Rauschhafte Interpretationen bachscher Klavierstücke

  • Hallo,


    wenn ich die Definition richtig verstanden habe, sind rauschhafte bachsche Klavierstücke diejenigen, welche 'molto allegro' oder 'Presto' mit ihren kontrapunktischen Strukturen und ihrer Terassendynamik ohne Zäsuren und Pausen 'laufen' und dadurch einen 'groove' oder 'swing' erzeugen. Der Begriff des 'flow ' ist gut gewählt und verdeutlicht ähnlich wie beim Blutfluss der Organe, dass es nicht zur Unterbrechung kommen sollte.


    Adäquate Beispiele wurden hier durchweg präsentiert. Für mich ergeben sich als erste Assoziationen das Finale aus dem Italienischen Konzert F-Dur BWV 971 und das Präludium aus der 2. Englischen Suite a-moll BWV 807.


    Ich werde heute mit dem Interpretationsvergleich zunächst mit dem 3. Satz aus BWV 971 beginnen.


    LG Siamak

  • Hallo,


    folgende Aufnahmen standen mir für das Finale von BWV 971 zur Verfügung:


    Zunächst sind die Zeiten für dieses Presto interessant:


    Da gibt es die sehr bis extrem raschen Darstellungen mit Weissenberg (2:55), Gould (3:05) und Gulda (3:16).
    Die 'normal' raschen sind Blechacz (3:32), Benedetti Michelangeli (3:33) und Perahia (3:33).
    Die 'gemütlicheren ' sind Tharaud (3:37), Brendel (3:39) und Schiff (3:41).


    Zum schnellsten: Alexis Weissenberg! Bei manchen Bachschen Piecen bringt Weissenbergs Raserei eine interpretatorische Bereicherung, aber hier geht der Charme und der groove völlig abhanden. Er tötet die Musik und es klingt tatsächlich wie eine Nähmaschine.


    Bei Gould und Gulda atmen die Stimmen und die Hände formulieren unabhängig voneinander trotz des hohen Tempos.


    Rafal Blechacz und Alexandre Tharaud versuchen ständig motivische Arbeit in beiden Händen. Leider kommt es hin und wieder zu geringsten Zäsuren im Ablauf und dadurch swingt es nicht. Wie m-müller schreibt, es kommt nicht zum Flow. Diejenigen, welche groove, Swing und flow erzeugen, sind IMO Gulda, Gould, Benedetti Michelangeli, Perahia, Brendel und Schiff.


    Andras Schiff schafft den flow trotz des langsamsten Tempos und bringt hier eine atemberaubende polyphon-kontrapunktische Darstellung mit vielen dynamischen und rhythmischen Finessen, für mich die tollste der Super-Einspielungen.


    LG Siamak

  • Lieber Siamak,


    ich hatte neben Schiff und Gould auch noch Dubravka Tomsic für BWV 971 vorgeschlagen (Beitrag 13). Schiff spielt sicherlich sehr gut, ich finde es allerdings ein bißchen zu langsam.
    Hör Dir doch mal die Tomsic an.


    Was heißt, die Aufnahmen standen Dir zur Verfügung? Besitzt Du all diese CDs?? Da müßte ich ja gleich in den Hochachtungsmodus wechseln!!


    Jedenfalls sehr schön, daß Du Dich hier beteiligst, ich hoffe auf viele fruchtbare Diskussionen.

  • Lieber m-mueller,


    ja, ich besitze diese CDs und habe den Inhalt zusätzlich auf dem Notebook und dem IPhone als ITunes transformiert.


    LG Siamak :)

  • Wirklich beeindruckend!


    Ich habe nicht mehr als 4 Interpretationen des Italienischen Konzertes.


    Dumme Frage: wieviele CDs hast Du insgesamt?

  • Dann haben wir andere Relationen - ich habe bei nur den 4 Einspielungen etwa 2000 CDs. Es drängen sich natürlich noch weitere blöde Fragen auf, die Du bitte ignorieren mögest, wenn sie Dir zu persönlich erscheinen: Hast Du noch weitere Schwerpunkte wie BWV 971? Sammelst Du sehr selektiv?


    Ich bin ein ziemlicher Allesfresser, Jazz, Pop, Rock, Blues machen bestimmt bald die Hälfte meiner Sammlung aus. Und die andere Hälfte ist im Wesentlichen Renaissance und Barock, Chor und Gitarre und Klaviermusik der Klassik.

  • Lieber m-mueller,


    ja, ich sammle selektiv. Bei IMO sehr substantiellen Werken wie z.B. Den Goldberg-Variationen habe ich viele Interpretationen, um das Werk auszuleuchten. Das Klavier nimmt eine zentrale Stelle ein. Ich habe auch einige Jazz-CDs. Bill Evans verehre ich sehr.


    LG Siamak

  • Der italienische Pianist Sergio Fiorentino (1928 - 1998) hat die Sonate BWV 1001 g-moll für Violine auf Klavier transkribiert und auch selbst eingespielt. Dabei ist insbesondere das Presto ziemlich rauschhaft, aber Ansätze gibt es auch bei der Fuga, die er in einem sehr schönen stabilen Tempo nimmt.


    , Fuga ab 4:05 min


    , Presto ab 2:49 min

  • Valentina Lisitsa hat auf youtube eine Einspielung der zweistimmigen Inventionen (also der Inventionen, die dreistimmigen werden ja "Sinfonien" genannt) vorgelegt, und sie spielt außerordentlich sportlich.


    In ihrem Begleitkommentar sagt sie:
    Bach wrote 2- and 3- part Inventions as a exercises for aspiring keyboard players to perfect one's technique and touch.
    Since any exercise is supposed to be difficult and push you to the limit,
    I did just that. This way they ain't any easier than some of Chopin Etudes.


    Also zurücklehnen und so einiges Rauschhafte genießen!


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  • Der italienische Pianist Sergio Fiorentino (1928 - 1998) hat die Sonate BWV 1001 g-moll für Violine auf Klavier transkribiert und auch selbst eingespielt. Dabei ist insbesondere das Presto ziemlich rauschhaft, aber Ansätze gibt es auch bei der Fuga, die er in einem sehr schönen stabilen Tempo nimmt.


    , Fuga ab 4:05 min


    , Presto ab 2:49 min

    Herzlichen Dank für dieses Video! Die Fuge gefällt mir sehr gut, schön klar durchhörbar. Erinnert etwas an Glenn Gould mit dem Staccatospiel.

  • Ich hatte gestern einen Tag, wo ich nur Schostakowitsch Quartette gehört habe. ich konnte nicht anders .... daher hatte mich nun der Titel dieses Threads interessiert. Nun scheint aber der Begriff Rausch durchaus dehnbar zu sein. Siamak hat in #91 eine Defintion gegeben, die die hier vorgeführten Stücke ganz gut beschreibt. Mir geht es übrigens beim WTK ähnlich, einmal angefangen, kann ich nicht mehr auffhören, bin gerade im zweiten Buch in der Interpretation von Gulda ... Aber das ist hier wahrscheinlich nur am Rande gemeint. Es muss also schneller zünden ....


    Zuerst einmal ist die Interpretation von Weissenberg des Bachschen Orgelstückes BWV543 Rauschhafte Interpretationen bachscher Klavierstücke wirklich wundervoll. Überhaupt ein Pianist, den ich erst vor kurzem kennengelernt habe, leider viel zu spät. Liszt ist natürlich ein genialer Orchestrator auf dem Klavier. Die französische Pianistin Lise de la Salle hat 2005 im Alter von 16 Jahren das Stück auch eingespielt und, wie ich finde, unvergleichlich. Etwas weniger Swing als bei Weissenberg, dafür etwas mehr Farbe ... Aber natürlich kein LSD-Rausch ;)



  • Der geniale Jean-Philippe Rameau hat in seinem kleinen Klavierwerk großartige Sachen hinterlassen. So das Stück Les Cyclopes aus den Pièces de Clavecin avec une méthode .. aus dem Jahre 1724. Ähnlich wie Scarlatti oben in K141 in seiner Toccata wendet auch Rameau das Übergreifen der Hände an. Auch nicht von Bach, vielleicht nicht mal nah dran ...


    Hier spielt sie Sokolov in seiner unnachahmlichen Art



    und hier spielt der junge Franzose Justin Taylor, mit in meinen Ohren deutlich mehr Flow :)


  • Es ist schon erstaunlich: "rauschhafte Interpretationen bachscher Klavierstücke" werden hier auf Instrumenten vorgestellt, welche Bach nicht gekannt hat: der moderne Flügel. Bekannt ist jedoch, dass Bach das Instrument vorgeschrieben hat: das 2-manualige Cembalo (Goldbergvariationen; Clavierübung II, also das italienische Konzert; die Partiten. Dazu zählen dann auch logischerweise die englischen Suiten mit ihren konzertanten Praeludien.

    Das Ergebnis dieser Interpretationen auf dem modernen Flügel ist hinlänglich bekannt: Fortissimo wird vermieden, Anschlagsvariationen ohne Ende, harmonische Härten werden schön kaschiert, uvam. All das ist auf einem Cembalo nicht möglich. Der Klang ist gleichbleibend scharf, harmonische Härten fallen deutlich in das Ohr, Anschlagsvariationen gibt es nicht.

    Eines der "rauschhaftesten" bachschen Klavierstücke ist die Gigue aus der 6. englischen Suite in d-moll (BWV 811). Sie ist wohl leider den "Coverwedlern" hier nicht bekannt.

    Beispiel auf modernem Flügel:

    Cembalobeispiel:

    Die harmonischen Härten sind teilweise brutal, auch selten bei Bach.

  • Ein Instrument,das Bach zur Hand hatte, war das Pedalcembalo. Ein solches Instrument spielt Isolde Ahlgrimm hier bei der Aufnahme des ersten Buches des Wohltemperierten Klaviers. Der Blühklang dieser späten hochentwicklten Cembalos ist ist mit einem modernen Flügel wohl kaum zu erreichen. Bei dieser insgesamt fabelhaften Einspielung empfehle ich die Präludien ab 4:44 und 8:55.



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Hallo Bachianer,

    ich habe mir deine beiden Beispiele eben angehört

    Du hast es gut beschrieben

    Und das ist genau der grund, warum ich die Cembalo Version nicht mag.

    ''Der Klang ist gleichbleibend scharf, harmonische Härten fallen deutlich in das Ohr''

    Zu schrill, zu "abgehackt". Nicht der Sound, den ich gerne höre.

  • Die Interpretation von Belder hat was. Hier kann man problemlos die Nähe der Bachschen Musik zu Ligeti erfahren. Was für eine Überraschung.


    Was für ein besonderes Stück diese Gigue ist, kann man auch an der Interpretation von Gould hören



    Ich würde vielleicht nicht den Begriff Rausch verwenden, aber das "Ding hat was" :). Hewitt spielt das für meine Begriffe etwas zu weich und klangbezogen, die toccatenhafte Rhythmik ist hier wichtig.


    Ich habe nach etwas weicher klingenden Cembalo-Aufnahmen gesucht. Einige klingen etwas weicher, verwischen mir aber die Polyphonie zu sehr. Gustav Leonhard hat 1984 in Haarlem die sechste englische Suite auf einem historischen restaurierrten Cembalo aufgenommen. Mir gefällt diese Einspielung sehr. Ab 18'00'' kann man die Gigue hören



    Mozart hat eine kleine Gigue geschrieben, die mich etwas an diese erinnert ....

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  • Bekannt ist jedoch, dass Bach das Instrument vorgeschrieben hat: das 2-manualige Cembalo (Goldbergvariationen; Clavierübung II, also das italienische Konzert; die Partiten. Dazu zählen dann auch logischerweise die englischen Suiten mit ihren konzertanten Praeludien.

    Du sagtest, Bach kannte den Flügel nicht.


    Es gilt die Vorschrift, bestimmte Stücke auf einem bestimmten Instrument zu spielen, sicherlich nur für bekannte Alternativen.


    Bach hätte ansonsten schon vorschreiben müssen, das, was immer auch sonst noch kommt, die Stücke NUR auf Cembalo aufzuführen sind - aber dann wäre er wohl kein vernünftiger Mann gewesen.


    Man kann also mit dem Verweis, Bach habe das Cembalo vorgeschrieben, eine Ausführung auf Flügel nicht delegitimieren.

  • Du sagtest, Bach kannte den Flügel nicht.

    Zumindest unseren heutigen nicht. Bei Marten 't Haart habe ich gefunden, dass ihm die aufkommenden Pianoforte wohl bekannt waren, er wohl auch welche vermittelt hat, sie für sein eigene Schaffen indes verworfen hat. Persönlich bin ich schon der Auffassung, dass das Cembalo einen spezifischen Klang hat, der diesen Werken sehr angemessen ist. Dass es fabelhafte Aufnahmen gibt, die auf einem modernen Konzertflügel eingespielt sind, steht völlig außer Frage; aber ist es nicht so, dass man Fingersätze schreiben muss, um diese Cembalowerke überhaupt auf einem Flügel abbilden zu können? So ohne weiteres scheinen die Werke nicht auf einen Flügel übertragbar zu sein, wie auch Zhu Xiao-Mei im Beiheft zu ihrer Aufnahme der Kunst der Fuge schreibt.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Persönlich bin ich schon der Auffassung, dass das Cembalo einen spezifischen Klang hat, der diesen Werken sehr angemessen ist.

    Du hast sicherlich recht, daß man die Strukturen der Stücke auf dem Cembalo gut durchhörbar darstellen kann, aber das kann man auf einem Flügel auch (über Fingersätze kann ich nichts sagen). Ich finde es bezeichnend, daß der größte Strukturalist der näheren Gegenwart, Glenn Gould, den Flügel gewählt hat.


    Mir persönlich gefällt der Cembalo-Klang nicht, zu hart, zu unmoduliert. Als Basso Continuo natürlich bestens verwendbar.

  • Die alte Diskussion mal wieder! ^^ Bach selber hat transkribiert was das Zeug hält und ohne Grenzen - Orchesterstücke für Orgel usw. usw. Also kann man Bach auch auf einem modernen Konzertflügel spielen. Das ist dann lediglich eine weitere Transkription. :P

  • Die alte Diskussion mal wieder! ^^ Bach selber hat transkribiert was das Zeug hält und ohne Grenzen - Orchesterstücke für Orgel usw. usw. Also kann man Bach auch auf einem modernen Konzertflügel spielen. Das ist dann lediglich eine weitere Transkription. :P

    Bekannt, bekannt.

    Natürlich darf/kann man bachsche Klavierstücke getrost auf dem Hausklavier/modernem Konzertflügel spielen und aufnehmen.....reine Geschmackssache. Es hat mich nur gewundert, dass in einem Thread "rauschhafte ...." ausschließlich Aufnahmen auf modernen Konzertflügeln gebracht wurden und keine auf Cembalos, also ein Instrument das Bach kannte und bespielte. Das sagt einiges über die Konsumenten aus.

  • Es hat mich nur gewundert, dass in einem Thread "rauschhafte ...." ausschließlich Aufnahmen auf modernen Konzertflügeln gebracht wurden und keine auf Cembalos, also ein Instrument das Bach kannte und bespielte. Das sagt einiges über die Konsumenten aus.

    Sorry, Justin Taylor ist Cembalist und spielt auf einem historischen Cembalo und keinem Nachbau!

  • Sorry, Justin Taylor ist Cembalist und spielt auf einem historischen Cembalo und keinem Nachbau!

    Auch sorry, habe ich völlig übersehen. Les Cyclopes ist ein fantastisches Werk. Nur über die Sokolovaufnahme wäre ich fast eingeschlafen ^^

  • Nur über die Sokolovaufnahme wäre ich fast eingeschlafen ^^

    Soweit würde ich nicht gehen, aber ich finde die Einspielung von Justin Taylor auch viel flüssiger, rauschhafter und überzeugender ....


    Ich bin ein großer Fan der fünften französischen Suite vom großen Meister. Insbesondere auch seiner Gigue. Sie ist bei weitem harmonisch nicht so interessant, wie die der sechsten englischen, aber einen Rauscheffekt will ich ihr nicht absprechen. Eine wunderschöne Einspielung ist die von Christophe Rousset. Der Klang des restaurierten Ruckers ist nicht so farbig, wie die der französischen Cembali im allgemeinen, aber immer noch recht fein und das ganze Werk fliegt vorbei , wie in einem Rausche ... :hello:


  • (über Fingersätze kann ich nichts sagen).

    Man kann eigentlich leicht sehen, dass ein zweimanualiges Cembalo ein Überkreuzen der Hände ohne gegenseitige Störungen erlaubt, was mit einem einmanualigen Konzertflügel nicht ohne zusätzliche Überlegung möglich ist. Ich meine gelesen zu haben, dass jeder Pianist auf einem modernen Instrument da irgendwelche Kompromisse schließen muss (besonders bei den Goldbergs). Ob einen das nun wirklich stören muss, sei dahingestellt....

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