Best of Martha Argerich

  • Lieber Christian,


    Richter beim Prager Frühling verdrückt sich gleich mehrfach im natürlich beeindruckend rasanten Tempo. :D Annika Treutler nimmt es etwas gemäßigter, hält aber über die weite Distanz schön die Spannung durch. Ansonsten finde ich die Aufrnahme vor allem in den lyrischen Teilen ein bisschen glatt, soweit ich es gehört habe. Aber das gehört eigentlich in einen anderen Thread! Die Hitze hier unter dem Dach treibt einem die Schweißperlen auf die Stirn! Kein Tag zum intensiven Musikhören! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Daniel Barenboim mokierte sich einst über seine junge argentinische Pianistenkollegin Martha Argerich: „Dein Spiel ist wie ein Bild ohne Rahmen.“ Das erzählt die große und bei Musikerkollegen inzwischen geradezu verehrte Martha Argerich scherzend selbst. Hatte Barenboim etwa Recht? Das lässt sich anhand der Veröffentlichung ihrer Rundfunkaufnahmen von 1960 nun überprüfen. Die temperamentvolle junge Dame war damals gerade mal 18 Jahre alt und längst keine etablierte Pianistengröße – der Gewinn des Chopin-Wettbewerbs folgte erst 1965. Für die Argerich-Discographie ist diese Veröffentlichung insofern eine Fundgrube, als sie ein Repertoire beinhaltet, dass die Argerich vornehmlich auf Wettbewerben in dieser Zeit spielte, später aber nicht mehr darauf zurückgriff. Dazu gehört vor allem die Mozart-Sonate Nr. 18 KV 576 und Beethovens Sonate Nr. 7 op. 10 Nr. 3. Hier muss man nun sagen, dass das Spiel der Schülerin von Friedrich Gulda einen klassischen Rahmen sehr wohl besaß. Ihr Vortrag der Mozart-Sonate KV 576 ist einfach beglückend: Mit einer Virtuosität, welche alles „Technische“ vergessen macht, trägt sie Mozart mit einnehmender, unverkrampfter Natürlichkeit vor, leicht, aber niemals oberflächlich, intuitiv treffsicher, spielerisch und empfindsam. Besser kann man Mozarts Musik einfach nicht präsentieren. Auch die Beethoven-Sonate beeindruckt. Wenn sie sich auch nicht auf die Vorführung des „Syntaktischen“ fixiert, so wird es jedoch intuitiv-nachfühlend gleichsam unauffällig realisiert. Einzig gegen das Scherzo könnte man Einwände formulieren, was aber dem beglückenden Gesamteindruck auch hier letztlich keinen Abbruch tut.


    Bei Prokofieff und Ravel hat man den Vergleich zu ihren späteren Aufnahmen im Studio sowie im Konzert. Festzustellen ist bei Gaspard de la nuit, dass sie für die spätere Einspielung der DGG doch fleißig geübt hat. Die Tremoli in Ondine haben noch nicht diese atemberaubende Gleichmäßigkeit wie später. Auch klingt der Ravel hier eher wie ein später Liszt, Le Gibet ist eindeutig zu flott im Tempo und reicht nicht an die staunenswerte Qualität der DGG-Aufnahme mit ihren schier unendlichen impressionistischen Valeurs heran. Scarbo ist schnell, aber eher vitalistisch temperamentvoll als böse-dämonisch auftretend wie im denkwürdigen Amsterdamer Konzert. Ravels Sonatine entpuppt sich pianistisch als weit schwieriger auszuführen, als sie sich anhört. Der Klaviersatz ist einfach teuflisch vertrackt, der Pianist hat kaum Platz, die Finger zu verteilen, so dass sie sich frei bewegen können. Die Folge sind bei fast allen Aufnahmen hörbare Ungleichmäßigkeiten, die bei Ravels Meisterwerk, filigranstem musikalischen Porzellan, um so peinlicher auffallen. Niemand spielt den so heikel-schwierigen ersten Satz so atemberaubend gleichmäßig wie die Argerich. Die DGG-Studioaufnahme, von der sie scherzte, sie spiele dort – weil schwanger – Gaspard de la nuit eher wie eine Hausfrau, besticht durch ihre ideale Ausgewogenheit. Ein klaviertechnisches wie auch interpretatorisches Meisterstück der Argerich ist da gerade die Sonatine – eine Aufnahme „für die Ewigkeit“. 1960 allerdings bekommt Barenboim dann doch angesichts der klobig in die Tasten geknallten Coda des 2. Satzes Recht: Es fehlt an dieser Stelle der klassizistische Rahmen dieses impressionistischen Bildes.


    Genau diese klassizistische Rahmenlosigkeit beeinträchtigt schließlich auch den Vortrag von Prokofieffs klassischer Moderne. Ein explosives Naturereignis ist zweifellos der Precipitato-Schlusssatz der 7. Sonate. Da werden die Maschinenkräfte des 20 Jhd. in einer wahrlich beängstigenden Weise entfacht, Sinnbild einer Welt, die durch eine alle Maße sprengende, entfesselte Maschinentechnik total aus den Fugen gerät. So fürchterlich bedrohlich kann man dieses „Hämmern“ entmenschlichter rhythmischer Gewalt nur bei der Argerich erleben. Dagegen zerfällt das Sonatenallegro in lauter Episoden, wirkt aufgebläht wie ein exaltierter Scriabin. Man wird so unweigerlich an Horowitz´ bombastisch-kitschige Übertreibung vom großen Tor von Kiew aus Mussorgskys Bildern einer Ausstellung erinnert. Martha Argerich zeigt hier keinen Sinn für Prokofieffs Modernität, den klassischen Rahmen eben, Subjektivität in entsubjektivierter Fassung sowohl einer wohlausgewogenen klassischen Formarchitektur zu präsentieren als auch solcher ins Mechanische kippender Expressivität, diszipliniert gleichsam in einem durchlaufenden objektiven Geschehen unpersönlicher, Subjektivität schlechterdings negierender motorischer Bewegungsenergie. Und zum langsamen Satz könnte man sagen: Anklänge an Scriabins 9. Sonate gibt es bei Prokofieff in der Tat, eine dämonische Klimax, endend in einem makabren Trauermarsch, aber wiederum eben auch das Bemühen um klassische Formausgewogenheit, für das die junge Martha Argerich wie übrigens auch im reifen Alter in Amsterdam einfach kein Sensorium entwickelt. Dagegen liegt ihr die motorische 3. Sonate wie auch die Toccata, wobei man allerdings sagen muss: Ein Emil Gilels kann hier deutlich machen, dass auch Prokofieffs Toccata mehr als nur virtuoses Maschinengehämmer ist, nämlich eine klassische Form hat. Auf jeden Fall lohnende Mitschnitte, welche Einblicke in die musikalische Entwicklung dieser wirklich bewundernswerten Ausnahmepianistin gewährt, die uns hoffentlich noch lange auf dem Konzertpodium erhalten bleibt! :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger


  • Information für alle Argerich-"Fans":


    Dies ist das angekündigt letzte Argerich-Progetto in Lugano!!! Dort spielt sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder "Gaspard de la nuit" Solo (die romatischen Gedichte von Bertrand las ihre Tochter während der Aufführung) und es gibt als absolute Argerich-Premiere das Chorkonzert von Beethoven. Für mich ist das natürlich ein "Muss" für die Sammlung! Nach dem Anhören werde ich selbstverständlich berichten. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Derzeit tourt Martha Argerich mit Sergej Babayan durch die Lande und gestern trat das Duo in der sehr gut gefüllten Stuttgarter Liederhalle auf. Babayan (Jg. 1961) dürfte in Deutschland kaum bekannt sein, der armenische Pianist wanderte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach USA aus und gewann seinerzeit mehrere Klavierwettbewerbe (Cleveland International Piano Competition, Hamamatsu International Piano Competition und Scottish International Piano Competition). Sein Hauptwirkungsgebiet sind wohl USA, GB und Japan. Auf den im vorigen Beitrag gezeigten CDs aus Lugano 2016 ist er auch vertreten.


    Das Programm der beiden fokussierte sich auf Musik von Serge Prokofieff, die Babayan selbst für 2 Klavier bearbeitet hat. Der erste Teil des Abends bot einen 45-minütigen Auszug aus der Ballettmusik zu "Romeo und Julia". Prokofieff selbst hat m.W. einige davon für Klavier transkribiert, aber nur für ein Instrument. Mit zwei Instrumenten lässt sich natürlich eine Orchestermusik besser darstellen. Allerdings stellt sich bei solchen Transkriptionen immer die Frage, die Donald Vroon ungefähr so formulieren würde: "Why would anybody want to listen to a piano transcription of a wonderful orchestral score, if recordings of that orchestral version are plenty available?"


    Nun gut, die von Babayan angefertigte Version ist sicher brilliant und effektvoll, allerdings entgeht auch er nicht der Gefahr, die lauteren orchestralen Stellen (und davon gibt es einige) in ziemlich undifferenzierten Klavierdonner zu verwandeln. Deshalb empfand ich die lyrischeren Stellen auch als die wahren Schätze dieser Bearbeitung, bei denen die beiden Pianisten zu wunderbar zarten Klängen fanden.


    Die zweite Hälfte wurde mit der Mozart Sonate KV 488 eröffnet, die sich auch auf der Lugano-CD befindet. Wunderbar gelöstes Mozart-Spiel, im langsamen Satz hätte ich mir noch etwas mehr Ausdruck und ein etwas langsameres Tempo gewünscht. Danach ging es zurück zu Prokofieff, Bearbeitungen von diversen Stücken aus Bühnenmusiken, die ich alle nicht kannte, die aber abwechslungsreich und interessant waren, das letzte Stück klang fast nach einer Jazzimprovisation für 4 Hände. Hier saß Martha dann auch am vorderen Flügel und konnte sich nicht mehr hinter Babayan verstecken (die Flügel standen hintereinander in paralleler Ausrichtung). Als Zugabe wohl Rachmaninoff.


    Wenn Argerich kommt, ist das Publikum begeistert, egal, was geboten wird und so war es nach dieser Tour-de Force auch hier. Ein Abend, der bei mir und WoKa sicher noch einige Zeit nachklingen wird. Ich bin gespannt, ob die Prokofieff-Bearbeitungen auf CD herauskommen. Die an einem Stand angebotenen Lugano CDs fanden beim Herausgehen in meine Manteltasche.

  • Wenn Argerich kommt, ist das Publikum begeistert, egal, was geboten wird und so war es nach dieser Tour-de Force auch hier. Ein Abend, der bei mir und WoKa sicher noch einige Zeit nachklingen wird. Ich bin gespannt, ob die Prokofieff-Bearbeitungen auf CD herauskommen. Die an einem Stand angebotenen Lugano CDs fanden beim Herausgehen in meine Manteltasche.


    Man kann Dich einfach nicht allein lassen! :P
    Gruß
    Wolfgang

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

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  • Selten, dass Martha Argerich heute noch als Solistin in Erscheinung tritt. Aber „Gaspard de la nuit“ liegt ihr offenbar am Herzen. Nicht zuletzt deswegen habe ich diese CD-Box aus Lugano von 2016 – es wird die letzte sein – von ihr gekauft. Allerdings schätze ich sehr das Konzept, selten gehörte Werke und Kammermusik auf höchstem Niveau mit „Freunden“ vorzutragen. Auch deshalb sammle ich diese Live-Mitschnitte natürlich.


    Die Argerich sagte, dass sie niemals etwas „gleich“ spiele. Weil es im Leben – auch in dem des Künstlers mit seinen Interpretationen – letztlich keine Wiederholung gibt (Gustav Mahler sagte deshalb: „Wiederholung ist Lüge“), strebt sie eine „Reproduktion“ des von ihr selbst Erreichten, des höchsten Standards ihrer Studioaufnahme nämlich, auch gar nicht an. Genau deshalb ist dies ein beeindruckendes Zeugnis ihrer musikalischen Unmittelbarkeit. Martha Argerich spielt „intuitiv“, erarbeitet sich die Musik also nicht durch „Analyse“ vom Kopf her. Was sie dabei so einzigartig macht, ist ihre intuitive Treffsicherheit. Sie ist beileibe keine „Werktreue“-Fetischistin, für sie besteht Musik offenbar darin, das tote „Objektive“ des gedruckten Notentextes in den eigenen Lebensrhythmus zu übersetzen und dadurch zum Leben zu erwecken. Die alte Studioaufnahme bei der DGG – von der sie selber scherzhaft sagte, sie spiele das, weil damals schwanger, wie eine „Hausfrau“ – interpretiert Ravel klaviertechnisch mit allen Wassern gewaschen als Impressionisten. Das ist in sich vollendet. Hier, in dieser vierten Aufnahme vom „Gaspard“, die ich von ihr habe, rückt sie Ravel in die Nähe eines Expressionisten. Dabei gelingt ihr das Kunststück, ihren „undogmatischen“ Zugriff so überzeugend darzustellen, dass sich die Frage, ob das nun mehr Argerich-Ravel als Ravel ist, gar nicht erst stellt. Sie versteht intuitiv Ravels „Logik“ in diesem Werk, gibt ihr dabei aber sehr persönlich und undogmatisch-freizügig eine expressive Bedeutung, so dass man dieses „Mehr“ stets als einen Gewinn erfährt. So klingt Ravels „Gaspard“ eben nur – einzig und allein – in dieser Aufnahme. Man freut sich darüber, dieses Gipfelwerk mit einer solchen unverbrauchten Frische jenseits aller Routine, mit überlegener Argerich-Virtuosität wie eh und je, hören zu können. Dafür kann man sich als Hörer nur bei ihr bedanken. :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Martha Argerich und Maria João Pires sowie Nelson Goerner traten 2021 gemeinsam in einem Konzert beim Martha Argerich Festival zum 80. Geburtstag der Grand Old Lady in der Laeiszhalle in Hamburg auf.

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    Im Programm:

    Wolfgang Amadeus Mozart, Sonata for Piano Four Hands in C Major, K. 521

    Béla Bartók, Sonata for Two Pianos and Percussion, Sz. 110

    Dmitri Shostakovich, Sonata for Cello and Piano in D Minor, Op. 40


    Eine Video-Aufzeichnung gibt es hier (Anbieter: Akamai Technologies, Cambridge USA)

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo