lyrischen Werk anderer Autoren sich unterscheidend, besondere Probleme für ihre Umsetzung in Liedmusik mit sich? Hängt gar, so spitzte sich die Problematik zu, die Qualität einer Heine-Liedkomposition maßgeblich davon ab, in welchem Maß und wie tiefgehend sie diese Eigenart der Heine-Lyrik reflektiert und in ihrer Faktur erfasst? An sich ist eine solche Hypothese unsinnig, denn die Geschichte des Kunstliedes liefert unzählige Belege dafür, dass die Qualität einer Liedkomposition nicht in einer Art Kausalität vom adäquaten Erfassen der lyrischen Aussage abhängt.


    Umso mehr wunderte ich mich darüber, dass sie sich mir immer wieder regelrecht aufdrängte. Dann nämlich, wenn ich während oder nach der analytischen Betrachtung einer Heine-Vertonung von Robert Franz die entsprechende von Schumann mit gleichsam analytisch ausgerichteten Ohren und Augen zum Vergleich heranzog. Es war ja sehr bald klar: Der eine, Franz also, weigert sich ganz bewusst, sich den vielfältigen Brüchen in Heines Lyrik, den stilistischen, den humorvoll-sarkastischen und den ironischen, zu stellen und sie in einer angemessenen Weise in die Liedkomposition einzubeziehen. Der andere, Schumann also, stellt sich diesen Heine-spezifischen Brüchen sehr wohl und findet eine liedkompositorische Antwort darauf, die zwar hochkomplex ist und keineswegs eine Eins-zu-Eins-Übernahme der vielgestaltigen Brüche in Heines Lyrik darstellt, sich aber sehr wohl als Antwort darauf manifestiert. Und vor allem: Sie begegnet einem als davon inspiriert und in ihrer liedmusikalischen Gestalt geprägt. Man sieht sich also in dem Augenblick, wo man das als aufmerksamer Hörer der Liedmusik von Franz und Schumann bemerkt, der Frage regelrecht ausgesetzt, ob da nicht doch einen Konnex zwischen der spezifischen Eigenart der Lyrik Heines und der Qualität der sie als textliche Grundlage und inspirierende Quelle nutzenden Liedkomposition gibt.


    Es gibt ihn. Das sei als Ergebnis der Beschäftigung mit den Liedern von Robert Franz und Robert Schumann hier vorab schon einmal festgestellt. Es ist kein simpel kausaler, sondern ein in seiner Komplexität wesenhaft subtiler, weil auf der Ebene der liedkompositorischen Inspiration angesiedelter und sich auf vielfältige Weise in der Faktur des Liedes niederschlagender und damit seine allgemeine musikalische Qualität bedingender. Das wird nachfolgend in den einzelnen Liedbesprechungen aufzuzeigen und nachzuweisen sein.
    Das soll aber nicht die primäre Intention dieses Threads sein. In erster Linie geht es darum, die einzelnen, von der Themenstellung her anstehenden Lieder Schumanns in ihrer kompositorischen Faktur zu beschreiben, und dies mit dem Ziel, ihre musikalische Eigenart und – was nur schwer gelingen dürfte – ihr oft so tief beeindruckendes klangliches Wesen zu erfassen. Es sind übrigens dreiundvierzig, die beiden Trilogien einzeln aufgelistet. Und sie sollen alle angemessene Berücksichtigung finden.


    Weder möglich noch sinnvoll wäre es, hier an dieser Stelle auf die spezifische Eigenart von Heines früher Lyrik, wie sie sich als Herausforderung für die Liedkomposition darstellt, in allgemeiner Weise einzugehen. Das soll bei der Besprechung der einzelnen Lieder gleichsam implizit geschehen, wobei natürlich der spezifische Aspekt ihrer lyrisch-sprachlichen, metaphorischen und ironischen Brechung besondere Berücksichtigung erfahren muss. Wohl aber erscheint es angebracht, vorab noch einige grundlegende Anmerkungen zum Thema dieses Threads zu machen. Schumann ist Heine nur einmal begegnet, im Mai 1828 nämlich. In seinem Tagebuch bezeichnete er ihn als „ironisches Männchen“, interessant aber ist eine Notiz, die er darin zu Grabbe macht. „Er erinnert“, so schreibt er, „oft an die Bizarrerie in den Heineschen Liedern, jenen brennenden Sarkasmus, große Verzweiflung, alle die Caricaturen von Hoheit und Würde hat er mit Heine gemeinsam“. Das liest sich ein wenig so, als würde er der menschlichen und künstlerischen Grundhaltung Heines, wie er sie wahrgenommen hat, kritisch gegenüberstehen. Daran mag, was die rein menschliche Ebene betrifft, etwas sein. Als Schriftsteller, Lyriker und Künstler übte Heine eine starke Anziehungskraft auf Schumann aus, und man darf mit guten Gründen von einer partiellen künstlerischen Verwandtschaft zwischen beiden ausgehen.


    Allein schon Schumanns Begeisterung für Jean Paul musste ihn in eine gewisse künstlerische Nähe zu Heine bringen. Dessen „Buch der Lieder“ besaß er seit August 1828. Dieser 1827 erschienenen Ausgabe sind – mit Ausnahme der „Tragödie“ op.64, Nr.3 – alle Texte für seine Heine-Liedkompositionen entnommen. Er wurde zu einem gründlichen Leser von Heines Lyrik, 1829 vertiefte er sich – wie das Tagebuch verrät – in dessen „Reisebilder“. Schon Jahre vor dem großen Schub der Heine-Kompositionen – sie stellen, was die Autorschaft seiner Liedtexte anbelangt, den größten Komplex dar – entwickelte er die Idee einer Heine-Vertonung. Im Tagebuch findet sich zum 8.3.1833 die Notiz zu dem Projekt: „Musikalische Gedichte, mit unterlegten Liedern von H. Heine, verfaßt und Heine zugeeignet.“


    Sehr früh schon bildete sich in der Rezeption der Heine-Vertonung durch Schumann das Urteil heraus, er habe dessen Lyrik in ihrer dichterischen Aussage, insbesondere, was ihre inneren Brüche durch die Komponente Ironie anbelangt, nicht voll erfasst. Prägend war diesbezüglich das Buch von Hermann Albert (Robert Schumann, 1903), der die Auffassung vertrat, Schumann habe durch seine Vertonungen Heines Lyrik einer quasi-religiösen Läuterung unterzogen. Das findet sich dann wieder etwa bei Hermann Freiherr von der Pforten, wenn er (1920) kritisch anmerkt: „Sehr bezeichnenderweise hat Schumann gerade Heine durchaus ernst genommen, nicht weltschmerzlich ironisch, sondern tief und innig und durch seine Weisen idealisiert.“ Und noch Wolfgang Held vertritt in seinem Buch über Robert und Clara Schumann (Hamburg 1998) die Auffassung, Schumann sei von seiner menschlichen Grundhaltung gar nicht in der Lage gewesen, Heines Ironie in ihren subtilen Varianten zu erfassen und in seine Liedmusik Eingang finden zu lassen.


    Eine solche Äußerung ist verwunderlich und lässt sich eigentlich nur mit der Beharrlichkeit erklären, die solche Urteile manchmal über lange Zeit hin zu entfalten vermögen. Ein einfacher Blick in die schriftlichen Quellen zeigt, dass Schumann sehr wohl ein Sensorium für Heines Ironie hatte. Man kann dies den von ihm verfassten Rezensionen von Heine-Vertonungen durch andere Komponisten entnehmen, und Ironie ist auch bedeutsamer Gegenstand des Briefwechsels zwischen ihm und Clara Wieck in den ersten Monaten des Jahres 1840. Eigentlich hätte, so möchte man meinen, das Wissen um die tiefe innere Zerrissenheit Schumanns im Hin und Her zwischen den Lebensentwürfen von Florestan und Eusebius von Anfang an die Annahme nahelegen sollen, dass es bei ihm eine hochgradige personale Disposition für die Rezeption von Heines Lyrik in all dem Reichtum ihrer poetischen Aussage und deren vielfältiger innerer Gebrochenheit gibt. Und man hätte dann im aufmerksamen Hinhören auf seine einschlägige Liedmusik erkannt, dass es gerade Heines Lyrik war, die in ihrer Rezeption und in der kompositorischen Auseinandersetzung mit ihr Schumann dazu brachte und befähigte, dieser existenziell-künstlerischen Bipolarität vollinhaltlichen musikalischen Ausdruck zu verschaffen, - mehr noch, wie ich meine, umfassender und tiefer reichend, als er das in seiner Klaviermusik vermochte.


    Im Grunde ist es ja vermessen, wenn dieser Thread die Absicht verfolgt, dieses in Gestalt eines eben solchen Hinhörens auf die Liedmusik, einhergehend mit dem analytischen Blick in den Notentext, in möglichst konkreter und detaillierter Weise aufzuzeigen und nachzuweisen.
    Aber das ist ja nicht sein Hauptanliegen. Vielmehr soll er einladen dazu, sich auf – wie höchst erwünscht – diskursive Weise mit Schumanns Liedmusik zu beschäftigen und dabei ihren so beeindruckend großen klanglich-evokativen Reichtum zu erfahren.

  • Zu den Aufnahmen:


    Gestützt habe ich mich in erster Linie auf diese, musste aber, weil die gesangliche Interpretation oft nicht in der Originaltonart erfolgt, von Fall zu Fall eine ganze Reihe anderer Aufnahmen heranziehen:


    Robert Schumann, Lieder. Dietrich Fischer-Dieskau / Christoph Eschenbach, DG 1975-79


    Schumann, The Complete Songs, Hyperion


    (Die zugehörigen Covers einzustellen ist mir leider nicht gelungen)



  • Ein Thema, über das ich mich wirklich freue! :)


    Hier die Cover der besagten Aufnahmen, die beide bei jpc verfügbar sind:



    :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Danke für diese Hilfe, lieber Stimmenliebhaber!
    Und mich freut, dass Du dich auf diesen Thread freust. Denn bei meinen Einlassungen auf die Liedmusik von Robert Franz bedrückte mich mehr und mehr das Gefühl, den Freunden des Kunstliedes hier im Forum damit keine sonderliche Freude zu bereiten.
    Hoffentlich kann ich Deinen Erwartungen - und denen möglicher Anderer - gerecht werden.

  • Hallo!


    Auch ich freue mich sehr über dieses Thema. Bei Durchsicht meiner Sammlung habe ich festgestellt, dass ich von Op. 24 und der Dichterliebe aber auch der "Einzellieder" mehr Aufnahmen besitze, als mir bewusst war.


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Hoffentlich kann ich Deinen Erwartung - und denen möglicher Anderer - gerecht werden.


    Zweifel, lieber Helmut, sind immer produktiv. Je mehr Du zweifelst, umso besser und tiefgündiger empfinde ich Deine Texte. Ich bin auch auf Dein neues Thema gespannt und möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass uns schon Freund hart sehr viel zum Gegenstand hat mitteilen können. Ich erwähne das auch deshalb, weil ich überhaupt kein Desinteresse an Liedern im Forum erkennen kann.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Auch Dir, lieber WoKa, vielen Dank für Dein Interesse an diesem Thread.
    Was Deine Bemerkung anbelangt, lieber Rheingold, "weil ich überhaupt kein Desinteresse an Liedern im Forum erkennen kann", so stimme ich mir Dir darin völlig überein. Ich sprach ja oben auch nur von meinem Gefühl, mit meinen Ausführungen zu den Liedern von Robert Franz diesem Interesse nicht sonderlich gedient zu haben.
    Und wenn Du anmerkst "dass uns schon Freund hart sehr viel zum Gegenstand (habe) mitteilen können", so nimmst Du gewiss nicht nur, aber wohl hauptsächlich Bezug auf diesen Thread: http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=14690.
    Und dies völlig zu Recht. Hart hat damit einen höchst gewichtigen - und von mir überaus geschätzten - Beitrag zur Liedmusik von Robert Schumann für dieses Forum geleistet.

  • Mit dem neunteiligen Zyklus "Liederkreis op. 24" auf Gedichte von Heinrich Heine betritt Schumann als Liedkomponist auf publizistisch Aufmerksamkeit erregende Weise die Öffentlichkeit. Er entstand im Februar 1840, und Schumann merkt in dem Begleitschreiben an Breitkopf & Härtel an, er habe daran „lange und mit Lust gearbeitet“. An Clara schreibt er: „Den vorigen Tag habe ich einen großen Zyclus (…) Heine´scher Lieder ganz fertig gemacht, (…) Wie ich sie komponierte, war ich ganz in Dir. Ohne solche Braut kann man keine solche Musik machen.“
    Die zugrundliegenden Gedichte Heines entstanden in der Zeit nach 1816 und wurden in das Kapitel „Junge Leiden“ des 1827 erschienenen „Buchs der Lieder“ eingefügt. Sie kreisen um das für Heine zentrale Thema Unerwiderte Liebe, das man treffender mit den Worten Nicht-Gelingen einer liebeerfüllten Zweisamkeit umschreiben sollte. Denn der Kern dieses nimmer wieder lyrisch an- und ausgesprochenen Themas ist eine existenzielle Heimatlosigkeit, der die Hoffnung auf Erlösung daraus verwehrt bleibt.


    Morgens steh' ich auf und frage:
    Kommt feins Liebchen heut?
    Abends sink' ich hin und klage:
    Aus blieb sie auch heut.


    In der Nacht mit meinem Kummer
    Lieg' ich schlaflos, lieg´ ich wach;
    Träumend, wie im halben Schlummer,
    Wandle ich bei Tag.


    Die Verse ergehen sich in metrisch schöner Regelmäßigkeit des Wechsels zwischen vier- und dreihebigen Trochäen mit jeweils klingender und stumpfer Kadenz im direkten, ohne große metaphorische Überhöhung auskommenden Sich- Aussprechen des lyrischen Ichs als unter den Folgen einer unerfüllten Liebe leidendes Wesen. Die erste Strophe benennt im lyrisch-sprachlichen Gestus des schlichten Konstatierens den Sachverhalt, der ein permanent wiederkehrender ist. Die zweite eröffnet die seelische Dimension desselben: Es ist die eines Leidens, das nicht nur den Schlaf raubt, sondern auch dem Tag sein Wesen nimmt: Als Raum wachen und aktiven Lebens und Handelns. Bemerkenswert dabei ist, dass der Gestus gleichsam konstatierenden Sich-Aussprechens auch hier beibehalten wird, dies allerdings unter dem Einbezug eines Bildes mit evokativem Potential in den beiden letzten Versen und einer die Expressivität steigernden sprachlichen Wiederholung im zweiten Vers.


    Die Liedmusik Schumanns auf diese Verse lässt schon in dieser ersten seiner Heine-Vertonungen die zwei Grundprinzipien seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit dessen Lyrik erkennen:
    Enge Anbindung der Melodik an die prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes und interpretatorische Vertiefung desselben im Erschließen der Tiefendimensionen seiner Semantik und Metaphorik. Im Bereich von Melodik, Klaviersatz und Harmonik stellt sich das, auf den Kern gebracht, wie folgt dar:
    --- Eine in ihrer deklamatorischen Gestalt zwar einfache, in der Wiederholung einer melodischen Figur allerdings das Prinzip der Variation unter Einbeziehung der Harmonisierung nutzende Melodik;
    --- ein in seiner Struktur auffallend schlichter, aus permanent durchgehaltener Folge von Achtel im Bass und akkordischem Nachschlag im Diskant bestehender Klaviersatz;
    --- eine Anlage nach dem Prinzip der Durchkomposition, was eine komplexere Struktur der Melodik der zweiten Strophe mitsamt einer Abkehr der Harmonik von der anfänglichen volksliedhaft schlichten Rückung zwischen der Tonika D-Dur und ihren Ober- und Unterdominanten zur Folge hat;
    --- und schließlich, für den Liedkomponisten Schumann ein Markenzeichen, ein angesichts der Kürze des Liedes bemerkenswert umfangreiches und musikalisch aussagereiches Nachspiel.


    Das soll noch ein wenig konkretisiert werden. Im Allegretto-Schreitgestus des Klaviersatzes wird im Diskant des viertaktigen Vorspiels in Gestalt von bitonalen Akkorden die melodische Linie auf dem ersten Vers vorgegeben. Allerdings, und das ist bemerkenswert, beschreiben die synchronen Achtel im Bass eine gegenläufige melodische Linie, untergründiger Ausdruck einer durchaus differenzierten Sicht des lyrischen Ichs, das sich nachfolgend melodisch artikuliert. Und tatsächlich folgt das Klavier der in syllabisch exakter Deklamation zunächst auf mittlerer tonaler Lage zunächst ansteigenden, danach aber wieder fallenden melodischen Linie mit den bitonalen Akkorden des Vorspiels noch einmal und lässt erneut in der gleichen Weise die Achtel im Bass eine Fallbwegung beschreiben, wobei die Abweichung vom Prinzip der silbengenauen Deklamation, wie sie sich bei dem Wort „frage“ in Gestalt eines Achtel-Sekundfalls mit Tonrepetition ereignet, dadurch einen Akzent erhält, dass das Klavier an dieser Stelle im Bass einen Achtel-Oktavfall erklingen lässt.


    Auch bei den Worten „kommt feins Liebchen heut“ beschreibt die melodische Linie eine strukturell ähnliche Anstiegsbewegung mit nachfolgendem Fall, und das Klavier folgt ihr darin nicht nur mit dreistimmigen Akkorden im Diskant, sondern dieses Mal sogar mit bitonalen im Bass. Aber bei dem Sekundsprung mit nachfolgendem Terzfall auf dem Wort „Liebchen“ ereignet sich wieder eine Abkehr von der syllabisch gleichförmigen Deklamation in Gestalt einer melodischen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes. Und auch das Klavier weicht von seinem Gestus des Sich-Bindens an die melodische Linie ab, indem es im zweitaktigen Zwischenspiel eine zweimalige Folge von Terz und dreistimmigem Akkord erklingen lässt, die der ja eine wichtige Frage beinhaltenden und deshalb mit einem Ritardando auszuführenden melodischen Linie einen nachträglichen, leicht schmerzlich anmutenden Akzent verleiht.


    Es ist eine, bei all ihrer vordergründigen Schlichtheit doch klanglich subtile Liedmusik, die da am Liedanfang aufklingt. Und sie lässt einen hier schon vernehmen, dass das lyrische Ich sich hier in differenzierterer Weise präsentiert, als es das in den Worten Heines tut. Das sieht man auch daran, dass die melodische Linie auf den beiden nächsten Versen der ersten Strophe zwar anfänglich die strukturell gleiche Bewegung beschreibt wie auf dem ersten Vers, dabei aber doch in bedeutsamer Weise variiert ist. Nicht nur, dass sie statt mit einer Tonrepetition nun mit einem verminderten Sekundfall einsetzt, sie steigt auch in eine um eine Sekunde angehobene tonale Ebene auf, und der Sekundfall mit Tonrepetition auf dem Wort „klage“ ist nun wiederum ein verminderter. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung vom anfänglichen fis-Moll nach Cis-Dur. Und all das zeigt: Die Liedmusik reflektiert darin die Tatsache, dass das lyrische Ich vom Gestus des Fragens zu dem des Klagens übergegangen ist. Und das ist die liedkompositorische Subtilität dabei: Da dieses Ich des lyrisch-sprachlichen Gestus des konstatierenden Berichts im zweiten Verspaar beibehält, setzt Schumann hier das Prinzip der Wiederholung ein, - mit allerdings bemerkenswerten Variationen.


    In der zweiten Strophe entfaltet die melodische Linie stärkere Expressivität, darin sich sogar langsam steigernd. Sie bewegt sich in deklamatorischen Figuren, die sich in ihrer Grundstruktur, der Aufeinanderfolge von repetierenden Achteschritten mit nachfolgender Dehnung, wiederholen, wobei die tonale Ebene eine langsame Anhebung erfährt. Bei den beiden ersten Versen folgt das Klavier mit Akkorden im Diskant diesen Figuren. Die seelischen Regungen des lyrischen Ichs greift die Liedmusik in der Weise auf und lässt sie zu einer klanglich-sinnlichen Erfahrung werden, dass die melodische Linie immer wieder kleine, mit einer Tonrepetition eingeleitete Bogenbewegungen beschreibt, in die eine Dehnung eingelagert ist, die den semantisch relevanten Worten einen Akzent verleiht: Bei den Worten „Nacht“, „meinem“, „Kummer“ (Akzent durch Tonrepetition) und „schlaflos“ (Akzent durch Terzsprung mit nachfolgender Pause). Hinzu kommt, dass eine Moll-Harmonisierung vorliegt (e-Moll) und erst am Ende, bei den Worten „schlaflos“ und „wach“ eine Rückung in die Dur-Parallele G-Dur mit kurzem Ausweichen nach D-Dur erfolgt.


    Bei den Worten „träumend wie im halben Schlummer“ steigt die melodische Linie unter Beibehaltung ihres Gestus in die höchste tonale Lage des Liedes auf, wobei nicht nur dieses eine Steigerung ihrer Expressivität mit sich bringt, sondern auch die Tatsache, dass sich eine Wiederholung der melodischen Figur (Achtel-Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung) ereignet. Bemerkenswert ist dabei allerdings, wie Schumann wieder mit einer kleinen Variation in die Tiefe der emotionalen Dimensionen des lyrischen Textes vordringt. Bei dem Wort „Schlummer“ kehrt die melodische Linie nicht, wie nach dem Terzsprung auf „wie“, zu ihrem Ausgangspunkt zurück, sondern sie beischreibt einen – mit einem Ritardando ausführenden und schmerzlich anmutenden – keinen Sekundfall und geht danach bei den Worten „träumend wandle ich bei Tag“ in einen, angesichts der bisherigen Grundstruktur der Melodik ungewöhnlichen, Fall über eine ganze Oktave über, aus dem sie sich zwar mit einem kleinen Bogen zwar noch einmal erhebt, aber nur, um danach wieder zu den Grundton „D“ in tiefer Lage zurückzukehren und sich dort einer Dehnung zu überlassen. Die Harmonik vollzieht bei dieser letzten Melodiezeile zunächst die gleichen Rückungen wie bei der vorangehenden: Von e-Moll nach G-Dur und in die Dominante. Aber wie subtil Schumann auch die Harmonik als Mittel zur Interpretation des lyrischen Textes einsetzt, das zeigt sich darin, dass er, abweichend von der zweitletzten Melodiezeile, nun kurz von der Dehnung auf dem letzten Wort „Tag“ auf das Wort „bei“ eine kurze Rückung zur Dominante A-Dur legt, was der lyrischen Aussage einen Akzent verleiht.


    Und dann ist da noch das Nachspiel. In den zehn Takten, die es einnimmt, bilden die zwei-und dreistimmigen Akkorde, die – wie das ja im Klaviersatz generell der Fall ist – im Nachschlag zu den Einzeltönen im Bass erklingen, zweimal eine bogenförmige melodische Linie ab, die an die erinnert, die auf dem ersten und dem dritten Vers der ersten Strophe liegt. Das Bemerkenswerte daran ist freilich der große harmonisch-modulatorische Reichtum. Eine harmonische Rückung folgt auf die andere, wobei auch das Tongeschlecht einbezogen ist: Es sind fast alle Tonarten und Tongeschlechter tangiert, in denen die Melodik harmonisiert ist, und das will wohl heißen:
    Das Nachspiel bekräftigt den Eindruck, den die Liedmusik von diesem lyrischen Ich vermittelt: Das Bild eines Menschen, der unter der nicht gelingen wollenden Liebe leidet, dies aber nicht so tiefgreifend, dass Leib und Seele dabei in Gefahr gerieten.
    Und in den letzten drei Takten des Nachspiels liefert die Liedmusik die endgültige Bestätigung dafür. Über gehaltenen Akkorden beschreiben Achtel im Diskant eine – wiederum – bogenförmige Bewegung, wobei die Harmonik eine Rückung von E-Dur nach A-Dur vollzieht. Und dann mündet alles in einen mit einem Achtel-Auftakt versehenen arpeggierten D-Dur-Schlussakkord.

  • Hallo!


    Die beiden Referenzaufnahmen, die Du eingangs genannt hast, unterscheiden sich ja deutlich in der Geschwindigkeit. Wenngleich die getragenere Version dem eigentlich traurigen Inhalt des Gedichtes nahe kommt, gebe ich zu, dass ich dennoch mehr Freude an der Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau habe. Als weiteren Vergleich habe ich eine Aufnahme mit Brigitte Fassbaender gehört. Auch sie recht flott mit abwechlungsreichen Tempi.


    Frage: War nicht Belsatzar das erste Heine-Gedicht, das Schumann vertonte?


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Auf Aufnahmen von den einzelnen Liedern kann ich mich hier nicht einlassen. Das ist ein anderer Ansatz der Liedbetrachtung, der, wenn ich ihn hier dazu nähme, diesen Thread total überfrachten würde.
    Selbstverständlich kannst Du, lieber WoKa, wie auch jeder und jede andere an diesem Thread Interessierte, diesen Aspekt hier von Fall zu Fall einbringen.
    Aber schöner wäre, wenn es zu Äußerungen über den klanglichen Charakter der Lieder selbst käme.
    Das würde ich mir sehr wünschen. Denn meine Liedbetrachtungen weisen diesbezüglich ein Defizit auf. Ich schaffe es einfach nicht, den Anteil an liedanalytischer Betrachtung zugunsten einer Beschreibung der klanglichen Substanz zu reduzieren.


    Was Deine Frage anbelangt: „War nicht Belsatzar das erste Heine-Gedicht, das Schumann vertonte?“

    Ich wollte als Richtschnur für die Abhandlung der Lieder die Opus-Ziffer und das Datum der Publikation verwenden, also nicht das Datum der Komposition.
    Das erste Heine-Lied, das Schumann komponierte, war „Du bist wie eine Blume“. Ein Autograph, das wohl erst 1996 entdeckt wurde, trägt das Datum „d. 23. Januar 1840“.
    Im übrigen geht das auch aus einem Brief von Brahms an Clara Schumann hervor: Darin heißt es u.a.:
    Ihr Mann hat dem Fräulein R. in dem Schererschen Liederbuch alle Lieder gezeigt, die er früher komponiert hat. Unter anderem sagte er, das Lied >Du bist wie eine Blume< sei sein erstes gewesen!. Dem ist ja so.“

    Die Ballade „Belsatzar“ wurde, wie das Autograph ausweist, am 2. Februar 1840 komponiert. Publiziert wurde sie aber erst als Opus 57 im Jahre 1847 bei Siegel&Stoll, Leipzig.
    Ich werde also, meinem Prinzip treu bleibend, erst später auf sie hier eingehen.

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  • Es treibt mich hin, es treibt mich her!
    Noch wenige Stunden, dann soll ich sie schauen,
    Sie selber, die schönste der schönen Jungfrauen; -
    Du armes (Heine: „treues“) Herz, was pochst du so schwer!


    Die Stunden sind aber ein faules Volk!
    Schleppen sich behaglich träge,
    Schleichen gähnend ihre Wege; -
    Tummle dich, du faules Volk!


    Tobende Eile mich treibend erfaßt!
    Aber wohl niemals liebten die Horen; -
    Heimlich im grausamen Bunde verschworen,
    Spotten sie tückisch der Liebenden Hast.


    Die hochgradige innere Unruhe, die das lyrische Ich im Warten auf die Geliebte erfüllt und hin und her treibt, bringen Heines Verse auf vielgestaltige und darin unmittelbar ansprechende Weise zum Ausdruck: Im Bereich der Semantik als umtriebiges Hin und Her der Gedanken und Gefühle, das sich dabei bis in die griechische Mythologie versteigt; und im formal-prosodischen Bereich – und darin hohe lyrische Kunst verratend – als ausgeprägte metrische Unordnung. Die Tatsache, dass dieses lyrische Ich im ungeduldigen Warten auf die „schönste der schönen Jungfrauen“ innerlich außer Rand und Band ist, bringen die Verse damit zum Ausdruck, dass sie kein Metrum halten können. Dieses schwankt permanent zwischen den Versfüßen Jambus und Trochäus hin in her, und der Daktylus drängt sich dabei immer auf besonders expressive Weise hinein. Das einzige, was die Strophen formal zusammenhält, ist der umarmende Reim nach dem Schema A-B-B-A. Aber selbst da bringt der Könner Heine eine subtile Unordnung hinein: In Gestalt eines unreinen Reims bei der Wiederholung der Worte „faules Volk“ in der zweiten Strophe.


    Und Schumann? Wie geht er mit diesen spezifischen, die poetische Größe des Gedichts ausmachenden semantischen und prosodischen Gegebenheiten um? Um es gleich vorweg zu konstatieren: Er wird diesen mit seiner Liedmusik nicht nur gerecht, er bringt in sie sogar Aussagen ein und setzt Akzente, die als interpretatorische Erschließung untergründiger semantischer Dimensionen und somit als Vertiefung der genuin lyrischen Aussage verstanden werden wollen. Das gilt insbesondere für den bei Heine so wesentlichen Aspekt der Ironie. Und im Umsetzen dieser liedkompositorschen Intention geht er sogar so weit, dass er sich über die formale lyrisch-sprachliche Anlage des Gedichts hinwegsetzt, am markantesten dergestalt, dass er die erste Liedstrophe mit dem dritten Vers der ersten Gedichtstrophe enden lässt, und deren vierten Vers in die zweite Liedstrophe hineinnimmt. Aber, um bei den stärksten Eingriffen in die formale Anlage des lyrischen Textes zu bleiben: Dazu gehört auch, dass er der Liedmusik darauf einen Dreiachteltakt als Metrum zugrunde legt.


    Wenn nun im folgenden auf die diesbezüglich relevanten Details der Faktur eingegangen wird, so soll dabei eine Beschränkung auf das wirklich Wesentliche erfolgen. Als Tempo-Vorgabe gilt, dem Geist der lyrischen Aussage entsprechend, die Anweisung „sehr rasch“. Und in diesem Zusammenhang kommt dem Klaviersatz, wie schon gleich das fünftaktige Vorspiel vernehmen lässt, eine maßgebliche Funktion zu: Vor allem in der ersten und der dritten Liedstrophe wirkt er in seiner akkordisch sprunghaften, den ersten Taktschlag in Gestalt eines Viertels betonenden Anlage wie eine Art Antreiber für die Lebhaftigkeit, in der die melodische Linie der Singstimme sich entfaltet.


    Diese setzt auf den Worten des ersten Verses mit einer geradezu stürmisch anmutenden Aufstiegsbewegung ein, mit einem anfänglichen Quartsprung, der nach einem kurzen Sekundfall in einen vierfachen Sekundanstieg bis zu einem hohen „E“ übergeht. Und bemerkenswert daran ist, dass sich dies in Moll-Harmonisierung ereignet, - ein h-Moll, das freilich am Ende, beim Terzfall auf den Worten „mich her“ nach Fis-Dur rückt. Und alsbald wird auch klar, warum Schumann diese Rückung vornimmt. Dieses lyrische Ich ist zutiefst unruhig. Es schwankt zwischen der durchaus als schmerzlich erfahrenen – und deshalb in Moll gebetteten - Haltung und ungeduldigen Wartens und der Vorfreude auf die Begegnung mit der Geliebten – der das Tongeschlecht Dur zugeordnet ist – hin und her. Und die melodische Linie bringt da ja auch zum Ausdruck. Nach dem stürmischen Anstieg geht sie in einen neuen Gestus über, den einer deklamatorischen Tonrepetition auf sich langsam absenkender tonaler Ebene bei den Worten „Noch wenige Stunden, dann soll ich sie schauen, sie selber…“. Diese Tonrepetitionen bringen eine Art Innehalten in der Imagination dieser zu erwartenden Begegnung zum Ausdruck, und nicht nur die Harmonik reagiert darauf, indem sie ausschließlich im Dur-Bereich (Fis-Dur und Cis-Dur) moduliert, auch das Klavier tut es. Denn es lässt nun von seinen sprunghaften Akkord-Figuren ab und folgt nicht nur dem Fall der melodischen Linie mit Akkorden und Einzeltönen in Diskant und Bass, es verfällt sogar bei der melodischen Tonrepetition in Gestalt eines tiefen „C“ auf den Worten „sie selber“ selbst sogar in diesen Gestus: In Gestalt von repetierenden Terzen und Einzeltönen in Diskant und Bass.


    Und dann ereignet sich liedmusikalisch Bemerkenswertes. Heine hat sein lyrisches Ich die so innig Herbeigesehnte monologisch mit den Worten anreden lassen: „die schönste der schönen Jungfrauen“. Das kann man unterschiedlich lesen und verstehen: Als lyrisch sprachlicher Ausdruck liebevoll-wahrhaftiger Empfindung dieses Ichs, aber auch als Distanzierung des Dichters davon, im Wissen darum, dass es zum Wesen der Liebe als auch sinnliches Begehren gehört, sich in solche im Grunde sachlich völlig unsinnige, geradezu hypertrophe Überhöhung der geliebten Frau hineinzusteigern. Unüberhörbar ist nun, dass Schumann – darin Heine wohl gerecht werdend – sich für die zweite Leseweise entschieden hat. Die melodische Linie löst sich nach einem zweifachen Terzanstieg aus der tiefen Lage und einer nachfolgenden Kombination aus Sekundfall und Wiederanstieg vom Gestus der Tonrepetition und geht bei dem Wort „Jungfrauen“ in einen mit einem quintolischen Achtel-Melisma versehenen und in eine Dehnung mit Fermate mündenden Terzfall über. Das wirkt nicht nur melodisch, sondern sogar allgemein liedmusikalisch übersteigert, denn das Klavier vollzieht den Terzfall einschließlich des Melismas im Diskant mit. Schumann will mit seiner Liedmusik sagen: Ich lese hier Heinesche Ironie.


    Und in der zweiten Strophe bekundet er diesen interpretatorischen Umgang mit Heines Lyrik noch einmal. Nur ist es hier nicht Ironie, sondern Humor, was er daraus herausliest und mit seiner Liedmusik klanglich-sinnlich nachvollziehbar macht. Das lyrische Ich verfällt mit den Worten „Du armes Herz, was pochst du so schwer“ in die Haltung des sich nach innen richtenden monologischen Selbstgesprächs, wobei bemerkenswert ist, dass Schumann aus dem „treuen Herzen“ Heines ein „armes“ macht. Es könnte sich dabei um einen Flüchtigkeitsfehler handeln, eher möchte man aber vermuten, dass Absicht dahintersteht: Das „arme Herz“ entspricht mehr dem Bild, das Schumann in seiner Liedmusik von diesem lyrischen Ich entwirft.


    Auf diesen Worten, die aus der ersten Gedichtstrophe genommen sind und die zweite Liedstrophe einleiten, liegt die gleiche melodische Linie wie auf dem ersten Vers, und auch der Klaviersatz ist identisch. Dann aber, bei den ersten drei Versen der zweiten Gedichtstrophe, beschreibt die melodische Linie drei Mal die strukturell gleiche Bewegung, wobei sich allerdings die tonale Ebene deutlich absenkt und die Harmonik von Fis-Dur über D-Dur nach H-Dur rückt, dies unter Einbeziehung von nachfolgenden Rückungen in die Subdominante oder das Tongeschlecht Moll. Es ist ein in tiefer Lage ansetzender Anstieg, der zunächst in deklamatorischen Sekundschritten erfolgt, die sich dann zu Terzschritten erweitern und am Ende, also bei den Worten „faules Volk“, „behaglich träge“ und „ihre Wege“, in diese markant hervorhebendes sprunghaftes Auf und Ab übergeht. Bemerkenswert ist nun, dass das Klavier mit schöner Regelmäßigkeit die melodische Anstiegsbewegung mit taktlang gehaltenen Oktaven im Bass begleitet, dies dann aber beim Auf und Ab in schönster Kanon-Manier exakt wiederholt. Das gibt verleiht der Liedmusik hier einen Anflug von Komik und will wohl so verstanden werden, dass Schumann es wunderlich findet, dass sich das lyrische Ich in der monologischen Auseinandersetzung mit seiner Situation solch großen Gedanken und Bildern hingibt.


    Auf den Worten „Tummle sich, du faules Volk“ liegt dann, klanglich ein wenig übersteigert anmutend und ebenfalls als Ausdruck von Humor wirkend, ein in extrem tiefer Lage ansetzender, rasant über deklamatorische Terzschritte erfolgender, dann aber plötzlich abreißender, weil durch ein Pause unterbrochener Anstieg der melodischen Linie, die danach, bei „du faules Volk“, eine ritardando auszuführende Kombination aus Terzsprung mit nachfolgend doppeltem Terzfall in hoher Lage beschreibt, die vom Klavier auch mit Einzeltönen in Diskant und Bass mitvollzogen wird. Schumann will, das ist hier kaum zu überhören, dieses lyrische Ich in seinen situationsbezogenen gedanklichen und emotionalen Exkursionen nicht so ganz ernst nehmen.


    Zu geradezu hektischer Entfaltung geht die melodische Linie bei den Versen der dritten Gedichtstrophe über, darin die Worte reflektierend „Tobende Eile mich treibend erfasst“, die Heine mit einem Ausrufezeichen versehen hat. Deklamatorische, über das Intervall einer Sekunde steigende und fallende und immer wieder einmal kurz in Gestalt von Tonrepetitionen innehaltende Schritte prägen die melodische Linie, die das Klavier mit Figuren im Diskant begleitet, denen ebenfalls vorwärtsdrängende Lebhaftigkeit eigen ist, weil sie aus einer Kombination von Akkorden im Wert eines punktierten Achtels, eines Sechzehntels und eines Achtels bestehen. Bei der vom lyrischen Text abweichenden Wiederholung der Worte „niemals liebten die Horen“ die Schumann so weit getrieben hat, dass er auch das Wort „niemals“ noch einmal wiederholt, kommt am Ende, bei dem verminderten Terzsprung auf dem Wort „Horen“ ein geradezu überraschendes Innehalten in die Liedmusik, denn eine Fermate zwingt sie dazu. Und all das, dieses in der Struktur der melodischen Linie und im Ritardando der Wiederholung wie ein insistierendes Sich- Verbohren in die antike Mythologie wirkende Verhalten des lyrischen Ichs weist wohl auch eine leichte Anmutung von Komik auf.


    Am Ende, bei den Worten „Heimlich im grausamen Bunde verschworen, / Spotten sie tückisch der Liebenden Hast“ lässt die melodische Linie von ihrem Ritardando-Gestus ab und kehrt zu dem lebhafter, hier nun sogar hektischer Entfaltung zurück. In permanenter dreifacher Tonrepetition steigt sie von einem „H“ zu einem „E“ in mittlerer Lage auf, in h-Moll harmonisiert und vom Klavier mit den Takt ausfüllenden achtstimmigen Akkorden begleitet, geht dann bei den Worten „spotten sie tückisch“ in einen sich wiederholenden Fall über, um am Ende, bei „Liebenden Hast“ einen dreifachen, nun in Fis-Dur harmonisierten und in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg zu beschreiben.


    Dieses leicht gedehnte „H“, in dem die Melodik des Liedes endet, ist nun aber doch in h-Moll harmonisiert. Das lyrische Ich vermag sich nicht von all den quälenden Gedanken und Emotionen zu lösen, die die Situation des Warten-Müssens mit sich bringt. Und das bringt auch das achttaktige Nachspiel mit seinen sprunghaften, aus einen Dehnung hervorgehenden Achtel-Akkord-Figuren zum Ausdruck. Sie steigen Takt für Takt aus tiefer in obere Lage auf, erst in h-Moll, dann in c-Moll harmonisiert. Am Ende ereignet sich dann ein Fall zu einem die Liedmusik beschließenden sechsstimmigen Akkord in mittlerer Lage. Es ist einer in h-Moll.

  • Ich wandelte unter den Bäumen
    Mit meinem Gram allein;
    Da kam das alte Träumen
    Und schlich mir ins Herz hinein.


    Wer hat euch dies Wörtlein gelehret,
    Ihr Vöglein in luftiger Höh'?
    Schweigt still! wenn mein Herz es höret,
    Dann tut es noch einmal so weh.


    "Es kam ein Jungfräulein gegangen,
    Die sang es immerfort,
    Da haben wir Vöglein gefangen
    Das hübsche, goldne Wort."


    Das sollt ihr mir nicht (Heine: „mehr“) erzählen,
    Ihr Vöglein wunderschlau;
    Ihr wollt meinem Kummer mir stehlen,
    Ich aber niemandem trau'.


    Das von Gram erfüllte Leiden unter verloren gegangener Liebe steht – wie so oft bei Heine – im Zentrum dieser Verse. Der Reiz seiner Lyrik und ihr poetischer Gehalt gründen in der Vielgestaltigkeit, in der er erfahren wird und in der das lyrische Ich sich damit auseinandersetzt. Hier geschieht das in Gestalt einer in zarten Bildern entworfenen Situation der Begegnung mit „Vöglein“, die ehedem das „hübsche goldne Wort“ des Liebesgeständnisses „gefangen“ haben. Das lyrische Ich wehrt sich dagegen, es von ihnen noch einmal zu vernehmen, und das tut es mit einer Begründung, die die seelische Subtilität und Komplexität seines Leidens verrät. Da ist einerseits die Tatsache, dass solches Erinnert-Werden weh tun kann. Von dieser Allerweltserfahrung hebt sich dieses lyrische Ich aber ab, indem es sich dagegen verwahrt, dass ihm „sein Kummer“ gestohlen wird. Das Leiden an verlorener Liebe und der Kummer, der damit verbunden ist, werden damit, weil sinnstiftender Faktor für die individuelle Existenz, zu einem kostbaren Besitz.


    Die Zartheit der lyrischen Bilder, die sich aus einer auffälligen Vielzahl von lyrisch-sprachlichen Diminutiva und schmückender Epitheta generiert und darin – Heines poetische Meisterschaft bekundend – in keiner Weise peinlich wirken, greift Schumann mit einer Liedmusik auf, die von einer überaus zarten, in gebundener Linie sich entfaltenden und jegliche Sprunghaftigkeit meidenden Melodik geprägt ist und von einem Klaviersatz begleitet wird, der ihr in ihren Bewegungen in Gestalt von Akkorden, aber auch von Einzeltönen folgt. Nur im Vor- und im Nachspiel reklamiert das Klavier eine größere Eigenständigkeit der musikalischen Aussage. Das aber ist keine, die als die Aussage der melodischen Linie in Frage stellender Kommentar empfunden werden will. Eher als einer, der die Vielfalt ihrer Dimensionen in konzentrierter Gestalt vernehmlich werden lässt.


    Schon das viertaktiige Vorspiel ist diesbezüglich vielsagend: Mit seinen klanglichen Figuren, bei denen sich aus lang gehaltenen Akkorden fallend zum Teil bitonale Viertel und Achtel lösen, wobei sich aber nicht nur die tonale Ebene in bogenförmiger Weise erst anhebt und dann wieder senkt, sondern auch die Harmonik eine im Quintenzirkel gleichsam bogenförmige Bewegung beschreibt: Von der Grundtonart H-Dur über Fis-, Cis-, und Dis-Dur zurück zur Grundtonart, in der der melodische Linie einsetzt, allerdings auftaktig über die Dominante Fis-Dur. In seiner satztechnischen und harmonischen Komplexität verweist dieses Vorspiel auf die Vieldimensionalität der Seelenlage des lyrischen Ichs, wie sie Schumann aus den Versen Heines herausgelesen hat.


    Und um diese in ihrer Grundbefindlichkeit klanglich zu evozieren, setzt er das kompositorische Mittel der Wiederholung ein und verleiht damit der Liedmusik ihre hier so große Eindringlichkeit. Auf den ersten beiden Versen der ersten, der zweiten und der vierten Strophe liegt eine Liedmusik, die in Melodik, Klaviersatz und Harmonik identisch ist. Die dritte Strophe muss von ihrer Sonderrolle im lyrischen Text her ausgenommen bleiben, und Schumann weist ihr, bei der Textnähe seines liedkompositorischen Ansatzes, natürlich ebenfalls eine liedmusikalische Sonderrolle zu, einschließlich einer ausdrucksstarken Rückung im Bereich der Harmonik. Auf den beiden Verspaaren liegt eine identische klanglich lieblich anmutende, weil aus triolischen Tonrepetitionen bestehende melodische Linie, die zunächst in G-Dur harmonisiert ist, das aber dann, wenn nach einem Terzfall erneut Tonrepetitionen auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene erfolgen, eine Rückung nach a-Moll vollzieht. Die klangliche Lieblichkeit, die hier von der Liedmusik ausgeht, gründet wesentlich darin, dass das Klavier den Bewegungen der melodischen Linie im G-Dur-Bereich durchweg mit terzenbetonten Viertel-Akkorden folgt.


    Aber was sagt die sich dreimal wiederholende Liedmusik über die seelische Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs aus der Sicht Schumanns aus?
    Der Versuch einer Antwort erfordert eine detaillierte analytische Betrachtung von Melodik, Klaviersatz und Harmonik. Die melodische Linie entfaltet sich in ruhigen deklamatorischen Schritten und beschreibt dabei zweimal eine ähnliche Bewegung auf identischer tonaler Ebene, dem Grundton „H“ in mittlerer Lage. Davon weicht sie in einer nur kleinen bogenförmigen Bewegung über eine Sekunde nach unten ab und überlässt sich nach der Rückkehr erst einer Dehnung in Gestalt eines Quintfalls (erstmalig bei „Bäumen“), danach indem sie eine Tonrepetition auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene beschreibt (bei „allein“). Das Klavier folgt diesen Bewegungen mit synchron angeschlagenen dreistimmigen Akkorden im Diskant und lässt bei den beiden melodischen Dehnungen einen den ganzen Takt einnehmenden fünfstimmigen Fis-Dur-Akkord erklingen, was beinhaltet, dass diese beiden melodischen Figuren jeweils in die Dominante zur Grundtonart H-Dur münden.


    Dieses lyrische Ich begegnet einem, so wie es in dieser drei Strophen einleitenden und damit die Komposition maßgeblich prägenden Liedmusik auftritt, als ein Wesen, das bei all dem seelischen Gram und dessen Intensivierung, wie sie die Begegnung mit den „Vöglein“ mit sich bringt, in ungefährdeter Weise in sich ruht. Die zweimaligen Dehnungen lassen dies klanglich sinnfällig werden. Und die Tatsache, dass sie beide Male mit einer harmonischen Rückung in die Dominante verbunden sind, lässt die jeweils nachfolgenden Äußerungen des lyrischen Ichs zu solchen werden, die, auch wenn sie in den drei Strophen liedmusikalisch unterschiedlich auftreten, letzten Endes dann doch als aus dieser Grundhaltung kommend verstanden werden wollen. Und das macht dieses Lied in seiner musikalischen Aussage so vielschichtig, und lässt es, weil es damit die Polyvalenz der lyrischen Aussage der Heine-Verse reflektiert, zu einem kompositorisch großen werden.


    Um das nur kurz durch Konkretion zu belegen:
    Bei den Worten „Da kam das alte Träumen / und schlich mir ins Herz hinein“ behält die melodische Linie anfänglich noch den Gestus des ruhigen Sich-Entfaltens in Gestalt von deklamatorischen Repetitionen auf der tonalen Ebene bei, geht danach aber erst in einen Fall und danach zu einem Aufstieg in hohe Lage über das große Intervall einer Oktave über, der in triolischer Weise erfolgt und danach mit einem Ritardando in einen doppelten, in eine Dehnung mündenden Sekundfall übergeht. Das Klavier vollzieh all das, auch den triolischen Aufstieg der melodischen Linie, mit Vierteln im Diskant mit und verleiht dem klanglichen Nachdruck dadurch, dass die Bewegungen der Viertel mit einem Achte-Vorschlag eingeleitet und von lang gehaltenen arpeggierten Akkorden im Bass begleitet werden. Harmonisiert ist all das in gis-Moll, das dann nach cis-Moll rückt und erst am Ende des fast zwei Takte einnehmenden Zwischenspiels in den Dur-Bereich (Fis-Dur) zurückkehrt.
    Diese Liedmusik bringt die seelische Rührung zum Ausdruck, die sich beim lyrischen Ich mit der Wiederkehr des „alten Träumens“ einstellt. Aber sie tut das mit einer bemerkenswert gedämpften Emphase und will damit sagen: Diese Rührung ist eine sanfte, keine die Seele tief treffende und gar in Erregung versetzende.


    Ähnlich ist das bei den parallelen Versen der zweiten Strophe. Auf den Worten „Schweigt still! wenn mein Herz es höret, / Dann tut es noch einmal so weh“ beschreibt die melodische Linie eine nahezu identische Bewegung, die vom Klavier in gleicher Weise begleitet wird. Sie weicht nur dadurch von der vorangehenden ab, dass das Wort „einmal“ aus der Dehnung auf „Herz“ (in der ersten Strophe) nun eine triolische Tonrepetition in hoher Lage fordert, die ihm einen starken Akzent verleiht.


    Bemerkenswert, weil für die musikalische Aussage des Liedes von hoher Relevanz, ist die Liedmusik auf den parallelen Versen der Schlussstrophe, den Worten „Ihr wollt meinem Kummer mir stehlen, Ich aber niemandem trau'“ also. Die melodische Linie setzt wieder, in H-Dur-Harmonisierung, mit einem Sprung ein und geht danach in Tonrepetitionen über. Dieses Mal ist es aber kein Quart-, sondern ein Sextsprung, und die melodische Linie beschreibt danach auch keine nach unten gerichtete Bogenbewegung, sondern erst einen Quart-, dann einen gedehnten Sekundfall auf dem Wort „stehlen“, der mit einer Rückung nach gis-Moll verbunden ist. Die Worte „ich aber niemandem trau´“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die aus einer aus einer Tonrepetition hervorgehenden Fallbewegung besteht und bis auf den letzten deklamatorischen Schritt identisch ist, sich jedoch im zweiten Fall, verbunden mit einer harmonischen Rückung nach cis-Moll, um eine Terz abgesenkt entfaltet.


    Die Häufigkeit der Tonrepetitionen wirkt, zusammen mit dem Sich-Absenken der tonalen Ebene und der Moll-Harmonisierung so, als wolle sich das lyrische Ich dagegen wehren, dass es seiner Identität beraubt wird, dies aber im Wissen darum tut, dass diese Identität eine des Erfüllt-Seins von Gram und Leid ist. Und das sechstaktige Nachspiel, das aus den Figuren des Vorspiels gebildet ist, bestätigt das. Es endet zwar in H-Dur, dies jedoch in Gestalt eines Quartsextakkords, der klangliche Offenheit suggeriert.

  • Lieb Liebchen, leg´s Händchen aufs Herze mein; -
    Ach, hörst du, wie's pochet im Kämmerlein?
    Da hauset ein Zimmermann schlimm und arg,
    Der zimmert mir einen Totensarg.


    Es hämmert und klopfet bei Tag und bei Nacht;
    Es hat mich schon längst um den Schlaf gebracht.
    Ach! sputet Euch, Meister Zimmermann,
    Damit ich balde schlafen kann.


    Ein starkes Bild steht im Zentrum dieses Gedichts: Der Zimmermann, der dem lyrischen Ich einen „Totensarg“ zimmert. Und die zweite Strophe greift es auf, indem am Ende daraus sogar eine Todessehnsucht wird, der mit dem adverbial gebrauchten altertümelnden „balde“ noch Nachdruck verliehen wird. Die Bitte an das „lieb Liebchen“, das „Händchen“ aufs Herz zu legen zielt nicht direkt darauf ab, endlich Liebeserfüllung gewährt zu bekommen, sie soll Mitfühlen, wenn nicht gar Mitleiden wecken, und Heine lässt ganz bewusst offen, ob dahinter sich doch Hoffnung auf mehr regen möge.
    Wie überhaupt vieles, wie ganz typisch für Heines Liebeslyrik, in der Schwebe bleibt. Da sind wieder die Diminutiva, die der an die Geliebte gerichteten Bitte nicht gerade das aus tatsächlich tiefem Leid hervorgehende Gewicht verleihen, und darüber hinaus wirkt das Bild vom „Zimmermann“ angesichts der Tatsache dass er in einem „Kämmerlein“ am Werk ist, ein wenig überzeichnet, so dass auch offen bleibt, wie ernst es dem lyrischen Ich mit seiner Sehnsucht nach Erlösung vom Liebesleid durch den Tod wirklich ist.


    Und nun drängt sich natürlich die Frage regelrecht auf, wie Schumann diesen in seiner lyrischen Aussage auf eigenartige Weise schillernden Text kompositorisch aufgreift und in Liedmusik umsetzt. Hierzu findet sich in der Schumann-Biographie eine durchaus vielsagende Stellungnahme. Der Schumann-Biograph August Reissmann übte in seinem 1865 in Berlin erschienenen Buch „Robert Schumann, Sein Leben und seine Werke“ heftige Kritik an dieser Komposition, indem er ihr vorwarf, sie treibe mit ihrer Komik regelrechten Frevel am heiligen Ernst des Gedichts. Ganz offensichtlich hat er sehr wohl ihre liedmusikalische Ambivalenz vernommen, sie aber doch verkannt und falsch beurteilt, indem er sie auf einen lyrischen Text projizierte, dem er, in Verkennung seiner poetischen Aussage, „heiligen Ernst“ bescheinigte. Eben diesen weisen Heines Verse gerade nicht auf, und Schumanns Liedmusik wird ihnen in ihrer höchst subtilen klanglichen Ambivalenz durchaus voll und ganz gerecht.


    Einem solchen Urteil wohnt zwangsläufig viel Subjektivität in der Rezeption dieser Liedmusik und ihrer analytischen Betrachtung inne. Und um gleich vorweg auf den Punkt zu bringen, worauf es sich stützt: Es ist die das Lied in seinem Charakter stark prägende Diskrepanz zwischen der – im Strophenlied-Gestus sich ja wiederholenden - Liedmusik auf den beiden ersten Versen der Strophen und jener, die auf dem zweiten Verspaar liegt, - mit der höchst ausdrucksstarken Exposition der Worte „Totensarg“ und „schlafen kann“, in die sie jeweils am Ende mündet. Es ist keine vordergründig expressive Diskrepanz, die man da vernehmen kann, vielmehr eine höchst subtile, die sich zwischen einer sich in klanglicher Lieblichkeit ergehenden Melodik und einer solchen entfaltet, die erst in den Gestus beharrlicher Tonrepetition verfällt, um dann einen bogenförmigen, aber darin zerbrechenden Abschluss zu beschreiben.


    Vieles enthüllt sich dem analytischen Blick auf dieses Lied als eigenartig und vielsagend. Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass die melodische Linie ohne Klavierbegleitung auftaktig einsetzt und dann – durchgehend bis zum Ende des Liedes – vom Klavier mit zumeist dreistimmigen Achtel-Akkorden im Diskant begleitet wird, die nicht auf dem schweren, sondern dem leichten Teil des der Liedmusik zugrundeliegenden Zweiviertakts liegen. Und noch ein weiteres kommt an Eigenartigkeit hinzu: Der Klavierbass schweigt. Und das lange. Erst dort, wo die melodischen Tonrepetitionen auf dem dritten Vers der Strophen in einen triolischen Gestus übergehen, also bei den Worten „Zimmermann“ und „sputet euch“, meldet sich der Klavierbass mit einer fallend angelegten Folge von Einzeltönen im Wert von Halben, Vierteln und Achteln zu Wort.


    Wie ist das zu verstehen?
    Vielsagend ist die Tatsache, dass Schumann, wie das Autograph dieser Komposition ausweist, darauf verzichtet hat, in der Endfassung der melodischen Linie ein dreitaktiges Vorspiel voranzustellen. Ganz offensichtlich wollte er, dass die melodische Linie unmittelbar, ohne jegliche Vorbereitung, also in gleichsam dominanter Weise mit ihrer Aussage einsetzt, und indem er sie neun Takte lang ohne jegliche Begleitung durch den Klavierbass lässt und diese nur darauf beschränkt, dass das Klavier auf den unbetonten Taktteilen, also im Nachschlag Achtel-Akkorde erklingen lässt, wirken die an das „Liebchen“ in der ersten Strophe gerichtete Bitte und das Geständnis im ersten Verspaar der zweiten Strophe so, als kämen die jeweiligen Worte aus tiefster Seele und seien Ausdruck tiefer innerer Bedrängnis.


    Nun ist einerseits der melodischen Linie mit ihrem anfänglichen Anstieg in Sekundintervallen und den zweimaligen Achtel-Tonrepetitionen vor dem nächsten deklamatorischen Schritt eine gewisse Eindringlichkeit eigen, zumal die nachschlagenden Akkorde im Diskant ihrer Bewegung folgen. Dennoch wirkt sie in ihrer klanglichen Anmutung lieblich, und dies, obgleich sie in Moll (e-Moll) harmonisiert ist. Es ist kein wirklicher Seelenschmerz, der sich in diesem Moll ausdrückt, vielmehr verleiht es der melodischen Linie die Anmutung von Innigkeit. Und wenn sie dann bei den Worten „Ach, hörst du, wie's pochet im Kämmerlein“, eben dieses „Pochen“ aufgreifend“ in ein Auf und Ab mit wiederum eingelagerten Tonrepetitionen übergeht und dann am Ende, bei dem Wort „Kämmerlein“ eine vom Klavier akkordisch mitvollzogene Legato-Fallbewegung beschreibt, die in H-Dur-Harmonik mündet, dann findet der Eindruck von klanglicher Lieblichkeit und Innigkeit des Ausdrucks, wie er sich bei der Rezeption dieser Liedmusik von Anfang an einstellte, hier seine Bekräftigung.


    Und so liest man denn diese Deutung, die Berthold Höckner in einem 1993 erschienenen Aufsatz (Titel: „Spricht der Dichter oder der Tondichter“) dazu vorlegte, mit einer gewissen Skepsis:
    „Die instrumentale persona hat sozusagen >Herzrhythmusstörungen<, wenn der Akzent auf den schweren Taktzeiten ausbleibt (…) Die Ungeduld des Protagonisten richtet sich nun auf die fiebernde Erwartung des Todes.“
    Mit dem Wort „nun“ nimmt er dabei Bezug auf das zweite Lied, in dem sich ja auch Ungeduld des lyrischen Ichs ausdrückt und bei dem der Klaviersatz ebenfalls nach dem Prinzip nachschlagender Achtel-Akkorde angelegt ist. Man kann unter Berücksichtigung des Klaviersatzes und der Struktur der melodischen Linie die Liedmusik auf dem ersten Verspaar der beiden Strophen durchaus als Ausdruck von innerer Ungeduld des lyrischen Ichs verstehen, „fiebernde Erwartung des Todes“ ist darin allerdings angesichts ihrer unüberhörbaren klanglichen Lieblichkeit beim besten Willen nicht zu vernehmen. Schumann hat, darin ein tiefes Verständnis von Heines Lyrik bekundend, die Schlussworte „damit ich balde schlafen kann“ nicht so ganz wörtlich genommen.


    Und die Liedmusik auf dem zweiten Verspaar der beiden Strophen liefert ja eine Bestätigung dafür. Auf den Worten „da hauset ein Zimmermann“ verharrt die melodische Linie, nun in f-Moll harmonisiert, in Tonrepetitionen auf einem „F“ in tiefer Lage, wobei dem Wort „Zimmermann“ durch eine triolische Dehnung noch ein besonderer Akzent verliehen wird. Bei „schlimm und arg“ heben sich diese Tonrepetitionen um eine große Sekunde an und bringen dadurch, auch weil eine Rückung nach es-Moll damit eingeht und nun endlich das Klavier im Bass eine weit gespannte bogenförmige Fallbewegung von Einzeltönen erklingen lässt, eine markante Steigerung der Expressivität mit sich.


    Dann aber ereignet sich liedmusikalisch Bemerkenswertes. Bei den Worten „der zimmert mir“ verbleibt die melodische Linie immer noch, nun allerdings um eine kleine Sekunde in der tonalen Ebene zurückgefallen und in H-Dur harmonisiert, im Gestus der Tonrepetition mit einem kleinen Sekundsprung am Ende. Der aber leitet eine geradezu überraschende und darin vielsagende Wendung im Gestus der melodischen Linie ein. Bei dem Wort „einen“ beschreibt sie einen, dieses mit einer Triole auf der ersten Silbe und einem nachfolgenden Sekundfall deutlich überdehnenden kleinen Bogen in mittlerer Lage und hält danach unvermittelt inne. Dies einen ganzen Takt lang, in dem das Klavier im Diskant einen Fall von zwei dreistimmigen, von einer Achtelpause unterbrochenen Staccato-Achtelakkorden anschlägt. In den bitonalen Akkord, der diese Bewegung im nächsten Takt fortsetzt, fällt nun mit einem Mal die melodische Linie wieder ein und wiederholt diese Fallbewegung in Gestalt von Viertelton-Sekundschritten in tiefer Lage, und dies in e-Moll-Harmonisierung. Bei den Worten „schlafen kann“ am Liedende schweigt das Klavier sogar, und die Singstimme deklamiert diese drei im Sekundintervall aufeinanderfolgenden Tonschritte staccato in die klangliche Leere, - vom Klavier danach in einem viertaktigen Nachspiel kommentiert
    mit einer akkordischen Version der melodischen Linie auf dem Eingangsvers.


    Verstörend wirkt die Liedmusik am Ende der beiden Strophen zweifellos, - mit diesem Abreißen der Melodik und dem Fortsetzen einer Fallfigur im Klaviersatz danach ausgerechnet auf den für die lyrische Aussage so gewichtigen Worten „Totensarg“ und „schlafen kann“. Aber drückt sich darin wirkliche, wahrhaft empfundene und damit ernst gemeinte Todessehnsucht aus? Man kann das so hören und auffassen. Besonders die am Ende ohne jegliche Klavierbegleitung deklamierte melodische Fallbewegung auf den Worten „schlafen kann“ legt das nahe. Und so meint denn auch D. Fischer-Dieskau: „Bis dahin unerhört ist die Stelle am Schluß, wo die Stimme sich allein überlassen bleibt, gleichsam konfrontiert mit der Ausweglosigkeit des Todes.“


    Warum aber die Pause für die melodische Linie davor und ihr nachträgliches Einsteigen in den akkordischen Fall im Klaviersatz und Fortsetzen desselben?
    Könnte man das auch so verstehen, dass sie sich durch das Klavier geradezu gedrängt, ja genötigt sieht, etwas auszusprechen, was zu sagen sie zögerte? Und deshalb am Ende, vom Klavier allein gelassen, auf den Staccato-Gestus verfällt, den sie bei dem Wort „Totensarg“ noch mied?
    Dann wäre dieses lyrische Ich, so wie Schumann seinen Heine gelesen hat, nicht in wirklicher Todesgefahr, spielte nur mit diesem Gedanken, - dem lieben Liebchen gegenüber.
    Ich gestehe, dass ich zu dieser Interpretation des Liedes neige.

  • Schöne Wiege meiner Leiden,
    Schönes Grabmal meiner Ruh',
    Schöne Stadt, wir müssen scheiden, -
    Lebe wohl! ruf' ich dir zu.


    Lebe wohl, du heil'ge Schwelle,
    Wo da wandelt Liebchen traut;
    Lebe wohl! du heil'ge Stelle,
    Wo ich sie zuerst geschaut.


    Hätt' ich dich doch nie gesehen,
    Schöne Herzenskönigin!
    Nimmer wär' es dann geschehen,
    Daß ich jetzt so elend bin.


    Nie wollt' ich dein Herze rühren,
    Liebe hab' ich nie erfleht;
    Nur ein stilles Leben führen
    Wollt' ich, wo dein Odem weht.


    Doch du drängst mich selbst von hinnen,
    Bittre Worte spricht dein Mund;
    Wahnsinn wühlt in meinen Sinnen,
    Und mein Herz ist krank und wund.


    Und die Glieder matt und träge
    Schlepp' ich fort am Wanderstab,
    Bis mein müdes Haupt ich lege
    Ferne in ein kühles Grab.


    Abschied ist das Thema und der Inhalt dieser Verse, - durchaus wohl auch auf Hamburg bezogen, von dem Heine im Sommer 1819, nach dreijährigem Aufenthalt daselbst, Abschied nehmen musste. Aber es geht ihm nicht nur um ein einfaches Lebewohl-Sagen, dieser Ort wird ihm zu einem, mit dem sich die liebevolle Begegnung mit seiner „Herzenskönigin“ und zugleich die Erfahrung des Scheiterns der Beziehung zu ihr verbinden. Und so ergehen sich denn diese Verse in geradezu emphatischem Lobpreis des Ortes, sich entfaltend in hymnischen Worte wie „schöne Stadt“ und „heil´ge Schwelle“ des Wandelns der Liebsten, aber sie sind auch von Anfang an semantisch gebrochen, wenn die „Wiege“ zu der von „Leiden“ wird und der Ort zum „Grabmahl der Ruh´“.
    Und so ist es denn nur folgerichtig, dass sie schließlich vom anfänglich wehmütigen „Lebe wohl“ umschlagen in eine emotional hochgradig aufgeladene, sich in expressiver lyrischer Sprache und entsprechenden Bildern ergehende reflexive Auseinandersetzung mit dem geliebten und nun verloren gegangenen Du. Und alles dann schließlich mündet in das typisch Heinesche Bekenntnis der abgrundtiefen und in die Nähe des Todes führenden seelischen Verwundung, - gipfelnd in dem Bild vom „müden Haupt“, das in einem „kühlen Grab“ seine Ruhe findet.
    Aber es ist – wohlgemerkt – ein „fernes“.


    Diese komplexe, weil mehrere semantische Ebenen aufweisende Lyrik kann für einen eminent wortbezogenen Liedkomponisten wie Schumann nur zur Folge haben, dass die Liedmusik darauf ihrerseits komplex, also in ihrer Faktur mehrdimensional sein muss. Und so ist es auch. Wobei Schumann allerdings Eingriffe in den lyrischen Text vornehmen muss, um seiner Aussage liedmusikalisch voll gerecht werden zu können. Es handelt sich dabei um Wiederholungen einzelnen Wortgruppen und eine Wiederkehr der ersten Strophe unter Abänderung des letzten Verses am Ende des Liedes, so dass dieses im Unterschied zum Heine-Gedicht sieben Strophen aufweist. Wiederholt wird aber auch die Liedmusik. Auf den Gedichtstrophen eins, zwei und vier ist sie identisch, mit nur wenigen kleinen Variationen in der melodischen Linie und etwas ausgeprägteren, aber den klanglichen Charakter nicht verändernden im Klaviersatz.


    Diese Liedmusik will, eben weil sie am Ende des Liedes noch einmal wiederkehrt, als Ausdruck der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs in der Situation des Abschied-Nehmens von einem Ort verstanden werden, mit dem es die Erfahrung tief bewegenden Lebens verbindet. Von daher bilden die beiden ersten Strophen eine musikalische Einheit, steht doch das „Lebe wohl“ in ihrem Zentrum. Dass Schumann die Aussagen der dritten, der fünften und der sechsten Strophe mit einer sich deutlich davon abhebenden Liedmusik aufgreift, ist der Tatsache geschuldet, dass das lyrische Ich sich hier vorwurfsvoll an das geliebte Du wendet, von dem es verlassen wurde. Auf den ersten Blick will zunächst nicht einleuchten, warum bei der dazwischenstehenden vierten Gedichtstrophe die Liedmusik der ersten beiden Strophen wiederkehrt. Aber von ihrer lyrischen Aussage her war das für Schumann von seinem liedkompositorischen Konzept her nur konsequent, denn das lyrische Ich spricht hier nur formal die Geliebte an, Inhalt der Strophe ist ein auf sich selbst bezogener Rückblick auf das vergangene Leben mit dem Du und den Motiven, die ihm von seiner Seite zugrunde lagen.


    Dem Lied liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, die Grundtonart ist E-Dur, und es soll „bewegt“ vorgetragen werden. Die seinen Kern und seinen Rahmen zugleich bildende Liedmusik begegnet einem als von lieblicher, seelenerfüllter, fast schon schwärmerischer Klanglichkeit geprägt. Dazu trägt ganz wesentlich die melodische Linie der Singstimme bei. Bei den Worten „schöne Wiege meiner Leiden“ entfaltet sie sich in ruhigen, leicht wiegend anmutenden, weil sich wellenartig entfaltenden und auf dem ersten Taktschlag jeweils eine Dehnung aufweisenden deklamatorischen Schritten auf der tonalen Ebene eines „Gis“ in mittlerer Lage und geht am Ende, bei dem Wort „Leiden“ in eine mit einem Achtelsekundschritt eingeleitete Dehnung über, die diesem einen leichten Akzent verleiht. Das Klavier begleitet mit einer Folge von repetierenden Terzen und dreistimmigen Akkorden im Diskant, die im Wechsel mit repetierenden Achteln im Bass erklingen und ein schwebendes klangliches Bett entfalten.


    Bis zu dem Wort „scheiden“ behält das Klavier diese Form der Begleitung der melodischen Linie bei, und auch diese bleibt bei ihrem deklamatorischen Grund-Gestus der Akzentuierung des ersten Schrittes am Taktanfang mittels einer Dehnung. Bei den Worten „schönes Grabmal meiner „Ruh´“ kommt, die damit verbundenen Emotionen des lyrischen Ich reflektierend, eine leichte Emphase in sie, dies in Gestalt eines auftaktigen Quartsprungs mit nachfolgendem Sekundfall bei beim Wort „Grabmahl“ und einem triolischen Sekundanstieg mit Dehnung in oberer Mittellage bei den Worten „meiner Ruh´“. Und auch die Harmonik reflektiert diese Emotionen, indem sie vom anfänglichen E-Dur nach cis-Moll rückt und erst am Ende dieser kleinen Melodiezeile wieder zum Tongeschlecht Dur zurückkehrt. Dies allerdings in Gestalt von Dis-Dur-Harmonik, was zur Folge hat, dass infolge des dominantischen Charakters dieser Rückung ein weiterer Faktor der Steigerung der Emphase in die Liedmusik tritt. Das Wort „scheiden“, das den semantischen Kern des nächsten Verses ausmacht, ist dafür verantwortlich, und dementsprechend bewegt sich nun die melodische Linie bei den Worten „schöne Stadt, wir müssen scheiden“ in ihrem Grund-Gestus auf der tonalen Ebene eines hohen „Dis“ und geht am Ende, bei eben diesem Wort, in einen schmerzlich-kläglich wirkenden verminderten Sekundfall über, der in cis-Moll harmonisiert ist.


    Dem lyrisch zentralen und gleichsam programmatischen Abschiedsruf „Lebe wohl“ verleiht Schumann besonderes liedmusikalisches Gewicht, indem er zum kompositorischen Mittel der Wiederholung greift. Das aber nicht in der simplen Gestalt der identischen Wiederkehr von Melodik und Klaviersatz, sondern unter Nutzung des musikalischen Potentials der Variation. Und so beschreibt denn die melodische Linie auf den Worten „Lebe wohl! ruf ich dir zu“ zunächst eine auf der tonalen Ebene sich stufenweise absenkende Folge von Fallbewegungen, die am Ende, bei den Worten „dir zu“ in einen expressiven und ritardando vorzutragenden Quartsprung mit nachfolgender Dehnung mündet. In der nachfolgenden eintaktigen Pause für die Singstimme lässt das Klavier eine leicht dramatisch anmutende Figur aus in kleinen Sekundschritten ansteigenden und wieder fallenden Achteln erklingen, und danach deklamiert die Singstimme die Worte „Lebe wohl, lebe wohl!“ auf einer in hoher Lage ansetzenden und sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fallbewegung, die eben deshalb, weil sie kontinuierlich und nicht mehr wie zuvor in fallenden Sprüngen erfolgt, die Anmutung von schmerzlicher Entschiedenheit und Endgültigkeit aufweist. Und so beschreibt denn auch die Harmonik nicht mehr die einfache Rückung von der Dominante zur Tonika, sondern deckt das ganze Spektrum von Unter- und Oberdominante ab.


    Die Liedmusik der dritten, fünften und sechsten Strophe hebt sich davon deutlich ab. Und das geschieht, darin die Fülle der Vorwürfe gegenüber dem Du und die Vielfalt der damit einhergehenden Emotionen reflektierend, auf liedmusikalisch beeindruckend vielgestaltige und sich bis zu großer Emphase steigernden Weise. Die Worte „Hätt' ich dich doch nie gesehen, schöne Herzenskönigin!“ bringen einen Vorwurf im Gestus der Verwünschung zum Ausdruck, und so geht denn die melodische Linie in rascher Deklamation zu sprunghaften und in bitterem e-Moll harmonisierten Tonrepetitionen über, die das Klavier seinerseits mit drei- und vierstimmigen Achtel-Akkordrepetitionen akzentuiert. Erst bei dem Wort „Herzenskönigin“ lässt die melodische Linie von diesem Gestus ab und beschreibt nun eine bogenförmig fallende und sich wieder erhebende Bewegung, die, den emotionalen Gehalt dieses verklärenden Wortes reflektierend, in Dur-Harmonik (D-Dur) mündet. Und der in der Wiederholung in der tonalen Ebene sich steigernde und in einer Rückung von G-Dur nach C-Dur harmonisierte Quint- und Terzfall auf dem Wort „nimmer“ leitet anschließend auf den Worten „wär' es dann geschehen, / Daß ich jetzt so elend bin“ eine in a-Moll harmonisierte, klanglich höchst schmerzlich anmutende, weil sich in permanenten Tonrepetitionen vollziehende und am Ende in einen expressiven Fall übergehende Anstiegs-Bewegung der melodischen Linie ein.


    Bemerkenswert allerdings: Der aus einem Quintsprung hervorgehende Sekundfall auf den Worten „so elend bin“, der mit einem Ritardando vorzutragen ist, mündet in die Dominante H-Dur. Das mit der Funktion einer Überleitung zur E-Dur Harmonik der Liedmusik der vierten Gedichtstrophe zu erklären, würde den kompositorischen Absichten Schumanns allerdings nicht gerecht. Eher wohl darf man darin einen musikalischen Ausdruck der Grundhaltung des lyrischen Ichs vernehmen, so wie Schumann sie sieht und versteht: Das Elend-Sein ist ein konstitutives Element seiner Existenz.


    Den Höhepunkt an Expressivität erreicht die Liedmusik in der fünften Strophe, und das reicht hinüber bis zum ersten Verspaar der sechsten. Die melodische Linie nimmt einen vorwärts und nach oben drängenden, von Sprungbewegungen geprägten Gestus an und weist in ihrer Harmonisierung starke Modulationen in Harmonik und Tongeschlecht auf. Bei den Worten „Doch du drängst mich selbst von hinnen“ geht sie, in g-Moll harmonisiert, nach einem Septfall in eine Aufstiegsbewegung über und vollzieht diese Bewegung nach einem neuerlichen Septfall auf dem Wort „bitt´re“ auf den Worten „Worte spricht dein Mund“ diese Bewegung in ähnlicher Gestalt gleich noch einmal, nun in a-Moll stehend. Auf dem Wort „Wahnsinn“ liegt ein lang gedehnter, nun in cis-Moll stehender Terzfall in hoher Lage, und das Klavier lässt, abweichend von seiner bisherigen akkordischen Begleitung, nun in immer wieder neuem Ansatz nach unten laufende und mit Sprungbewegungen eingeleitete Achtel-Ketten in Diskant und Bass erklingen, und dies keineswegs unisono, so dass ein regelrechter klanglicher Wirbel entsteht, - Ausdruck der tiefen Erregung des lyrischen Ichs. Bei den Worten „krank und wund“ beschreibt die melodische Linie ebenfalls eine Fallbewegung, die auf „krank“ eine gleich doppelte Dehnung (punktiertes Viertel und Achtel-Sekundfall) aufweist und diesem Wort einen starken Akzent verleiht.


    Mit den Worten „Und die Glieder matt und träge / Schlepp' ich fort am Wanderstab“ kommt ein Effekt dramatischer Steigerung des Ausdrucks in die Liedmusik. In gewichtig anmutenden, weil immer wieder in repetierenden und dabei anfänglich gedehnten deklamatorischen Schritten steigt die melodische Linie aus unterer Mittellage in obere empor, wobei die Harmonik permanente Rückungen durchläuft. Und dann, bei der Wiederholung der Worte „schlepp´ ich“, verharrt sie, nun in e-Moll harmonisiert, wie insistierend auf einem „E“ in hoher Lage, schleppt sich bei „Wanderstab“ mühsam um noch eine Sekunde höher, um das, nach einem Rückfall, gleich noch einmal zu versuchen, bis sie dann doch auf der letzten Silbe des Wortes in einen gedehnten Terzfall übergeht, der sich zu den Worten „bis mein“, mit denen das zweite Verspaar der Strophe einsetzt, fortsetzt.


    Er leitet eine auf den Worten „müdes Haupt“ mit einer Dehnung einsetzende Fallbewegung der melodischen Linie ein, die sie bis hinunter zu einem tiefen „D“ bei dem Wort „lege“ führt. Hier erklingen im Klavier zwei fünfstimmige und klanglich trist wirkende dis-Moll-Akkorde. Die nachfolgenden Worte „ferne in ein kühles Grab“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die sich in silbengetreuen Sekundschritten langsam und wie mühsam, weil noch einmal um einer Sekunde zurückfallend, bis zu einem „G“ in mittlerer Lage erhebt. Es liegt auf dem Wort „Grab“, trägt eine Fermate und ist in e-Moll harmonisiert. Am Ende der Dehnung ereignet sich allerdings ein kleiner Sekundfall, der nach E-Dur über, der Grundtonart, in der die letzte Liedstrophe einsetzt.


    Sie stellt bis einschließlich des dritten Verses eine Wiederholung der ersten dar. Anstelle von deren letztem Vers werden nun die Worte „Lebe wohl, lebe wohl“ deklamiert, und dies auf einer die Melodik des Liedes beschließenden Fallbewegung, die sich, „adagio“ deklamiert, von einem hohen „E“ erst über das Intervall einer Quinte und danach , nach einem kleinen Sekundsprung, in drei Schritten über kleinere Intervall bis hinunter zu einem tiefen „E“ absenkt. Das erste „Lebe wohl“ wird ohne Klavierbegleitung deklamiert, freilich noch unter dem Eindruck des vorangehenden ci-Mol-Akkordes stehend, danach begleitet das Klavier mit einzelnen, von Viertelpausen voneinander abgehobenen Viertelakkorden bei von E-Dur über die Subdominante und wieder zurück. Es ist ein anfänglich noch leicht schmerzlich eingefärbter, danach in die Entschiedenheit übergehender Abschiedsruf.


    Ein langes, vierzehntaktiges Nachspiel folgt ihm. Das Klavier lässt über sechs Takte eine Folge von aus einem lang gehaltenen bitonalen Akkord hervorgehenden Achtel-Quinten und -Terzen erklingen, die in immer höhere Lage aufsteigt und dabei permanente harmonische Modulationen(fis-Moll, H-Dur, cis-Moll) durchläuft, bis sie in eine zweimalige, von einer fallenden Achtelkette mit einander verbundene Folge von sich langsam in tiefe Lage absenkenden zwei- und dreistimmigen Akkorden übergeht, an deren Ende dann, das Lied beschließend, ein E-Dur-Akkord erklingt, dem ein lang gehaltener H-Dur- Akkord vorausgeht. Man empfindet dieses Nachspiel wie ein nochmaliges Durchlaufen all der seelischen Regungen, die sich zuvor in der Melodik des Liedes ausdrückten.
    Und die Schlussakkorde wollen sagen: Dieses lyrische Ich ist sich in seinem Abschied-Nehmen eins mit sich selbst.

  • Warte, warte, wilder Schiffsmann,
    Gleich folg' ich zum Hafen dir;
    Von zwei Jungfraun nehm' ich Abschied,
    Von Europa und von Ihr.


    Blutquell, rinn' aus meinen Augen,
    Blutquell, brich aus meinem Leib,
    Daß ich mit dem heißen Blute
    Meine Schmerzen niederschreib'.


    Ei, mein Lieb, warum just heute
    Schaudert dich, (Heine: schauderst du) mein Blut zu sehn?
    Sahst mich bleich und herzeblutend
    Lange Jahre vor dir stehn!


    Kennst du noch das alte Liedchen
    Von der Schlang' im Paradies,
    Die durch schlimme Apfelgabe
    Unsern Ahn ins Elend stieß?


    Alles Unheil brachten Äpfel!
    Eva bracht' damit den Tod,
    Eris brachte Trojas Flammen,
    Du bracht'st beides, Flamm' und Tod.


    Noch einmal das Thema „Abschied“, - im „Buch der Lieder“, Kapitel „Junge Leiden“, unmittelbar auf „Schöne Wiege meiner Leiden“ folgend. Der „Schiffsmann“ wird angesprochen, der das lyrische Ich übers Meer davonfahren soll und, weil dies ein Akt gewaltsamer Trennung sein wird, sogleich zum „wilden“ wird. Und angesprochen danach wird vor allem das geliebte „Du“, - und dies bis ans Ende des Gedichts und in noch schrofferer, expressiverer und metaphorisch gar bis in biblische und in antik-epische Räume hinauf gesteigerter lyrischer Sprache. In seinem geradezu gewaltigen Schmerz schreckt das lyrische Ich nicht davor zurück, übertrieben auftretende Bilder wie die vom „Blutquell“ zu bemühen, der aus Augen und Leib treten soll, auf dass damit der „Schmerz“ niedergeschrieben werden könne, und anschließend das Du provozierender Weise zu fragen, warum es davor zurückschaudere, dieses Blut zu sehen. Und am Ende wird dieses Du sogar zum Inbegriff der biblischen Eva und der griechischen Göttin der Zwietracht Eris hochstilisiert.


    Aber in all dem, einsetzend schon mit dem Bild des Abschieds von „zwei Jungrauen“, drängt sich ein hyperbolischer Gestus in die lyrische Sprache, der dem, was da gesagt wird, die letztendliche existenzielle Ernsthaftigkeit abspricht, - oder diese doch zumindest infrage stellt. Wenn dieses lyrische Ich sich dem Du als „blutquellend“, „bleich“ und „herzeblutend“ präsentiert, dann möchte man es ihm, eben wegen der geradezu hemmungslosen metaphorischen Übertreibung, nicht wirklich abnehmen, eher darin ein genüssliches Sich-Suhlen in den Wogen des Seelenschmerzes vernehmen. Und das Bild vom „Niederschreiben“ dieses Schmerzes mit dem „heißen Blute“ will den Rezipienten dieser Lyrik sehr wohl in diesem ihrem Verständnis bekräftigen.


    Und wie ist das mit dem Rezipienten Robert Schumann? Hat er diese Verse ausweislich seiner Liedmusik darauf genauso gelesen? Man kann auch in diesem Fall, wie bei allen vorangehenden Liedern dieses Opus 24, die Frage mit einem klaren und eindeutigen Ja beantworten. Auch bei dieser Komposition reflektiert die Liedmusik die für Heines Lyrik so typische ironische Brechung der dichterischen Aussage. Hier vernehmlich und analytisch fassbar in dem Nebeneinander von penetrant häufigen, klanglich übertrieben wirkenden. weil immer wieder in verdoppelter Gestalt auftretenden Oktavengängen im Klaviersatz einerseits, und den einmal sogar den Tritonus in Anspruch nehmenden, in schroffer Modulation harmonisierten, und darin wirklichen Seelenschmerz reflektierenden Bewegungen der melodischen Linie der Singstimme andererseits.
    Und da ist noch etwas, was die Vermutung nahelegt, dass Schumann die Expressivität der Liedmusik gleichsam auf die Spitze treiben will, um die lyrische Aussage in ihrer Ambivalenz aufscheinen und vernehmlich werden zu lassen. Er fügt Heines Versen eigene Worte hinzu: Ein dreifaches „gleich“ in der ersten Strophe, ein „Du“ im letzten Vers der fünften Strophe und „Oh“ am Ende der dritten, das mit der Einbettung des auf ihm liegenden extrem lang gedehnten und mit einer abgesetzten melodischen Sekundfalls in ein vierzehntaktiges Nach- und Zwischenspiel eine extrem exponierte Stellung in der Liedmusik einnimmt.


    Mit einem Doppelfall und anschließendem Sekundanstieg setzt, forte und staccato angeschlagen und deshalb wie hämmernd auftretend, eine Folge von Doppel-Oktaven ein, in die, noch im ersten Takt, die Singstimme mit der Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Warte, warte, wilder Schiffsmann“ einfällt. „Sehr rasch“ soll das vorgetragen werden, und weil die melodische Linie mit dem gedehnten Terzfall, dem nachfolgenden Sekundanstieg und dem überaus markanten, weil staccato ausgeführten Oktavfall am Ende die Bewegung der Oktaven im Klaviersatz nachvollzieht, während diese in zwei- und dreistimmige Akkorde übergehen und dabei eine harmonische Rückung von der Dominante H-Dur zur Tonika E-Dur vollziehen, suggeriert dieser Liedanfang geradezu stürmisch anmutenden Aufbruch. Und das bleibt auch bei zweiten Vers der ersten Strophe so, behalten doch melodische Linie und Klaviersatz ihren Gestus bei: Dieser in Gestalt von nun nach oben stürmenden und sich wieder zu Oktaven erweiternden Staccato-Vierteln, und jene mit einem neuerlichen Sekundanstieg mit Oktavfall am Ende. Und als wäre der stürmischen Hektik noch nicht genug, deklamiert die Singstimme, während das Klavier das Vorspiel noch einmal wiederholt, nach einer ganztaktigen Pause die Worte „gleich, gleich, gleich“ forte erst auf einem hohen „E“ mit nachfolgender Halbtaktpause, danach in gleicher Weise auf einem „H“ eine Quarte tiefer und danach erneut auf dem „E“. wobei die Harmonik eine Rückung über die Dominante vollzieht.


    Nach dem letzten „gleich“ folgt, der vorwärts preschenden Dynamik der Liedmusik gemäß, keine Pause nach, vielmehr geht die Singstimme, auf dem gleichen „E“ ansetzend, also bruchlos zur Deklamation der melodischen Linie auf dem zweiten Verspaar über. Und diese hebt sich nun in ihrem klanglichen Charakter deutlich von der vorangehenden ab. Nicht nur deshalb, weil sie, „ritardando“ vorgetragen, den voranpreschenden Gestus abgelegt hat, sie weist in ihrer zweimal in ähnlicher Weise vollzogenen, auf dem hohen „E“ ansetzenden, einen bogenförmigen Fall beschreibenden und auf der Terz zum Grundton in mittlerer Lage endenden Bewegung geradezu einen Anflug von Lieblichkeit auf.
    Und prompt lässt nun auch das Klavier von seinen stürmischen Oktavgängen ab und ergeht sich geruhsam im Anschlagen von länger gehaltenen (halbe Noten) vier- und fünfstimmigen Akkorden. Sie stehen allerdings zunächst in gis-Moll und rücken dann in diesem Tongeschlecht nach „Dis“. Und mit all dem will die Liedmusik zum Ausdruck bringen:
    Dieses lyrische Ich geht vom Gestus des stürmisch-appellativen Aufbruchs zu dem des von schmerzlichen Gefühlen begleiteten Abschieds über. Das allerdings - und das ist vielsagend für seine Grundhaltung, so wie Schumann sie sieht – auf bemerkenswert unvermittelte Weise.


    Und schon mit den ersten Worten der nächsten Strophe kehrt die Liedmusik „a tempo“ zum Gestus ihres Anfangs zurück: Vor allem dadurch, dass das Klavier zunächst wieder seine ansteigenden Oktavgänge erklingen lässt, dies im Wechsel mit ebenfalls steigend angelegten Viertel-Folgen. Die melodische Linie der Singstimme hat zwar nun den Gestus des Sekundanstiegs mit nachfolgendem Oktavfall abgelegt, sie entfaltet gleichwohl eine gesteigerte, wenn nicht gar hohe Expressivität. Dies dadurch, dass sie sich, die geradezu grelle Semantik des Wortes „Blutquell“ reflektierend, mit immer gleichem deklamatorischem Gestus im tonalen Raum einer Terz in tiefer Lage entfaltet. Deklamatorisch geschieht dies fast durchgehend in der Aufeinanderfolge von Schritten im Wert von einer punktierten halben Note und dem eines Viertels, so dass auf dem ersten Taktschlag ein starker melodischer Akzent liegt und auf diese Weise der Wortteil „Blut-“ markant hervorgehoben wird. Bei den Worten „meinen Augen“ und „meinem Leib“ geht die melodische Linie hingegen von diesem deklamatorischen Gestus ab und lässt Schritte im Wert von halben Noten (bzw. einem Legato-Sekundsprung) aufeinanderfolgen, um das innere Gerührt-Sein des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen.


    Und das tut auch die Harmonik, indem sie zunächst zwischen fis-Moll und cis-Moll moduliert, dann aber in den Dur-Bereich übergeht und eine Rückung über die Subdominante A-Dur vollzieht. Beim zweiten Verspaar dieser Strophe behalten die melodische Linie und der Klaviersatz ihren Grund-Gestus bei, die Harmonik moduliert nun aber ausschließlich im Dur-Bereich (zwischen der Tonika E-Dur und der Dominante H). Bei den Worten „meine Schmerzen niederschreib“ ist das lyrische Ich freilich von seinen Gefühlen so sehr überwältigt, dass die melodische Linie, verbunden mit einer ungewöhnlichen harmonischen Rückung nach G-Dur, den Raum der Terz in tiefer Lage verlässt, einen kleinen, bis zu einem „H“ sich erhebenden Bogen beschreibt und am Ende in gedehnten Tonrepetitionen auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage ausklingt.


    Schumanns Liedmusik lotet, wie hier in einer analytischen Betrachtung der beiden ersten Strophen aufzuzeigen versucht wurde, die Semantik der lyrischen Sprache Heines auf höchst subtile und tiefreichende Weise aus. Das soll nun bei den folgenden Liedstrophen in Beschränkung auf nur noch wenige relevante Aspekte weiterverfolgt werden. Bei der dritten Strophe entfaltet die Liedmusik eine noch gesteigert wirkende Expressivität, und die melodische Linie mutet an, als drücke sich in ihr echter Seelenschmerz des lyrischen Ichs aus. Klaviersatz und Harmonik tragen das Ihre dazu bei, indem der eine die Singstimme mit permanenten und stark akzentuierenden Viertel-Akkordrepetitionen begleitet, die am Ende, bei den Worten „Jahre vor dir steh´n“ in eine Folge von ansteigenden und wieder in Repetitionen endenden Doppeloktaven übergehen; die andere aber, indem sie geradezu schroff wirkende Rückungen von C-Dur über H-Dur nach E-Dur beschreibt. Vor allem die melodische Linie ist es aber, die die eigentliche Quelle der liedmusikalischen Expressivität darstellt. Bei den Worten „Ei, mein Lieb, warum just heute“ beschreibt sie immer wieder mit einer Rückung von C-Dur nach H-Dur verbundene Sprünge über das klangliche Schmerzlichkeit zum Ausdruck bringende Intervall eines Tritonus, und danach geht sie bis zum Ende dieser Strophe zu ausdrucksstarken Tonrepetitionen auf sich absenkender und schließlich in der Tiefe eines „Cis“ und eines „H“ endender tonaler Ebene über.


    Ihr folgt, nach einer Pause im Wert von einem Takt, der auf einem lang gedehnten, mit einem „Cis“ ansetzenden Sekundfall deklamierte Wehruf „Oh“, den das Klavier mit sechsstimmigen, eine Oktave beinhaltenden H-Dur-Akkordrepetitionen begleitet, die, nachdem das „Oh“ verklungen ist, nach einem Fall wieder als Doppeloktaven in eine staccato angeschlagene zehntaktige Aufstiegsbewegung übergehen, wie man das ja schon von der ersten Strophe her kennt und wie sie sich im letzten Vers der fünften Strophe bei der langen Dehnung auf dem dann wiederholten Wort „du“ erneut ereignet.
    Man kann diese von Schumann in die Liedmusik an exponierter Stelle eingefügten und deshalb hochexpressiven Interjektionen durchaus unterschiedlich rezipieren und verstehen. Ich neige dazu, in ihnen eine theatralische Geste zu sehen, mit der das lyrische Ich, so wie Schumann es hier präsentiert, das Du zum Mitfühlen und Mitleiden bringen möchte, ohne dass das Leid und der Schmerz bei ihm wirklich solche Ausmaße haben, wie das hier erscheinen mag.


    Die vierte und die fünfte Strophe bilden in der Art der Ansprache an das Du unter Rückgriff auf Bibel und antike Mythologie eine lyrische Einheit, und Schumann hat sie dementsprechend auch zu einer liedmusikalischen Einheit werden lassen. In der sich wiederholenden und ritardando vorzutragenden Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Kennst du noch das alte Liedchen / Von der Schlang' im Paradies“ drückt sich der Ansprache-Gestus der Fragen aus, die ja Inhalt der Verse der fünften Strophe sind. Das Klavier begleitet hier mit lang gehaltenen mehrstimmigen Akkorden und die Harmonik vollzieht zweimal Rückungen von cis-Moll nach gis-Moll. In diesen Tonarten ist auch – mit einer nur kurzen Rückung nach fis-Moll – die melodische Linie auf den restlichen Versen der vierten und auf dem ersten Vers der fünften Strophe harmonisiert. Sie geht, nach den anfänglichen Fallbewegungen nun zu einer eindringlich wirkenden, weil im Wechsel von deklamatorischen Schritten im Wert einer punktierten halben und einer Viertelnote erfolgenden Bewegung über, und das Klavier akzentuiert dies, indem es permanent bogenförmig angelegte Folgen von staccato angeschlagenen Vierteln im Bass erklingen lässt.


    Bei den beiden letzten Versen der fünften Strophe kommt dann wieder eine Steigerung der Expressivität in die melodische Linie. Auf den Worten „Eris brachte Trojas Flammen“ beschreibt sie eine sich wiederholende Kombination aus Tonrepetition, Sprung und Fall in oberer Mittellage, wobei die Harmonik jeweils eine Rückung von dis-Moll nach gis-Moll vollzieht. Und danach ereignet sich die bereits erwähnte lang gedehnte, nämlich zwei Takte einnehmende Deklamation des Wortes „Du“ auf einem „H“ in mittlerer Lage, bei der das Klavier wieder zu seiner zu seiner Folge von absteigenden Staccato-Doppeloktaven übergeht, womit es das Lied einleitete. Bei den Worten „Du bracht'st beides, Flamm' und Tod“ behält die melodische Linie ihren Gestus von Sprung und Fall bei, nur dass das Sprungintervall dieses Mal deutlich größer ist, nämlich eine Quinte umfasst, und die Rückkehr auf die tonale Ausgangsebene nun, bei den Worten „Flamm´ und“, mit einer Tonrepetition verbunden ist, was eine deutliche Steigerung der Expressivität zur Folge hat.


    Und dann ereignet sich liedmusikalisch geradezu Spektakuläres. Zu dem Wort „Tod“ hin beschreibt die melodische Line einen sforzato vorzutragenden und höchst ausdrucksstarken Septsprung zu einem hohen „A“, der in der Septime des Dominant-Akkordes „H“ harmonisiert ist. Das ist ein ungewöhnliches Ende der Melodik dieses Liedes, ein melodisch und harmonisch extrem offenes, das man eigentlich nicht anders verstehen kann denn als Ausdruck tiefer Rat- und Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs.


    Und so ist es dann eigentlich nur konsequent, dass das Klavier, eingeladen durch die harmonische Dominante des Melodik-Endes, die Liedmusik mit einem Nachspiel fortsetzt, und dies in geradezu exzessiver, nämlich 23 Takte in Anspruch nehmender Weise. Es verbleibt dabei durchweg in dem Gestus, den es, mit Ausnahme der nur wenigen Passagen von länger gehaltenen Akkorden, in Anspruch nahm: Staccato angeschlagene Folgen von Oktaven und aus zwei- und dreistimmigen Akkorden hervorgehenden Vierteln. Wie endlos wirkt die Abfolge von immer neuen Anstiegsbewegungen dieser Figuren auf fallenden und wieder steigenden tonalen Ebenen unter harmonischen Rückungen von der Subdominante in die Tonika, von dort in die Dominante und dann wieder zurück. Bis dann in den letzten sieben Takten alles mit einem Ritardando und nun nur noch in Gestalt von einem Akkord und drei Vierteln in eine sich bis in tiefe Lage fortsetzende Fallbewegung übergeht, die von drei piano angeschlagenen H-Dur-Akkorden beendet wird.


    Was will das Klavier mit diesem nicht nur quantitativ arrogant anmutenden Auftritt am Ende des Liedes sagen? Angesichts der Figuren, in denen es sich entfaltet, und der Dur-Harmonik, in der das geschieht, möchte man das Nachspiel als musikalischen Ausdruck eines Zu-sich-selbst-Findens des lyrischen Ichs im Sinne des Ausbruchs aus der Schmerzlichkeit des vorwurfsvollen Abschieds und eines Aufbruchs in ein neues Leben verstehen.

  • Berg' und Burgen schaun herunter
    In den spiegelhellen Rhein,
    Und mein Schiffchen segelt munter,
    Rings umglänzt von Sonnenschein.


    Ruhig seh' ich zu dem Spiele
    Goldner Wellen, kraus bewegt;
    Still erwachen die Gefühle,
    Die ich tief im Busen hegt'.


    Freundlich grüßend und verheißend
    Lockt hinab des Stromes Pracht;
    Doch ich kenn' ihn, oben gleißend,
    Bringt (Heine: „Birgt“) sein Innres Tod und Nacht.


    Oben Lust, im Busen Tücken,
    Strom, du bist der Liebsten Bild!
    Die kann auch so freundlich nicken,
    Lächelt auch so fromm und mild.


    Heine ergeht sich in romantischer Metaphorik, aber aus der Haltung und der Intention des postromantischen Lyrikers. Schon in der dritten Strophe erfahren die Bilder der Rhein-Romantik eine Brechung, und mit der vierten enthüllen sie sich in ihrem wahren Charakter. Sie wurden dichterisch nicht um ihrer selbst willen, sondern in allegorischer Funktion eingesetzt und stehen für das Wesen der Geliebten, das ein zutiefst verlogenes ist. Schumann hat daraus ein schlicht und volksliedhaft daherkommendes Strophenlied gemacht, das „ruhig, nicht schnell“ vorgetragen werden soll, in A-Dur als Grundtonart steht und einen Dreivierteltakt aufweist. Zwar finden sich in der Liedmusik der vierten Strophe einige Variationen im Bereich von Melodik und Klaviersatz – eine melodische Dehnung auf dem Wort „Strom“, ein Septfall auf dem Wort „auch“ und eine Erweiterung des Zwischenspiels, das nun als Nachspiel fungiert -, sie sind jedoch minimal und haben keine Auswirkung auf die Aussage der Liedmusik der vierten Strophe, so dass man bei dieser Komposition nicht von einem variierten Strophenlied sprechen kann.


    Und das ist eigentlich verwunderlich. Kann man, so fragt man sich, mit einer Strophenlied-Komposition, die bewusst das Aussagepotential der Variation ausschlägt, einen lyrischen Text in Liedmusik umsetzen, bei dem sich in der letzten Strophe nicht nur die vorangehende Metaphorik in ihrer Untergründigkeit enthüllt, sondern sich auch ihre allegorische Funktionalität manifestiert?
    Eigentlich müsst die Liedmusik in dieser ihrer formalen Anlage die Aussage des lyrischen Textes verfehlen, ihr zumindest nicht voll gerecht werden, es sei denn, sie birgt in ihrer strophischen Gestalt in den Bereichen Melodik, Klaviersatz und Harmonik irgendwelche Elemente des Bruchs in der Klanglichkeit oder von Untergründigkeit in der musikalischen Aussage. Aber ist dies wirklich der Fall? Eine analytische Betrachtung der Liedmusik will eine Antwort auf diese Frage finden.


    Im viertaktigen Vorspiel lässt das Klavier in einer Art Arpeggien-Gestus, weil sich im Auf und Ab von Sechzehnteln und einem Achtel als Legato-Bindeglied entfaltend, die melodische Linie auf dem ersten Vers der Strophe erklingen, und dies in der mit einer kurzen Rückung in die Dominante verbundenen A-Dur-Harmonik. Diesen Gestus der klanglich lieblichen, weil arpeggienhaften Entfaltung in Sechzehntel-Figuren in Diskant und Bass behält das Klavier durchgängig bei und beschränkt sich dabei in der Begleitung der Singstimme ausschließlich auf die Bereitstellung eines die melodische Linie tragenden und in ihrer Aussage akzentuierenden klanglichen Betts, ohne an auch nur einer Stelle eine sich davon absetzende oder gar konträre musikalische Aussage zu tätigen.


    Allenfalls im viertaktigen Zwischenspiel ereignet sich so etwas wie eine eigenständige musikalische Aussage des Klaviers. Aber allein schon die Tatsache, dass es sich auch im Strophenlied-Modus dem Prinzip der schieren Wiederholung unterwirft, beraubt es sich der Möglichkeit eines wirklich relevanten eigenen Beitrags zur Liedmusik. Und die in bogenförmiger Linie leicht wiegend sich entfaltende Folge von akkordischen Sechzehntel-Figuren im Diskant und Achtel-Oktaven im Bass empfindet man im Grunde als klangliche Imagination des wiegend-munteren Voran-Gleitens des „Schiffleins“ auf dem „spiegelhellen Rhein“. Irgendein Schimmer von dissonantem Bruch ist in der reinen, nur kurz die Dominante streifenden A-Dur-Harmonisierung in keiner Weise zu vernehmen.


    Und wie ist das mit der melodischen Linie? Sie ist strikt periodisch angelegt, ohne jegliche Störung durch eingelagerte eigenständige Figuren oder die gebundene deklamatorische Entfaltung unterbrechende Pausen. Und dazu gehört, dass sie in eine Art Kadenz mündet, dies durch Wiederholung des letzten Strophen-Verses auf eine die vorangehenden deklamatorischen Schritte in tonal abgesenkter Weise wiederholenden und nun im Grundton endenden Weise. Auf jedem Vers liegt zwar eine eigene Melodiezeile, alle greifen aber nicht nur bruchlos ineinander, sie bilden dabei sogar eine melodische Einheit im Sinne einer in der tonalen Ebene ansteigenden, dabei sich in der Expressivität steigernden und danach wieder fallenden und in die Kadenz mündenden Bewegung. Vielsagend für den zugrundeliegenden melodischen Gestus ist, dass die Achtelpause nach der ersten Melodiezeile keinerlei Unterbrechung der melodischen Linie mit sich bringt, und zwar deshalb, weil die zweite Zeile auf der gleichen tonalen Ebene ansetzt, auf der die erste endete.


    Die melodische Linie bewegt sich, dem Dreiachteltakt geschuldet, in leicht wiegendem Rhythmus. Meist folgt, wenn keine Sechzehntel-Zwischenschritte eingelagert sind, pro Takt auf einen Viertel-Schritt einer im Wert eines Achtels, wie die melodische Linie mit ihrem Sekundanstieg bei den Worten „Berg und Burgen“ ja auch einsetzt. Bei den Worten „schaun herunter“ beschreibt sie mit einem Legato-Sekund-Doppelschritt aus punktiertem Viertel und Sechzehntel einen kleinen Bogen, der eine Anmutung von Beschwingtheit in sie bringt. Die Harmonik vollzieht hier, bei diesem ersten Vers, eine schlichte Rückung von der Tonika A-Dur über die Dominante und wieder zurück. Das ist anders beim zweiten Vers. Hier verharrt die melodische Linie zunächst in Tonrepetitionen auf der Ebene eines „Cis“ und senkt sich dann bei den Worten „spiegelhellen Rhein“ erst mit einem kleinen und einem großen Sekundschritt ab, um danach in denselben rhythmisierten Sekundanstieg überzugehen, wie sie das gerade bei den Wort „schaun herunter“ getan hat, nur dass dieses Mal keine Bogenbewegung daraus wird, sondern zu dem Wort Rhein“ hin ein weiterer Sekundanstieg erfolgt, der mit einem Ritardando vorzutragen ist.


    In dieser zweiten kleinen Melodiezeile tritt das Tongeschlecht Moll in die Harmonik: Sie vollzieht eine Rückung von einem kurzen anfänglichen fis-Moll über die Doppeldominante H-Dur zur Dominante E-Dur. Solche kurze Rückungen in verminderte oder Moll-Harmonik ereignen sich auch in den Melodiezeilen auf die beiden nachfolgenden Verse. So sind die jeweils erst in einen Sept- und dann in einen Quartfall mündenden Tonrepetitionen auf den Worten „Und mein Schiffchen segelt munter“ wie in einer Art Auftakt anfänglich in eine kurze harmonische Verminderung gerückt, die sich dann beim Septfall auf „Schiffchen“ und beim Quartfall auf „munter“ nach E-Dur hin auflöst. Wenn sich dann die melodische Linie vierten Vers, wieder mit einer Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene wie im dritten Vers einsetzend, erst mit einem kleinen und dann einem großen Sekundschritt zum höchsten Ton des Liedes bei dem Wort „glänzt“ aufschwingt, dann erreicht auch die Harmonik in ihrer für dieses Lied charakterostischen Dur-Dominanz hier mit der Rückung in die Subdominante D-Dur ihren Höhepunkt. Die nachfolgende Fallbewegung der melodischen Linie, die bei dem Wort „Sonnenschein“ einen kleinen melismatischen, aus einer Achtel-Sechzehntel-Figur mit eingelagertem Sechzehntel-Fall bestehenden Aufschwung beschreibt, endet aber in einem leicht gedehnten „H“ in mittlerer Lage, das in h-Moll harmonisiert ist.


    Die nachfolgende Wiederholung der Worte dieses letzten Verses auf einer melodischen Linie, die zwar den deklamatorischen Gestus beibehält, aber nicht mehr fallend angelegt ist, vielmehr auf mittlerer tonaler Ebene verbleibt und auf dem Grundton endet, wirkt dann in ihrer reinen, zwischen Tonika und Dominante modulierenden Dur-Harmonisierung wie eine klangliche Kompensation dieser kurzen Moll-Eintrübung der Liedmusik am Gedichtstrophenende. Und das nachfolgende Zwischenspiel setzt, so empfindet man das, mit seinen in eben dieser harmonischen Rückung erfolgenden akkordischen Bewegungen diese Kompensation in bekräftigender Weise fort. Ja selbst das Nachspiel, das nur aus einer Erweiterung dieses Zwischenspiels in Gestalt einer Folge von steigenden, wieder fallenden und in den Grundton mündenden Sechzehnteln besteht, verbleibt harmonisch im Raum von Dominante und Tonika.


    Kann man diese Rückungen in das Tongeschlecht Moll und in verminderte Harmonik als musikalischen Reflex der Untergründigkeit der lyrischen Aussage der Heine-Verse vernehmen, auffassen und verstehen?
    Zu dieser Frage sieht man sich regelrecht gedrängt, angesichts der sich im Rahmen von volksliedhafter Strophenliedhaftigkeit ergehenden und von Dur-Dominanz und kantabel-melodischer Schönheit geprägten Liedmusik. Und die Antwort ergibt sich wohl aus der Tatsache, dass diese Rückungen wohl viel zu flüchtig sind, und dort, wo sie, wie am Ende der Gedichtstrophe, ein wenig gewichtiger auftreten, alsbald eine Korrektur und eine klangliche Kompensation erfahren.


    Und so muss man denn bei der Feststellung verbleiben, dass Schumanns Liedmusik in diesem Fall der Aussage von Heines Lyrik nicht voll gerecht wird. Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Aber vielleicht hat D. Fischer-Dieskau ja recht, wenn er, der sich ebenfalls wohl über diesen Sachverhalt gewundert haben mag, lakonisch anmerkt:
    „Betrug von seiten der Verlobten mag zur Zeit der Komposition nicht gerade in Schumanns Vorstellung gelegen haben.“

  • Anfangs wollt' ich fast verzagen,
    Und ich glaubt', ich trüg' es nie;
    Und ich hab' es doch getragen -
    Aber fragt mich nur nicht, wie?


    Die ungewöhnliche Kürze dieses Gedichts erklärt sich aus der ursprünglichen Intention seiner Entstehung. Heine hat die Verse einem im Krieg verwundeten Freund ins Stammbuch geschrieben. Erst durch die Aufnahme in den Kontext des neunteiligen Zyklus „Lieder“ bekamen sie den Aussage-Gehalt, den Schumann zum Gegenstand seiner Liedkomposition machte. Es ist ein Bekenntnis, was sie zum Ausdruck bringen, und das geschieht auf der Grundlage von vierfüßigen Trochäen, die im Wechsel von klingender und stumpfer Kadenz in rhythmisch gleichförmiger Entfaltung aufeinander folgen und dadurch die Aussage umso gewichtiger und expressiver werden lassen. Dieses lyrische Ich spricht von großen, kaum erträglich Qualen seelischer Art, wohl solchen, die mit seiner Beziehung zu dem geliebten Du in Zusammenhang standen und kaum zu ertragen waren. Aber dieses Sprechen erfolgt aus der Distanz des Überwunden-Habens, - was eben diesen ruhigen lyrisch-sprachlichen Ton ermöglicht.


    Schumanns Liedmusik setzt genau hier an: Am Gestus der ruhig sich entfaltenden lyrischen Sprache und der darin sich ausdrückenden Haltung des lyrischen Ichs seinen zurückliegenden seelischen Erfahrungen gegenüber. Das tut sie mit einem choralartig anmutenden klanglichen Charakter, einem sich in gleichförmigen Akkordfolgen entfaltenden Klaviersatz und einer melodischen Linie, die in ihren deklamatorischen Schritten eine eben solche gewichtige Gleichförmigkeit aufweist. Aber die Liedmusik erschöpft sich nicht in diesem Aufgreifen und Umsetzen der formalen Struktur des lyrischen Textes und seiner Semantik mit den Mitteln und auf der Ebene der Musik. Sie greift tiefer, interpretiert ihn, indem sie das aus der Distanz an- und ausgesprochene Leid des lyrischen Ichs klanglich vernehmlich werden lässt. Dies freilich, und das macht ihre Größe aus, auf höchst subtile, ebenfalls gleichsam distanzierte Weise.


    Zunächst einmal: Die melodische Linie erinnert ein wenig an das von Georg Neumark (1621-1681) komponierte geistliche Lied „Wer nur den lieben Gott läßt walten“. Aber sie ist in ihrer Struktur und in ihrer Harmonisierung ungleich komplexer, so schlicht sie ihren Hörern auch entgegentritt. Ein zweitaktiges Vorspiel geht ihr voraus. Es entfaltet sich in der für den ganzen Klaviersatz geltenden und das Lied in seinem klanglichen Charakter stark prägenden Weise: Dreistimmige Viertel-Akkorde folgen im Diskant im gleichförmigen Rhythmus des zugrundeliegenden Viervierteltakts aufeinander. Das geschieht in vollkommen synchroner Weise mit zumeist zweistimmigen Akkorden im Bass, und wenn diese sich dort zu mehrstimmigen erweitern, weil der Diskant schweigt, dann geschieht dies in Fortsetzung dieses gleichförmigen Grund-Gestus, der die metrische Ruhe des lyrischen Textes reflektiert. Nur zwei Mal schleicht sich ein Achtel in diese Gleichförmigkeit. Das ereignet an den Stellen, an denen auch in die deklamatorische Ruhe der melodischen Linie eine kleine rhythmische Störung tritt: Bei den Worten „Und ich hab´ es doch getragen“. Und es ist unüberhörbar, dass dies zum Zwecke der liedmusikalischen Akzentuierung der lyrischen Aussage geschieht.


    Im Vorspiel bildet sich aus dieser Akkordfolge die melodische Linie auf dem ersten Vers heraus. Und bemerkenswert ist, in welcher Harmonierung dies geschieht: Nicht in der simplen modulatorischen Umkreisung der Tonika d-Moll über die Ober- und Unterdominante. Vielmehr erklingen die Akkorde in den Tonarten d-Moll und A-dur, nach der Rückkehr zur Tonika d-Moll ereignet sich aber, bevor das Vorspiel in der Dominante endet und auf diese Weise zum Einsatz der melodischen Linie in d-Moll überleitet, eine kurze Rückung nach B-Dur. Und hier deutet sich schon an, was ein Wesensmerkmal des Klaviersatzes in diesem Lied ist. In seiner artikulatorischen Gleichförmigkeit weist er eine starke harmonisch-modulatorische Unruhe auf. Und man kann das eigentlich nicht anders auffassen, denn als musikalischen Niederschlag des Nachklingens vergangener Qualen, wie es sich, so wie Schumann das im interpretatorischen Umgang mit dem lyrischen Text sehen will, im lyrischen Ich in dem Augenblick ereignet, wo es seine bekenntnishaften Worte deklamiert.


    Dieses den lyrischen Text interpretierende, weil seine emotionale Dimension einbeziehende Aufgreifen seiner lyrischen Aussage mit musikalischen Mitteln, lässt sich auch in der Struktur der melodischen Linie der Singstimme erkennen. Es sind ja im Grunde nur zwei Melodiezeilen, aus denen dieses kleine Lied besteht. Und sie ähneln einander sogar noch im zugrundeliegenden deklamatorischen Gestus. Aber in der Art und Weise, wie Schumann sie angelegt, harmonisiert, in der Fassung auf dem zweiten Verspaar variiert hat, und wie er sie schließlich enden lässt, zeigt sich die wahre Größe dieser sich wie eine kleine musikalische Perle präsentierenden Komposition. Mit einer in d-Moll harmonisierten Aufstiegsbewegung in gleichgewichtigen, weil aus Viertelnoten bestehenden Sekundschritten setzt die melodische Linie bei den Worten „Anfangs wollt´“ ein. Schon bei dem nachfolgenden „ich“ geht sie in eine Sekund-Fallbewegung über, die sich zu dem Wort „fast“ hin fortsetzt.


    Hier nun weicht die melodische Linie von der deklamatorischen Regelmäßigkeit ihrer Bewegung ab, denn dieses Wort trägt eine kleine Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels, das ihm einen Akzent verleiht. Und nicht nur dadurch geschieht dies, sondern auch durch die hier erfolgende Rückung der Harmonik nach B-Dur, Die Liedmusik will – den Text interpretierend – auf dezente Weise sagen: Das lyrische Ich war durch die Unerträglichkeit seiner Qualen dem Verzagen sehr nahe. Und dementsprechend liegt nun auf dem Wort „verzagen“ ein aus einem Sekundsprung hervorgehende Fall über eine kleine und eine große Terz, wobei hier wiederum eine melodische Akzentuierung erfolgt, weil der erste deklamatorische Schritt einer im Wert eines Achtels ist, die beiden nachfolgenden aber solche im Wert eines Viertels darstellen. Und auch hier beteiligt sich die Harmonik an dieser Akzentuierung: Sie rückt nämlich in Gestalt von zwei tiefen, fünfstimmigen Akkorden im Bass von d-Moll nach A-Dur.


    Das ist die Dominante, und insofern stellt dieser letzte deklamatorische Schritt die Überleitung zu der melodischen Linie ein, die auf den Worten des zweiten Verses liegt. Sie setzt zwar bei den Worten „Und ich glaubt´“ mit einer in d-Moll stehenden Tonrepetition auf der Ebene eines hohen „D“ ein, auf dem Wort „glaubt´“ liegt jedoch wieder eine Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels, das ihm melodisches Gewicht verleiht. Erneut folgt, wie beim ersten Vers, eine Fallbewegung nach. Sie besteht nun aber aus Sekundschritten, die am Ende in eine in A-Dur harmonisierte Dehnung in Gestalt einer halben Note münden. Das Wort „nie“ erhält auf diese Weise einen starken Akzent, und darin drückt sich die Hoffnungslosigkeit aus, der sich das lyrische Ich in seiner damaligen Situation ausgesetzt sah.


    Die zweite Melodiezeile setzt ohne Pause auf genau diesem Ton ein, auf dem die erste in dieser Dehnung endete. Sie beschreibt auf dem dritten Vers in ihren deklamatorischen Schritten fast bis zum Ende die gleiche Bewegung wie auf den Worten des ersten Verses. Vielsagend sind freilich die zwar nur kleinen, aber in ihrer Aussage höchst gewichtigen Abweichungen davon. So ist der Sekundanstieg auf den Worten „und ich hab´“ nun leicht rhythmisiert: In Gestalt eines deklamatorischen Achtel-Schritts, der auf eine anfängliche Dehnung folgt. Das verleiht den Worten „und“ und „hab´“ melodisches Gewicht, gleichsam die Leistung betonend, die das lyrische Ich aus seiner Sicht hier erbracht hat. Und so will wohl auch die Tatsache verstanden werden, dass die melodische Linie am Ende des dritten Verses nun – im Unterschied zur ersten Melodiezeile – nicht in einen doppelten Terzfall übergeht, sondern, nachdem das Wort „doch“ wieder einen Akzent in Gestalt einer kleinen Dehnung erhalten hat, bei dem Wort „getragen“ zwar einen Quartfall beschreibt, danach aber zu einer in der Bewegung innehaltenden Tonrepetition übergeht. Und diese hat Gewicht, denn die Harmonik vollzieht hier eine höchst markante Rückung nach C-Dur.


    Auch im zweiten Teil der zweiten Melodiezeile, den letzten Vers umfassend, beschreibt die melodische Linie anfänglich die deklamatorischen Bewegungen der ersten. Sie setzt also auf den Worten „Aber fragt mich“ mit einer Tonrepetition ein. Die ist aber nicht nur anders rhythmisiert, sie ereignet sich auch auf einer tonal um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene, was eine Harmonisierung in a-Moll zur Folge hat. Anders rhythmisiert ist sie, weil nun das Wort „aber“ einen melodischen Akzent erhält, und zwar durch die Kombination eines deklamatorischen Schrittes in Gestalt eines gedehnten Viertels mit einem im Wert eines Achtels. Höchst bedeutsam ist nun die Variation, die sich im Unterschied zur ersten Melodiezeile am Ende dieser zweiten ereignet. Sie beschreibt nun keinen zweifachen Sekundfall in hoher Lage wie auf den Worten „trüg es nie“, vielmehr geht sie bei den Worten „nur nicht, wie“ erst in einen Terzfall über, erhebt sich dann aber wieder in Gestalt eines in eine Dehnung auf dem Grundton „A“ mündenden Sekundschrittes. Diese melodische Bewegung verleiht, auch weil sie mit einer Rückung von g-Moll nach A-Dur verbunden ist und ritardando vorgetragen werden soll, diesem „wie“, und damit der Frage selbst, starkes liedmusikalisches Gewicht.


    Schumann genügte dies aber nicht. Um die tiefe Verwundung, die das lyrische Ich aus seiner Sicht erlitten hat, liedmusikalisch zum Ausdruck zu bringen, lässt er die Worte „nicht, wie“ wiederholen. Und dies auf eine durchaus expressive Art und Weise. Keine Pause gab es bislang in der Entfaltung der melodischen Linie. Nun aber ereignet sie sich, und das im Wert eines Viertels gleich für die ganze Liedmusik, Melodik und Klaviersatz also. Und dann deklamiert die Singstimme eben diese Worte auf einem ritardando auszuführenden und in eine Dehnung mündenden Sekundfall in mittlerer tonaler Lage. Das Bemerkenswerte daran: Es ist ein verminderter, in den Grundton mündender, mit zwei fünfstimmigen Akkorden begleiteter und mit einer harmonischen Rückung von g-Moll nach A-Dur verbundener Sekundfall. Und damit enthüllt sich der Liedschluss als ein phrygischer, am Ende den choralartigen Gestus der Liedmusik auf den Punkt bringend.


    Es ist ein auf eindringliche Weise offener Schluss dieser Liedmusik, darin die Situation des lyrischen Ichs in seinem Rückblick auf vergangenes Liebesleid reflektierend, so wie Schumann sie in der Rezeption der Heine-Verse gesehen und verstanden hat. Das will – vom liedmusikalischen Enden in der Dominante her – eine sich perspektivisch auf die Zukunft ausrichtende Antwort haben. Das nachfolgend letzte Lied dieses Opus wird sie geben.

  • Mit Myrten und Rosen, lieblich und hold,
    Mit duft'gen Zypressen und Flittergold,
    Möcht' ich zieren dies Buch wie 'nen Totenschrein,
    Und sargen meine Lieder hinein.


    O könnt' ich die Liebe sargen hinzu!
    Auf dem Grabe der Liebe wächst Blümlein der Ruh',
    Da blüht es hervor, da pflückt man es ab, -
    Doch mir blüht's nur, wenn ich selber im Grab.


    Hier sind nun die Lieder, die einst so wild,
    Wie ein Lavastrom, der dem Ätna entquillt,
    Hervorgestürzt aus dem tiefsten Gemüt,
    Und rings viel blitzende Funken versprüht!


    Nun liegen sie stumm und totengleich,
    Nun starren sie kalt und nebelbleich,
    Doch aufs neu´ die alte Glut sie belebt,
    Wenn der Liebe Geist einst über sie schwebt.


    Und es wird mir im Herzen viel Ahnung laut:
    Der Liebe Geist einst über sie taut;
    Einst kommt dies Buch in deine Hand,
    Du süßes Lieb im fernen Land.


    Dann löst sich des Liedes Zauberbann,
    Die blassen Buchstaben schaun dich an,
    Sie schauen dir flehend ins schöne Aug',
    Und flüstern mit Wehmut und Liebeshauch.


    Das ist die Fassung des Gedichts von 1827. Heine hat die erste Strophe später geändert. Es ist ein – für den Lyriker Heine typisches – Neben- und Ineinander von Abschied und Abschluss, was sich hier lyrisch artikuliert: Abschied von einer Liebe und Abschluss eines lyrischen Werks, das aus dieser Liebe hervorgegangen ist und von ihr inspiriert wurde. Der eine weist ein hohes Potential von Emotionalität auf, dem anderen ist auch eine rationale Dimension eigen. Denn der Dichter reflektiert im Augenblick des Abschied-Nehmens von einer großen Liebe indirekt auch die Frage, was aus dem lyrischen Werk werden wird, wenn er es in die Welt entlassen hat. Da aber der Quell all seiner Gedanken und Gefühle ein hochgradig emotionaler ist, der wehmütige Blick zurück auf eine zu Ende gegangene Liebesbeziehung, verquicken sich beide Ebenen in Gestalt einer Metaphorik von hohem evokativem Potential, sich verdichtend im Bild vom „Grab der Lieder“ und der Vision einer Wiederbelebung des toten lyrischen Worts im Akt der Rezeption durch die liebende Seele, der die „blassen Buchstaben“ „flehend“ ins „schöne Aug´“ schauen und nun von dem zu „flüstern“ vermögen, was ihnen aus vergangenem Liebesleben innewohnt: „Wehmut und Liebeshauch“.


    Schumanns Lied, das bemerkenswerterweise Anklänge an die erste Novellette aus seinem Opus 21 aufweist, fängt dieses lyrisch-sprachlich hochexpressive Ineinander von Emotionalität und hintergründiger Reflexivität von Heines Lyrik auf musikalisch umfassende, alle semantischen und metaphorischen Ebenen auslotende und dabei klanglich faszinierende Weise ein. Es begegnet seinen Hörern zweifellos als liedmusikalischer Höhepunkt und Abschluss dieses Opus 24. Es steht in D-Dur als Grundtonart, stellt darin die Antwort auf den in der Dominante seines phrygischen Schlusses endende achte Lied dar, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „Innig, nicht rasch“ vorgetragen werden.


    Welch große Spanne an semantisch weit auseinander liegenden Aussagen und Bekenntnissen des lyrischen Ichs und den sie konkretisierenden lyrischen Bildern Schumanns Liedmusik zu reflektieren und kompositorisch zu bewältigen hat, das zeigt sich in der Abfolge der sieben Strophen von Heines Gedicht. Ihr poetischer Gehalt reicht vom friedlich-idyllischen Bild vom „Blümlein der Ruh“ auf dem „Grab der Liebe“ über „die Lieder, die einst so wild“ wie ein „Lavastrom“ dem Ätna „entquollen“ bis hin zu jenem vom „süßen Lieb im fernen Land“, in dessen Hand dereinst „das Buch“ gelangt. Auch wenn sie sich auf all diese Bilder einlässt, die dahinterstehende Haltung des lyrischen Ichs interpretierend berücksichtigt und dabei eine große klangliche Vielfalt hervorbringt, so vermag sie doch die innere musikalische Einheit zu wahren. Das gelingt Schumann dadurch, dass er im Geist des Strophenliedes melodische Strukturen wiederkehren lässt, zwar in mehr oder weniger variierter Gestalt, aber doch so, dass sie ihre Identität dabei bewahren. So entfaltet sich die melodische Linie in der dritten Strophe in ähnlicher Weise wie in der ersten, und auch die vierte Strophe weist in der Liedmusik Anklänge an die zweite auf.


    Es ist etwas von beschwingtem Aufbruch in dem, was das Klavier im viertaktigen Vorspiel erklingen lässt und als Zwischenspiel in der zweiten und vor der dritten Strophe in variierter Gestalt noch einmal in die Liedmusik einbringt. Der in doppeltem triolischem Schwung vollzogene und in hohe Lage reichende Anstieg der Achtel-Figuren bewirkt diesen Eindruck, und es sagt viel, wenn die melodische Linie auf den Versen der ersten Strophe diese Aufstiegsbewegung in strukturell identischer Form übernimmt, - und das gleich zweimal, nämlich beim ersten und beim dritten Vers. Bemerkenswert, weil vielsagend bezüglich der Tiefe, in der die Liedmusik den lyrischen Text auslotet, ist allerdings, wie Schumann beim dritten Vers variiert. Auf den Worten „Mit Myrten und Rosen, lieblich und hold“ steigt die melodische Linie, beschwingt durch eingelagerte Achtelschritte, über das Intervall einer ganzen Oktave in hohe Lage auf, wobei das Klavier sie mit repetierenden Akkordpaaren begleitet. Die Harmonik lässt dabei die Vielfalt der die lyrische Aussage begleitenden Emotionen vernehmen, indem sie von der Tonika D-Dur zunächst zur Dominante „A“ rückt, dann eine Rückung nach h-Moll vollzieht und schließlich der Aufgipfelung auf dem Wort „hold“ einen starken Akzent dadurch verleiht, dass das Klavier hier einen Fis-Dur-Akkord anschlägt.


    Auch bei den Worten „Möcht' ich zieren dies Buch wie 'nen Totenschrein“ ereignet sich diese partiell triolisch inspirierte Aufstiegsbewegung der melodischen Linie auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene. Aber da ist dieses Wort „Totenschrein“ am Ende, und das hat zur Folge, dass sie in e-Moll gebettet ist und am Ende, bei eben diesem Wort, einen ritardando vorzutragenden, aus einer Tonrepetition hervorgehenden neuerlichen triolischen Schritt bis hin zu einem eine Dehnung tragenden hohen „G“ auf der Silbe „-schrein“ vollzieht, der, wieder aus Gründen der Akzentuierung, nun in A-Dur harmonisiert ist. Hier deutet sich an, dass das lyrische Ich bei seinem auf Aktion ausgerichteten Wunsch von vielerlei Gefühlen begleitet wird. Und so folgt denn beide Male dieser Anstiegsbewegung der melodischen Linie beim zweiten und vierten Vers der ersten Strophe eine, die fallend angelegt ist. Bemerkenswert ist freilich, dass im ersten Fall die Bilder von den „duft´gen Zypressen“ und dem Flittergold“ bewirken, dass die Fallbewegung in Gestalt von kleinen triolisch angelegten Bögen erfolgt, während das Bild von „Totenschrein“ im zweiten Fall zur Folge hat, dass der Abstieg in Schritten über Quarten und eine Sekunde erfolgt.


    Auf dem ersten Vers der zweiten Gedichtstrophe liegt ein zweimaliger, ritardando vorzutragender melodischer Fall, der bei den Worten „O könnt´ ich die Liebe“ mit einem veritablen Oktavsprung einsetzt und zum Ausgangspunkt (einem tiefen „D“) auch wieder zurückkehrt. Der Fall auf den Worten „sargen dazu“ erstreckt sich nur über das Intervall einer Quinte, und die melodische Linie verbleibt auch nicht in der Abwärtsbewegung sondern beschreibt auf dem Wort „hinzu“ einen Sekundanstieg. Das Klavier begleitet das mit legato gebundenen Akkordpaaren, und die Harmonik beschreibt zwei Mal eine Rückung von g-Moll nach D-Dur. Diese Melodiezeile, die, den Wunsch des lyrischen Ichs reflektierend, die Anmutung von klanglicher Innigkeit aufweist, schließt mit der Unterbrechung von nur einer Achtelpause an die melodische Linie auf dem letzten Vers der ersten Gedichtstrophe an, so dass man sie eigentlich als der ersten Liedstrophe zugehörig empfindet, zumal danach eine größere Pause für Singstimme folgt, in der das Klavier über fast drei Takte die triolische Achtel-Anstiegsbewegung des Vorspiels erklingen lässt, die nach der mit einem Fis-Dur-Akkord begleiteten Aufgipfelung wieder in einen Fall übergeht. Schumann hat sich hier über die strophische Gliederung des Heine-Gesichts hinweggesetzt, und das hat ja durchaus seinen Sinn, bindet doch der erste Vers der zweiten Gedichtstrophe mit dem Wort „sargen“ explizit an den letzten Vers der ersten Strophe an.


    Die Wiederkehr des ersten Teils vom Vorspiel ist als Kommentar zu dieser letzten Melodiezeile, nicht aber als Einleitung zu zweiten Liedstrophe zu verstehen. Das schließen deren klanglicher Charakter und ihre musikalische Aussage aus. Mit den Worten „Auf dem Grabe der Liebe wächst Blümlein der Ruh'“ kommt ein lieblich-besinnlicher Ton in die Liedmusik. Und das im Zentrum der zweiten Gedichtstrophe stehende lyrische Bild fordert das in seiner Idyllik ja geradezu heraus, wäre da nicht am Ende das imaginierte Bild von der eigenen Grabesruhe des lyrischen Ichs. Und so entfaltet sich denn die melodische Linie auf diesen Versen in ruhiger, weil in Gestalt von häufigen Tonrepetitionen bei syllabisch exakter Deklamation erfolgender Weise in mittlerer tonaler Ebene.


    Gleichwohl wirkt die Liedmusik insgesamt wie von untergründiger Erregung geprägt, - ausgelöst von eben dieser Imagination der eigenen Todesruhe des lyrischen Ichs. Nicht nur dass die melodische Linie mehrfach aus der ruhigen Entfaltung auf mittlerer tonaler Ebene ausbricht – beim Fall auf den Worten „der Liebe wächst“ und beim Quartsprung und –fall auf den Worten „da blüht es“ -, auch die Harmonisierung verbleibt zwar beharrlich im Bereich des Tongeschlechts Moll (im Raum der Tonika „D“ und ihren Dominanten), sie bricht aber ebenfalls daraus aus, mit einer Rückung nach H-Dur bei dem Wort „Ruh´“ und einer nach C-Dur bei „da pflückt man es“ und „selber im Grab“, in beiden Fällen aber sofort wieder mit Moll-Harmonik kompensiert. Und schließlich weist auch der Klaviersatz eine ambivalente Struktur auf: Er setzt beim zweiten Vers mit triolischen Achtel-Anstiegsfiguren ein, geht dann beim dritten Vers zu sich auf und ab bewegenden Akkordfolgen über und verharrt dann schließlich bei der Wiederholung der Worte „wenn ich selber im Grab“ wie die melodische Weise auch auf eindrückliche Weise in akkordischen Repetitionen.


    Wenn nun, nach der in verminderte H-Harmonik gebetteten melodischen Dehnung auf dem Wort „Grab“, das Klavier nach der eintaktigen Fortsetzung seiner Akkordrepetitionen erneut mit der vier Takte einnehmenden Artikulation der Figuren des Vorspiels einsetzt, dann ist das dieses Mal kein nachträglicher Kommentar zur Aussage der Liedmusik der zweiten Strophe, es leitet zu der der dritten Strophe über. Denn hier vergegenwärtigt sich das lyrische Ich in Gestalt expressiver Bilder das Wesen seiner Lieder, die dereinst wie ein „Lavastrom“ aus dem „tiefsten Gemüt“ nicht nur hervorquollen, sondern sogar –stürzten. Die Liedmusik kann nun zwar zum Gestus ihres Anfangs zurückkehren, dies aber nicht in unmodifizierter Weise, wenn sie die Emotionen reflektieren will, die sich beim lyrischen Ich in der imaginativen Vergegenwärtigung seines poetischen Schaffens unter dem Eindruck seiner großen Liebe einstellen. Und so steigt denn die melodische Linie wie in der ersten Strophe in identischer Harmonisierung zwei Mal in hohe Lage auf, um danach einen deklamatorisch gestaffelten Fall zu beschreiben, dieses Mal ereignet sich der Anstieg aber nicht in gebundener, von triolischem Legato geprägter Gestalt, vielmehr folgen deklamatorische Viertel-und Achtelschritte in markanter Weise aufeinander, und das Klavier, das in der ersten Strophe repetierende Akkordpaare erklingen ließ, begleitet nun jeden Schritt mit einem eigenen Akkord im Diskant und akzentuiert ihn auf diese Weise. Überdies agieren Singstimme und Klavier nun forte, und bei den, mir harmonischen Rückungen nach Fis-, bzw. A-Dur verbundenen melodischen Aufgipfelungen „wild“ und „Gemüt“ ist ausdrücklich ein Sforzato vorgeschrieben.


    Auch bei der vierten Strophe greift die Liedmusik auf vorangehende melodische Figuren zurück, und zwar auf die Fallbewegungen der melodischen Linie, wie sie sich auf den in die erste Liedstrophe integrierten Worten des ersten Verses der zweiten Strophe ereignen. Und der Grund dafür ist offenkundig: Dort ist vom Einsargen der Liebe die Rede und hier imaginiert das lyrische Ich das Bild von seinen stumm und bleich im Grabe liegenden Liedern. Auf den Worten „Nun liegen sie stumm und totengleich, / Nun starren sie kalt und nebelbleich“ beschreibt die melodische Linie vier Mal eine strukturell ähnliche, auf einem mit einem Oktavsprung zu einem hohen „D“ einsetzende und in mittlerer Lage endende Fallbewegung, die jeweils mit einer Rückung von g-Moll nach D-Dur verbunden ist und vom Klavier mit zwei entsprechenden Akkorden begleitet wird, aus denen sich jeweils eine Achtel-Triole löst und zum nächsten melodischen Fall überleitet.


    Die Vision einer Wiederbelebung der „alten“ Glut durch den „Geist der Liebe“ hat Schumann als lyrisch so bedeutsam und gewichtig empfunden, dass er die Worte des zweiten Verspaares wiederholen lässt und dabei eine klanglich hoch beeindruckende Steigerung der Expressivität in die Liedmusik bringt. In von Tonrepetitionen geprägten deklamatorischen Schritten erhebt sie sich zweimal auf ansteigender tonaler Ebene in hohe Lage, wobei aus der Kombination aus Terzsprung und –fall, die zunächst auf den Worten „der Liebe Geist“ liegt, beim zweiten Mal ein zur Dehnung in hoher Lage führender Sextsprung mit nachfolgend doppeltem Sekundfall wird. Das Klavier begleitet hier durchweg mit vielstimmigen, Bass und Diskant übergreifenden Akkordfolgen und verleiht der Aussage der melodischen Linie damit hohes Gewicht.


    Auf höchst beeindruckende, ja geradezu ergreifende Weise hat Schumann das sich steigernde innere Beflügelt-Sein des lyrischen Ichs von seinen Visionen liedmusikalisch eingefangen, wie es sich in den beiden letzten Strophen ereignet. So sehr beeindruckend ist es deshalb, weil das nicht in vordergründigem Anstieg von Emphase und Expressivität geschieht, sondern, ganz der Aussage des lyrischen Textes entsprechend, in einem Prozess wachsender liedmusikalischer Verinnerlichung. Melodische Linie der Singstimme und Klaviersatz, die sich eben noch in deklamatorisch sprunghaften oder repetierenden Bewegungen ergingen und großes klangliches Potential in Gestalt von vielstimmigen Akkorden entfalteten, wirken nun beide wie auf ihren wesentlichen Aussage-Kern reduziert. Die Vokallinie entfaltet sich nun in weiter phrasierter und deutlich gebundener Bewegung, und das Klavier beschränkt sich fast durchgehend auf die Begleitung mit zweistimmigen, im Wechsel zwischen Bass und Diskant aufeinander folgenden bitonalen Achtel-Akkorden. Zwar setzt die Liedmusik bei den Worten „Und es wird mir im Herzen viel Ahnung laut:/ Der Liebe Geist einst über sie taut“ auch wieder im Gestus der sich steigernden Expressivität ein, in Gestalt einer in der deklamatorischen Struktur sich wiederholenden und dabei in der tonalen Ebene ansteigenden melodischen Linie und einer Harmonik, die erst eine Rückung von der Dominant-Septe D nach G-Dur und dann eine von der Dominante E-Dur nach A-Dur beschreibt, aber die visionären Worte „einst kommt…“ leiten ein zur Ruhe-Kommen und In-sich-Kehren der Liedmusik ein, das bis zu ihrem Ende anhält und sich in diesem Gestus intensiviert.


    Bei den Worten „Du süßes Lieb im fernen Land“, bei denen Schumann wieder zum Prinzip der Wiederholung greift, entfaltet die melodische Linie mit ihren sich in der tonalen Ebene absenkenden Fallbewegungen, die vom Klavier mit Sexten, Quarten und Terzen mitvollzogen werden, geradezu ergreifende wehmütig-klangliche Süße. Die Harmonik, die hier mehrfach zwischen der Tonika D-Dur und ihren beiden Dominanten moduliert, macht am Ende, beim Sekundfall in tiefe Lage auf dem Wort „Land“ eine Rückung nach A-Dur, um eine Brücke zur melodischen Linie der letzten Strophe zu bilden, die auf dem gleichen Ton und in der gleichen Harmonisierung einsetzt. Und hier setzt sich der von lichter Wehmut angehauchte Zauber der Liedmusik fort. Zweimal beschreibt die melodische Linie eine leichte Bogenbewegung in mittlerer Lage, bei der sich jeweils eine – eben diese Anmutung von Wehmut bewirkende – Rückung von A-Dur nach fis-Moll ereignet. Und dann schwingt sie sich bei den Worten „schöne Aug´“ aus einer mehrfachen Tonrepetition mit einem Sextsprung und einer Rückung von E-Dur in die Dominant-Septe der Tonart „A“ in hohe Lage auf, verharrt dort in einer kleinen Dehnung, setzt die Bewegung nach oben mit einem Sekundschritt zu dem Wort „Flüstern“ hin fort und geht danach bei den Worten „mit Wehmut und Liebeshauch“ in einen weit gespannten, weil von Tonrepetitionen und einer langen Dehnung verzögerten Fall über eine ganze Oktave bis hin zum Grundton in tiefer Lage über, wobei auf dem Wort „Liebeshauch“ eine melismatische, ihm einen klanglichen Zauber verleihende Kombination aus Dehnung und triolischem Achtelfall liegt.


    Ein sechstaktiges Nachspiel lässt die Liedmusik in Gestalt von sich immer wieder aufs Neue in cis-Moll-Harmonik triolisch aufschwingenden und danach in D-Dur-Harmonik wieder fallenden Achteln ausklingen und schließlich in einem D-Dur-Akkord zur Ruhe kommen.

  • Gegenstand dieses Threads sind zwar die Heine-Vertonungen Schumanns, sein eigentliches Thema ist aber die Begegnung des Liedkomponisten Schumann mit dem Lyriker Heine. Nun wurde das erste musikalische Dokument davon vorgestellt und besprochen, und es reklamiert eine Zuwendung in Gestalt eines Nachdenkens über die Fragen, die mit dem Thema aufgeworfen sind.


    Mit dem Lied „Mit Myrthen und Rosen“ endet das Opus 24, in dem sich Schumann erstmals ausschließlich mit Heines Lyrik auseinandergesetzt hat, und dies auf liedkompositorisch intensive und hochgradig differenzierte Weise. Was dabei herausgekommen ist, stellt eigentlich einen Liederzyklus dar. Dies nicht voll und ganz im Sinne der konstitutiven Merkmale, wie sie die Musikwissenschaft für diese liedmusikalische Kategorie vorgegeben hat und wie sie Schumann in Gestalt des Grundmodells von Beethovens „An die ferne Geliebte“ vorfand. Es gibt keine Verwandtschaft der Lieder, die aus ihrem Bezug auf ein narratives Fundament, einer Wiederkehr oder Variation melodischer Motive oder einem zugrundeliegenden harmonischen Grundkonzept herrührte. Ich würde auch nicht so weit gehen, wie Dietrich Fischer-Dieskau das tut, wenn er diesen „Liederkreis“ mit den Worten charakterisiert: „Hier – bei den neun Gedichten aus Heines >Junge Leiden< - nahm Schumann eine Anordnung vor, die eine angedeutete Handlung suggeriert.“ Eine solche ist in der Abfolge der von Schumann zur Liedkomposition herangezogenen Heine-Gedichte nicht auszumachen. Wohl aber verbindet sie alle ein gemeinsames Thema: Die lyrisch-reflexive und darin perspektivisch hochkomplexe Auseinandersetzung mit dem Thema „Liebe als existenzielle Grund-Erfahrung“. Und eben darin gründet der zyklische Charakter von Schumanns Liedmusik auf sie.


    Aber dies lässt diesen Liederkreis auch wiederum, jenseits seiner ganz und gar unbezweifelbaren und seine Hörerschaft in Bann schlagenden liedmusikalischen Qualitäten, ein wenig rätselhaft werden – jedenfalls für mich, indem er Fragen aufwirft. Wie kann es sein, so frage ich mich, dass sich Schumann in der Zeit einer tiefen und innigen, in den überlieferten Briefen auf eindrucksvolle Weise dokumentierten Liebe zu seiner „Clara“ liedkompositorisch auf eine Lyrik einlässt – das heißt also: sich auch in der Rezeption reflexiv damit auseinandersetzt! -, in der „Liebe“ als hochgradig problembelastete, den Menschen nicht nur beglückende, sondern auch belastende, seelisch schmerzende, ja existenziell gefährdende Erfahrung präsent ist?
    Was diese Nachdenklichkeit auslöst, ist Schumanns brieflicher Kommentar zur Übersendung dieser Liedkomposition an Clara vom 13. März. Er lautet:
    „Hier als schüchterne Belohnung für Deine zwei letzten Briefe etwas. Die Lieder sind meine ersten gedruckten, also kritisiere sie mir nicht zu stark. Wie ich sie komponierte, war ich ganz in Dir. Du romantisches Mädchen verfolgst mich doch mit Deinen Augen überall hin, und ich denke mir oft, ohne solche Braut kann man auch keine solche Musik machen, womit ich aber Dich besonders loben will.“


    Bemerkenswert ist, wie Clara am 14. März darauf antwortet:
    „Hab schönen Dank für die Lieder, sie haben mich überrascht und sind doch ganz eigentümlich, verlangen aber alle gute Sänger, die Geist genug besitzen, sie aufzufassen.“
    Das Geständnis des „Überrascht“-Seins und die Verwendung des Wortes „eigentümlich“ im Urteil über die Lieder kann man durchaus als Indiz dafür auffassen, dass sie durch diese Liedkompositionen von ihrer Thematik und ihrem Gehalt her nachdenklich gestimmt wurde, sie vielleicht sogar als ein wenig befremdlich empfunden hat. Dabei ist Schumann in der Auswahl der Heine-Gedichte hier ja noch jenen aus dem Wege gegangen, in denen sich die wirklich massiven lyrischen Einbrüche von Ironie und Sarkasmus ereignen. Spätestens in der noch im gleichen „Liederjahr“ nachfolgenden „Dichterliebe“ wird das anders sein. Aber immerhin finden sich in den diesem Opus 24 zugrunde liegenden Gedichten Bilder wie jenes vom einen „Totensarg“ bauenden „Zimmermann“ und das von der „Schlang´ im Paradies“, und Worte wie „Bittre Worte spricht dein Mund“ oder „Oben Lust, im Busen Tücken, Strom, du bist der Liebsten Bild“. Wobei allerdings auffällig ist, dass Schumann sich im Falle der letzten nicht mit einer ihrem semantischen Gehalt voll und ganz gerecht werdenden Liedmusik auf diese einlässt. Er überspielt die Worte regelrecht mit einer arglos daherkommenden Rhein-Romantik-Liedmusik.


    Bleibt aber die Grundfrage: Warum diese liedkompositorische Auseinandersetzung mit Heines Lyrik?
    Ich denke, dass man, wie das in der biographischen Literatur über Schumann häufig der Fall ist, einen Fehler begeht, wenn man solche Äußerungen wie „ohne solche Braut kann man auch keine solche Musik machen“ wörtlich nimmt in dem vordergründigen Sinne, dass Schumanns kompositorisches Schaffen im sogenannten „Liederjahr“ als wesenhaft von der Liebe zu Clara generiert und in ihrem Gehalt geprägt betrachtet und beurteilt.
    Gewiss, seine Liedmusik und seine übrigen Kompositionen weisen eine Fülle von Bezügen zu ihr auf, so dass Peter Gülke völlig zu Recht anmerken kann: „Schumanns Musik ist übervoll von Kassibern, symbolträchtigen Wendungen, Strukturen, Kontrapunkten etc,. offen oder versteckt auf Clara weisenden Signets…“.
    Aber all diese verweisen, wie ich denke, nicht auf den wahren Quell von Schumanns Liedmusik und seine Musik ganz allgemein, und sie machen auch nicht ihren substanziellen kompositorischen Kern aus. Der Quell ist die existenzielle Problematik seines künstlerischen Ichs und seiner elementaren Gefährdung im tiefreichenden Antagonismus von Florestan und Eusebius. Die Liebesbeziehung zu Clara ist, so wie ich das sehe, in seinem Leben als Mensch und Künstler ein Anlass, eine Art Initialzündung für das Ausleben-Müssen dieser existenziellen Problematik. Das geschieht dann nicht nur, aber zu einem wesentlichen Teil auf dem Feld der Lyrik Heines. Und die kompositorische Bezugnahme auf Clara – etwa, wenn er sein Lied-Opus „Myrthen“ (op.25) mit der von ihm mit „Widmung“ betitelten Komposition auf Rückerts Gedicht „Du meine Seele, du mein Herz“ eröffnet oder den ersten Satz seiner Fantasie op.17 „eine tiefe Klage um Dich“ nennt – verstehe ich im Grunde als eine Art Suche nach einem Anker, mit dem er Halt in seinem künstlerisch-kompositorischen Leben und Schaffen zu finden hofft.


    An diesem Liederzyklus op. 24 kann man ja sehen, dass es ihm um mehr geht als nur das Thema „Liebe“. Mit der von Schumann ganz bewusst ans Ende gesetzten Liedmusik auf Heines Gedicht „Mit Myrthen und Rosen“ tritt an die Stelle dieses Themas, um das die vorangehenden Lieder kreisen, mit einem Mal die Frage der Gültigkeit dieser Lieder als dichterische, bzw. nun auch musikalische Kunstwerke. Und in diesem Zusammenhang ist vielsagend, wie Schumann mit der von Heine vorgenommenen Einbeziehung der poetologischen Dimension in die lyrische Aussage liedmusikalisch umgeht.
    Beim zweitletzten Lied legt er dem mit den Worten „Anfangs wollt´ ich fast verzagen“ eingeleiteten lyrischen Text eine Melodik zugrunde, mit der er ganz bewusst die des protestantischen Chorals „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ aufgreift. Damit wird aber die Frage aufgeworfen, ob das schwere seelische Leid, von dem der lyrische Text spricht, durch den Glauben an Gott zu einem geworden ist, das vom lyrischen Ich bewältigt werden konnte, so dass es bekennen kann: „Und ich hab´ es doch getragen.“ Und bemerkenswert ist nun: Schumann lässt die Wiederholung der Worte „nicht wie“ auf einem verminderten Sekundfall deklamieren, der, weil mit einer harmonischen Rückung von g-Moll nach A-Dur verbunden, das Lied in einem offenen, einem phrygischen Schluss enden lässt.


    Und von daher enthüllt sich das letzte Lied in seiner Bedeutsamkeit für die von Schumann intendierte Aussage des ganzen Liederkreises op.24. Es will in seiner Harmonisierung in der Grundtonart D-Dur als Antwort auf die im vorangehenden Lied offen gelassene Frage verstanden werden. Und das heißt ja doch wohl:
    Für Schumann ereignet sich die Bewältigung des seelischen Schmerzes, wie er mit der existenziellen Erfahrung von Liebe einhergehen kann, nicht im christlichen Glauben, sondern in der künstlerisch-kompositorischen Auseinandersetzung damit. Und sie nimmt in dem daraus hervorgehenden Werk, hier also im Lied, eine ihre Zeitlichkeit und Zeitbedingtheit transzendierende gültige Gestalt an.

  • Dieses und die beiden folgenden Lieder gehören zum insgesamt 26 Titel umfassenden Opus 25, dem Schumann in Anspielung auf die im Volksbrauch als Brautschmuck dienende Gemeine Myrte den Titel „Myrthen“ gab und „seiner geliebten Braut“ widmete und schenkte. Mit der Komposition begann er im Januar 1840, wurde aber erst Anfang April fertig. Eröffnet wird das Lied-Opus in vielsagender Weise mit der Komposition auf Rückerts Gedicht „Du meine Seele, du mein Herz“, die Schumann mit „Widmung“ überschrieb.


    Die Lotosblume ängstigt
    Sich vor der Sonne Pracht
    Und mit gesenktem Haupte
    Erwartet sie träumend die Nacht.


    Der Mond, der ist ihr Buhle
    Er weckt sie mit seinem Licht,
    Und ihm entschleiert sie freundlich
    Ihr frommes Blumengesicht,


    Sie blüht und glüht und leuchtet
    Und starret stumm in die Höh';
    Sie duftet und weinet und zittert
    Vor Liebe und Liebesweh.


    Die zarte, exotische Lotosblume, für Heine Metapher für ein weibliches Wesen, ist in seiner Existenz extrem gefährdet, da sie das grelle Sonnenlicht und die ihm einhergehende Aktivität und Vitalität des Tageslebens nicht zu ertragen vermag. Mit gesenktem Haupte nur vermag sie den Tag zu ertragen, der Raum seines Lebens ist die Nacht. In ihm vermag sie ihren Blütenkelch zu öffnen, da es keine Gefährdung für ihn gibt. Und dieses Sich-Öffnen ist eines der Sehnsucht nach Begegnung mit dem milden Licht des Mondes, dem sie sich in Liebe zuwendet. Es ist freilich eine Liebe, die in all ihrem von starken seelischen Regungen begleiteten Begehren unerfüllt bleiben muss. Die Botschaft dieser Metapher wäre also: Für das zarte Wesen muss es bei der Sehnsucht nach Liebe bleiben, weil Nähe in der Beziehung zum Du existenzielle Gefährdung mit sich brächte.


    Das Faszinierende an diesem Heine-Gedicht ist, dass es unter Ausblendung jeglicher Hintergründigkeit ganz und gar im lyrischen Entwurf dieser Metapher verbleibt und diese mit überaus zarten Linien und Farben entwirft und zeichnet. Und das auf lyrisch-sprachlich höchst subtile und kunstvolle Weise. Zwar bestehen die Verse aus dreifüßigen Jamben, aber immer wieder mischen sich rhythmisch beschwingte Daktylen in den jambischen Gestus, - Ausdruck der sich in Weinen und Zittern äußernden seelischen Regungen der Lotosblume. Bemerkenswert hinsichtlich der formalen Anlage des Gedichts ist auch: Ihre scheinbare Einfachheit ist hintergründig. Einen Reim tragen jeweils nur die Verse zwei und vier, die Verse eins und drei der Strophen entfalten sich ohne Reimbindung. Lyrisch-sprachlicher Niederschlag der exotischen Exponiertheit dieses Wesens, das im Zentrum der lyrischen Aussage steht? Man kann es so verstehen.


    Und Schumanns Liedmusik, - greift sie all das auf, fängt es mit ihren Mitteln so ein, dass sich eine vollkommene Repräsentanz einstellt? Man kann diese Frage ohne jegliche Einschränkung bejahen. Dieses Lied ist nicht ohne Grund zu einem der beliebtesten von Schumanns kompositorischem Schaffen geworden. Denn ihm ist hier etwas durchaus Großes und Seltenes gelungen: Sowohl die überaus zarte Schönheit des lyrischen Bildes in eine adäquate, von eingängiger melodischer Kantabilität geprägte Liedmusik umzusetzen, als auch die semantische Tiefe in Heines Metaphorik auszuloten. Und dass beides gelungen ist, ohne dass das Eine das Andere stört, vielmehr beides eine vollkommene musikalische Einheit zu bilden vermag, das macht dieses Lied zu einer so großen und zu Recht beliebten Komposition.


    Wie aber, so stellt sich die Frage für den liedanalytischen Betrachter, hat Schumann diese so vollkommene musikalische Einheit zustande gebracht? Ihr soll nachfolgend in der gebotenen Kürze nachgegangen werden. Dem ersten Blick in die Noten bieten sich diese Auffälligkeiten: Regelmäßige und auffallend lange, zwei bis drei Viertel beanspruchende Pausen zwischen den jeweils nur einen Vers umfassenden Melodiezeilen; daneben sich immer wieder ereignende harmonische Störungen in dem strukturell auf Akkordrepetitionen angelegten Klaviersatz. Mit vierstimmigen Akkorden in der Grundtonart F-Dur setzt das Lied im eintaktigen Vorspiel ein. Ein Sechsvierteltakt liegt zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Ziemlich langsam“. Die auftaktig einsetzende melodische Linie auf dem ersten Vers entfaltet sich in einer für die ganze Komposition typischen Weise. In syllabisch exakter Deklamation bewegt sie sich, große Sprünge meidend und zu Tonrepetitionen neigend, auf der eingenommenen tonalen Ebene, beschreibt in der Mitte (hier auf dem Wort „Lotosblume“) einen mit einem Legato eingeleiteten doppelten Sekundfall und endet in einer Kombination aus einem Schritt im Wert einer halben und einer Viertelnote, wobei die Reihenfolge wechselt.


    Von dieser Grundstruktur weicht die melodische Linie, bedingt durch die lyrische Aussage, vor allem in der dritten Strophe in unterschiedlicher Weise ab, der Grund-Gestus der ruhigen, die Regelmäßigkeit suchenden Entfaltung mit dem Ziel, eine gebunden-kantable, größere Sprünge, Fallbewegungen oder gar Brüche meidende Melodik zu generieren, bleibt gleichwohl erhalten. Darin reflektiert die Liedmusik die Folge der überaus zarten lyrischen Bilder, mit denen Heine die Gestalt der Lotosblume entwirft und ihr Wesen beschreibt. Wie aber kommt es, dass die jede Melodiezeile begrenzenden Pausen der Kantabilität der melodischen Linie nichts anhaben können, - bei angemessenem Vortrag freilich? Und warum überhaupt diese Pausen? Man könnte denken, dass sich Schumann bei der Gestaltung der Melodik des Liedes streng an die formale Gestalt von Heines Strophen gehalten, sich ihr sozusagen unterworfen hat. Dabei würde man allerdings die liedkompositorische Souveränität außer Betracht lassen, sie er grundsätzlich im Umgang mit den prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes an den Tag legt. Naheliegend ist hingegen die Annahme, dass die Pausen die Funktion haben, kleine Räume zu schaffen für die meditative Versenkung des Hörers in die jeweilige musikalische Aussage der Melodiezeilen.


    Heine hat ja nicht ohne poetischen Grund die Syntax der Sätze durch die Versstruktur so unterbrechen lassen, wie das hier der Fall ist. Das Wort „ängstigt“ erhält dadurch, dass einen Augenblick lang offenbleibt, dass es reflexiv eingesetzt und auf welches Objekt es bezogen ist, ein starkes lyrisch sprachliches Gewicht. Schumann lässt die melodische Linie des ersten Verses auf der Quinte zum Grundton auftaktig einsetzen, verleiht ihr durch gedehnte Tonrepetition melodisches Gewicht und lässt sie nach dem Legato-Sekundfall über einen Sekundanstieg auf der Terz zum Grundton wieder in einer Dehnung enden.


    Die Harmonik beschreibt bei dieser Zeile eine Rückung von F-Dur zur Subdominante B-Dur, von dort zur Dominante C-Dur und zurück zur Tonika. Das harmonisch Bedeutsame ist dabei freilich, dass er melodische Sekundfall auf der letzten Silbe von „Lotosblume“ ein kleiner ist und der die begleitende C-Akkord ein verminderter. Auf diese Weise wird der Effekt den Heine mit seiner Exposition des Wortes „ängstigt“ erzielt, noch gesteigert und die nachfolgende Pause schafft Raum für die Entfaltung der Semantik desselben. Die melodische Dehnung auf der Terz zur Tonika bereitet dafür die klangliche Grundlage. Und nicht nur das. Sie liefert als gleichsam offener Schluss den Impuls und den Ansatz für die Fortsetzung der melodischen Linie. Und dass dies ohne Bruch geschieht, die Zweiviertelpause also gar keine Unterbrechung des liedmusikalischen Flusses mit sich bringt, das liegt einerseits daran, dass das Klavier derweilen seine F-Dur-Akkord-Repetitionen fortsetzt, vor allem aber hat es seine Ursache auch darin, dass die nächste Melodiezeile, die auf dem zweiten Vers also, auf der Subterz zum Grundton einsetzt, so dass die Bogenbewegung der melodischen Linie mit ihrer Mündung in den wiederum gedehnten Grundton so wirkt, als stelle sie die Fortsetzung der ersten mit eben dieser Zielsetzung dar.


    Diese gleichsam in die Binnenstruktur der Liedmusik vordringende Beschreibung des Liedanfangs sollte die liedkompositorische Subtilität aufzeigen, die sich in ihrer so wunderbar eingängigen Schlichtheit verbirgt. Und wie hier, so erlebt man das bei jedem Melodiezeilen-Paar - denn die Liedmusik entfaltet sich tatsächlich auf der Grundlage einer solchen Paarung – immer wieder aufs Neue. Und manchmal auf eine Weise, die einem noch größere Bewunderung für Schumanns Lied-Kompositionskunst abnötigt. Bei der Liedmusik auf den Versen „Und mit gesenktem Haupte / Erwartet sie träumend die Nacht“ ist das zum Beispiel so. Die Melodiezeile auf dem dritten Vers stellt ja eine Wiederholung von der auf dem ersten Vers dar, mit Ausnahme der Dehnung auf dem zweiten deklamatorischen Schritt. Aber bei den Worten „gesenktem Haupte“ verlagert sich das akkordische Geschehen, eben diesem Bild entsprechend, in den Bass-Bereich. Und dann ereignet sich sowohl im Klaviersatz, wie auch in der Melodik Bemerkenswertes. In der Zweiviertelpause vor dem Einsatz der Melodiezeile auf dem letzten Vers erklingt in der Abfolge der F-Dur-Akkord-Repetitionen überraschend ein harmonisch verminderter Akkord aus den Tönen „Fis-Es-A-C“. Ganz offensichtlich ist das ein Reflex des Bildes vom „gesenkten Haupte“ und darin ein Impuls zum Nachdenken darüber, was sich für die Lotosblume damit verbindet.


    Die melodische Linie auf dem letzten Vers stellt mit ihrem Ansatz auf dem gleichen Ton, mit dem die vorangehende endete, wieder eine Fortsetzung derselben dar, so dass die Pause erneut keine Wirkung zu entfalten vermag. Aber ihre musikalische Aussage ist überraschend, - auf dem Hintergrund der kurzen, leicht dissonanten Eintrübung der F-Dur-Harmonik. Nach vierfacher Tobrepetition erhebt sie sich mit drei aufwärts gerichteten Sekundschritten zur wunderbaren klanglichen Helligkeit eines reinen C-Durs und verharrt dort in einer Dehnung auf einem „C“ in mittlerer Lage. Und bemerkenswert: Es liegt in all seiner durch die Dominante G-Dur auf dem Wort „träumend“ eingeleiteten Helligkeit auf dem Wort „Nacht“.


    Das Außergewöhnliche, das die Nacht für die Lotosblume mit sich bringt, die Begegnung mit ihrem „Buhlen“ Mond nämlich, schlägt sich in der Liedmusik der zweiten Strophe in der Weise nieder, dass sich eine überraschende Rückung vom eben gerade noch erklungenen C-Dur nach As-Dur ereignet. Wobei die Tonrepetition, mit der die melodische Linie auch hier – wie generell am Strophenanfang – einsetzt, sogar mit einer Rückung von As-Dur in die Subdominante Des-Dur einhergeht. Diese Tonart liegt auf dem Wort „Mond“, und am Anfang des zweiten Verses wiederholt sich das noch einmal bei der Tonrepetition auf den Worten „er weckt“. Man kann dies durchaus so auffassen, dass die im Quintenzirkel weit nach unten ausreifende harmonische Rückung die Ferne zum Ausdruck bringen, in der der geliebte Mond verweilt und sein mildes Licht spendet. Die melodischen Linien auf den beiden ersten Versen sind fast identisch und in der gleichen Weise, nämlich in der Folge von As-, Des- und Es-Dur harmonisiert. Aber die zweite endet nicht wie die erste mit einem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „Buhle“, sondern mit einem in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg. Und es ist ganz offensichtlich, warum dies geschieht: Das „C“, das die Dehnung trägt, liegt auf dem Wort „Licht“, - wie jenes andere auf dem Wort „Nacht“. Aber eben deshalb ist es nun ist As-Dur harmonisiert.


    Die gesteigerte Expressivität der Metaphorik, wie sie sich in der dritten Strophe lyrisch-sprachlich im ersten und dritten Vers in Gestalt einer Reihung durch Doppelkonjunktion ereignet, hat zur Folge, dass die Liedmusik hier den Höhepunkt ihrer Expressivität erreicht, wobei Schumann, seine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten nutzend, über Heine hinausgeht, indem er einen Steigerungseffekt einsetzt. Die melodische Linie legt nun zwar den Gestus der ruhigen, kantabel-gebundenen Entfaltung nicht völlig ab, sie geht aber an dessen Grenzen, indem sie sich einer Tendenz zur Steigerung ihrer Aussage überlässt, die sich darin ausdrückt, dass sie von dem bisher praktizierten Verharren auf der eingenommenen tonalen Ebene ablässt und nicht nur zu Aufstiegsbewegungen übergeht, sondern darüber hinaus in der Aufeinanderfolge der Melodiezeilen auch noch die tonale Ebene anhebt und, damit verbunden, das klangliche Potential der harmonischen Rückung im Sinne einer Steigerung der eigenen Expressivität nutzt.


    Auf den Worten „Sie blüht und glüht und leuchtet“ liegt eine melodische Bewegung in Gestalt von in Sekunden ansteigenden Tonrepetitionen, der insofern ein Gestus des Vorwärtsdrängens innewohnt, als jeweils auf einen gedehnten ein kurzer deklamatorischer Schritt folgt. Sie soll demgemäß „nach und nach schneller“ vorgetragen werden. Und unterstützt wird dieser Gestus von der Harmonik, denn die Akkorde, mit denen das Klavier begleitet, erweitern sich dergestalt, dass der oberste Ton dem Anstieg der melodischen Linie folgt, und dies permanent in der Dominant-Sept-Harmonik der Tonika F-Dur. Bei den Worten „Und starret stumm in die Höh'“ wiederholt sich diese Aufstiegsbewegung. Wieder wird sie vom Klavier mit Dominant-Septakkorden begleitet, aber sie setzt nun nicht nur auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene an, sie beendet auch das Prinzip der Tonrepetition und geht zu einem Sekund- und Terzanstieg über, um bei dem Wort „Höh´“ einen gedehnten Sekundfall in oberer Mittellage zu beschreiben.


    Damit lässt die melodische Linie von ihrer Tendenz der Steigerung ihrer Expressivität aber noch nicht ab. Bei den Worten „Sie duftet und weinet und zittert“ setzt sie sie fort, um sich, auf wiederum angehobener tonaler Ebene und, nun in einer Rückung von der Subdominante B-Dur über die Dominante C-Dur in der Tonika F-Dur harmonisiert, mit einem Terzsprung zum höchsten Ton des Liedes aufzuschwingen und dort bei dem Wort „zittert“ einen Sekundfall zu beschreiben. Ausnahmsweise ist das nun kein so oder so gedehnter Schluss der Melodiezeile. Das lyrische Wort „zittert“ fordert das. Und der nicht nur seiner Semantik, sondern auch seiner sprachlichen Klanglichkeit auf die für ihn typische Weise aufgeschlossene Robert Schumann reagiert darauf liedkompositorisch entsprechend.


    Die Worte des letzten Verses werden wiederholt. Und sie bilden darin einen klanglich wunderbar wehmütigen Abgesang. Die melodische Linie beschreibt eine strukturell und in ihrer über die Rückung über die Dominante in der Tonika endenden Harmonik identische Fallbewegung, die deshalb so ausdrucksstark ist, weil sie sich in Gestalt von sich tonal absenkenden Sprüngen ereignet und auf der ersten Silbe von „Liebesweh“ einen gedehnten Quartfall beschreibt, dem auf den nachfolgenden Silben ein tonal wieder abgesenkter Terzfall nachfolgt.
    Aber der so hochartifizielle Harmoniker und Melodiker Schumann nutzt die Wiederholung der melodischen Linie auf den Worten des letzten Verses zu kleinen, darin aber musikalisch vielsagenden Variationen. Das Wort „und“ wird beide Male mit einem dem Oberdominant-Bereich zugehörigen Akkord begleitet, und beim Quartfall auf „Liebesweh“ liegt, um das Wort klanglich auszuloten, bei der Wiederholung die melodische Dehnung nicht auf dem ersten, sondern auf dem zweiten Ton. Wieder ritardando vorgetragen, nun aber von einem die Liedmusik beschließenden und deshalb über zwei Takte gehaltenen F-Dur-Akkord begleitet.

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  • Was will die einsame Träne?
    Sie trübt mir ja den Blick.
    Sie blieb aus alten Zeiten
    In meinem Auge zurück.


    Sie hatte viel leuchtende Schwestern,
    Die alle zerflossen sind,
    Mit meinen Qualen und Freuden
    Zerflossen in Nacht und Wind.


    Wie Nebel sind auch zerflossen
    Die blauen Sternelein,
    Die mir jene Freuden und Qualen
    Gelächelt ins Herz hinein.


    Ach, meine Liebe selber
    Zerfloß wie eitel Hauch!
    Du alte, einsame Träne,
    Zerfließe jetzunder auch!


    Diese Verse kreisen um das sozusagen klassische Thema „vergangene Liebe“. Aber das tun sie auf die typisch Heinesche Art: Im hochgradig affektiven, weil personal ansetzenden und an entsprechenden lyrischen Bildern festgemachten Zugriff auf dasselbe. Hier ist es eine Träne, an der das geschieht. Sie wird vom lyrischen Ich als „einsam“ erfahren, und der personale poetische Ansatz ereignet sich in der Weise, dass dies nicht einfach festgestellt wird, sondern das Gedicht als Frage einleitet. Die „einsame Träne“ begegnet dem lyrischen Ich als Relikt aus vergangenen glücklichen Zeiten erfüllter Liebe. Heine schlittert dabei, wie das bei ihm oft der Fall ist, hart am problematischen lyrischen Spiel mit dem Diminutiv und dem metaphorischen Konstruktivismus vorbei, wenn er im retrospektiven Entwurf von Vergangenheit der „einsamen Träne“ „leuchtende Schwestern“ zuordnet und die ehemaligen „Freuden und Qualen“ als von „blauen Sternelein“ ins Herz „hinein gelächelt“ darstellt. Aber die letzte Strophe fängt das in poetisch gekonnter Weise auf. Die - im Grunde ja banale - Klage über die Vergänglichkeit erfüllter Lebenszeit erhält dadurch einen überzeugenden personalen Bekenntnischarakter, dass an die „einsame Träne“ die – an sich unsinnige – Aufforderung gerichtet wird, „jetzunder“ auch zu zerfließen und zu vergehen. Sie wirkt in eben dieser Unsinnigkeit als wahrhaftiger Ausdruck tiefer existenzieller Resignation, ja Lebensmüdigkeit.


    Wie immer bei diesem Thread-Unterfangen stellt sich die Frage: Wie greift Schumanns Liedmusik diese poetologischen Sachverhalte auf? Wird sie der lyrischen Aussage gerecht, und in welcher Weise geht sie dabei interpretatorisch mit der Semantik und der Metaphorik des lyrischen Textes um? Beim ohne Blick in die Noten erfolgenden ersten Hören stellt sich der Eindruck ein: Angesichts der Tatsache, dass sich die anfangs ein wenig verspielt daherkommende Einleitungsfrage am Ende als eine tiefernste, weil existenziell relevante enthüllt, weist die Liedmusik bei all ihrem modulatorischen Schweifen durch die beiden Tongeschlechter zwar eine Anmutung von Schmerzlichkeit auf, diese ergeht sich aber, ohne das Gewicht existenzieller Betroffenheit aufzuweisen, in der klanglichen Schönheit wehmütiger Retrospektive.
    Es wurde, weil auch andere Hörer diese Erfahrung gemacht haben, vermutet, Schumann wolle den im Grunde heiteren Geist dieses „Myrten“-Zyklus nicht allzu sehr stören. Dietrich Fischer-Dieskau zum Beispiel stellt derlei Vermutungen an, wenn er meint: „Das Gefühl bleibt bewusst verhalten, um den überwiegend heiteren Charakter des Myrten-Heftes nicht zu belasten.“ Ich neige eher zu der Annahme, dass Schumann das lyrisch-sprachliche Umkreisen der Metapher „einsame Träne“ als ein Sich-Ergehen des lyrischen Ichs in wehmütiger Vergegenwärtigung vergangener, von Liebe erfüllter Lebenszeit aufgefasst hat, von der es jetzt Abschied zu nehmen gilt, ohne dass dies mit schwerer und tiefgreifender seelischer Erschütterung verbunden ist.


    Dafür spricht die Anlage des Liedes. Da ihm das Strophenschema „A-B-B´-A´“ zugrunde liegt, ist der vierten Strophe keine eigene Liedmusik zugeordnet. Die Variationen, die sie im Vergleich zu der der ersten Strophe aufweist, betreffen nur die Liedmusik auf den beiden letzten Versen und bringen keinen wirklichen Wandel im klanglichen Grundcharakter des Liedes mit sich, sondern intensivieren nur dessen Ausrichtung auf die Expression von Wehmut. Das gilt auch für die Variation der melodischen Linie auf dem letzten Vers der dritten Strophe.


    Dem Lied liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, es steht in A-Dur als Grundtonart und soll „ziemlich langsam, mit inniger Empfindung“ vorgetragen werden. Sein klanglicher Grundcharakter, die von leichter Schmerzlichkeit angehauchte Wehmut, wird gleich am Anfang auf beeindruckende Weise vernehmlich. Die melodische Linie setzt ohne wirkliches Vorspiel ein, - wenn man denn einen vierstimmigen ais-Moll-Akkord, den das Klavier unmittelbar davor anschlägt und legato in einen e-Moll-Akkord übergehen lässt, nicht als „Vorspiel“ bezeichnen möchte. In eben diesem Legato-Übergang ereignet sich der Einsatz der Singstimme mit dem Vortrag der melodischen Linie auf den Worten „Was will die einsame Träne?“. Sie beschreibt eine zweimalige, in der tonalen Ebene sich absenkende Fallbewegung, die am Ende mit einem Quintsprung zu einem Sekundfall auf dem Wort „Träne“ übergeht. Eine Dreiachtelpause folgt nach.


    Das Beeindruckende an diesem Liedanfang ist das Ineinandergreifen von melodischer Linie und Klaviersatz. Der vorab erklingende ais-Moll-Akkord suggeriert Schmerzlichkeit, das unmittelbar danach auf einem „Cis“ in oberer Mittellage deklamierte Wort „Was“ ist in sie hinein gebettet, und so setzt denn auch die melodische Linie ihre Bewegung erst mit einem Sekund- und dann mit einem Quartfall auf den Worten „will die“ fort. Das Klavier aber geht, nachdem es die klangliche Schmerzlichkeit der melodischen Linie mit einem e-Moll-Akkord akzentuiert hat, bei dem melodischen Sekundanstieg zu dem Wort „einsame“ hin zur Artikulation eines E-Du-Akkords über, der, als Dominante fungierend, dann legato in einen A-Dur-Akkord mündet, mit dem der Sekundfall auf dem Wort „Träne“ begleitet wird.


    Was ereignet sich hier liedmusikalisch?
    Die kompositorische Faktur des Liedanfangs wurde deshalb so detailliert aufgezeigt, weil sie sich in der Rezeption des weiteren Verlaufs der Liedmusik in ihrem gleichsam programmatischen Charakter für die zugrundeliegende kompositorische Intention erweist: Ausdruck einer aus der Begegnung mit der „einsamen Träne“ hervorgehenden Wehmut, die sich bei all ihrer Schmerzlichkeit darin nicht verlieren und erschöpfen möchte, sondern sich am Ende einer zukunftsorientierten Daseinsbejahung zuwendet.
    Und betrachtet man die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung unter diesem Aspekt, so bildet sich eben dieses darin ab. Die melodische Linie der Singstimme folgt am Ende ihrer einzelnen Zeilen, in denen sie sich zwar auch immer wieder einmal, so besonders in den liedmusikalischen B-Strophen, aufwärts gerichteten Bewegungen überlässt, ihrer elementaren Tendenz zum Fall. Aber nicht nur, dass der Klaviersatz sich dem nicht immer anschließen will, vor allem die Harmonik verweigert sich dieser Tendenz beharrlich. Mit Ausnahme der letzten Strophe sind alle Fallbewegungen der melodischen Linie am Ende der einzelnen Zeilen im Tongeschlecht Dur harmonisiert.


    Die Liedmusik der ersten Strophe lässt dies sehr schön erkennen. Der Sekundfall auf „Träne“ ist, wie schon aufgezeigt, mit einer Rückung von E-Dur hin zur Tonika A-Dur verbunden. Beim zweiten Vers setzt die melodische Linie auf dem gleichen „A“ an, mit dem die erste Melodiezeile endete. Es ist nun aber in cis-Moll harmonisiert. Danach beschreibt sie zu dem Wort „ja“ hin eine Aufwärtsbewegung, überlässt sich auf eben diesem Wort einem melismatischen kleinen Sekundfall, den das Klavier mit einem Gis-Dur-Akkord begleitet, und der nachfolgende verminderte Sekundsprung auf den Worten „den Blick“ ist wieder in cis-Moll harmonisiert. Das ist der einzige Fall in der A-Strophe, wo die melodische Linie am Ende nicht in einen in Dur harmonisierten Fall mündet. Und der Grund ist offenkundig: Es ist das Bild vom „getrübten Blick“, der die klangliche Eintrübung durch cis-Moll am Ende der Zeile bewirkt.


    Auf den Worten „Sie blieb aus alten Zeiten“, dem dritten Vers also, liegt die gleiche melodische Linie wie auf dem ersten, nur dass der rhythmisierte Sekundfall auf dem Wort „alten“ nun legato vorgetragen werden soll. Wieder folgt eine Dreiachtelpause nach, in der das Klavier eine fallend angelegte Akkordfolge im Diskant erklingen lässt. Und wie sehr Schumann Wert auf eine diese Pausen überbrückende innere Bindung der melodischen Linie legt, ist daran zu erkennen, dass er die Melodiezeile auf dem letzten Vers wieder auf dem „A“ ansetzen und sie danach (bei „meinem“) die gleiche Kombination aus vorausgehendem Sekundfall mit nachfolgendem Quartsprung beschreiben lässt.


    Anders als in der zweiten Melodiezeile geht nun aber die Vokallinie nicht in einem Aufstieg hin zu einem Melisma in oberer Mittellage über, sondern sie beschreibt bei dem Wort „Auge“ einen Quartfall und endet bei „zurück“ nach einem Sekundanstieg in einen die Zeile beschließenden Terzfall. Das Klavier begleitet diesen Fall mit ebenfalls einen Fall beschreibenden dreistimmigen Akkorden im Diskant. Bemerkenswert ist dabei die Harmonisierung. Sie erfolgt auch hier im Tongeschlecht Dur, nun aber nicht in Gestalt einer Rückung von der Dominante in die Tonika A-Dur, wie das bei der vorangehenden Melodiezeile der Fall ist, sondern in einer von der Oberdominante H-Dur hin zur Dominante E-Dur. Die erste Strophe öffnet sich also harmonisch zur zweiten, und das hat ja auch seinen guten Sinn, setzt das Personalpronomen „sie“, mit dem diese einsetzt, die Folge der „sies“ fort, mit denen die Verse zwei bis vier der ersten Strophe beginnen.


    Nun aber beginnt das lyrische Ich mit der Erzählung der Geschichte der „einsamen Tränen“, die die Geschichte seiner nun der Vergangenheit angehörenden Liebe ist. Und diese Erzählung will eine andere Liedmusik haben: Es ist die der B-Strophe. In ihrem klanglichen Grundcharakter unterscheidet sie sich von der A-Strophe dadurch, dass sich das lyrische Ich, sich lösend von der Betroffenheit durch die Begegnung mit der „einsamen Träne“, in einer weniger wehmütigen melodischen Linie auszudrücken vermag. Sie lässt nun ab von ihren permanenten Fallbewegungen am Ende, ist vielmehr von einem Geist des Nach-oben-Strebens beflügelt, das am Ende der Zeile mal in eine Tonrepetition mündet, mal in einen Fall. Dieser ist jedoch keiner von der klanglich schmerzlichen Art, vielmehr einer, der in Dur-Harmonik gebettet ist und der Akzentuierung der Aussage dient.


    Bei den Worten „Sie hatte viel leuchtende Schwestern“ beschreibt die melodische Linie eine Anstiegsbewegung in Sekundschritten in mittlerer tonaler Lage, die am Ende, bei „Schwestern“, nach einer Tonrepetition in einen leicht gedehnten Quintfall übergeht. Das Klavier begleitet sie dabei mit ebenfalls ansteigenden dreistimmigen Achtelakkorden im Diskant. Beim zweiten Vers der zweiten (und natürlich auch der dritten) Strophe wiederholt die melodische Linie dieser Bewegung, mit dem einzigen Unterschied, dass sie am Ende in der Tonrepetition verharrt, ohne in einen Fall überzugehen. Aber es bleibt nicht bei dieser Wiederholung. Die Anstiegsbewegung auf dem dritten Vers ist strukturell die gleiche, nur dass sie nun, verbunden mit einer harmonischen Rückung in die Tonika A-Dur, auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ansetzt und sich am Ende, bei dem Wort „Freuden“ ein Sekundfall ereignet. Dieser leitet dann eine neue melodische Bewegung auf dem letzten Vers ein. Es ist ein fallend angelegter Bogen, bei dem sich die melodische Linie nach einer Tonrepetition zu dem Wort „Nacht“ hin mit einem Terzsprung wieder erhebt, um in einer Achtelpause innezuhalten und danach, bei den Worten „und Wind“ einen in der Dominante E-Dur harmonisierten Terzfall zu beschreiben. Er schließt die Melodik der Strophe zwar ab, leitet aber mit eben dieser Harmonisierung zu ihrer Fortsetzung in der dritten Strophe über, die ja eine Wiederkehr der gerade vernommenen Liedmusik darstellt.


    Mit ihrer permanenten und in der tonalen Ebene ansteigenden Wiederholung der Anstiegsbewegung der melodischen Linie in den ersten drei Zeilen, wobei der dazwischen sich ereignende Fall wie ein Ablauf zur neuerlichen Fortsetzung dieser Bewegung wirkt, mutet die Liedmusik an, als wolle das lyrische Ich in diesen B-Strophen die Vergangenheit suggestiv heraufbeschwören und vergegenwärtigen, - in den lyrischen Bildern, mit denen Heine sie evoziert hat. Dieser Eindruck stellt sich nicht nur durch die strukturelle Eigenart der Melodik ein, er wird auch durch den Klaviersatz und die in ihm verkörperte Harmonik befördert. Denn das Klavier begleitet die melodische Linie hier fast durchweg mit Akkorden, die ihren Bewegungen folgen und, harmonisch betrachtet, Dominant-Septakkorde darstellen: Erst, bei den ersten beiden Zeilen, in der Tonart „E“, dann bei der dritten zwar in der Tonart „A“, die aber ebenfalls als Dominante fungiert, denn der Sekundfall auf dem Wort „Freuden“ ist in D-Dur harmonisiert.


    Eine einzige Moll-Eintrübung ereignet sich in dieser ersten Fassung der B-Strophe. Es ist eine kurze Rückung nach h-Moll, ausgelöst durch das Bild der „Qualen und Freuden“, die „in Nacht und Wind zerflossen“ sind. Die kompositorische Variante des letzten Verses in der dritten Strophe verstärkt dieses kurze Hereinbrechen der A-Strophen-Wehmut in die Liedmusik der B-Strophen. Aus der Tonrepetition auf den Worten „und Freuden“ wird nun ein Sekundsprung zum höchsten Ton des Liedes (einem „Fis“), der die nachfolgende Fallbewegung eindringlicher werden lässt, so dass aus dem D-Dur der zweiten Strophe hier ein h-Moll werden muss. Wie in der zweiten Strophe begleitet das Klavier dann auch den melodischen Terzsprung auf den Worten „in´s Herz“ mit einem h-Moll-Akkord. Aber bemerkenswert, weil Ausdruck der liedkompositorischen Intention, wie sie sich aus Schumanns Rezeption des Heine-Gedichts ergab: Der melodische Terzfall auf dem Wort „hinein“ mündet in reine E-Dur-Harmonik.


    Und die Variation, die Schumann am Ende der A-Strophen-Liedmusik in der vierten Strophe vornimmt, wirkt wie eine im Ausdruck gesteigerte Wiederkehr dessen, was sich gerade am Ende der dritten Strophe ereignet hat. Der ohnehin ihren klanglichen Charakter prägende Anflug von schmerzlicher Wehmut erfährt in den beiden letzten Melodiezeilen nun erst einmal eine Intensivierung und Steigerung. Die Melodik der zweiten Zeile senkt sich nun nach dem Melisma nicht ab, sondern beschreibt zu dem Wort „Hauch“ hin einen weiteren, in cis-Moll harmonisierten Sekundanstieg. Auch in der dritten Zeile ereignet sich eine Steigerung des Ausdrucks von Schmerzlichkeit: In Gestalt einer nun in a-Moll harmonisierten Kombination von Terzsprung und Sekundfall auf den Worten „einsame Träne“. Und ganz und gar neu gestaltet ist die Melodik auf dem letzten Vers.


    Sie setzt, ebenfalls die Anmutung von schmerzlicher Wehmut intensivierend, mit einem zweifachen, in einer Tonrepetition kurz innehaltenden, von akkordischen Figuren im Diskant mitvollzogenen, in h-Moll harmonisierten und ritardando auszuführenden Sekundfall auf den Worten „zerfließe jetzt“ ein. Aber auf den letzten Worten ereignet sich Bemerkenswertes. Bei „jetzunder auch“ beschreibt die melodische Linie, erst den Fallgestus fortsetzend, ihren Weg abwärts über eine weitere Sekunde. Dann aber, mitten in diesem, von Heine gezielt altertümelnd eingesetzten Wort „jetzunder“ beschreibt sie einen Legato-Quartsprung, dem ein zweifacher, in eine kleine Dehnung auf der Tonika „A“ mündender und die Melodik des Liedes beschließender zweifacher Sekundfall nachfolgt. Und harmonisiert ist dieser Schluss in einer Rückung von der Dominante E-Dur zur Tonika A-Dur.


    So bekräftigt denn die Liedmusik am Ende ihre – in der Rezeption des lyrischen Textes durch ihren Komponisten gründende - Aussage-Intention noch einmal in expressiv gesteigerter Weise: Das Leiden des lyrischen Ichs am Verlust von Liebe und Glück ist ein durch die Begegnung mit der „einsamen Träne“ zeitlich und situativ begrenztes, eines, das nicht wirklich tief reicht, sich in Wehmut erschöpft und nicht die ganze Existenz in Beschlag nimmt.

  • Du bist wie eine Blume,
    So hold und schön und rein;
    Ich schau’ dich an, und Wehmut
    Schleicht mir ins Herz hinein.


    Mir ist, als ob ich die Hände
    Aufs Haupt dir legen sollt’,
    Betend, daß Gott dich erhalte
    So rein und schön und hold.


    Diese Verse von Heine haben nicht ohne Grund viele Komponisten, zweihundert dürften es sein, zu einer Vertonung geradezu herausgefordert. Nicht nur ihre lyrisch-sprachliche Klanglichkeit dürfte dafür verantwortlich sein, auch ihre metaphorische Zartheit wirkt geradezu verlockend. In vielen Fällen mündete sie in eine klanglich süßliche Liedmusik. Schumann ist dieser Verführung allerdings nicht erlegen. Es soll seine erste Liedkomposition überhaupt sein. Dies berichtet jedenfalls Johannes Brahms. An Clara schreibt er am 21. August 1854: „Ihr Mann hat dem Fräulein Remont in dem Schererschen Liederbuch alle Lieder gezeigt, die er früher komponiert hat. Unter anderem sagte er, das Lied <Du bist wie eine Blume< sei sein erstes gewesen. Dem ist ja so.“


    Was dieses Gedicht Heines zu wirklich großer Lyrik macht, das ist das subtile Spiel zwischen liebevoll lobpreisender Annäherung des lyrischen Ichs an das Du bei gleichzeitiger Scheu davor, die der verehrenden Haltung innewohnende Distanz aufzugeben. Die lyrischen Bilder preisen, und indem sie das mit äußerster Behutsamkeit tun, wird die Geliebte in geradezu mariologische Höhe eines blumenhaft zarten, schönen und letzten Endes fernen und unerreichbaren Wesens gesteigert. Bezeichnend ist, dass die einzige, im Gestus des handauflegenden Segnens erfolgende Imagination einer Annäherung in die sprachliche Form des fiktionalen „Als ob“ gestellt ist.


    Was Schumann, wie wohl all die anderen Komponisten, in Bann geschlagen und zur Vertonung herausgefordert haben dürfte, das ist Heines subtiles poetisches Spiel mit dem klanglichen Aspekt lyrischer Sprache. Die dunklen Vokale „u“, „o“ und der Diphthong „au“ treten in eine reizvolle Spannung zu dem „i“, das ihnen immer wieder, etwa in der Wortkombination „mir ist“ entgegentritt. Bei der Wortfolge „so hold und schön und rein“ ereignet sich eine klangliche Aufhellung des dunklen Vokals „o“ über den Umlaut „ö“ hin zum hellen Diphthong „ei“. Und durch die metrische Anlage der Verse können die für die lyrische Aussage maßgeblichen Worte, wie etwa „Wehmut“, ihre das semantische Potential bergende Klanglichkeit voll entfalten. Die frühen Publikationen des Liedes weisen übrigens einen Fehler auf, der Schumann, wie das Manuskript ausweist, im Zugriff auf Heines lyrischen Text unterlaufen sein muss. In der mir vorliegenden Kopie der Original-Ausgabe heißt es im zweiten Vers der ersten und im letzten Vers der zweiten Strophe unsinnigerweise, weil Heines Reimung verletzend: „so schön, so rein und hold“.


    Der Liedmusik liegt ein Zweivierteltakt zugrunde, und sie soll „langsam“ vorgetragen werden. Prägend für ihren, sie zur wohl beliebtesten Liedkomposition Schumanns machenden klanglichen Charakter sind die Häufigkeit melismatischer Figuren im Bereich der Melodik, die der melodischen Linie folgenden und ihr gleichsam ein klangliches Bett bereitenden Sechzehntel-Akkordrepetitionen im Klaviersatz, der dann doch in der zweiten Strophe in ein dialogisches Verhältnis zur Melodik tritt, und schließlich der Reichtum an harmonischer, beide Tongeschlechter einbeziehender Modulation. Dies alles aber, und eben darin die klangliche Faszination des Liedes ausmachend, in einer ihr kompositorisch-artifizielles Wesen ganz und gar verbergenden, weil in der Melodik kantabel-fließenden, in der harmonischen Modulation eng gebundenen und in der klanglichen Substanz des Klaviersatzes den dialogischen Kontrast meidenden Präsentation, - und eben darin die spezifische Metaphorik des lyrischen Textes auf geradezu vollkommene Weise im Raum und auf der Ebene der Liedmusik aufgreifend.


    Mit Sechzehntel-Akkordrepetitionen in der Grundtonart As-Dur setzt das eintaktige Vorspiel ein. Diese Akkordrepetitionen, die zumeist in Gestalt von Vierergruppen erfolgen, bilden die Grundstruktur des Klaviersatzes im Diskant, sie ereignen sich in der zweiten Strophe auch im Bass. Dort aber gibt das Klavier bei den letzten beiden Versen dieses Prinzip der Begleitung der Singstimme auf und tritt in Gestalt von Achtel- und Sechzehntel-Figuren in einen Dialog mit der melodischen Linie. Ohnehin besteht die Hauptfunktion des Klaviersatzes in diesem Lied zwar darin, der melodischen Linie der Singstimme ein sie tragendes klangliches Fundament zu bieten, darin erschöpft er sich aber nicht. Hinzu kommt, dass er ihre Aussage auch akzentuiert, indem die Akkorde ihren Bewegungen in die Lage folgen, in der sie die deklamatorischen Schritte vollzieht. Schließlich geht es dann auch dazu über, ihre Aussagen in ihren semantischen Dimensionen auszuloten, indem es bei der melodischen Linie auf den Worten „Betend, daß Gott dich erhalte / So rein und schön und hold“ mit einer gegenläufig angelegten Folge von Sechzehntel- und Achtelfiguren in Diskant und Bass die Innigkeit des Gebets klanglich evoziert und schließlich im viertaktigen Nachspiel auch noch kommentiert.


    Was die Melodik dieses Liedes so faszinierend und ergreifend macht, das ist die tiefe Innigkeit zum Ausdruck bringende Verhaltenheit der Emphase, die man in ihr vernimmt. Sie reflektiert auf überzeugende Weise die aus der Polarität von liebevoller Nähe und verehrend-lobpreisender Distanz hervorgehende Haltung des lyrischen Ichs gegenüber dem Du. Gleich die melodische Linie auf den ersten beiden Versen verkörpert das in exemplarischer Weise. Aus ihrem auftaktigen Einsatz geht sie mit einem Sekundfall in eine Dehnung auf Wort „bist“ über, die deshalb so große klangliche Eindrücklichkeit entfaltet, weil sie mit einer Rückung in die Subdominante Des-Dur verbunden ist und überdies auf einem lyrischen Wort liegt, das sich infolge der den Vokal „i“ erdrückenden Folge von Dental-Lauten eigentlich nicht für eine melodische Dehnung eignet. Schumann aber hat das Wesen dieses lyrisch-sprachlichen Operierens mit den Vokalen „i“ und „u“, wie Heine es hier als poetisches Ausdrucksmittel einsetzt, sehr wohl erfasst und reagiert liedkompositorisch in dieser Weise darauf.


    Aber um auf den Aspekt „klanglich faszinierend und ergreifend“ zurückzukommen. Diese melodische Dehnung ruht sich in ihrem Des-Dur erst einmal aus. Dann aber geht sie bei den Worten „wie eine Blume“ in einen melismatisch-triolischen Aufschwung mit nachfolgendem Sekundfall über, wobei sich – wiederum bewirkt durch die Harmonisierung – eine Steigerung des Ausdruckspotentials der Melodik dadurch einstellt, dass das Melisma in F-Dur harmonisiert ist, der Sekundfall auf „Blume“ aber in ein klanglich zärtlich wirkendes b-Moll mündet. Und das hat nun wiederum zur Folge, dass der sich nach einer Achtelpause ereignende und schon als solcher schon ausdrucksstarke Septfall auf den Worten „so schön“ eine Anmutung von Zärtlichkeit dadurch erfährt, dass er mit einer harmonischen Rückung in das nun als Dominante fungierende Es-Dur verbunden ist. Und so setzt die melodische Linie denn diesen Gestus der Verzückung und zarten Zuwendung ausdrückenden Entfaltung fort, indem sie, nun auf der Ebene des Septfalls einsetzend und in der Tonika As-Dur harmonisiert, bei den Worten „so rein“ erneut ein kleines Melisma beschreibt, am Ende aber zu dem Wort „rein“ hin nur noch einen in die Dominante mündenden Sekundsprung beschreibt.


    Wie überaus kunstvoll Schumann in der hochintensiven und auf Interpretation ausgerichteten Wortbezogenheit seiner Liedmusik das Zusammenspiel von Melodik und Harmonik handhabt, das ist an diesen beiden Melodiezeilen auf dem ersten Verspaar des Heine-Gedichts und an ihrem Ausklingen auf beeindruckende Weise zu vernehmen und zu erkennen. Nach den höchst subtilen Rückungen im Bereich der Harmonik lässt er die melodische Linie auf den Worten „so rein“ in einem Sekundsprung enden. Der tritt mit seiner Harmonisierung und seinem Aufstiegs-Gestus in einen bemerkenswerten Bezug zu dem Septfall auf dem Wort „so schön“ und bezieht daraus eine ganz eigene liedmusikalische Aussage: Neben die die Semantik des Wortes „schön“ reflektierende eminent-klangliche Sinnlichkeit des mit einer Rückung von b-Moll nach Es-Dur verbundenen Septfalls tritt nun der in die Klarheit und Offenheit einer Rückung von der Tonika in die Dominante gebettete schlichte Sekundsprung auf „rein“, - darin zum Ausdruck bringend, dass dieses Prädikat „rein“ des Du eines ist, das eher die Ratio anspricht.


    Beim zweiten Verspaar der ersten Strophe ist es wieder die Struktur der melodischen Linie in ihrer spezifischen Harmonisierung, die die lyrische Aussage in ihrer genuinen Sprachlichkeit auf beeindruckende, weil den semantischen Gehalt voll erfassende Weise zum Ausdruck bringt. Die Aussage „ich schau dich an“ greift die melodische Linie, sozusagen die Gestik reflektierend, mit einer in einen Sekundsprung mündenden Tonrepetition auf, die mit einer Rückung in die Dominante verbunden ist. Bei den Worten „und Wehmut“ ereignet sich dann aber eine melodisch hochexpressive, weil in ges-Moll mündende und in einer Dehnung endende Kombination aus Sextsprung und Quintfall. Damit greift die Melodik das lyrisch-sprachliche Gewicht auf, das Heine dem Wort „Wehmut“ dadurch verliehen hat, dass er es ans Versende gesetzt hat. Und diese Sprung- und Fallbewegung über ein großes Intervall bringt es zusammen mit der Rückung von einem verminderten „Ges“ in die Subdominante „Des“ sogar mit sich, dass der semantische Gehalt dieses Wortes in seiner vollen Tiefe ausgelotet wird. Und bei den Worten „schleicht mir ins Herz hinein“ bewegt sich die melodische Linie erneut in einer, nun allerdings von einem Sekundfall unterbrochenen Tonrepetition. Sie ereignet sich aber auf einer um eine Terz angehobenen und in der Dominante angehobenen, also im Ausdruck gesteigerten tonalen Ebene und mündet nun in eine Kombination aus Sekundsprung und –fall. Es ist ja ein sanfter Vorgang, der sich hier ereignet.


    Wunderbar ist das lyrische Bild des ersten Verspaars der zweiten Strophe liedmusikalisch aufgegriffen und umgesetzt. Die melodische Linie setzt im Gestus des Liedanfangs ein, wiederholt also die Bewegungen auf dem ersten Vers, dies allerdings unter Begleitung durch einen klanglich intensivierten, weil nun aus synchronen Akkordrepetitionen in Diskant und Bass bestehenden Klaviersatz. Bei den Wort „aufs Haupt“ ereignet dann wieder ein für diese Liedmusik so charakteristischer und ausdrucksstarker, mit einer harmonischen Rückung verbundener melodischer Fall, dieses Mal über eine auf einem hohen „F“ ansetzende Septe. Das Wort „Haupt“ erhält auf diese Weise einen klanglich höchst eindrücklichen Akzent. Und danach verbleibt die melodische Linie auf dieser tonalen Ebene, beschreibt aber, die Zärtlichkeit der segnenden Geste reflektierend, auf den Worten „dir legen sollt´“ erneut ein in As-Dur harmonisiertes kleines Melisma, das in einen mit einer Rückung in die Dominante verbundenen Sekundsprung mündet.


    Bei den Worten „Betend, daß Gott dich erhalte“ verharrt die melodische Linie, weil sie in ihrem lyrisch-sprachlichen Gehalt narrativ angelegt und frei von metaphorischem Gehalt sind, in schlichter deklamatorisch silbengetreuer Tonrepetition auf über einen Quartsprung um eine Sekunde angehobener tonaler Ebene in oberer Mittellage. Aber weil es da um ein „Beten“ geht, lässt das Klavier nun von seinen permanenten Akkordrepetitionen ab, und begleitet die Singstimme zunächst mit zwei gewichtigen siebenstimmigen Akkorden und geht danach, in Begleitung der melodischen Linie auf dem letzten Vers, zu mehrfach fallend angelegten und teilweise oktavischen Figuren aus Achteln und Sechzehnteln über. Aber vor allem die Harmonik reflektiert das semantische, immerhin das Wort „Gott“ beinhaltende Gewicht des zweitletzten Verses: Sie beschreibt eine ausdrucksstarke Rückung von As-Dur über F-Dur nach b-Moll.


    Heines Schlussworte „So rein und schön und hold“ (die in Schumanns Manuskript „so schön, so rein und hold“ lauten) erfahren durch die Liedmusik ein beeindruckendes Zur-Ruhe-Kommen in dem sich zuvor fast schon in Anbetung steigernden Lobpreis der Geliebten. Die melodische Linie beschreibt zunächst zwei Sprungbewegungen, die sich im Intervall von einer Sekunde zu einer Quarte steigern, was zur Folge hat, dass das Wort „schön“, das eine kleine melodische Dehnung trägt, gegenüber dem Wort „rein“ einen stärkeren melodischen Akzent erhält, zumal sich dabei eine Rückung vom anfänglich beibehaltenen b-Moll nach As-Dur ereignet. Und zu den Worten „und hold“ ereignet sich dann wieder eine jener mit einer harmonischen Rückung kombinierten Fallbewegungen über ein großes Intervall, die in diesem Lied eine so große Rolle spielen und allemal als Ausdruck von Innigkeit und Zärtlichkeit empfunden werden. Es ist ein Sextfall, bei dem die Harmonik in die Dominante rückt. Ihm folgt auf dem Wort „hold“ ein in der Grundtonart As-Dur harmonisierter Sekundsprung nach, der die Melodik des Liedes beendet.


    Im fünftaktigen Nachspiel lässt das Klavier einen Kommentar zur vorangehenden Liedmusik erklingen, der ihr Wesen in gleichsam verdichteter Weise auf den Punkt bringt: Aus den für den Klaviersatz so typischen Akkordrepetitionen ereignet sich eine Art emphatische Aufgipfelung, die mir einer Rückung vom vorangehenden Es-Dur nach C-Dur verbunden ist, und danach gehen Achtel und Sechzehntel in eine wehmütig-lieblich anmutende weil in f-Moll harmonisierte Fallbewegung über und finden über einen – hier bezeichnenderweise noch einmal erklingenden – melismatischen Aufschwung in einem As-Dur Akkord zur endgültigen liedmusikalischen Ruhe.

  • Heine hat die Verse einem im Krieg verwundeten Freund ins Stammbuch geschrieben.


    Es gibt da ein 1888 erschienenes Buch »Lexikon deutscher Citate«; Autor ist der Wiener Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried, der durch politische Literatur bekannter geworden ist, als durch seine Lexika. Dieses Buch wird heute als Nachdruck mit dem angepassten Titel »Lexikon deutscher Zitate« im Buchhandel angeboten.
    Darin findet man zu dem Heine-Gedicht


    Anfangs wollt' ich fast verzagen,
    Und ich glaubt', ich trüg' es nie;
    Und ich hab' es doch getragen -
    Aber fragt mich nur nicht, wie?


    eine seltsame Erklärung die so lautet:


    »Diese Zeilen verdanken ihre Entstehung einem höchst prosaischen Umstande. Heine dichtete sie auf einem Balle mit Bezug auf seine Schuhe, die ihn fürchterlich drückten.«


    Aus welcher Quelle Fried da wohl schöpfte?

  • Zit.: "Heine dichtete sie auf einem Balle mit Bezug auf seine Schuhe, die ihn fürchterlich drückten.«


    Ja, lieber hart, diese „Interpretation“ des Heine-Vierzeilers ist mir bekannt. Zwar nicht aus der von Dir erwähnten Zitate-Sammlung, von deren Existenz ich bislang gar nichts wusste, aber – von Dietrich Fischer-Dieskau. Der hat sie nämlich – zu meiner großen Verwunderung! - übernommen.
    In seinem Schumann-Buch findet sich zu diesem Lied die Anmerkung:
    „Alle uns bekannten Vertoner dieses Vierzeilers übersahen, genau wie Schumann, die Persiflage Heines, der seine Verse über ein Paar Lackschuhe („und ich hab´ es doch getragen“) dichtete.“


    Woher Fischer-Dieskau dieses Hintergrundwissen hat, weiß ich nicht. Eine seriöse zeitgenössische Quelle dazu gibt es meines Wissens nicht. Ich halte die ganze Geschichte für schlichten Unfug. Persiflage und Ironie sind für Heine zwar wichtige poetische Ausdrucksmittel, aber er betreibt ihren Einsatz mit höchster Ernsthaftigkeit. Das hier, diese Story mit den „Lackschuhen“, ist schlicht zu billig, als dass man sie Heine wirklich zurechnen könnte.


    (Danke übrigens für Deinen Beitrag zu diesem Thread. Hab mich gefreut!)



  • Wir saßen am Fischerhause,
    Und schauten nach der See;
    Die Abendnebel kamen,
    Und stiegen in die Höh'.


    Im Leuchtturm wurden die Lichter
    Allmählich angesteckt,
    Und in der weiten Ferne
    Ward noch ein Schiff entdeckt.


    Wir sprachen von Sturm und Schiffbruch,
    Vom Seemann, und wie er lebt,
    Und zwischen Himmel und Wasser,
    Und Angst und Freude schwebt.


    Wir sprachen von fernen Küsten,
    Vom Süden und vom Nord,
    Und von den seltsamen Menschen
    Und seltsamen Sitten dort.


    Am Ganges duftet's und leuchtet's,
    Und Riesenbäume blühn,
    Und schöne, stille Menschen
    Vor Lotosblumen knien.


    In Lappland sind schmutzige Leute,
    Plattköpfig, breitmäulig, klein;
    Sie kauern ums Feuer und backen
    Sich Fische, und quäken und schrein.


    Die Mädchen horchten ernsthaft,
    Und endlich sprach niemand mehr;
    Das Schiff war nicht mehr sichtbar,
    Es dunkelte gar zu sehr.


    Dieses Heine-Gedicht ist das siebte im Kapitel „Heimkehr“ des „Buchs der Lieder“. Schumann hat seiner Komposition darauf den Titel „Abends am Strand“ gegeben. Heine spielt auf überaus reizvolle Art mit dem Neben- und Ineinander von balladenhafter Narrativität und lyrisch-metaphorischer Evokation. Die Verse erzählen im Imperfekt von einer Szene an einem „Fischerhause“ am Meeresstrand und den Gesprächen, die sich dort in einer Gruppe ereignen, die zunächst als „wir“ sprachlich unbestimmt bleibt, am Ende sich dann als eine von „Mädchen“ zusammen mit einem unbestimmten lyrischen Ich etwas näher konkretisiert. Mit einer in lyrischen Bildern sich entfaltenden Schilderung der Szene setzen sie ein, gehen in narrativem Gestus zur Wiedergabe des Inhalts der Gespräche über, nehmen dabei einen schweifenden, bis in die wiederum lyrisch-bildhafte Schilderung exotischer und darin extrem kontrastreicher Szenen ausgreifenden Charakter an, und kehren am Ende in immer noch narrativem Gestus zur Ausgangsszene zurück. Dass es sich bei all dem um höchst kunstvolle und nur mit dem Balladenton spielende und ihn nutzende Lyrik handelt, wird spätestens im Schlussbild der letzten Strophe deutlich, wo mit einem ein Schiff auftaucht, von dem bisher nicht die Rede war. Es wird in seinem Unsichtbar-Werden zur lyrischen Evokation der Ruhe des In-sich-gekehrt-Seins, die sich am Ende des weitschweifenden Geredes in der Szene einstellt. Lyrisch-sprachliche Evokation von diskursiv-menschlichem Leben im Raum von naturhafter Landschaft und unter dem Einfluss derselben.


    Und was macht Schumann liedmusikalisch daraus? Auch hier zeigt sich: Er hat, wie wohl kein anderer Liedkomponist sonst in dieser Weise, ein hochgradig entwickeltes Sensorium für den Geist und den sprachlichen Gestus von Heines Lyrik und vermag sie in ihrer prosodischen Gestalt und ihrer Aussage, in voll und ganz adäquate Liedmusik umzusetzen. Hier geschieht das in Gestalt einer auf der Grundlage von schweifend angelegen Achtelketten im Klaviersatz sich ihrerseits in schweifendem Gestus entfaltenden, also den narrativen Geist des lyrischen Textes reflektierenden melodischen Linie, die aber, wie auch der Klaviersatz, wenn er in den partiell repetitiven Gestus der Akkord-Folgen verfällt, darin auch innezuhalten vermag, - dort nämlich, wo es um das Aufgreifen der genuin lyrischen Metaphorik geht.


    Die Liedmusik steht in G-Dur als Grundtonart, ein Vierviertelakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „Ruhig, nach und nach bewegter“ vorgetragen werden. Im viertaktigen Vorspiel, in dem die melodische Linie auftaktig einsetzt, lässt das Klavier im Diskant eine fließend angelegte Folge von Achteln erklingen, die als Vierer- und eine Achtergruppe eine steigende und wieder fallende Bewegung beschreiben, wobei die tonale Ebene ansteigt und am Ende wieder absinkt. Die Harmonik vollzieht dabei Rückungen von der Tonika in die beiden Dominanten. Diese Begleitung behält das Klavier bei bis einschließlich der vierten Strophe, wobei sie in der Form der Achtel-Ketten allerdings Modifikationen erfährt. In der zweiten Strophe beschreiben sie zum Beispiel eine vier Takte überspannende Bogenbewegung, und überdies geschieht dies hier sowohl im Diskant, wie auch im Bass, während das Klavier dort in der ersten Strophe nur Einzeltöne und lang gehaltene bitonale Akkorde anschlägt.


    In dem Augenblick, wo der lyrische Text vom Gestus der in lyrischen Bildern erfolgenden Deskription zu dem des narrativen Berichts übergeht, einsetzend mit den Worten „wir sprachen“, lässt das Klavier von seinen schweifenden Achtelketten ab, und der Klaviersatz wird in seinem klanglichen Charakter gleichsam statisch-situativ. Zunächst wechseln in der dritten Strophe pro Takt noch ansteigend angelegte Achtelfiguren mit synchron in Bass und Diskant erklingenden Achtel-Akkord-Folgen ab. Bei den Bildern vom Ganges in der fünften Strophe begleitet das Klavier die melodische Linie mit Akkordrepetitionen in Diskant und Bass, bei jenen vom Lappland folgt es ihr hingegen in ihren Bewegungen mit staccato angeschlagenen Achteln. Die letzte Strophe wird zwar mit der Wiederholung der Achtelketten des Vorspiels eingeleitet, dann aber begleitet das Klavier die Singstimme mit einem permanenten Wechsel von Einzelton im Bass und Achtelakkord im Diskant. Der Klaviersatz reflektiert also, wie die melodische Linie auch, in seiner Struktur jeweils den Gehalt der einzelnen Strophen und damit die spezifische Eigenart des Gedichts in seinem Neben- und Ineinander von lyrischen und narrativen Elementen.


    In welcher Weise die melodische Linie dies tut, das soll anhand der Liedmusik der einzelnen Strophen kurz aufgezeigt werden. Narrativ und schildernd deskriptiv zugleich ist sie in ihrer Struktur bei den ersten beiden angelegt. Die beiden, jeweils zwei Verse umfassenden Melodiezeilen der ersten Strophe entfalten sich in ruhiger Bewegung und enden jeweils in einer Dehnung in unterer Mittellage, die sich allerdings in ihrer liedmusikalischen Funktion unterscheiden. Die erste Dehnung, die aus einer steigenden und wieder fallenden Achtelfigur hervorgeht und mit einer Rückung von der Dominante in die Tonika G-Dur verbunden ist, schließt gleichsam das narrativ entworfene Einleitungsbild ab und lässt es in der nachfolgenden Viertelpause seine Wirkung entfalten. Der zweiten Dehnung kommt mit ihrer Lage auf der tonalen Ebene eines „Fis und ihrer Harmonisierung in der Dominante die Funktion eines Sich-Öffnens der Liedmusik zur Fortführung in der zweiten Strophe zu. Ohnehin ist die Struktur der zweiten Melodiezeile aufgrund des zugrundeliegenden lyrischen Bildes eine andere. Während die erste Zeile einen weit gespannten und bei „Fischerhause“ in einer Dehnung aufgipfelnden Bogen beschreibt, entfaltet sich die zweite, die Unruhe des Bildes von den „Nebeln“ reflektierend, in einem Auf und Ab über Intervalle von Terzen und Sekunden in mittlerer Lage, wobei die Harmonik nun im Bereich von D-Dur und A-Dur, der Dominante und Ober-Dominante also, moduliert.


    Das Bild von den „Lichtern“ im Leuchtturm wird von der Liedmusik auf klanglich bestechende Weise aufgegriffen umgesetzt. Das Prozesshafte des Vorgangs und die damit anwachsende Helligkeit schlägt sich in der melodischen Linie in einem unruhigen, weil im Auf und Ab von deklamatorischen Achtelschritten erfolgenden Anstieg nieder, der sich in D-Dur Harmonisierung über vier Takte erstreckt und sich gegen Ende, bei dem Wort „angesteckt“, langsam wieder absenkt, um auf dem Grundton „D“ zu enden. Das Klavier folgt dieser weit gespannten Bewegung der melodischen Linie mit seinen Achtelketten im Diskant und im Bass, die nun als kontinuierliche Folge, also nicht mehr als Auf und Ab in Vierergruppen angelegt sind. Bei dem Bild vom „Schiff in weiter Ferne“ kehrt es dann allerdings wieder zu diesen Figuren zurück, denn die melodische Linie beschreibt bei dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe eine ähnliche Bewegung wie auf dem der ersten Strophe, wieder mit einer bogenförmigen Dehnung nun auf den Worten „weiten Ferne“ und einem Achtelfall mit Sekundanstieg auf „Schiff entdeckt“. Abweichend von der Liedmusik auf der ersten Strophe, ereignet sich hier eine Rückung nach a-Moll und soll wohl die Unbestimmtheit des Bildes zum Ausdruck bringen.


    Mit den Worten „wir sprachen von Sturm und Schiffbruch“ kommt, der Semantik und den Bildern entsprechend, ein narrativer Ton und ein energischer Gestus in die melodische Linie. Die beiden, je zwei Verse umfassenden, Melodiezeilen ähneln einander in ihrer Grundstruktur. Im ersten Teil ereignet sich ein deklamatorisch silbengetreues Auf und Ab über das Intervall einer Sekunde, das am Ende, also bei den Worten „Schiffbruch“ und „Wasser“ in einen ausdrucksstarken Oktavfall übergeht. Das Klavier begleitet mit ebenfalls silbengetreu angeschlagenen Akkorden in Diskant und Bass und lässt bei dem Oktavfall eine zweimalige Folge von ansteigenden Achteln erklingen. Harmonisiert ist das beim ersten Mal in C-Dur. Da aber die melodische Linie, nun mit einem auftaktigen Sekundsprung, die gleiche Bewegung auf einer um eine Sekunde angehobenen melodischen Linie beschreibt, ist sie nun in d-Moll harmonisiert. Und das hat einen guten Sinn, denn das zweite Verspaar spricht ja davon, dass der „Seemann“ zwischen „Himmel und Wasser“ und „Angst und Freude“ schwebt. Und so ist denn die melodische Linie auf dem zweiten Teil dieser beiden Melodiezeilen bei den Worten „vom Seemann und wie er lebt“ in G-Dur harmonisiert, beim letzten Vers aber, wo es um dieses „Schweben“ zwischen Angst und Freude geht, in a-Moll.


    Bei der vierten Strophe behält die melodische Linie diesen narrativen, deklamatorisch silbengetreuen und energisch anmutenden Gestus bei, wobei er sich nun in der Dominanz von Tonrepetitionen nach einer zweimaligen, auf dem gleichen Ton ansetzenden, sich über das Intervall einer Sexte erstreckenden und in einer Rückung von H-Dur nach e-Moll harmonisierten Fallbewegung artikuliert. Bei den Worten „Und von den seltsamen Menschen / Und seltsamen Sitten dort“ entfaltet sich die melodische Linie, die „Seltsamkeit“ des Bildes reflektierend und nun in C-Dur harmonisiert, zweimal in einer deklamatorisch silbengetreuen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines tiefen „E“ und mündet beim ersten Mal in einen Terzfall, beim zweiten Mal in einen Terzsprung mit nachfolgender Dehnung. Das Klavier begleitet das und folgt den melodischen Bewegungen mit seinen Vierer-Figuren aus steigenden und fallenden Achteln. Im siebentaktigen Nach- und Zwischenspiel gehen sie in eine, vom Bass bis in den Diskant führende und mit einer harmonischen Rückung von C-Dur nach a-Moll verbundenen Anstiegsbewegung über und münden in H-Dur Achtelakkord-Repetitionen in Diskant und Bass, die nun die Begleitung der melodischen Linie auf den Versen der fünften Strophe darstellen.


    Bei den Strophen fünf und sechs, in denen Heine, darin seinem lyrisch-poetischen Grundkonzept folgend, die weite Welt auf geradezu kontrastive Weise in die abendlich-idyllische Szene am Meeresstrand hereinbrechen lässt, entfaltet sich Schumanns Liedmusik, darin eben diesen lyrisch-sprachlichen Sachverhalt in voll adäquater Weise reflektierend, auf in ihrer Expressivität ebenfalls höchst kontrastreiche Weise. Bei den Worten „Am Ganges duftet's und leuchtet's, / Und Riesenbäume blühn“ beschreibt die melodische Linie, in E- und H-Dur harmonisiert“, ganz dem Bild von den „Riesenbäumen“ gemäß, zwei Mal einen Fall über das Intervall einer Oktave und geht dann bei dem Bild von den vor Lotosblumen knieenden „schönen und stillen Menschen“ zu einer in a-Moll und e-Moll harmonierten und darin Idylle ausdrückenden deklamatorisch ruhigen, in Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene verharrenden Bewegung über. Beim Lappland-Bild wird´s hingegen sowohl in Melodik, als auch im Klaviersatz unruhig und steigert sich am Ende bis zur klanglichen Wildheit in Gestalt einer hochexpressiven, vier Takte übergreifenden, bogenförmig angelegten und die Semantik klanglich wörtlich nehmenden melodischen Dehnung auf dem Wort „schrei´n“. Zuvor beschreibt die melodische Linie bei den Worten „In Lappland sind schmutzige Leute“ und „plattköpfig, breitmäulig, klein“ zwei Mal eine strukturell ähnliche, lebhafte und in a-Moll mit einer Rückung nach E-Dur harmonisierte Bewegung, mit einem auftaktigen Quartsprung, Sekundsprung und -fall in mittlerer Lage und einem veritabel Oktavfall auf den ersten Silben von „schmutzige“ und „breitmäulig“. Beim zweiten Verspaar beschreibt sie, nun in a-Moll harmonisiert, wiederum zweimal, in eine lebhafte Anstiegsbewegung, die beim ersten Mal in einen doppelten Terzfall bei „Fische“ übergeht, beim zweiten Mal aber in die besagte, gerade exzessive und die Anmutung von Hohn aufweisende, auf einem hohen „G“ ansetzende Dehnung, die bemerkenswerterweise Weise in H-Dur harmonisiert ist.


    Die melodische Linie auf den Worten „Die Mädchen horchten ernsthaft“ ist, mit einer kleinen, durch die silbengebundene Deklamation bedingten Modifikation, gleich der auf dem ersten Vers der ersten Strophe. Aber die Intensität, mit der Schumann sich auf den lyrischen Text und seine Aussage einlässt, bringt schon hier im Klaviersatz und danach in der Melodik auf dem zweiten Vers eine deutlich ausgeprägte Variation mit sich. Schließlich ersterben hier nicht nur die Gespräche, sondern die ganze Szene erlischt gleichsam, - eingefangen mit dem lyrischen Bild von dem in der Dunkelheit sich verlierenden Schiff. Und so kann sich denn der Klaviersatz nicht mehr in dem schweifenden Gestus der Achtel entfalten, wie er das in der Liedmusik auf die ersten beiden Strophen, danach noch einmal in der vierten, ansatzweise in der sechsten und jetzt noch einmal im Vorspiel zu letzten Strophe tut. Er nimmt, ganz der lyrischen Situation gemäß, einen gleichsam statischen Gestus an, dergestalt, dass auf ein Achtel im Bass jeweils ein Achtel-Akkord im Diskant angeschlagen wird. Diese Begleitung wird beibehalten bis zum Ende der melodischen Linie, und im viertaktigen Nachspiel setzt sie sich fort und lässt das Lied ausklingen, indem sie sich im Übergang von Akkorden zu Einzeltönen gleichsam klanglich ausdünnt und dabei in Repetitionen verharrt.


    Dieses Zur-Ruhe-Kommen und Ausklingen bringt auch die melodische Linie zum Ausdruck, und zwar in der Weise, dass sie, jeweils durch Viertelpausen unterbrochen, nach dem statisch wirkenden und in eine Dehnung mündenden Auf und Auf in mittlerer tonaler Lage auf den Worten „und endlich sprach niemand mehr“ auf den letzten beiden Versen zweimal die strukturell gleiche Bewegung beschreibt: Ein ruhiger Sekundanstieg in oberer Mittellage mit nachfolgendem Sekundfall. Die erste Zeile verharrt dabei am Ende auf dem Wort „sichtbar“ in einer Tonrepetition, um die melodische Linie für eine Fortsetzung offen zu halten, die zweite und letzte hingegen geht, die melodische Linie beschließend, mit einem Sekundsprung in eine lange Dehnung auf dem Wort „sehr“ über. Und wie subtil Schumann auch hier die Harmonik aus Ausdrucksmittel einsetzt, das zeigt sich darin, dass er die erste Zeile, der Unsichtbarkeit des Schiffes wegen, in a-Moll harmonisiert, das eine kurze Rückung nach E-Dur beschreibt, die zweite hingegen, die Tatsache reflektierend, dass es sich hier um eine die lyrische Situation beschließende Feststellung handelt, in der Tonika G-Dur mir kurzer Rückung in die Dominante.
    Ein Heine-Lied, das zum Erlebnis werden kann!

  • „Angefangen am 24sten Mai 1840“, das vermerkt Schumann im Manuskript dieses Liederzyklus, dem er, wohl im Rückgriff auf einen Vers Rückerts („Dichterliebe hat eignes Unglück stets betroffen. Hohe Götter, lasset mich das Beste hoffen!“), den Titel „Dichterliebe“ gegeben hat. Die lyrischen Texte dazu wählte er aus Heines „Lyrischem Intermezzo“. Ursprünglich umfasste der Zyklus, so wie Schumann ihn im November 1843 dem Verlag Peters anbot, zwanzig Lieder. In der Edition von 1844, die der Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient gewidmet ist, blieben davon sechzehn übrig. Welche Liedkompositionen von ihm ausgeschieden wurden und welche Gründe er dafür möglicherweise hatte, darauf soll später noch ausführlich eigegangen werden.


    In der Abfolge der Lieder, die anfänglich der Anordnung der Gedichte im „Lyrischen Intermezzo“ folgt, danach aber in den zugrundliegenden Texten eine Auswahl aus diesem darstellt, lässt sich eine Art narratives Gerüst ausmachen, so dass sich eine, entfernt an Schuberts „Schöne Müllerin“ erinnernde Art „Novelle in Liedern“ ergibt. Zwar kreist sie auch um das Thema „Liebe“, aber ganz anders in Schuberts Liederzyklus handelt es sich bei ihr nicht um eine gleichsam eindimensional-geradlinig erzählte Geschichte einer gescheiterten Liebe, sondern um eine vieldimensionale, weil aus der Retrospektive erfolgende und die Narrativität nur als Basis nutzende reflexive Auseinandersetzung eines lyrischen Ichs mit einer gescheiterten Liebe, und dies in Gestalt eines narrativen Sich-Einlassens auf alle Stadien dieses Scheiterns und eines reflexiven auf die Gründe dafür.


    Das beinhaltet – anders als bei Schubert – gleichsam a priori einen hohen Grad an Reflexivität in der liedkompositorischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Gescheiterte Liebe“. Und bemerkenswert ist, dass Schumann sich ihm in dieser Weise zu einer Zeit widmete, in der er um die eheliche Erfüllung seiner Liebe zu Clara mit deren Vater rang. Der mit großer Angst einhergehende Gedanke, dass dieses so sehr ersehnte Glück nicht von Bestand sein könnte, dass es vielfältige Formen seiner Gefährdung gibt, die von solch elementarer Art sind, dass es sich gleich gar nicht in ungebrochener Weise einzustellen vermag, - er mag der Grund dafür gewesen sein, dass Schumann mit seiner Liedmusik Heine in allen Schritten der poetisch-reflexiven Auslotung dieser Gefährdungen und ihren lyrisch-sprachlichen Formen auf bemerkenswert konsequente Weise gefolgt ist.


    Bemerkenswert ist dies deshalb, weil das mit einem großen, vielleicht sogar letztendlich uneinlösbaren Anspruch verbunden ist. Schließlich ereignet sich die retrospektivisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Stufen des Scheiterns der Liebe und seinen Gründen bei Heine in vielfältigen, die eigene Position und Haltung in selbstreflexiver Weise einbeziehenden Formen, die so weit gehen können, dass er die lyrische Aussage nicht nur auf der der lyrischen Sprache und ihrer Metaphorik pervertiert, sondern sie mit den Mitteln des Humors und der Ironie regelrecht in die Brüche gehen lässt.


    Diese spezifische Eigenart von Heines Lyrik, die ihm viel Kritik, ja Abweisung eingebracht hat, ist, wie man spät erst erkannt hat, Ausdruck und Niederschlag seines Grund-Leidens als Mensch und Künstler: Der existenziellen Heimatlosigkeit, aus der es für ihn keine wirklich allumfassende Erlösung gab. Sein Leben war ein beständiges auf der Schwelle Stehen und nicht eingelassen Werden, ein Abschiednehmen mit wehmütigem Zurückblicken, und ein Nach-vorne-Blicken, dem die Perspektive der Hoffnung abging.
    Von daher ist die so ausgeprägte Dominanz des Themas „unerfüllte Liebe“ in seiner Lyrik letzten Endes als ein lyrisch-gegenständlicher Ort zu verstehen, an dem sich die Suche nach existenzieller Heimat und Geborgenheit in gleichsam exemplarischer, künstlerisch ausgelebter Weise ereignet.


    Heine darin folgen hieß für Schumann allerdings keineswegs, dass er alle diese vielgestaltigen Formen des Bruchs in der lyrischen Aussage in seine Liedmusik übernehmen wollte. Das konnte er allein deshalb schon nicht, weil es Ironie auf der Ebene der Musik nicht gibt. Wohl aber erfasste er als Rezipient diese Eigenarten und suchte nach einem liedmusikalischen Pendant dafür. Worin dies jeweils bestand und wieweit er damit der lyrischen Aussage gerecht zu werden vermochte, das soll, wie das generell ja in diesem Thread angestrebt wird, bei den nachfolgenden Besprechungen der Lieder der „Dichterliebe“ im einzelnen aufgezeigt werden.

  • Worin dies jeweils bestand und wieweit er damit der lyrischen Aussage gerecht zu werden vermochte, das soll, wie das generell ja in diesem Thread angestrebt wird, bei den nachfolgenden Besprechungen der Lieder der „Dichterliebe“ im einzelnen aufgezeigt werden.


    Lieber Helmut Hofmann,
    als regelmäßiger Leser Deiner Beiträge bin auch darauf gespannt. Du jedenfalls wirst mit Deinen klugen, ausführlichen Beiträge zumindest den Erwartungen von meiner Frau und mir gerecht. Danke für diese umfangreiche und so wertvolle Arbeit.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich bin es, lieber operus, der zu danken hat!
    Eine solche Rückmeldung auf meine Beiträge zum Tamino-Forum, wie sie mir hier durch Dich zuteil wird, ist wahrlich so etwas wie ein mich ermunterndes und im permanenten Ringen mit meinen Selbstzweifeln mich stärkendes Lebenselixier.
    Klingt pathetisch, ich weiß. Ist aber eine Tatsache.

  • Im wunderschönen Monat Mai,
    Als alle Knospen sprangen,
    Da ist in meinem Herzen
    Die Liebe aufgegangen.


    Im wunderschönen Monat Mai,
    Als alle Vögel sangen,
    Da hab' ich ihr gestanden
    Mein Sehnen und Verlangen.


    Ein schlichter, ja lapidar sachlich konstatierender lyrisch-sprachlicher Gestus ist diesen Versen eigen, denn das temporale „als“ der zweiten Strophenverse ist in beiden Fällen der Auftakt zur lapidaren Feststellung „da ist“. Und eingebunden ist dies in die gleichsam als einleitender Rahmen auftretende und als sprachliche Wendung reichlich abgegriffen daherkommende Wendung vom „wunderschönen Monat Mai“.
    Aber da ist der große Lyriker Heine am Werk, und so enthüllt sich all diese sich geradezu banal gebende lyrisch-sprachliche Schlichtheit dem genaueren Hinsehen alsbald als hochgradig artifizielles lyrisches Produkt. Es offenbart sich im grammatischen Tempus. Alle diese lyrischen Aussagen stehen im Perfekt, bzw. Imperfekt. Aber inhaltlich handeln sie von frühlingshaftem Aufbruch, von aufgehender Liebe, Sehnsucht und Verlangen, von der Zukunft des lyrischen Ichs also. Und mit einem Mal wird deutlich: Diese nüchterne Sachlichkeit in der Ansprache eines emotional hochgradig aufgeladenen Ereignisses ist eine, die aus dem Wissen um das Scheitern hervorgegangen ist.


    Und damit setzt dieses erste Gedicht – und damit auch Schumanns Liedmusik darauf – den Wegweiser für das Verständnis all dessen, was sich in dieser kleinen Novelle in Liedern ereignen wird. Der allem zugrundeliegende Aspekt der Retrospektive wird ihre ganz spezifische Eigenart zur Folge haben: Das immer wieder aufs Neue sich ereignende Ineinander und Gegeneinander von unmittelbarer emotionaler Betroffenheit und reflexiver Distanz dazu.
    Schumanns Lieder haben eben diesen lyrischen Kern und das poetische Wesen von Heines Gedichten in voll umfänglicher und in die Tiefe reichender Weise musikalisch aufzugreifen und umzusetzen vermocht. Und das macht zu einem wesentlichen Teil die singuläre Größe dieses Liederzyklus aus.


    Dem Lied legt ein Zweivierteltakt zugrunde, es soll „langsam, zart“ vorgetragen werden, und was die Grundtonart anbelangt, so finden sich drei Kreuze im Notentext. Das würde A-Dur, bzw. die Parallele fis-Moll bedeuten. Und hier stößt der, der sich der Komposition betrachtend zuwendet, schon auf den ersten bemerkenswerten, weil ihr Wesen ausmachenden Sachverhalt: Es ist die eigenartige harmonische Unbestimmtheit der Liedmusik. Das A-Dur ist – was noch aufzuzeigen sein wird – da und dort vernehmlich, das fis-Moll aber ist da und zugleich nicht da. Als Akkord erklingt es niemals, vielmehr vernimmt man es nur gleichsam auftaktig und sofort in einen aufgelösten h-Moll-Akkord übergehend, wie das bei allen Melodiezeilen auf den ersten beiden Versen der beiden Strophe der Fall ist. Die Harmonik schweift durchgehend zwischen besagtem fis-Moll, h-Moll, A-Dur, D-Dur und Cis-Dur, ohne in einer dieser Tonarten und Tongeschlechter einen festen Halt zu finden. Und sie endet auch in diesem harmonischen Geist: In einem gleichsam offenen, aus den Tönen Cis, Eis, Gis und H gebildeten Dominantseptakkord.


    Wie ist dieser Sachverhalt in der Harmonisierung der melodischen Linie aufzufassen und zu verstehen? Doch wohl, wie ich denke, als musikalischer Niederschlag der Tatsache, dass der zugrundeliegende lyrische Text im Imperfekt eine zwar beglückende, aber ganz und gar im Unbestimmten verbleibende und in ihrer Zukunft, was die Erfüllung anbelangt, offene Liebeserfahrung artikuliert. Die Liedmusik reflektiert dies mit der schwebenden Unbestimmtheit ihrer Harmonik, die in einen gleichsam zukunftweisenden, weil mit dem Dominantseptakkord offenen Schluss mündet.


    Aber es ist nicht nur die Harmonik, in der sich das ereignet, auch Melodik und Klaviersatz reflektieren auf ihre Weise die spezifische Eigenart der lyrischen Aussage. Zunächst einmal ist, was das Zusammenspiel der beiden anbelangt, wieder ein für den Charakter des Liedes konstitutiver Sachverhalt zu konstatieren: Die melodische Linie wirkt so, als sei sie in ihrer ganz und gar eigenständigen Entfaltung dem ebenso eigenständigen Klaviersatz gleichsam aufgesetzt, ohne dass dies freilich zu einem beziehungslosen Nebeneinander führen würde, Der Liedmusik liegt ein Klaviersatz zugrunde, bei dessen autonomer Entfaltung sich Dietrich Fischer-Dieskau an eine „verträumte Klavierarabeske à la Chopin“ erinnert fühlt und sich „die Gesangslinie als „später erfunden Denken lässt“. Nun ist letzeres natürlich nicht der Fall, aber der melodischen Linie ist, wie dem Klaviersatz auch, ein autonomes In-sich-Ruhen eigen. Es ist freilich ein anderes als bei diesem. Während der Klaviersatz sich in einer hochgradig artifiziellen Struktur und Klanglichkeit entfaltet, mutet die Vokallinie in der strophenliedartigen Wiederholung strukturell einfacher melodischer Figuren fast volksliedhaft schlicht an. Und auch darin möchte man wieder einen kompositorischen Reflex der spezifischen Eigenart der Heineschen Lyrik sehen: Auch sie gibt sich lyrisch-sprachlich schlicht und ist doch zugleich ein höchst subtiles poetisches Artefakt.


    Was den Klaviersatz anbelangt: Er besteht durchgehend aus einer Figur, die als aufgelöster Akkord in der Aufeinanderfolge höchst artifizielle strukturelle und harmonische Varianten durchläuft. Ihre Grundstruktur offenbart sie gleich im fünftaktigen Vorspiel, das in verkürzter Gestalt als Zwischenspiel nach der ersten Strophe noch einmal erklingt. Die Figur ist als vom Bass in den Diskant ausgreifende Folge von aufsteigenden, unterschiedliche Intervalle überbrückenden Sechzehnteln angelegt, die am Ende, in hoher Lage, in einen mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sekundfall übergehen. Hier, beim Vorspiel ist das eine Rückung von h-Moll nach Cis-Dur, aber genauso, wie sich die tonale Ebene der Figur und ihre Binnenstruktur, die Intervalle betreffend, permanent wandeln, so auch ihre Harmonisierung und die sich jeweils ereignende harmonische Rückung. Aber das wirklich Interessante ist die Frage: Was will der Klaviersatz in dieser seiner Struktur musikalisch sagen?


    Wagt man sich zu weit vor, wenn man darin den musikalischen Ausdruck der Befindlichkeit des lyrischen Ichs vernimmt, das sich in Heines Versen artikuliert? Da ereignet sich ja doch klanglich zweierlei: Ein beflügelt wirkender Aufschwung, der allerdings in Moll harmonisiert ist, und ein Sekundfall auf der damit erreichten hohen tonalen Ebene, der am Ende mit einer Rückung in das Tongeschlecht Dur verbunden ist, und dies auf der Stufe der harmonischen Dominante. Das kann man durchaus als klangliche Imagination der emotionalen Situation empfinden, in der das lyrische Ich sich hier artikuliert. Es ist ja die des Aufschwungs: Alle Knospen sprangen, und im Herzen ist die Liebe aufgegangen. Und so weist denn diese Figur einen großen, die tonalen Räume geradezu sprengenden Aufschwung-Gestus auf. Aber da ist die perspektivische Ungewissheit, was das Ende anbelangt. Und so denn dieser Gestus in Moll harmonisiert, und die Rückung in Dur ereignet sich wie trotzig am Ende eines nachträglichen Falls.


    Und was nun faszinierend ist und sehr wohl als Indiz für die Genialität dieser Komposition aufgefasst und gewertet werden darf, das ist: In der melodischen Linie ereignet sich diese eigenartige Kombination von immanent gebrochenem Aufschwung und nachträglicher, die Brechung korrigieren wollender Bekräftigung der Aussage ebenfalls. Und dies auf sich geradezu beharrlich wiederholende Art und Weise. Auf den Worten „Im wunderschönen Monat Mai“ setzt sie auftaktig mit einer in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition auf einem „Cis“ in mittlerer Lage ein. Sie liegt auf der der ersten Silbe des Wortes „wunderschön“ und verlieht diesem damit einen Akzent. Danach folgt, auf den übrigen Silben dieses Wortes, eine neuerliche Tonrepetition eine Sekunde tiefer mit nachfolgendem Terzsprung. Zu dem Wort „Monat“ hin ereignet sich ein Terzfall, und danach geht die melodische Linie in einen doppelten Sekundanstieg über er in einer kleinen Dehnung auf dem Wort „Mai“ endet. Diese Melodiezeile wiederholt sich beim zweiten Vers noch einmal, und nun liegt der für sie so markante Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg auf dem Wort „Knospen“.


    Die melodische Linie beschreibt auf dem ersten Verspaar beider Strophen – denn die entsprechenden Melodiezeilen der zweiten sind ja mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz und der Harmonisierung mit denen der ersten identisch – nach der anfänglichen Tonrepetition eine zweimalige Anstiegsbewegung, bei der sich die tonale Ebene erst über ein Sekunde, dann aber über eben diesen Sextfall in untere Mittellage absenkt. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung vom anfänglich-flüchtigen fis-Moll über h-Moll in die Dominante E-Dur und bei dem Sekundanstieg hin zum leicht gedehnten oder repetierenden Grundton „A“ am Ende zurück zur Tonika A-Dur. Die konstatierend-deskriptive Aussage, die das lyrische Ich in beiden Verpaaren trifft, wird durch diese anfänglich in Moll-Harmonik gebettete, wesenhaft fallend angelegte, aber zweimal zu einem in Dur-Harmonik mündenden Aufschwung-Gestus übergehende Melodik in eine seine damalige seelische Befindlichkeit reflektierende musikalische Aussage umgesetzt, bei der anfängliche Unbestimmtheit und Ungewissheit in eine als „Faktum erfahrene und erlebte Gewissheit übergehen. Schumanns Liedmusik erfasst das Wesen der Heineschen Lyrik auch hier auf höchst treffende Weise.


    Auch beim zweiten Verspaar der beiden Strophen sind Melodik, Klaviersatz und Harmonik identisch. Die Liedmusik setzt sich nun von der auf dem ersten Paar dadurch ab, dass sie, das hochgradig emotionale Geständnis des lyrischen Ichs reflektierend, in den Gestus einer sich steigernden Expressivität übergeht. Die melodische Linie beschreibt eine zweimalige Aufstiegsbewegung, die beim letzten Vers auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene ansetzt und in der bogenförmigen, aus Terzsprung und Sekundfall bestehenden Aufgipfelung, die sich am Ende der beiden Melodiezeilen ereignet, den höchsten Ton der Liedmusik erreicht. Aber nicht nur in diesem ungebrochenen und sich steigernden Aufstiegsgestus setzt sich die melodische Linie von der durch den Fall der tonalen Ebene gebrochenen Melodik des ersten Verspaares ab, sie macht es auch durch die Dehnungen, in denen sie sich entfaltet: Jeder auftaktige deklamatorische Schritt mündet hier in eine Dehnung. Und wie stark die darin sich ausdrückende seelische Beschwingtheit des lyrischen Ichs ist, das zeigt sich darin, dass diese Dehnung sogar vor Hilfsverben nicht Halt macht. Dass auf den Worten „Liebe“ und „Sehnen“ eine Dehnung liegt, das ist durchaus verständlich. Aber Schumann scheut sich nicht, auch auf die Hilfsverben „ist“ und „hab´“ eine melodische Dehnung zu legen und er bezeugt darin sein tief reichendes Verständnis für den Geist der Heineschen Lyrik.


    Und das ist schließlich auch bei der Art und Weise der Fall, wie diese beiden Melodiezeilen harmonisiert sind. Es wiederholt sich die aus Schumanns Grundverständnis der Verse Heines hervorgehende harmonische Rückung aus der Unbestimmtheit von Moll-Harmonisierung in die Bestimmtheit des Tongeschlechts Dur. Hier allerdings - und das ist bemerkenswert, was die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs anbelangt - nicht in beiden Melodiezeilen, sondern erst am Ende der zweiten und letzten. Bei der ersten Zeile beschreibt die Harmonik eine Rückung von dem über fis-Moll eingeleiteten h-Moll nach Fis-Dur und kehrt wieder zu h-Moll zurück. Der emphatische melodische Aufgipfelungsbogen ist hier also noch in Moll harmonisiert. Bei der zweiten Zeile, also bei den Worten „Die Liebe aufgegangen“ und „Mein Sehnen und Verlangen“ ist das anders. Wieder setzt die Harmonik in fis-Moll / h-Moll ein. Dann aber vollzieht sie, in den neuerlichen und sich darin steigernden Aufschwung der melodischen Linie einstimmend, eine Rückung ins Tongeschlecht Dur.


    Aber es ist nicht die des gleichsam klassischen Liedschlusses von der Dominante hin zur Tonika. Das kann ja gar nicht sein, denn das Wesen der lyrischen Aussage ist das der Offenheit, - der Ungewissheit, was aus der beglückenden Erfahrung von „Sehnen und Verlangen“ am Ende werden wird.
    Schumann hat seinen Heine gelesen und verstanden. Und so vollzieht denn die Harmonik am Ende der melodischen Linie eine Rückung von der Tonika A-Dur in die Subdominante D-Dur. Und die Liedmusik überlässt es, wie Schumann das ja so sehr liebt, dem Nachspiel, was aus dieser Aussage der Melodik letztendlich werden soll.


    Das Klavier setzt sein Spiel mit der Grundfigur seines Satzes fort, es ergeht sich dabei, das D-Dur weiterführend, in einer Rückung erst nach Cis-Dur, dann zurück nach D-Dur, und es endet in einem in dieser Figur generierten Akkord aus den Tönen „Cis-Eis-Gis-H“. Es ist ein Dominant-Septakkord, wesenhaft klangliche Offenheit verkörpernd. Freilich eine, die nicht in Betrübnis verweist, sondern Hoffnung auf künftige Beseligung beinhaltet.

  • Aus meinen Tränen sprießen
    Viel blühende Blumen hervor,
    Und meine Seufzer werden
    Ein Nachtigallenchor.


    Und wenn du mich lieb hast, Kindchen,
    Schenk' ich dir die Blumen all',
    Und vor deinem Fenster soll klingen
    Das Lied der Nachtigall.


    In seiner Anlage, seinem Gehalt und der darin sich bekundenden Haltung des lyrischen Ichs weist dieses Gedicht eine innere Verwandtschaft zum vorangehenden auf. Es folgt ja im „Lyrischen Intermezzo“ unmittelbar auf dieses. Wieder zwei Strophen, und wieder die erste aus Bildern, bzw. lyrischen Aussagen bestehend, auf die in der zweiten Bezug genommen wird, dieses Mal allerdings nicht in Gestalt eines Geständnisses des lyrischen Ichs, sondern einer Absichtserklärung. Zwar sind alle lyrischen Aussagen dieses Mal präsentische, erfolgen also nicht im Tempus des Imperfekts, bzw. Perfekts, gleichwohl ist ihnen aber die gleiche immanente Offenheit hinsichtlich der Zukunft eigen, wie das auch dort der Fall ist. Die Aussagen der ersten Strophe stellen lyrisch-sprachliche Feststellungen dar, die in Gestalt von Bildern mit starkem, liebevolle Zuneigung beinhaltendem evokativem Potential erfolgen. Die der zweiten stehen allerdings unter dem die Strophe einleitenden und alle ihre Aussage beherrschenden konditionalen „Wenn“. Die lyrischen Bilder sind in ihrem Gehalt und in der liebevollen Zartheit der Geste, die ihnen zugrundliegt, von hoher lyrischer Ausdruckskraft, es muss freilich offen bleiben, was aus ihnen wird.


    Aber ist diese Offenheit eine, die das lyrische Ich existenziell wirklich tief zu berühren vermag? Ist dieses Operieren mit zauberhaften lyrischen Bildern vielleicht doch nur ein Spiel des lyrischen Ichs mit seinen Gefühlen, - dies mit dem Ziel einer Identität stiftenden Vergewisserung des Reichtums der eigenen Emotionalität? Die Ansprache des „Du“ mit dem diminutivischen „Kindchen“ im Anfangsvers der zweiten Strophe weckt solche Fragen. Das ist gewollt, ist Wesensmerkmal von Heines Liebeslyrik.


    Schumanns Liedmusik wiese nicht die immense Nähe zu Heines Lyrik auf, in der sie sich in diesem Zyklus immer wieder auf beeindruckende Weise präsentiert, knüpfte nicht auch sie an das vorangehende Lied an: Formal in Gestalt des zugrundliegenden Zweivierteltakts und der Grundtonart A-Dur, bzw. der Moll-Parallele. Aber diese Anknüpfung reicht viel tiefer. Um dies im Bereich der Harmonik zunächst in allgemeiner Weise aufzuzeigen: Die melodische Linie weist in ihrer Harmonisierung auch hier wieder diese Vagheit und Unbestimmtheit im Tongeschlecht auf, insbesondere auf der Ebene der Grundtonart. Aber im Raum der Dur-Tonarten ist dies nicht mehr in dem Maße der Fall. Hier begegnet man einer klar und entschieden wirkenden Modulation zwischen Tonika, Dominante und Subdominante, mit einer nur sporadischen Rückung nach Cis-Dur. Und diesbezüglich vielsagend ist: Dieses Mal endet sie Liedmusik nicht in klanglich offener Dominantsept-Harmonik, sondern in der über eine Rückung in die Dominante erfolgenden Harmonisierung in der Grundtonart A-Dur.


    Schumann reagiert mit diesem Gestus der Anknüpfung und Weiterentwicklung der Liedmusik im Bereich der Harmonik auf die Tatsache, dass die lyrischen Aussagen nun sprachlich im Präsens erfolgen und darin einen gleichsam einen höheren, weil von Hoffnung beflügelten Grad an perspektivischer Gewissheit aufweisen, die Möglichkeit der Liebeserfüllung betreffend. Nicht nur darin, sondern auch in der Melodik bekundet er, wie tief er rezeptiv in Heines Lyrik eingedrungen ist. Im Grunde besteht das Lied aus nur zwei Melodiezeilen. Die Zeile, die auf dem ersten Verspaar liegt, wiederholt sich, mitsamt dem Klaviersatz beim zweiten Paar. Das erste Verspaar der zweiten Strophe weist eine eigene Melodiezeile auf. Die melodische Linie auf den beiden letzten Versen der zweiten Strophe stellt, von ihrer Grundstruktur her, eine Variante der ersten Melodiezeile dar. Diese Anlage der Liedmusik lässt die Aussage „Und wenn du mich lieb hast, Kindchen, / Schenk' ich dir die Blumen all'“ als in die im wesentlichen identischen Melodiezeilen der ersten und des zweiten Verspaares der zweiten Strophe gleichsam eingebettet erscheinen. Man kann sie von daher als das musikalische Zentrum des Liedes verstehen, und das ist vom lyrischen Text her auch naheliegend, stellen diese beiden Verse von ihrem Gehalt her ja das Aussage-Zentrum des Gedichts dar.


    Dagegen scheinen aber sowohl die Struktur der melodischen Linie, wie auch ihre Harmonisierung zu sprechen. Sie setzt zwar, wie auch die Eingangs- und Endzeile, mit deklamatorischen Tonrepetitionen ein, diese weisen aber keine immanente Dehnung auf und setzen sich, nach dem Sekundanstieg auf dem Wort „Kindchen“, zunächst auf einer um eine Quarte abgesenkten tonalen Ebene fort, kehren bei dem Wort „Blumen“ zu Ausgangsebene zurück und münden bei „all´“ in einen Terzfall. Das Klavier begleitet zunächst mit einem lang gehaltenen E-Dur-Akkord. Bei dem Wort „Kindchen“ ereignet sich aber Bemerkenswertes: Die Harmonik beschreibt eine Rückung in die verminderte Tonart „Cis“, das Klavier lässt im Diskant eine Achtel-Fallbewegung erklingen, und danach sind die Tonrepetitionen auf den Worten „schenk ich dir die Blumen“ in h-Moll harmonisiert. Erst bei dem Terzfall ereignet wieder eine Rückung in Dur-Harmonik. Es ist keine in die Tonika A-Dur oder deren Dominante, mit der diese Melodiezeile ja einsetzt, sondern eine in das weitabliegend und klanglich ein wenig befremdlich anmutende Cis-Dur.


    Im Vergleich zur Eingangs- und Endzeile mutet diese Melodiezeile infolge ihres Sich-Absenkens in der tonalen Ebene, in der klanglichen Eintrübung durch verminderte und Moll-Harmonik und ihres Mündens in einen klanglich eingedunkelten Terzfall an, als drücke sich darin eine gewisse Verzagtheit des lyrischen Ichs in dem aus, was es hier dem Du gegenüber verkündet.
    Schumann hat diesem konditionalen „wenn du mich lieb hast“ ganz offensichtlich ein großes Gewicht beigemessen. Er versteht dieses lyrische Ich als ein in seiner Liebe und seiner Haltung dem Du gegenüber höchst unsicheres Wesen. Das war ja bereits im ersten Lied in Gestalt der eigenartig unstabilen, nicht fest zu machenden und in immer wieder überraschenden Modulationen sich entfaltenden Harmonik des Liedes zu vernehmen und zu erkennen. Und tatsächlich setzt sich das hier fort, - zwar nicht mehr dieser massiven und durchgehenden Weise wie im ersten Lied, aber es ereignet sich ausgerechnet in der Melodiezeile, die die Ankündigung einer Liebe zum Ausdruck bringenden Geste des lyrischen Ichs enthält.


    Und siehe: Auch in die Harmonik der quantitativ so dominanten Melodiezeile, in der die Liedmusik einsetzt und in variierter Gestalt endet, schleicht sich dieses flüchtige fis-Moll noch einmal kurz ein, das im vorangehenden Lied gleichsam den harmonischen Quellgrund der Melodik bildet. Die melodische Linie auf den Worten „Aus meinen Tränen sprießen“ setzt mit ihren viermaligen Tonrepetitionen auf einem „Cis“ in mittlerer Lage auftaktig ein und geht auf der ersten Silben von „meinen“ in eine kurze, das Wort leicht akzentuierende Dehnung (punktiertes Achtel) über. Das Klavier behält zwar die Terzen im Diskant bei, mit denen es hier begleitet, im Bass ereignet sich aber ein Fall von staccato angeschlagenen Achteln, der aus dem A-Dur, in dem der melodische Auftakt harmonisiert ist, ein flüchtiges fis-Moll macht, das dann allerdings bei dem Sekundsprung und –fall auf dem Wort „sprießen“ von einer Rückung Subdominante-Tonika abgelöst wird. Schumann will also gleich am Liedanfang – und danach ja immer wieder aufs Neue – die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs, so wie er sie in der Rezeption von Heines Lyrik versteht, in die Liedmusik einfließen lassen.


    Dies allerdings gleichsam unterschwellig, denn in der Harmonisierung dieser Melodiezeile dominiert Dur-Harmonik, und sie reflektiert darin die ganz und gar ungetrübte, geradezu idyllische Schönheit der lyrischen Bilder, die in ihrem Zentrum stehen: Blühende Blumen, Nachtigallenchor, Lied der Nachtigall. Alle harmonischen Rückungen spielen sich im Raum der Tonika A-Dur und ihren Dominanten ab. Bei der Melodiezeile auf dem letzten Verspaar ereignet sich in dieser harmonischen Ungetrübtheit sogar noch eine emphatische Steigerung ins Liebliche, dies dergestalt, dass die Tonika bei den melodischen Tonrepetitionen auf den Worten „und vor deinem Fenster“ in die Funktion eines Dominantseptakkords schlüpft, um eine Rückung nach D-Dur und wieder zurück zu ermöglichen. Ohnehin verleiht Schumann hier der Eingangs-Melodiezeile durch Variationen in der Vokallinie und im Klaviersatz eine in die Sphäre der klanglichen Lieblichkeit abhebende Expressivität.


    Das Klavier begleitet nun, darin abweichend von der ersten Strophe, die melodische Linie nicht mehr mit Terzen im Diskant, sondern mit dreistimmigen Akkorden, und es lässt auch im Bass keine Fallbewegung von Achteln mehr erklingen, sondern repetierende Staccato-Achtel. Und auf dem Wort „Fenster“ ereignet sich nun in den Tonrepetitionen ein triolischer Sekundfall, der dem, der sich dann, um eine Sekunde in der tonalen Ebene angehoben, auf dem Wort „klingen“ ereignet, zusammen mit der harmonischen Rückung eine derart starke liedmusikalische Ausdruckskraft verleiht, dass man dieses Wort fast selbst schon klingen zu hören vermeint. Und schließlich geht auch das sich in deklamatorischen Schritten von Achteln und Sechzehnteln ereignende Auf und Ab der melodischen Linie auf dem zweiten und vierten Vers der ersten Strophe beim letzten der zweiten unter Beibehaltung der Grundstruktur in kleine, die klangliche Lieblichkeit steigernde Dehnungen auf dem Wort „Lied“ und der ersten Silbe von „Nachtigall“ über.


    Und auch die Fermate, in der diese Melodiezeile schon zweimal ausklang, erfährt hier am Ende des Liedes noch eine Steigerung: in Gestalt einer Punktierung des Viertels, das auf der letzten Silbe des Wortes „Nachtigall“ liegt, und einer Ritardando-Anweisung für den Vortrag dieses letzten deklamatorischen Schrittes. Und schließlich gibt es da noch einen Sachverhalt, der dem Liedende liedmusikalisches Gewicht und Bedeutsamkeit verleiht. Die melodische Linie endet mit dem Sekundfall auf der letzten Silbe von „Nachtigall“ nicht auf dem Grundton, sondern auf der in der Dominante harmonisierten Sekunde darüber. Erst im kurzen Nachspiel lässt das Klavier die Liedmusik mit einer Rückung nach A-Dur in der Tonika enden. Und diesen offenen Schluss der Melodik kann man durchaus als liedmusikalischen Reflex der perspektivischen Offenheit verstehen, in der sich das lyrische Ich mit seinen Ansprachen an das Du bewegt.


    Es ist also eine klanglich geradezu berückende, an die Sphäre der Idyllik rührende und sich in ihren Melodiezeilen am Ende immer wieder fermatenhafter Ruhe hingebende Liedmusik, die man hier vernimmt. Freilich eine, die sich darin nicht erschöpft, sondern mit ihren subtilen klanglichen Eintrübungen und der melodischen Offenheit ihres Schlusses die lyrische Aussage reflektiert und sich auf diese Weise in ihrer liedkompositorischen Größe zeigt.

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