Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne

  • Ich freue mich sehr auf diese Aufnahme, lieber Holger! Habe ihn vorletztes Jahr mit Band 1 live gehört, ich hatte leider keinen optimalen Platz, aber das Konzert hat lange nachgewirkt. Ich mag ja auch seinen 'altersmilden Chopin'.


    Beste Grüße
    Christian

  • Ich freue mich sehr auf die kommende Aufnahme! :jubel:


    Gestern in der Aufzeichnung der EchoKlassik-Verleihung war ich beim Zuhören und Zuschauen seines Chopin-Vortrags sehr angespannt ob der in meiner Wahrnehmung offensichtlichen Einschränkungen. Ich befürchte/ vermute, dass er (hoch)virtuoses Repertoire nicht mehr hinkriegt (nicht, dass ich das bei einem 75jährigen erwarten würde!!); sollte das so sein, hoffe ich, dass er das rechtzeitig merkt und seine Werkauswahl entsprechend anpasst.
    Viele Grüße, Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Im Januar 2018 erscheint endlich der zweite Band der Preludes:



    Die Deutsche Grammophon pennt - wie immer! - und hat diese Aufnahme nicht auf ihrer eigenen Website... ?(
    Ich finde es ohnehin schräg, dass es keine Vorschau auf kommende VÖ gibt, erst recht dann, wenn Händler die Info bereits haben...


    Dem Taminopartner jpc habe ich eben per Nachricht mit diesem Amazon-Link versucht auf's Pferd zu helfen. Mal schauen, wann und wie der Laden reagiert.
    Das Stöbern bei jpc war eben übrigens ergiebig und teuer. Mehr dazu, wenn die Spontanklicks aus der Packstation kommen. :rolleyes:

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Vielen Dank für den Hinweis auf Pollinis Auftritt bei der Echo-Klassik-Verleihung! Habe ich mir gerade in der Mediathek angesehen und fand es sehr bewegend. Einschränkungen habe ich aber keine gehört, ich finde ja, dass sein Spätstil noch leuchtender und raumgreifender geworden ist, allerdings auf Kosten kleiner Schattierungen. Apropos Einschränkungen: In München spielt er demnächst die Kreisleriana und Chopins 3. Sonate. Einschränkungen scheinen ihn davon nicht abzuhalten. Mir sind aber die guten Karten - im Herkulessaal unerlässlich - zu teuer, so dass ich leider nicht berichten kann.


    Viele Grüße
    Christian

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  • Die Echo-Klassik-Preisverleihung habe ich mir auch gerade zum ersten Mal angeschaut. Er ist ja wirklich sehr nobel bescheiden, hört sich die von wem auch immer geschriebene Lobrede, die Katty Salie schauspielerisch-geschliffen und perfekt emotionalisiert vortrug (die selber von klassischer Musik wohl reichlich wenig versteht, selbst Allbekanntes wie "Bilder einer Ausstellung" kennt sie nicht, provoziert bei ihr Versprecher (in "Aspekte")) gar nicht im Saal an, nimmt nur bewegt den Preis entgegen und spielt dann gleich das Arabesken-Nocturne mit großer innerer Bewegtheit. Verlernt hat er spieltechnisch nichts, nur die letzte puristische Perfektion ist ihm altersgelassen einfach nicht mehr wichtig. Wem soll er sich auch noch beweisen wollen in dieser Hinsicht?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bin auf Deine Einschätzung gespannt, lieber Holger. Ich mag Pollinis klanglich sehr opulenten Spätstil und mir gefällt diese Aufnahme besser als die etwas akademische Einspielung von Band 1. Allerdings höre ich diese Stücke unreflektiert, ich kenne die Noten nicht und vergleiche sie auch nicht mit anderen, sondern tauche einfach nur ein in den Klang. Schon den Charakter des ersten Stücks finde ich hervorragend getroffen. Und der leuchtende, volle Klavierton ist einfach beglückend.
    Viele Grüße
    Christian

  • Bin auf Deine Einschätzung gespannt, lieber Holger.

    Da ich die Debussy-Preludes sozusagen wie meine Westentasche kenne, lieber Christian, fühle ich mich zu einer besonders sorgfältigen Besprechung verpflichtet - natürlich auch wegen der Bedeutung von Pollini. Also werde ich noch eine dritte Hörsitzung machen und bis dahin nichts verraten... :D


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Da ich die Debussy-Preludes sozusagen wie meine Westentasche kenne, lieber Christian, fühle ich mich zu einer besonders sorgfältigen Besprechung verpflichtet - natürlich auch wegen der Bedeutung von Pollini. Also werde ich noch eine dritte Hörsitzung machen und bis dahin nichts verraten... :D


    Herzlich grüßend
    Holger

    Das sind genau die Beiträge, lieber Holger, die wir uns an anderer Stelle auch von Dir wünschen1


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Maurizio Pollini komplettiert 18 Jahre, nachdem er das erste Heft von Debussys Préludes eingespielt hatte, die zweite Hälfte von Debussys zentralem Werk. Inzwischen sind also fast zwei Jahrzehnte vergangen und Pollini ist zu einem Mittsiebziger gereift. Ich glaube, man tut dem Meister kein Unrecht, wenn man auf seine zweite Einspielung der 24 Préludes von Chopin verweist, die deutlich machen, wohin sein „Spätstil“ tendiert. Es geht ihm um ein flüssiges, nie anstrengendes und angestrengtes, jedes Extrem vermeidendes Musizieren, dass sich deshalb auch absichtlich jeglichem Detailfanatismus verweigert, den musikalischen Fluss betont, wo musikalische Strukturen nur insoweit angedeutet werden, wie sie zum musikalischen Gesamteindruck etwas beitragen. Pollini bevorzugt heute die integrale Sicht, die „Stimmung“ eines Stückes zu treffen ist ihm wichtiger als alle Analyse, welche die Musik in ihre Elemente zerlegt, um sie dann wieder für den Hörer mit großer Mühe zusammenzubauen. Sicher steht dahinter eine Prägung aus seiner Zeit als junger Pianist, die Bewunderung nämlich für seinen väterlichen Freund von einst, Artur Rubinstein. Rubinsteins große Tugend war seine Natürlichkeit, das Bemühen, Musik nicht irgend etwas „abzupressen“, sondern statt dessen sich „entwickeln“ zu lassen, was bedeutet sie organisch aus sich selber wachsend wie selbstverständlich vorzutragen, ohne dabei jedoch jemals oberflächlich über die musikalisch wesentlichen Dinge hinwegzuspielen.


    Passt dieser Zugang nun zu Debussy – insbesondere zum späten Debussy? Nimmt man die Kennzeichnung von Debussys Musik als „Impressionismus“ auf, dann geht es darum, einen „Eindruck“ wiederzugeben. „Impression“ bei Debussy meint nun freilich keine bloße Privatio, also keine Undeutlichkeit im Sinne des Verwaschenen und Verschwommenen, sondern es handelt sich um „Bilder“, die einerseits atmosphärisch aber zugleich als etwas Fasslich-Gestalthaftes musikalisch-syntaktisch sehr präzise gezeichnet werden und vom Interpreten auch so nachgezeichnet werden sollen. Beim späten Debussy kommt nun noch ein weiteres Moment hinzu – die Auflösung des Impressionismus im Impressionismus selber durch eine Abstraktion und Elementarisierung. Der Impressionismus, wie er in der Malerei entstand, ist keineswegs nur eine intuitive Stimmungsmalerei, er elementarisiert die malerischen Mittel. So arbeitet etwa von Gogh ganz bewusst mit dem Komplementärkontrast, setzt also die unvermischten, reinen Farben in ihrem größten farblichen Gegensatz schroff gegeneinander. Noch einen Schritt weiter geht dann der spätimpressionistische Pointilismus. Die pointilistische Elementarisierung zerlegt das Bild in lauter Bildpunkte, die sich dann im Auge wieder zu einem Ganzen zusammensetzen, womit die „Synthese“ des Bildes vom Bild in den Betrachter des Bildes verlegt wird.


    Der Grund, warum viele gute und sehr gute Aufnahmen von Debussys zweitem Heft der Préludes dem ersten gegenüber abfallen, liegt darin, dass sie diesen Zug zur „abstrakten“ Elementarisierung nicht erkennen, indem sie entweder nur impressionistische Stimmungsbilder malen oder die vielen Bilder evozierenden Anspielungen prosaisch-geheimnislos wörtlich nehmen. So aber werden einige der Stücke allzu leicht „seifig“ oder banal. Das „Geheimnis“ des Spätwerks von Debussy liegt – so paradox es scheinen mag – in der Konstruktivität der „Syntax“ gerade auch dieser vermeintlich nur „impressionistischen“ Musik: Der verborgenen Schatz von Debussys Musik, er entbirgt sich deshalb nur dann, wenn man die „abstrakte Malerei“ in dieser Musik, das spannungsreiche Gegeneinander von Bewegungen, von Farbkontrasten, von Harmonien, entdeckt. Wo man von Debussy spätimpressionistische Elementarisierung durch das Kontrastprinzip exemplarisch vorgeführt bekommt, ist etwa beim zweiten Prélude „Feuilles mortes“ („Herbstlaub“). Wie bei taumelnd zu Boden fallenden Herbstblättern besteht das Stück aus Pendelbewegungen, die von ihrem Bewegungscharakter her den Umschlag in die Gegenrichtung enthalten: ein Hin-und-her-Kippen, dass sich aber nicht nur auf die Bewegungen bezieht, sondern auch auf die Harmonik, die Figuren und Farben erstreckt, die nach dem Kontrastprinzip alterierend direkt und hart aufeinanderprallend gegenübergestellt werden. Wer diese elementarisierende Auflösung wirklich „radikal“ mit allerletzter Konsequenz durchführte und damit wie kein Anderer zeigte, dass Debussys zweites Heft der Préludes Musik des 20. und nicht des 19. Jahrhunderts ist, war Arturo Benedetti Michelangeli. Geradezu eine Offenbarung ist seine Gestaltung der Schlussakkorde von Feuilles mortes. ABM löst den von Debussy notierten Bogen elementarisierend auf in eine kontrastierend-alterierende Akkordfolge. Auf diese Weise wird die Dissonanz zum Bestimmenden einer Auflösung, welche damit statt ein versöhnendes Ende zu setzen zum kraftlosen Echo gerät; der Schmerz der Vergänglichkeit wird so zum Unaufhörlichen, zum bleibenden Eindruck, den das verklingende Stück hinterlässt. Eher trocken im Pedal scheint dieses Prélude unter ABMs Händen zum Schluss zu sagen: Hier gibt es Tränen, die nicht mehr zu trocknen sind und statt dessen zu Eis gefrieren – was bleibt, ist ein Mensch, der einsam mit sich alleine bleibt wie schon in Des pas sur la neige, der Winter-Studie der Verlassenheit aus dem ersten Heft der Préludes. Hier nun in Feuilles mortes zeigt ABMs Abstraktion in der Isolierung der Akkorde die Vereinzelung des leidenden Subjekts in der schmerzlichen Empfindung des Vergänglichen gerade auch des Schönen, zum Schluss tragisch kulminierend in einem solchen ins Endlose tönenden Widerhall des Schmerzes selbst in seinem Gegenteil, der tröstenden Wendung ins Harmonische. Das ist ein wahrlich singulärer Moment einer im ganzen unvergleichlichen, die höchsten Maßstäbe setzenden Aufnahme! Zwar nicht ganz so radikal und tiefsinnig, aber in dieselbe Richtung ging Monique Haas´ Gestaltung von Feuilles mortes in ihrer DGG-Aufnahme von 1963 – eine Aufnahme, die ich deshalb nach wie vor für ebenfalls exemplarisch und herausragend aus den vielen anderen guten und sehr guten Darstellungen der Debussy-Préludes halte. Geradezu liebevoll im Detail spürt Monique Haas den Pendelbewegungen und Kontrastierungen nach, macht also die postimpressionistische Elementarisierung sichtbar, ohne jedoch die konventionellen Melodiebögen wie ABM „dekonstruierend“ aufzulösen.


    Und was macht Pollini? Pollini behandelt die Préludes von Debussy im Prinzip nicht anders als wenn es sich um ihr romantisches Vorbild, die 24 Préludes von Chopin, handelte. Der bei Chopin so wichtige Sinn für die „Linie“ kommt ihm hier zugute, was das „Zerfließen“ von Debussys Impressionen in eine bloße Stimmungsmalerei verhindert. Auch Pollini zeichnet impressionistische „Bilder“ – aber er analysiert und elementarisiert nicht. Statt dessen verlässt er sich auf seine bei den Romantikern Chopin und Schubert entwickelte Kunst des kontinuierlichen Abschattens und Abtönens. Die melancholische Stimmung von Feuilles mortes, sie trifft Pollini genau, auch vermag seine Abtönungskunst die Farbigkeit eines im Sonnenlicht funkelnden Herbsttages heraufzubeschwören – nur die Bewegungen und Gegenbewegungen, die scharfen Umschläge vom Hell ins Dunkel, sie werden einfach mit einem sanften, die Kontraste in ein mildes Licht hüllenden Grundton abmildernd gleichsam übermalt. Was die plastische Gestaltung der bewegungsdynamischen „Syntax“ von Debussys Musik angeht, ist Pollinis Kunst der Abschattung so auch nie wirklich zwingend. Um es metaphorisch auszudrücken: Bei Pollini springen keine sich mit ihren Gliedern bewegenden Gestalten aus dem Bild heraus, statt dessen werden verschwimmende, schillernde Farbflecken mit einer Linie umrandet, die dem Farbkomplex Kontur gebend ihn von außen – und nicht durch den „inneren Klang“ von abstrakten elementaren Bewegungsgestalten von innen – zusammenhalten. Pollinis Stärke ist zweifellos sein integrierender Blick, die Zerstreuung des „Bildes“ in eine Summe von impressionistischen Farbflecken niemals zuzulassen durch die Wahrung der Linie, den Sinn für den großen Bogen. Das zeigt sich etwa in Canope, wo eine Monique Haas zwar ungemein genau die Kontraste und syntaktischen Komplementaritäten auf engstem Raum herausarbeitet, dabei aber ein wenig den Blick für die durchgehende „Linie“ – das große Ganze – verliert. Genau das wiederum gelingt Pollinis abtönender Stimmungsmalerei und melodischer Zeichnung – aber letztlich um den Preis des Verschwindens des Elementaren einer Bewegungsdramaturgie im Mikroskopisch- Kleinteiligen. Hier hat dann schließlich ABM das letzte Wort, bei dem beides zusammenkommt.


    Nein, auch Pollinis Debussy ist keineswegs altmodisch rückwärtsgewandt, gibt vielmehr Debussys zweitem Heft der Préludes auf seine Weise die Würde eines Spätwerks und Schlüsselwerks der Moderne zurück. Schon im ersten Stück, dem „Nebel“ („Brouillards“) zeigt er das irritierend Neue von Debussys Musik, das die traditionelle Melodik und rhetorische Satztechnik auflösend zum Verschwinden bringt. Dabei nutzt er bescheiden und zugleich klug eine Tatsache, die sich bei aller Höflichkeit und Ehrerbietung vor dem wirklichen Meister nicht verschweigen lässt: Sein Spielapparat reagiert nicht mehr so flexibel und leichtgängig auf Kopf-Befehle wie in früheren Zeiten. Am deutlichsten wird das in der vom Titel her „technischsten“ Etüde Nr. 11 („Les tierces alternées“), wo er das Nichtperfekte klaviertechnischer Ungenauigkeiten für das Erzeugen von Klangschattierungen in musikalischen Gewinn ummünzt.


    Eine Zwischenbemerkung zur Tempowahl von Nr. 11 und Nr. 12: Nach Pierre-Laurant Aimard folgt nun auch Maurizio Pollini ABM, der die Tempo-Relationen von Nr. 11 und 12 gegen die eingefahrene Unart der Aufführungstradition, welche durch das Terzen-Stück Nr. 11 wie ein leichter Sommernachtstraum-Wirbelwind durchfegt, richtiggestellt hat. Beide Préludes (also sowohl Les tierces alternées als auch das vermeintliche Virtuosen-Feuerwerk Feux d´artifice) sind erst einmal mit Modérément animé überschrieben, was der französische Ausdruck für ein „Moderato“ ist, also eine „moderate“, mäßige Bewegung und damit gerade keine das Tempo forcierende „Presto“-Hastigkeit meint. Die Bewegung in Nr. 11 wird nun von 16teln getragen, diejenige in Nr. 12 von 32teln, d.h. die Tonbewegungen von Nr. 11 müssen im halben Tempo von Nr. 12 gespielt werden und nicht annähernd im gleichen Tempo! Überdreht man das Tempo von Nr. 11, dann wird die geforderte Geschwindigkeitsverdoppelung in Nr. 12 spieltechnisch einfach unmöglich, d.h. Nr. 12 ist dann von der Temporelation her unvermeidlich viel zu langsam.


    Die Akkord-Triller im „Feenstück“ Nr. 4 wirken bei Pollini eher etwas ungelenk-holprig als feenhaft leicht – léger und leggierissimo heißen die Spielanweisungen im Notentext. Im abschließenden Feuerwerk hört man zu Beginn die „Sprünge“ der Hände, die Pollini dann aber statt krampfhaft zu egalisieren für die Erzeugung einer Unruhe ausdrückenden Stimmung auszunutzen versteht - klaviertechnische Perfektion ist eben nicht immer ein Gewinn, sondern hat manchmal nur Glätte und damit ausdruckslose Gleichförmigkeit zur Folge. (Übrigens baut auch ABM genau deshalb an dieser Stelle gezielt solche Unebenheiten ein!) In „Brouillards“ erreicht Pollini zwar weder die verdichtete Prägnanz von ABM noch die strukturalistische Klarheit von Monique Haas, die hier die rhythmischen Strukturen verdeutlicht. Dafür nutzt er aber wiederum die fingertechnischen Unebenheiten seines Piano- und Pianissimo-Spiels, um damit das Düstere dieses Nebelstücks um so gespenstischer erscheinen zu lassen, indem das scheinbar Greifbare gleich wieder ungreifbar wird. Nur ein Detail vielleicht, das ein klein wenig stört: Weil er anders als ABM in den Wellenbewegungen zu Beginn der „Coda“ keine gezupften Harfen- oder Gitarrensaiten imaginiert, wirken die eher Mezzopiano als Pianissimo gespielten Wellen dann doch etwas prosaisch. Pollini trifft, das ist die unbestreitbar hohe Qualität dieser Aufnahme, eigentlich immer wie selbstverständlich die Charaktere – überrascht z.B. im Cake-Walk Nr. 6, wo er das strident wörtlich zu nehmen versteht im grell-vitalen Zugriff. Beschäftigt man sich aber mit den Details, dann kommt in letzter Konsequenz allerdings auch das nicht so ganz Zwingende des im Großen und Ganzen Überzeugenden zum Vorschein. So spielt er in der „Habanera“ (Nr. 3) die brüsken und extremen Kontraste zwar aus, vermeidet aber letztlich doch nicht – das Gebrechen nahezu aller Aufnahmen – das Schwerfällig-Basslastige und/oder übertrieben Harte, das letztlich erst ABM diesem Stück ausgetrieben hat, indem er einfach akribisch genau den Notentext liest. Debussy will nämlich den Bass keineswegs plump in den Flügel gehämmert haben (wie das besonders unschön, ja geradezu brutal z.B. bei Krystian Zimerman geschieht), sondern notiert als Betonungszeichen einen Strich, der sonor wie ein breiter Cellostrich zu nehmen ist. In der Figur der rechten Hand sind dann als Kontrast dazu die harten Keilakzente notiert. Nur wenn man – wie endlich ABM – diese Ordnung der Akzente einer dominierenden rechten und nicht linken Hand einhaltend hier wirklich Notentext genau spielt, wird der Eindruck des Plumpen vermieden. Erst in der Reprise notiert Debussy den Kontrast schärfend auch für das Des im Bass einen Keilakzent – was man wiederum einzig und allein bei ABM so hört!


    Was die genaue Umsetzung des Notentextes angeht muss zudem auf eine große Merkwürdigkeit der Interpretationsgeschichte des abschließenden „Feuerwerks“ (Nr. 12) hingewiesen werden, die ABM aufgedeckt hat. ABM „explodiert“ förmlich zum Schluss mit den aufwärtsstürmenden Oktaven, bevor das Glissando in die Tiefe stürzt. Des Rätsels Lösung: Als einziger (!) mir bekannter Interpret realisiert er den in meiner Ausgabe notierten Taktwechsel vom 6/8 zum 2/8-Takt. Dann kommen nämlich doppelt so viele 64tel auf eine Achtel und die Oktaven sind in der Wiederholung der Figur mit Taktwechsel doppelt so schnell zu spielen! Wie alle übrigen Interpreten außer ABM zählt Pollini hier egalisierend statt einen 2/8 einen 4/8-Takt.


    Um nun noch einmal auf das nicht so ganz Zwingende bei Pollini zurückzukommen: Atmosphärisch gelingt ihm das „Mondscheinstück“ Nr. 7 wirklich sehr gut. Aber zugleich nivelliert er die einheitliche Grundstimmung betonend auch den kontrastierenden Stimmungswechsel einer aufhellenden Belebung, der Debussys Spielanweisung zu entnehmen ist: léger und zugleich Un peu animé. Und in Nr. 9, Debussys parodistischer Variation der englischen Nationalhymne, fehlt letztlich das entscheidende Quantum an Schärfe und damit auch das „Gift“, die gallige Ironie.


    Für mich setzt Pollini den Höhepunkt mit dem Schluss, mit „Feux d´artifice“ (Nr. 12). Da erscheint wie ein Widerhall der junge Pollini mit seiner Kraft und Energie – hier spürt man sie plötzlich wieder, die so zwingende Dynamik seines Spiels, den „Zug“ und „Sog“, der auf das Ende zutreibt. Und ganz am Ende hat der Meister auch noch eine zündende Idee. Statt den letzten Ton des Stücks, das Des mit Portato-Punkt, in den Flügel zu tupfen, spielt er ihn erst gar nicht, sondern „enthüllt“ den verhallenden Des-Farbtupfer durch die Wegnahme des Pedals und damit des Quinten-Obertons As der gerade verklungenen Tremolofigur (Des-As) im Bass! Solche geistreichen Zündungen hätte ich mir doch öfter gewünscht! So aber kommt eine Aufnahme heraus, welche zwar einerseits unbestreitbar die Pollini-Qualitäten zeigt, welche man an ihm so schätzt. Sie fördert aber andererseits auch keine wirklich aufregenden, neuen Erkenntnisse in Sachen Debussy und Debussy-Interpretation zu Tage. Vielleicht jedoch hat der altersweise Meister solche ambitionierten Ansprüche auch gar nicht und will sie nicht mehr haben, sondern möchte bescheiden wie es seine Art ist ein lediglich so vorteilhaft wie mögliches „Bild“ von Debussys Musik präsentieren, als ein zugleich Anspruchsvolles und dabei doch immer eingängig Bleibendes – ohne die Anstrengung der Abstraktion eines Pointilismus also, welcher dem Spieler die Mühe der Analyse und dem Hörer die der Synthese macht, mit einem Wort: Dem altersweisen Maurizio Pollini geht es um die Gelassenheit eines musikalischen Vortrags ohne intellektuelle Verkrampfung. Und genau das war schon von Pollinis zweiter Aufnahme der Chopin-Préludes zu sagen. Maurizio Pollinis späte Aufnahmen werfen die Frage auf und werden sie wohl immer wieder aufwerfen: Inwieweit ist Ungenauigkeit – nicht aus Sorglosigkeit, Unachtsamkeit oder Schlampigkeit, sondern als Ergebnis von verantwortlicher Reflexion als Ausdruck interpretatorischer Sorgfalt – ein legitimer Vortragsstil? (En blanc et noir, gespielt mit seinem Sohn Daniele, ist ein wirklich schöner Abschluss dieser höchst respektablen Aufnahme!) :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das Verflixte an Deinen Besprechungen ist, lieber Holger, dass sie mich zwingen nachzuhören, um mir eine eigene Meinugn zu bilden. Das zweite Heft der Preludes steht mir nicht so nahe und ich kenne es nicht so gut, dass ich hier wirklich einsteigen könnte. Deswegen nur zwei Anmerkungen: Der Aufnahme von Michelangeli konnte ich noch nie etwas abgewinnen, außer dass sie perfekt ist. Aber sie ist so kalt - auch klanglich- und hat so wenig Atmosphäre, dass ich sie für künstlerisch missglückt halte. Eine äußerst faszinierende Aufführung des Zyklus' habe ich live von Thibaudet gehört, aber seine Studio-Einspielung vermag mich auch nicht zu begeistern. Die noch gelungendste Aufnahme ist für mich von Sviatoslav Richter, es ist eine Live-Einspielung und sie hat eine ganz wunderbare Atmosphäre und Kraft. Der von Dir gewiss zu Recht angesprochene hohe Abstraktionsgrad dieser Stücke, der eine Rezeption ungleich schwerer macht als bei Band 1, wird bei Richter auf unvergleichliche Weise zu betörender Klangmagie (Spoleto 1967).


    Aber jetzt muss ich erst einmal nachhören :-) Danke für die tolle und ausführliche Besprechung!!!


    Viele Grüße
    Christian

  • Deswegen nur zwei Anmerkungen: Der Aufnahme von Michelangeli konnte ich noch nie etwas abgewinnen, außer dass sie perfekt ist. Aber sie ist so kalt - auch klanglich- und hat so wenig Atmosphäre, dass ich sie für künstlerisch missglückt halte.

    Da sind wir nun wirklich total auseinander, lieber Christian. :D Für mich ist ABMs Aufnahme die einzige, die mich wirklich emotional tief berührt. Ich empfinde sie als berstend expressiv in jeder Note mit auch nicht der allergeringsten Spur von Kälte. Und dass es ihm hier nur um Perfektionismus gegangen sei, das ist einfach belegbar nicht zu halten. Das zeigt der Beginn von "Feux d´artifice". Da spielen Andere perfekt gleichmäßig, nur ABM verzichtet gerade auf Perfektion und zeigt so ein kleines Drama zwischen Tönen und Klängen auf. Und ich halte sie für die künstlerisch bedeutendste Aufnahme der Preludes Heft 2.


    Aber vielleicht liegt des Rätsels Lösung hier: Ortega y Gasset schreibt 1925, von Debussy datiere eine "neue musikalische Ära". Und er formuliert den Satz: "Debussy reinigte die Musik vom Menschlichen..." Wie kommt Ortega y Gasset zu solch einem Urteil? Haben etwa alle Pianisten 1925 Debussy "kalt" gespielt? Ortega hat offenbar etwas gemerkt, dass bei Debussy die Epoche der Romantik zu Ende ist und eben auch die romantischer Emotionalität. Wenn man die bei Debussy sucht, dann findet man seine Musik vielleicht "kalt" - oder den Vortrag des Interpreten, der kein romantisches Gefühl mehr zeigt. Arraus "Preludes" gefallen mir genau deshalb nicht, weil er sie spielt eben mit einer solchen "altmodischen" romantischen Emotionalität. Bei ABM dagegen spürt man, dass Debussy etwas mit dem wortkargen, formelhaften, in die Abgründe der menschlichen Seele leuchtenden späten Liszt zu tun hat, wo sich Romantik in Richtung eines modernen Expressionismus transzendiert. Und dass Anton Weberns Aphoristik, das Nebeneinander von Ton und Stille, nicht weit ist. Der Moderne bei Debussy muss man sich gerade beim zweiten Heft der Preludes stellen. Und genau dazu zwingt einen ABM.


    Den Aufnahmesaal kenne ich übrigens. Die Geschichte dieser Aufnahme begann mit einem total missglückten Aufnahmeversuch in der Schweiz. Der Saal dort bekam einen Wasserschaden und die Akustik war im Eimer. Also suchten ABMs Produzent Cord Garben und ABM nach einem neuen Saal und fanden ihn im kleinen Saal der Bielefelder Oetker-Halle. Den kenne ich gut, denn bis vor 4 Jahren wohnte ich 10 Minuten Fußweg von der Oetker-Halle entfernt und habe auch im kleinen Saal Konzerte gehört, u.a. einen Scriabin-Abend mit Maria Lettberg. Der Saal ist stark bedämpft und eher trocken. "Atmosphärisches" kann man dort nicht hinbekommen - allerdings farbige und warme Klänge. Farbig und warm klingt deshalb auch ABMs Flügel. Aber genau um das Atmosphärische zu betonen ging es ABM gerade nicht. Jean Cocteau sprach von einer Läuterung des Impressionismus: "Musik ohne Sauce!" Und eben das wollte ABM den späten Preludes austreiben im Geiste Cocteaus: die impressionistische Sauce, die "Atmosphäre"! Er verordnet den Preludes Heft II also genau die "Läuterung", von der Cocteau sprach! Da passt einfach alles zusammen - Akustik und Ästhetik!

    Eine äußerst faszinierende Aufführung des Zyklus' habe ich live von Thibaudet gehört, aber seine Studio-Einspielung vermag mich auch nicht zu begeistern.

    Thibaudet ist ein typischer französischer Pianist, brillant, elegant. So macht er aus Mendelssohns "Variations serieuses" "Variations brillantes". Deshalb bezweifle ich stark, dass der für das "Seriöse" gerade für Debussys Preludes Heft 2 ein Sensorium hat.

    Die noch gelungendste Aufnahme ist für mich von Sviatoslav Richter, es ist eine Live-Einspielung und sie hat eine ganz wunderbare Atmosphäre und Kraft. Der von Dir gewiss zu Recht angesprochene hohe Abstraktionsgrad dieser Stücke, der eine Rezeption ungleich schwerer macht als bei Band 1, wird bei Richter auf unvergleichliche Weise zu betörender Klangmagie (Spoleto 1967).

    Richters Mitschnitt von 1967 fand ich immer schrecklich. Er ertränkt da Debussy förmlich im Pedal. Das ist mit Cocteau Impressionismus nur noch als reine Sauce! :D Da gefällt mir Richters Lehrer Heinrich Neuhaus mit seiner Klarheit viel, viel besser! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    wie gesagt, ich muss nachhören und bin hier auch nicht so im Thema. Der Richter-Mitschnitt aus Spoleto ertrinkt meines Erachtens nicht im Pedal, aber die Aufnahme ist leider sehr schlecht und enthält viel Hall. Aber Feux d'artifice spielt er zu Beginn unglaublich pointiert und komplett ohne Pedal. Zu Michelangeli: Wenn Du schon selber sagst, dass es nicht möglich sei, an diesem Aufnahmeort in Bielefeld eine Atmosphäre herzustellen, dann erklärt das natürlich mein Problem. Debussy ohne Atmosphäre finde ich sehr schwierig. Ich melde mich noch einmal, wenn ich mir einige Aufnahmen angehört habe (u.a. Arrau, Egorov, Thibaudet, 2x Ciccolini, Rogé, Bavouzet, Aimard, Koroliov).
    Classicstoday favorisiert bei den Preludes ja Steven Osborne - die Aufnahme werde ich mir wohl besorgen.


    Viele Grüße
    Christian

  • Wenn Du schon selber sagst, dass es nicht möglich sei, an diesem Aufnahmeort in Bielefeld eine Atmosphäre herzustellen, dann erklärt das natürlich mein Problem. Debussy ohne Atmosphäre finde ich sehr schwierig.

    Sooo trocken ist der Saal ja nun nicht und ABMs Aufnahme auch überhaupt nicht unatmosphärisch. Nur wenn man betont das Atmosphärische haben wollte als den dominierenden Aspekt, dann wäre dies freilich der falsche Saal! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Zwischenzeitlich habe ich mir tatsächlich seit urlanger Zeit Richter wieder angehört. Er hat ja nun eine ganze Reihe von Sternstunden gerade auch im Konzert gehabt, aber dieser Mitschnitt der Preludes Heft II ist wirklich eine schnell verglühende Sternschnuppe. Erst wird das Tempo zerdehnt, dass die Nebelschwaden nur so wabern wie in einer schlechten Filmmusik, dann ist er wieder zu schnell, später gibt es dann völlig unorganische Temposchwankungen. Die Phrasierung stimmt nicht, die Idiomatik stimmt nicht und schlüssig ist es in der Regel auch nicht. Bisweilen verwechselt er Debussy irgendwie mit Prokofieff. Das Pedalspiel ist so grottenschlecht nicht wie ich es in Erinnerung hatte, obwohl oft reichlich die Strukturen vernebelnd, da kommt dann noch das zerdehnte Tempo dazu, was den Eindruck einer "Waschküche" verstärkt im Zusammenspiel mit der wirklich grauenvollen Aufnahmetechnik. Irgendwie hat man das Gefühl, dass da Richter versucht, sich der musikalischen Welt der Preludes von Debussy irgendwie anzunähern, zu der er noch keinen richtigen Zugang gefunden hat. Wenn man den Titaten Richter und diesen seinen völlig misslungenen Vortrag gehört hat, weiß man hinterher Pollini um so mehr zu schätzen. Er trifft eigentlich immer das Richtige! Diese Stimmigkeit und Treffsicherheit und dazu noch Natürlichkeit zu erreichen - das muss man auch erst einmal können! :)


    Ich finde nach wie vor, dass Pollinis herausragende Aufnahme in Sachen Debussy die Etüden sind! Da hat er wirklich Maßstäbe gesetzt. Das ist jedenfalls meine eindeutige Referenz!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich auch, lieber Christian! Das sieht so ähnlich aus wie einst Ashkenazys Projekt einer chronologischen Einspielung. Das wurde aber nur auf LP realisiert, später auf CD dann aus kommerziellen Gründen wieder auseinandergepflückt. :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ein Denkmal, sein Schatten und sein Aufbegehren




    Maurizio Pollini mit Beethovens letzten drei Klaviersonaten in der Kölner Philharmonie am 22. Januar 2019


    Allein mit der Wahl des Programms – Beethovens Sonaten op 109, 110 und 111 – setzt sich Pollini der Auseinandersetzung mit dem eigenen Denkmal aus – seiner ersten Beethoven-Aufnahme der späten Beethoven-Sonaten von 1975-1977, die so etwas wie einen Legendenstatus besitzt. Ich habe mir deshalb heute Morgen die Sonate op. 109 zuhause angehört – sie nahm Pollini damals als erste der Beethoven-Sonaten auf, im Juni 1975 im Münchener Herkules-Saal. Wenn man das hört, dann wird man immer noch von dem pianistischen und interpretatorischen Wunder eingenommen, das Pollini damals vollbrachte. Ihm gelingt einfach eine ideale Synthese des so widersprüchlichen Charakters Beethoven, der gerade in seinen Spätwerken deutlich wird. Da ist das Bemühen um Klassizität und klassische Ausgewogenheit, aber zugleich der Trotz und Zorn als ausgelebte Subjektivität, das Aufbegehren eines revolutionären Geistes, der seine unbändigen Kräfte entfaltet. Das wiederum kontrastiert mit der zartfühlenden Innerlichkeit des Liedthemas, das die Pforten zur Romantik öffnet. Pollini schafft es einzigartiger Weise, alle diese Seiten zu vereinigen, Beethoven also nicht klassizistisch oder romantisierend zu idealisieren, aber auch nicht ins Teutonisch-Grobschlächtige abzugleiten oder Beethoven neusachlich unterkühlt zu präsentieren. Dazu kommt Pollinis wahrlich olympisches pianistisches Niveau damals – eine Aufnahme für die Ewigkeit. Ich schreibe das mit einer gewissen Wehmut – eine Sentimentalität, die ich mir einfach mal erlaube, weil Pollini einer der Pianisten ist, die ich immer am meisten bewundert habe bis heute und der mich auch geprägt hat. Zuletzt erlebte ich Pollini im Konzert im März 2009 – also vor fast genau 10 Jahren – in derselben Kölner Philharmonie mit Stockhausen, Schönberg und Schumann. Pollini war da im Vollbesitz aller seiner – gerade auch der physischen – Kräfte. Und gestern?


    Die Treppe herunter kam ein doch sichtlich gealterter 77jähriger Maurizio Pollini, der sehr gebrechlich wirkte. Und was sich dann am Flügel ereignete bei den Sonaten op. 109 und op. 110, war eigentlich ein Trauerspiel. Pollini wirkte fahrig, unkonzentriert, sein Spiel war konturlos und unpräzise mit reichlicher Verwendung des Pedals. Wobei mich die vielen Spielfehler gar nicht einmal stören. Aber Pollini schaffte es keinen Moment, sich selber auf die Musik zu konzentrieren und vermittelte so auch keine musikalische Intensität. Im Klappentext zur CD schreibt der Kritiker Klaus Bennert von der „minutiöse(n) Darstellung von Binnenspannungen und dicht verwobenen strukturalen Zusammenhängen“. In der Aufnahme von 1975 versteht es Pollini bei op. 109, den Gegensatz von Melodie und Bass was die Stimmführung angeht ungemein klar und zwingend herauszuarbeiten und die vorwärts tragenden rhythmischen Strukturen deutlich werden zu lassen. Sehr gut formulierte mein sehr kompetenter Begleiter, was die Schwierigkeit besonders zu Beginn von op. 109 ist, die figurative Beiläufigkeit, die nur scheinbar eine solche ist, nicht als solche erscheinen zu lassen. Man braucht als Interpret von der ersten Sekunde an volle Konzentration. Pollini aber stürzte sich hastig in die Sonate, kaum dass er auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Entsprechend blieb das scheinbar Beiläufige beiläufig. Der konturlose Bass und alle rhythmischen Elemente mit ihm ertranken im Pedalschwall und damit auch die „strukturalen Zusammenhänge“. Fast hatte Pollinis Spiel etwas von dirty play. Man muss es leider sagen: Pollini wirkte nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Das Kölner Publikum mag Pollini offenbar, es spendete herzlichen Beifall. War das nun Mitleid, Aufmunterung? Dann kam die Pause. Man entdeckte beim Herausgehen aus dem Saal ein vor der Tür aufgebautet Pult, wo eine Signierstunde nach dem Konzert angekündigt wurde.


    Nicht wenige Konzertbesucher werden wohl große Befürchtungen gehabt haben, was die zweite Hälfte des Konzerts mit op. 111 angeht. Doch was für eine Verwandlung! Schon mit dem ersten Akkord war ein ganz anderer Pollini zu hören, einer, der sich einen Ruck gab, sich merklich zusammenriss. Da war plötzlich die Energie des Aufbäumens da, die Musik entfaltete einen unwiderstehlichen Sog, wie man es von Pollini in seinen besten Darbietungen kennt. (Das Programmende war für 21.35 Uhr angekündigt, er war 21.27 Uhr zuende!) Es ereignete sich der Glücksmoment, dass die Tragik des Vortrags Beethovens letzter Klaviersonate tragische Züge verlieh. Die „Arietta“ komponiert eigentlich mit einer Variationskette, die sich in einen Triller auflöst, das Auflösen von Musik in die elysischen Gefilde reinen Klanges. Bei Pollini stemmte sich das musikalische Subjekt energisch gegen solche Auflösungsprozesse mit dem Versuch einer Sammlung und Steigerung von Kräften. Was Pollini hier so wunderbar gelang – vielleicht war es deshalb so berührend, weil sich der Musiker hier mit Beethoven identifizierte? Das Alter als der Versuch und die Notwendigkeit, nicht vor den schwindenden Kräften zu kapitulieren, sondern alle Kräfte aufzubieten, um zu zeigen: „Ich bin noch nicht am Ende angekommen, sondern stehe noch im Leben mit Saft und Kraft!“ Eine Machtdemontration unbändigen Lebenswillens. Dabei zeigte Pollini die großen Qualitäten seines Spiels, die man von ihm aus den letzten Jahrzehnten kennt, den schönen großen, vollen und runden Ton, die Farbkontraste von hell und dunkel, die er sehr geschickt dramaturgisch zu nutzen verstand. Hier konnte er das bestätigen, was Klaus Bennert über die Studioaufnahme schreibt, dass Pollini hier „die ideale Verbindung von tragödienhafter Heftigkeit und klassischer Harmonie der Proportionen“ gelinge. Die haarsträubend schweren Trillerkennten bewältigte er ungemein souverän und klangschön! Klaviertechnik ist letztlich eine Sache des Kopfes!


    Das Publikum erhob sich nach dem Verklingen der Arietta von den Sitzen und spendierte enthusiastischen Applaus. Das war ein Sieg des Geistes über die Gebrechen des Körperlichen! Pollini spielte als Zugaben zwei Bagatellen von Beethoven – wunderschön! Danach ging er völlig entkräftet von der Bühne, nachdem er sich allseitig für den Applaus bedankt hatte und so schwer es ihm auch fiel mehrmals die Treppen zum Podium herauf- und heruntergestiegen war. Das Schild am Ausgang für die angekündigte Signierstunde war entfernt. Ich sagte zu meinem Begleiter: Hätte er doch im ersten Teil die Bagatellen von Beethoven gespielt und die Schönberg-Stücke (die er ursprünglich mit der Hammerklaviersonate im September vortragen wollte, wo er das Konzert abgesagt und verschoben hatte) und dann nach der Pause op. 111 als Höhepunkt! Pollini ist ja ein ungemein sympathisch-bescheidener Mensch. Vielleicht hat er aber doch den Ehrgeiz – noch – nicht verloren, die Titanenprogramme von früher auch heute stemmen zu wollen, um es sich und dem Publikum zu beweisen. Vielleicht sollte er davon, was verständlicherweise schwierig ist, Abstand nehmen. Die Natur hat ihn offenbar nicht so gesegnet, dass er seine titanischen Kräfte von einst im hohen Alter konservieren kann. Beweisen muss er wirklich Niemandem etwas! Es wäre zu wünschen, dass er dies doch vielleicht aus der Erfahrung solcher Konzerte realisiert und uns so auf dem Konzertpodium weiterhin musikalische Glücksmomente präsentieren kann. :) :) :)


    P.S. Die Suchmaschine ist auch mit der neuen Software eine Katastrophe - ich finde den Thread "Gestern im Konzert..." nicht, um diesen Bericht auch dort einzustellen!


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    vielen Dank für deinen sehr eindrucksvollen Bericht. Du findest den Thread "Gestern im Konzert" sehr leicht, wenn du auf der ersten Forenseite runderscrollst bis zu:

    Spezialforen---Nebenthemen---Gestern im Konzert!

    Nach dem, was du erlebt hast, hätte er die Hammerklaviersonate, die er ursprünglich spielen wollte, keineswegs gestemmt.

    Aber bewundernswert ist, dass er die nicht minderschwere, wenn auch nur gut halb so lange op. 111 so

    bravourös gemeistert hat.


    Liebe Grüße aus Mysore/Südindien


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Nach dem, was du erlebt hast, hätte er die Hammerklaviersonate, die er ursprünglich spielen wollte, keineswegs gestemmt.


    Ganz genau, lieber Willi! Das war eine kluge Entscheidung, denn von seiner physischen Konstitution her ist er dazu derzeit leider wohl nicht in der Lage dazu. Mein Lehrer, der ja Konzertpianist ist und mal einen Beethoven-Zyklus in Düsseldorf spielte, sagte zu Pollinis Programm (er war nicht in Köln): "Ich spiele nie mehr als eine Beethoven-Sonate an einem Abend!" Es ist einfach so, gerade die späten Sonaten sind so gewichtig, dass sie "in der Reihe" vorgetragen kaum zu bewältigen sind. Ich höre in der Regel auch nie zwei Beethoven-Sonaten hintereinander von der CD. Das ist mir einfach zuviel. Die op. 111 mit Pollini habe ich mir für heute Abend vorgenommen, nach op. 109 heute Morgen.


    vielen Dank für deinen sehr eindrucksvollen Bericht. Du findest den Thread "Gestern im Konzert" sehr leicht, wenn du auf der ersten Forenseite runderscrollst bis zu:

    Spezialforen---Nebenthemen---Gestern im Konzert!

    Klar, warum ich das so versteckt nicht finde. Das ist doch kein Nebenthema und sollte eigentlich woanders platziert werden!


    Ich hoffe, es geht Dir in Indien gut und Du hast eine erlebnisreiche Reise! :)


    Liebe Grüße

    Holger

  • Gerade habe ich nochmals "nachgehört". Pollinis alte Aufnahme von op. 111 ist viel näher an seinem Lehrer Arturo Benedetti Michelangeli, vor allem was die Arietta angeht. Im ersten Satz betont er weniger die Kontinuität als die Kontraste der verschiedenen Abschnitte (so spielt er die Fuge in der Durchführung nicht drängend, sondern mit einer Bachschen Ruhe). In der Arietta kostet er die besinnlich-schönen Momente eher episch aus, um dann die Steigerungen intensiver herauszuarbeiten. In Köln hatte dieser Satz einen unerbittlichen Drang, zum Ende zu kommen (mit Hegel eine Art unerbittliches Fortschreiten zum Ende, das kein episches Verweilen duldet), das war sehr viel "subjektiver", expressiver. Hier würde ich mir wünschen, dass er op. 111 tatsächlich noch einmal aufnimmt. Denn das ist eine völlig gewandelte Sicht. Was bei Chopin geht - die Wiederaufnahme - warum nicht auch bei Beethoven?


    Vergessen habe ich zu erwähnten, dass Pollini Glenn Gould schon fast übertreffend sein Spiel singend begleitete. Ich hatte einen wunderbaren Platz weit vorne und konnte das gut hören und auch sehen, wie er im Gesicht mitlitt mit der Musik.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    leider ging es mir in den letzten drei Tagen nicht so gut einschließlich heute. Doch es wird langsam. Gestern

    konnte ich das Programm in Mysore (Bundesstaat Karnataka im Südwesten Indiens) nicht mitmachen, lag bis fast 15.00 Uhr im Bett. Heute sind wir nach 6 Stunden Busfahrt mir Zwischenstops in den "The Woods Resorts" in Wayanad (Bundesstaat Kerala im Süden Indiens) angekommen, einer bezaubernden Anlage aus Einzelhäusern, mitten im urwaldähnlichen Gelände. Auf der Fahrt dahin haben wir an drei Stellen Elefanten gesichtet.

    Ich hoffe, dass die Waldluft mir gut bekommt, in Delhi in Nordindien hatten wir an einem Tag den 43 mal schlechteren Luftqualitätsindex als bei uns in Coesfeld (387:9).

    Morgen besuchen wir nach dem Frühstück das Kuruva Dweep 0der Kuruva Island, ein geschütztes Flussdelta mit eine paradiesischen Flora und Fauna und jeder Menge gesunder Luft.

    Per Mail schicke ich die später ein Foto, auf das ich beonders stolz bin.


    Liebe Grüße


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Nach dem, was du geschrieben hast, lieber Holger, wäre eine Aufnahme natürlich sehr wünschenswert und hochinteressant. Danke für diesen außerordentlich lesenswerten Konzertbericht. Ich weiß nicht, wie es dir geht: Dieses "Scheitern" vor der Pause steht jetzt in einem so bewundernswürdigen Gesamtkontext, dass ich erneut denke, wie eng und fast schon notwendig es in der Kunst mit dem "Erfolg" zusammenhängt. Was sind das für Ansprüche, denen die Künstler auf der Bühne ausgesetzt sind - und sie sind nur zu erfüllen, wenn jedes Mal aufs Neue der feste Boden vermeintlich erarbeiteter Gewissheiten verlassen wird und die Kraft dafür überhaupt auch erstmal vorhanden ist. Das, was du über den ersten UND zweiten Teil schreibst, lässt mich vor Pollini auf die Knie gehen.

  • Lieber Willi, ich wünsche Dir, dass Du Dein Indien-Reiseabenteuer in vollen Zügen genießen kannst und Dir das Klima nicht zu sehr zu schaffen macht!

    Nach dem, was du geschrieben hast, lieber Holger, wäre eine Aufnahme natürlich sehr wünschenswert und hochinteressant. Danke für diesen außerordentlich lesenswerten Konzertbericht. Ich weiß nicht, wie es dir geht: Dieses "Scheitern" vor der Pause steht jetzt in einem so bewundernswürdigen Gesamtkontext, dass ich erneut denke, wie eng und fast schon notwendig es in der Kunst mit dem "Erfolg" zusammenhängt. Was sind das für Ansprüche, denen die Künstler auf der Bühne ausgesetzt sind - und sie sind nur zu erfüllen, wenn jedes Mal aufs Neue der feste Boden vermeintlich erarbeiteter Gewissheiten verlassen wird und die Kraft dafür überhaupt auch erstmal vorhanden ist. Das, was du über den ersten UND zweiten Teil schreibst, lässt mich vor Pollini auf die Knie gehen.

    Der erste Teil des Konzertes hat mich schon traurig gestimmt, lieber Leiermann, aber der zweite um so erhebender! Und alle Achtung auch vor dem Publikum! Es gab keinen einzigen "Buh"-Ruf, d.h. man hat ihn aufzubauen versucht. Das war Respekt vor der Würde des Alters - und das finde ich vorbildlich weil überhaupt nicht selbstverständlich in unserer heutigen Gesellschaft der Altersdiskriminierung.


    Liebe Grüße

    Holger

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  • Maurizio Pollini: Frédéric Chopin: Klavierwerke - op. 55-58


    Nocturnes Nr. 15 & 16 (op. 55 Nr. 1 & 2); Mazurken Nr. 33-35 (op. 56 Nr. 1-3); Berceuse op. 57; Klaviersonate h-moll op. 58

    Aufnahme: DGG München, Herkulessaal, März u. Mai 2018.


    Der Mut zum Desintegralen


    Zu betonen, dass Kunst und Leben eine Einheit sind, gehört zum Weltbild der Romantik. Diese Einheit braucht nicht zur Verwebung von Kunstschaffen und Künstlerproblematik zu gehen, dem Auftrumpfen künstlerischer Subjektivität im Sinne selbstbewusster Selbstdarstellung das Künstlers im Kunstwerk, wie das etwa noch bei Thomas Mann der Fall ist. Der Pianist verschreibt sein Leben seinem Instrument fast wie eine Verpfändung, welches eben mehr ist als nur ein instrumentum, ein bloßes Mittel und Werkzeug, ein Werk zu interpretieren und eine künstlerische Idee zu verwirklichen. Denkt man so, dann hat man die Dimension der Leiblichkeit vergessen: Man muss sich den großen Konzertfügel als technisches Monstrum „unterwerfen“, hat einst Emil Gilels dem Sinne nach gesagt. Diese Unterwürfigkeit des Instruments, dem Willen des Künstlers zu dienen, sie schwindet allerdings zunehmend in dem Prozess, der zum Leben unausweichlich gehört: dem Altern. Das Altern ist eine Erfahrung des Versagens. Wir neigen nun dazu, das Gebrechen des Alters entweder mit einer Mischung aus Bedauern und Mitleid als Verfall zu sehen oder aber ins Erhabene zu verklären, indem wir den Verfall des Körperlichen und der physischen Potenz konstatieren, um damit zugleich den Sieg des Geistes über das leibliche Gebrechen zu feiern. Es ist aber sehr fraglich, ob dies der hohen Kunst des Klavierspiels als ein Altersphänomen wirklich gerecht wird. Alter ist nicht nur geistige Reife, es ist eine Frage des Altersstils. Was die Romantik als Programm aussprach, die Einmischung des Künstlers in seine Kunst, vollzieht sich hier zwangsläufig mit der Erfahrung des Versagens künstlerischer Selbstbeherrschung im zunehmenden Verlust der Erreichung des Ideals der absoluten Beherrschung des Instruments. Das Alter, es ist ein Prozess des Schwindens von Lebenskräften. Eine Kunst wie das Klavierspiel, die von der Kraft der „Unterwerfung“ des Mechanischen durch den Leib geprägt ist, sie wird im Falle der schwindenden Kräfte des Alterns zur Darstellung eben nicht nur von Kunst, sondern auch des Künstlers, der letztlich einen Sieg über sich selbst erringen muss. Dazu gehört nicht nur der physische und geistige Kraftakt, die Kraft der Bewältigung des Mechanischen und Technischen, sondern all dies in eine Ausdrucksqualität und künstlerische Aussage umzumünzen. Der Altersstil, er wird damit „subjektiver“, auch „emotionaler“ im Sinne der Verschmelzung emotionalen Selbsterlebens mit dem „intentionalen“ Erleben der Ausdrucksqualität eines Kunstwerks. Die Dichotomie des Subjektiven und Objektiven, sie schwindet im Alter, wird zur Indifferenz eines Erlebens der Selbstfindung in der Identifikation hier des Klavier-„Spielers“ mit dem, was er spielt und vorträgt. Genau das – wo es gelingt – macht die Größe eines Altersstils aus. Dieses Wunder gelang Pollini zum Abschluss seines Kölner Konzerts mit Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 – und genau dieses kann man nun auch in dieser seiner letzten Chopin-Aufnahme eindrucksvoll erleben. Pollini zeigt, dass er nicht nur zu einem Altersstil, sondern sich selbst darin gefunden hat. Davon zeugt nicht zuletzt auch seine innere Gelöstheit – befreit von allen Zwängen, seinen vielen Bewunderen irgend etwas „beweisen“ zu müssen, singt er wie einst Glenn Gould das Klavierspiel begleitend mit.


    Vielleicht ist es ein Glück, dass Pollinis Ansatz, Chopins Musik in seiner lebensgeschichtlichen Bedeutung aufzuzeigen und deshalb chronologisch nach den Opuszahlen (op. 55-58) zu präsentieren, die große Sonate h-moll am Schluss präsentiert. Die Klaviersonate als „großes“ Klavierstück fordert den integralen Blick und vom Interpreten ensprechend eine Konzentration und Sammlung, welche eine fast schon heroische Selbstüberwindung jeglichen physischen und auch psychischen Gebrechens fordert. Der Altersstil bewegt sich auf dem schmalen Grad von Gelingen und Misslingen, denn dass das Gebrechen des Alters nicht zum Versagen im nur privativen Sinne führt, ist letztlich von der nicht nur rein geistigen, sondern eben auch physisch-leiblichen Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle abhängig, die gerade im Konzert nicht immer gelingen kann. Da bedarf es des glücklichen Moments. Genau das offenbarte im Kölner Konzert Pollinis Eröffnung mit Beethovens Klaviersonate op. 109 – der integrale Blick, er war natürlich da, aber die ihn stützende Fähigkeit zur physisch-geistigen Sammlung gerade in der Synthese des Mannigfaltigen zu einem großen Ganzen, sie versagte eben. Anders ist es bei den kleinen Klavierstücken. Sie sind Musik, die aus dem Ephemeren lebt im Sinne eines Stimmungsbildes. Gerade hier wird der Altersstil zum Positiven, das Versagen zur Möglichkeit, zum Mut zum Desintegralen, die „kleine“ Form eben nicht als „kleine große“ Form zu präsentieren, eine integrale Einheit en miniature, die sich damit den Unwägbarkeiten des Aufführungs-Moments entziehen könnte.


    Genau das berührt so an Pollinis Vortrag der Nocturnes, der Mazurken und der Berceuse auf dieser CD: Sie werden präsentiert als Moment-Aufnahmen von Musik. Der Interpret befreit sich hier vom Zwang interpretatorischer Objektivierung, die ephemeren Aufführungsmodalitäten in Gestalt seiner unwiederholbar-einmaligen Stimmungsschwankungen schlechterdings zu transzendieren, um zu einer von allen Zufälligkeiten subjektiver Befindlichkeit des Moments befreiten, möglichst reinen „Darstellung“ einer aufführungstranszendenten Werkintegrität zu gelangen. Andererseits bedeutet das aber keineswegws eine hemmungslose Subjektivierung des Vortrags. Denn Pollinis Verantwortungsgefühl gegenüber den Werken lässt es auch nicht zu, die Musik, welche er uns als Hörern präsentiert, einfach dem Ephemeren seiner momentanen Stimmungslage auszuliefern. Vielmehr wird das Subjektiv-Zufällige, das er nun nicht mehr verbannt, zugleich überwunden durch seinen überragenden integrierenden Blick: Pollinis Altersstil, er präsentiert sich damit bei den „kleinen Formen“ nicht heroisch in der die Anstrengung einer Selbstüberwindung wie bei der großen Sonate, sondern gelassen in einer Kontingenzbewältigung der Unwiederholbarkeit eines momentanen, emotionalen Einfalls.


    Bezeichnend entfernt sich Pollini bei den beiden Nocturne op. 55 deutlich von seiner interpretatorischen Großtat der Studioaufnahme aller Nocturnes vom Juni 2005. Statt die Nocturnes wie zumeist als statische Stimmungsbilder misszuverstehen, als Apotheosen selbstzufriedener Klangseligkeit biedermeierlicher Häuslichkeit, die sich von allem dramatischen Weltentrubel ins Private der Empfindsamkeit einer schönen Seele geflüchtet haben, stellt er sie dort gleich und gleichberechtigt neben die Balladen und Scherzi, präsentiert sie dynamisch packend als kleine große Musikdramen. Pollinis integraler Vortragsstil von damals weicht nun dem Mut zum Desintegralen, wirkt berührend labil. Da wird das Forte zum Plötzlichen eines Akkordschlags, quasi novellistisch zum „Einschlag“ und Durchbruch, welcher wie der Steinwurf auf der glatten Oberfläche eines Sees seine Kreise zieht: interpretatorisches Kalkül wird zur Kalkulation des Unberechenbaren. Bezeichnend ist Pollinis Ton durchgehend laut statt dahinschmachtend leise. Pollinis Alterstil will sagen: Chopins Nocurnes sind keine Romantik todesverfallenen Dahindämmerns in flüchtigen Klangvisionen. Vielmehr offenbart sich in ihnen ungebrochene Kraft in der Selbstbehauptung gegenüber dem Gebrechen: Das Subjekt gibt sich dem Nocturne-Schönklang nicht einfach schwelgerisch hin, vielmehr lauert in ihm der Aufruhr eines drängenden Gestes des Nicht-nachgeben-wollens. So wird die finale Dur-Lösung im Nocturne op. 55 Nr. 1 zur Scheinlösung, zum Trotz einer Befreiung, die eigentlich keine ist als Ausdruck der Unmöglichkeit, sich vom Zwang der Selbstbehauptung zu lösen angesichts der Versagens der Kräfte.


    Chopins Mazurken sind keine naiven Tanzstücke, sondern subjektive Selbstbekenntnisse, Ausdruck des Rückzugs des totkranken Komponisten von der Außen- in die Innenwelt. Maurizio Pollini versteht es denn auch, diesen musikalischen Kostbarkeiten die tragische Lebendigkeit von Tanz-Visionen einer verdichteten Erinnerung zu geben. Bei Pollini sind diese Erinnerungsbilder jedoch nicht durchgehend melancholisch. Er weigert sich gleichsam, ihnen mit dem Ausdruck von Gebrochenheit und romantischer Todesverfallenheit Bedeutungsschwere zu geben und betont statt dessen ihre Ambivalenz von Melancholie und immer wieder aufflackerndem Lebenswillen. Chopins Tanz-Melancholie, sie ist bei Pollini zwar spürbar, jedoch so gar nicht wehleidig, also keine Selbstpreisgabe eines Subjekts, dass sich gefangen in seiner melancholischen Gestimmtheit an dieser weiden würde. Nein, bei Pollini meldet sich in Chopins Mazurken ein „ich will leben“, ein der Sentimentalität trotzender ungebrochener Wille zum Leben. Man kann die Mazurka op. 56 Nr. 3 in die Nähe von spätromantischem Scriabin rücken. Doch Pollini meidet hier spätromantische Dekadenz, ohne jedoch Überfeinerung mit Grobheit zu vertauschen. Eine Meisterleistung interpretatorischer Balance!


    Rausch und Verführung sind auch nicht das, was Pollinis Interpretation von Chopins musikalischem Kleinod, der „Berceuse“, hervorhebt. Den Berceuse-Rhythmus meißelt Pollini mit einer geradezu mathematischen Abstraktheit heraus. Genau damit wird er zum Ausdrucksträger, zum Symbol eines Festgebanntseins im Augenblick, zur Penetranz eines Auf-der-Stelle-treten-müssens, indem sich wenn auch leise so etwas wie die „Wut über den verlorenen Groschen“ im nur allzu Schönen meldet – hier diejenige über die verlorene Sukzession und ihre Teleologie, eine sich dem musikalischen Subjekt versagende Bewegung und Veränderung, die vom Bann der Fesselung an die Gegenwart lösen und eine Zukunft befreiend eröffnen würde. Absolut großartig! Den Schluss bildet Chopins so rätselhaft sonnige Klaviersonate h-moll op. 58 – ein Traum von Unbeschwertheit angesichts der Schwere des Lebens. Es zeugt von Pollinis lebenslanger Auseinandersetzung mit Chopin und der daraus erwachsenen Klugheit, hier, bei der großen Form, sich selber treu zu bleiben und an seine nun schon dreienhalb Jahrzehnte zurückliegende Studioaufnahme anzuknüpfen. Schon damals vermied Pollini jegliche Ästhetisierung, die Sonate im Wechsel eines Schwelgens im Wohlklang und virtuoser Brillanz vozuführen, gestaltete sie zwar schön singend, aber kraftvoll vorwärtsdrängend mit einem von geradezu explosiver Energie geladenen Finale. Heute ist aus dem verschwenderischen Umgang mit Kraft und Energie ein Stemmen geworden. Pollini beweist, dass er das „Stehvermögen“ seiner früheren Jahre noch hat, nur mit anderen Mitteln, der Sammlung von Kräften, wie sie zu seinem Altersstil gehört. Im Vergleich ist die Aufnahme aus früheren Tagen präziöser, makelloser. Doch gerade hier offenbart sich die Weisheit des Alters: Es wird kein Schein des Makellosen mehr erzeugt, der eine Autonomie des Artifizellen in apollinischer Schönheitstrunkenheit suggerierte, an deren Stelle nun die Treffsicherheit des Skizzenhaften tritt, die wesentlichen Züge zu erfassen. Chopins Sonate op. 58, sie präsentiert sich damit nicht mehr nur als Belcanto-Harmlosigkeit, zeigt vielmehr etwas von dem, was sie ist: ein ästhetischer Entwurf als apollinischer Gegen-Wurf von blendender Helle gegen das dionysische Dunkel von Leid und Tod.


    Pollinis denkwürdige Aufnahme, sie zeigt, worin ein Alterstsil und seine Würde bestehen kann, darin nämlich, der unaufhörlichen „Logik des Zerfalls“ des Alterns nicht zu verfallen, sondern statt dessen den Mut zum Desintegralen zu finden, künstlerische Integrität zu wahren in einer spontanen Synthese der Labilität. :) :) :)


    Schöne Grüße

    Holger

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    Ich hatte kürzlich das Glück, diese Bonus-CD geschenkt zu bekommen (die Preise bei Amazon sind ja abenteuerlich!!!) Darauf ist das 1. Chopin-Konzert in der Aufnahme vom Chopin-Wettbewerb 1960 und ein Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1974, wo er zusammen mit Herbert v. Karajan und den Wiener Philharmonikern das Schumann-Konzert spielt. Dazu kommen im Booklet viele private Fotos - mit seinen Eltern, mit seiner Frau und Sohn, mit Musikern wie Rubinstein, S. Richter, Rostropowitsch, Rudolf Serkin, Abbado, Ozawa...


    Das Schumann-Konzert ist eine Sternstunde! So klar, so leidenschaftlich, so kraftvoll (eine beeindruckende Kadenz) mit dem typischen Pollini-"Zug" und auch betörend schön in den lyrischen Teilen gespielt, dazu ungemein formbewusst. Dazu kommt ein ebenso fabelhafter Herbert v. Karajan. Eine perfekte Übereinstimmung von Solist und Dirigent/Orchester. So sprechend und so durchsichtig das Orchester bei Karajan klingt - vielleicht ist das wenn nicht die beste so eine der allerbesten Einspielungen des Schumann-Konzerts gerade vom Orchester her. Jedenfalls gefällt mir diese Pollini-Konzertaufnahme viel besser als seine Studioaufnahme mit Abbado. :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Da bin ich wirklich gespannt, Christian! Mit dem Programm habe ich ihn ja in Köln gehört. Op. 109 und 110 war ein Totalausfall, aber op. 111 überragend, wirklich ein Gewinn gegenüber der alten ersten seiner Studioaufnahmen mit Beethoven.


    Schöne Grüße

    Holger

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