Ich schreibe (fast) nur etwas zu "harten Fakten", also Aussagen und Beobachtungen, die sich am Notentext belegen lassen, und keine (subjektive) Interpretation der Musik. Wenn dies jemand tun will, ich würde es dennoch gerne lesen, für mich ist es aber zu spekulativ, dass ich mich da selbst heranwagen würde. (Zum Beispiel habe ich einmal die Interpretation gelesen, dass die drei Ebenen Holzbläser/Streicher/Bass die Dreifaltigkeit repräsentieren sollen/könnten.)
Klavierauszug und Partitur kann man sich auf IMSLP herunterladen. Es gibt auch eine Fassung der Johannespassion (zweite Aufführung 1725, die erste war 1724 und in der dritten von 1728 oder 1732 wurden die Änderungen rückgängig gemacht), wo der Eingangschor durch den Schlusschor des ersten Teils der Matthäuspassion "O Mensch, bewein dein Sünde groß" ersetzt ist (und mit einigen anderen Änderungen an Rezitativen und Arien, z.B. Ersetzung von "Erwäge").
Zunächst ein paar Äußerlichkeiten:
- Tonart: g-Moll (laut Wikipedia: "ernst, schwermütig, traurig, süß oder rührend" [de] und "has been considered the key through which Wolfgang Amadeus Mozart best expressed sadness and tragedy" [en])
- Form: ABA,
A = "Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm
In allen Landen herrlich ist!",
B = "Zeig uns durch deine Passion,
Dass du, der wahre Gottessohn,
Zu aller Zeit,
Auch in der größten Niedrigkeit,
Verherrlicht worden bist!"
Der Text von einem unbekannten Textdichter ist nicht aus der Brockespassion, von der viele Arientexte der Johannespassion stammen, und auch nicht aus der Bibel oder von einem Choral.
- Besetzung: Traversflöte I/II, Oboe I/II, Violine I/II, Viola, Chor (SATB), Orgel, Continuo
Zum Orchester (von hoch zu tief):
- Die Holzbläser spielen Dissonanzen, die über dem ganzen Stück liegen. (Hier könnte man einiges mehr schreiben. Das muss ich noch genauer analysieren.)
- Die Violinen spielen die ganze Zeit 16-tel, Gruppen von einem Motiv aus (meist) vier Tönen mit Intervallen (meist) "große Sekund abwärts, große Sekund aufwärts, große Sekund/kleine Terz aufwärts". Das Motiv wird auf gleichen und verschiedenen Höhen, insgesamt langsam steigend wiederholt.
- Die Bratschen spielen 8-tel, Gruppen von einem Motiv aus vier Tönen, und das Motiv der Violinen.
- Der Bass hält sich meist auf einer Tonhöhe auf (wenig Bewegung). Außnahmen: Dort, wo der Chor B-T-A-S zum zweiten Mal im A-Teil mit "Herr, unser Herrscher" einsetzt, spielt der Bass die Melodie der Violinen, und dort, wo der Chor im B-Teil B-T-A-S "Zeig uns durch deine Passion, Dass du, der wahre Gottessohn" singt, ebenfalls. Die Bezifferung habe ich noch nicht angeschaut.
Zum Chor:
- Der dreifache Ruf "Herr, Herr, Herr" am Anfang ist homophon und syllabisch, die Noten im Sopran sind ein fallender c-Moll-Dreiklang (kommt nach g-Moll im Quintenzirkel, c-Moll ist die Subdominante), der Bass in Gegenbewegung aufwärts. Das erste "Herr" ist ein g-Moll-Akkord (Moll-Tonika), beim zweiten kommt ein Es-Dur-Akkord (die parallele Durtonart zur Subdominante c-Moll), dann ein halbverminderter fis-Moll-Septkkord (fis-Moll liegt im Quintenzirkel ziemlich weit von g-Moll entfernt; ein verminderter Septakkord kommt auch bei "Barrabam" in der Matthäuspassion vor).
- Das folgende "Herrscher" ist die 16-tel-Melodie der Violinen, insgesamt langsam aufsteigend.
- Der anschließende zweite, wieder homophone und syllabische "Herr, Herr, Herr"-Ruf fängt nun mit einem G-Dur-Akkord an (Varianttonart zu g-Moll), der zweite ist c-Moll (Moll-Subdominante), der dritte ein halbverminderter d-Moll-Septakkord (d-Moll ist die Moll-Dominante von g-Moll).
- Melismen auf "Herrscher", "herrlich", "Landen".
- Danach bei "Herr, unser Herrscher" setzen B-T-A-S wie in Engführung in einer Fuge nacheinander ein.
- Fermate am Ende des A-Teils, homophoner syllabischer g-Moll-Akkord "ist." (Bekräftigung)
- Danach der B-Teil "Zeig uns durch deine Passion, ..." wieder wie Engführung in einer Fuge B-T-A-S nacheinander einsetzend.
- Bei "Niedrigkeit" tiefe Töne und Dissonanzen, anschließend das jubelnd aufsteigende "verherrlicht" (musikalischer und affektiver Kontrast zu "Niedrigkeit"; so etwas findet man auch in Bachkantaten oder in der Arie "Es ist vollbracht", wo zwei gegensätzliche Affekte gegenübergestellt werden).
- Lange Melismen wieder bei "verherrlicht".
In meiner Analyse bin ich nicht groß auf die Harmonik (funktions- und stufentheoretische Analyse der Akkorde etc.) eingegangen. Dazu könnte man noch sehr viel mehr schreiben, auch eine Interpretation der Harmonien der "Herr, Herr, Herr"-Rufe, z.B. dass die halbverminderten Mollseptakkorde Schmerz und Leiden darstellen könnten, die Durakkorde dagegen den Sieg Jesu über den Tod. Das hole ich vielleicht in einem Anschlussposting nach, wenn ich mich etwas eingelesen habe.
Wem fällt noch mehr auf?
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich den Eingangschor der Johannespassion für eines der größten und schönsten Werke überhaupt halte.
Eine Aufnahme mit Harnoncourt und dem Tölzer Knabenchor von 1985 in Graz: