Robert Franz. Seine Lieder, in Auswahl vorgestellt und betrachtet

  • Dieser Thread verfolgt die Absicht, Einblick in das liedkompositorische Werk von Robert Franz geben, indem ausgewählte Lieder daraus vorgestellt und besprochen werden. Hauptbeweggrund dafür, ihn zu starten, ist die Tatsache, dass er hier im Tamino-Kunstliedforum noch nicht vertreten ist, es gleichwohl aber verdient, schließlich ist er, schon vom Umfang seiner Liedkomposition, aber auch von deren Qualität her, der Gruppe der bedeutenden deutschsprachigen Liedkomponisten zuzurechnen. In Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ wird er in einem Atemzug mit diesen genannt. Dort heißt es:
    „In diese fiel Adrians erste Bekanntschaft mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes, welche nach leidlich trockenen Vorspielen in Schubert wunderbar entspringt, um dann durch Schumann, Robert Franz, Brahms, Hugo Wolf und Mahler ihre durchaus unvergleichlichen Triumphe zu feiern.“


    Zu seiner Zeit war Robert Franz mit seinen Liedern bekannter als Schubert und Schumann, und doch ist er heute vergessen. Das zeigt sich in gleichsam symptomatischer Weise anhand vieler Fakten. Aufgeführt in Konzerten werden seine Lieder nicht mehr, es gibt zurzeit auf dem Markt nur wenige CD-Produktionen, die ausschließlich ihm gewidmet sind, und neuere Literatur, die sich seiner Biographie und seinem Liedschaffen widmet existiert nur spärlich. Allenthalben liest man, dass Franz 350 Liedkompositionen hinterlassen habe. Es sind aber „nur“ 279, die zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, hinzu kommen noch zwei aus dem Nachlass. Aber immerhin: Das ist eine Zahl, mit der Franz den anderen Großen der Liedkomposition kaum nachsteht, wenn man einmal von Franz Schubert absieht. Warum aber fiel dieses Werk der Vergessenheit anheim? Dieser Frage will sich der Thread auch widmen, - ganz einfach deshalb, weil sie sich einem regelrecht aufdrängt.


    Robert Franz stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er wurde am 28. Juni 1815 in Halle als Sohn des Salzwagenlädermeisters Georg Christoph Knauth geboren, der sich später Christoph Franz nannte. Die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, waren, wie er selbst das nannte „von derbstem Realismus erfüllt“. Erste musikalische Erfahrungen machte er als Schüler der Franckeschen Waisenhausstiftung: Sie betrafen die Werke Bachs und Händels und das deutsche Volkslied. Im Jahre 1815 wurde er Schüler des Dessauer Hofkapellmeisters Johann Christian Fr. Schneider, brach die Ausbildung jedoch ab. Später wurde er zunächst Organist an der Ulrichskirche in Halle, 1842 übernahm er die Leitung der (später nach ihm benannten) Singakademie, 1851 wurde er zum Universitätsmusikdirektor ernannt. Im Jahre 1867 musste er sich wegen eines durch den Pfiff einer Lokomotive hervorgerufenen Hörleidens von allen Ämtern zurückziehen. Er starb am 24. Oktober 1892 in Halle. Sein kompositorisches Werk besteht neben einer großen Zahl von Chorwerken und Bearbeitungen von Werken Bachs und Händels (die stark umstritten sind) ausschließlich aus Liedkompositionen. Ähnlich wie Brahms hat er eine große Zahl von frühen Werken anderer Art vernichtet.


    Sein Opus 1 („Zwölf Gesänge für Singstimme mit Klavier“) veröffentlichte er erst 1843. Robert Schumann nahm dies zum Anlass, in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ einen Exkurs über die gegenwärtige Situation der Liedkomposition zu veröffentlichen, in dem er Robert Franz eine fast schon enthusiastische Begrüßung zuteilwerden ließ. So meinte er: „Über die Lieder von Robert Franz ließe sich viel sagen; sie sind keine einzelne Erscheinung und stehen in innigem Zusammenhange der ganzen Entwicklung unserer Kunst in den letzten zehn Jahren.“ Für Schumann gehören die Lieder von Robert Franz „der neuen edlen Gattung an“. Und er fährt fort: „Er will mehr als wohl- oder übelklingende Musik, er will uns das Gedicht in einer leibhaftigen Tiefe wiedergeben.“


    In Schumanns Exkurs findet sich eine Feststellung, die auch Robert Franz geteilt hat. Schumann vertritt die Auffassung: „In Wirklichkeit ist vielleicht das Lied die einzige Gattung, in der seit Beethoven ein wirklich bedeutender Fortschritt geschehen.“ Ludwig Meinardus, der klangjährige Freund und Schüler von Robert Franz berichtet:
    „Franz huldigte der Ansicht, das Lied sei die einzige moderne Tonform, deren Keime von den großen Meistern der Vergangenheit noch nicht nach allen Seiten hin entwickelt worden waren. Auf Grund solcher Überzeugungen beschränkte er sich charakterfest auf die Pflege dieser kleinen ´Gattung.“
    Die von Franz selbst überlieferten Äußerungen zur Liedkomposition und den grundlegenden Motiven für seine Betätigung darin bestätigen das. Neben seiner ganz persönlichen Neigung und Liebe dazu, scheint er an eine Art geschichtlichen Auftrag geglaubt und sich gar als herausragende Figur in der Geschichte des deutschen Liedes gesehen zu haben. Von seinen Liedern sagt er:
    „Meine Lieder stehen auf der Grenzscheide, - ich sage das nicht aus Hochmuth, nein, es ist so; ganz wunderbar tritt in ihnen noch einmal das, was uns die klassische Vergangenheit in Bach, Mozart u.A. Schönes brachte, wie in einem Spiegelbild entgegen; damit ist die alte Kunstperiode erloschen.“ – „In Schubert und Schumann besinnt sich die Zeit wieder auf das Volkslied, in Mendelssohn auf den protestantischen Choral – in mir endlich will sie beides zusammenfassen. Bei Schubert, Schumann und Mendelssohn treten jene Einflüsse jedoch nur accidentiell auf, bei mir dagegen fundamental.“


    In seiner künstlerisch ästhetischen Grundhaltung hebt sich Franz – so jedenfalls das Bild, das sich mir auf der Grundlage der schriftlichen Quellen und analytischen Betrachtung seiner Liedkompositionen bietet – deutlich von der ab, die die Romantiker vertraten. Sie weist eher klassizistische Züge auf, und insofern muss man ihn wohl als konservativ ausgerichteten Menschen und Komponisten einstufen. Liedmusikalische Innovation geht – historisch betrachtet – von seinem liedkompositorischen Schaffen nicht aus. Bezeichnend sind die Ratschläge, die er (Brief vom 26.1.1850) seinem Schüler Ludwig Meinardus gibt:
    „Sie haben mit Schumann einen Fehler gemein, der wenn er sich weiter ausbildet, Ihrem Fortkommen unendliche Hindernisse in den Weg legen wird: er besteht in einem zähen Subjektivismus, der, weil er ausschließlich Subjektivismus ist, nicht immer das rein Menschliche, Allgemeine zu seiner Voraussetzung hat. Sie vertrauen Ihrer Natur und Stimmung blindlings, gerade wie es Schumann macht; der Himmel bewahre Sie vor Geschmacklosigkeiten, wie wir sie aus Schumanns Feder genug haben. Etwas mehr Hellenisches!“.
    In einem an Arnold Senfft von Pilsach (11.5.1870) bekannte er: „Trotz aller radicalen Neigungen haben mich die Verhältnisse zu einem wüthenden Reactionär in der Kunst gemacht, ich suche für die Zukunft nur noch Heil in der Vergangenheit.“


    Ablehnung des „Subjektivismus“ in der Rezeption von lyrischem Text und Umsetzung desselben in Liedmusik, stattdessen Ausrichtung derselben auf das „rein Menschliche, Allgemeine“, dahinter stehend der Glaube, dass die Kunst, so sie denn ihrer „ethischen Bestimmung und Berechtigung“ gerecht werden will, eine gleichsam ewig gültige Sprache finden müsse, - das ist Kern der künstlerischen Grundhaltung von Robert Franz. Und ganz auf der Linie derselben liegt seine liedkompositorische Maxime: „Das Persönliche muß zurücktreten; was man allgemein fühlt, was jeder empfindet, das muß zum Ausdruck gebracht werden. (…) In meiner Musik ist das Ethische die Hauptsache; meine Lieder sollen nicht erregen, sie sollen Frieden und Versöhnung geben.“


    In dieser menschlichen und künstlerisch-ästhetischen Grundhaltung lässt sich in der Entwicklung des Liedkomponisten Robert Franz keinerlei irgendwie relevanter Wandel feststellen, - also auch kein Entwicklungsprozess in seiner Liedkomposition. Diese begegnet einem in ihren letzten Werken genau so, wie in ihren ersten. Was man von allen anderen großen Liedkomponisten kennt, eine sich deutlich abzeichnende, und sich aus der kompositorischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text ergebende Wandlung und Weiterentwicklung der Liedsprache, - bei Robert Franz findet man sie nicht vor. Franz selbst bekannte: „Aus den von mir veröffentlichten Liederheften meine künstlerische Entwicklung zu konstruieren, wird ein vergebliches Bemühen sein.“ Zwar hat einer der wenigen Musikwissenschaftler, die sich mit dem liedkompositorischen Werk von Robert Franz ausführlich und gründlich befasst haben (S.E. Barbag) die These vertreten, es sei kaum zu bezweifeln, „daß seine Kunst in zwei besonderen Perioden entstand“, seine diesbezüglichen Argumente wirken freilich wenig überzeugend.


    Warum dieses so ausführliche Sich-Einlassen auf grundlegende Aspekte des Anliegens dieses Threads, die Lieder von Robert Franz in repräsentativer Auswahl vorzustellen und sie in ihrem liedmusikalischen Wesen zu erfassen? Die Antwort wird wohl jedem einleuchten, wenn er erfährt, dass Robert Franz zwar lyrische Texte von vielerlei Dichtern vertont hat, darunter Namen wie Friedrich Rückert, Goethe, Emanuel Geibel, Mörike, Eichendorff, Ferdinand Freiligrath und Hoffmann von Fallersleben. Es gibt darunter jedoch drei Schwerpunkte: Nämlich Nikolaus Lenau mit 19 Liedern, seinen Freund Franz Wilhelm Osterwald mit 52 Liedern und – Heinrich Heine mit sage und schreibe 67 Liedern. Robert Franz steht damit an der Spitze all der Liedkomponisten, die sich mit Heines Lyrik auseinandergesetzt haben.


    Eine persönliche Anmerkung noch:
    Ein wesentliches Motiv, mich mit den Liedern von Robert Franz zu beschäftigen, war die höchst spannende Frage, was aus der Lyrik Heinrich Heines wird, wenn sie ein Liedkomponist mit der oben charakterisierten menschlichen und künstlerisch-ästhetischen Grundhaltung in die Hand nimmt. Ich habe, da inzwischen alle für diesen Thread vorgesehenen Liedbetrachtungen schon fertig vorliegen, diesbezüglich eine Menge hochinteressanter Erkenntnisse gewonen, die ich natürlich hier einbringen werde, und das in der Hoffnung, dass sie hier im Forum auf Interesse stoßen und zur Teilnahme am Geschehen in diesem Thread anregen.


    Bei mir hatte die Beschäftigung mit dieser Frage zur Folge, dass sich in mir mehr und mehr der Drang regte, Vergleiche mit den entsprechenden Heine-Vertonungen Robert Schumanns anzustellen. Erst dachte ich, ich sollte sie den Besprechungen der einzelnen Franz-Lieder beigeben, die Notizen dazu nahmen aber einen solchen Umfang an, und das Thema weckte ein derart großes Interesse bei mir, dass ich mich entschlossen habe, unmittelbar nach diesem Thread einen mit dem Thema „Robert Schumann und Heinrich Heine“ zu starten, in dem alle Heine-Vertonungen Schumanns vorgestellt und besprochen werden sollen.

  • Zu den Aufnahmen und zur Vorgehensweise


    Es kann nur auf einen Bruchteil des umfangeichen liedkompositorischen Werkes eingegangen werden. Das hat einen simplen Grund: Die Zahl der verfügbaren Liedaufnahmen ist nicht nur begrenzt, ich bin überdies auch noch davon abhängig, ob die entsprechenden Noten dafür zur Verfügung stehen. Mal habe ich eine Aufnahme, und die Noten fehlen, mal ist es umgekehrt. In den Fällen, wo beides vorhanden ist, sollen die entsprechenden Lieder hier vorgestellt und besprochen werden. Dies soll in der Reihenfolge der Opus-Ziffern erfolgen.


    Folgende Aufnahmen – die im Handel noch erhältlich sind - habe ich herangezogen:






    (Ich danke Alfred Schmidt dafür, dass er die CD-Cover hier eingestellt hat,- was mir nicht gelungen war)

  • „Sie haben mit Schumann einen Fehler gemein, der wenn er sich weiter ausbildet, Ihrem Fortkommen unendliche Hindernisse in den Weg legen wird: er besteht in einem zähen Subjektivismus, der, weil er ausschließlich Subjektivismus ist, nicht immer das rein Menschliche, Allgemeine zu seiner Voraussetzung hat. Sie vertrauen Ihrer Natur und Stimmung blindlings, gerade wie es Schumann macht; der Himmel bewahre Sie vor Geschmacklosigkeiten, wie wir sie aus Schumanns Feder genug haben. Etwas mehr Hellenisches!“.


    Natürlich hat nicht Helmut Hofmann von Schumanns Geschmacklosigkeiten gesprochen, das ist ein Zitat von Robert Franz.


    Robert Franz ist bei mir unter »seltene Liedkomponisten« abgelegt und die »Sammlung« besteht aus einer einzigen CD, das ist die mit 50 ausgewählten Liedern, besungen von dem Bariton Markus Köhler. Nun fragt man sich doch ob man vielleicht geschmacklos ist, wenn dem so etwa 200 Schumann Lieder-CDs gegenüberstehen.
    Theoretisch wusste ich, dass Franz mal eine gewisse Bedeutung hatte, also fühlt man sich geradezu verpflichtet, da mal reinzuhören ob etwas dabei ist, was einen »packt« ...
    Liedmelodien von Beethoven, Schubert, Loewe, Schumann, Brahms, Mendelssohn, Wolf, Mahler, Strauss oder auch noch Schoeck kommen mir in den unterschiedlichsten Lebenssituationen spontan über die Lippen, ein Lied von Robert Franz gelingt mir nicht, weil beim Erlernen keine echte Freude aufkommen mag; auch wenn die Analyse ergibt, dass der Komponist theoretisch alles richtig gemacht hat.

    Zitat

    Heinrich Heine mit sage und schreibe 67 Liedern. Robert Franz steht damit an der Spitze all der Liedkomponisten, die sich mit Heines Lyrik auseinandergesetzt haben.


    Also da gab es ja auch noch den Johann Vesques von Püttlingen, der sich Johann Hoven nannte. Wenn ich recht addiert habe, dann sind das auf drei CDs, die der Tenor Markus Schäfer besungen hat, 84 Heine-Vertonungen; Alfred hat in einem Beitrag sogar mal 88 gezählt ...

  • Zit. hart: "Also da gab es ja auch noch den Johann Vesques von Püttlingen, der sich Johann Hoven nannte. Wenn ich recht addiert habe, dann sind das auf drei CDs, die der Tenor Markus Schäfer besungen hat, 84 Heine-Vertonungen; Alfred hat in einem Beitrag sogar mal 88 gezählt ... "

    Der Verweis auf Johann Hoven, den hart hier macht, ist berechtigt. Ich habe mich, was die die Position von Robert Franz unter den Heine-Vertonern anbelangt, nicht korrekt ausgedrückt und korrigiere den fraglichen Satz wie folgt:
    „Franz gehört damit in die Spitzengruppe all der Liedkomponisten, die sich mit Heines Lyrik auseinandergesetzt haben.“


    Aber bedeutsam ist dieser Verweis auch noch aus einem anderen Grund. In dem Thread http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=13880 stellte ich in Zusammenhang eines Vergleichs der Vertonung des Heine-Gedichts „Der Tod das ist die kühle Nacht“ durch Johann Hoven und Johannes Brahms u.a. fest:
    Johann Hoven komponiert nicht aus einer Einfühlung in das lyrische Ich heraus, sondern er geht kompositorisch strikt wortgebunden vor: Die Musik folgt der semantischen Aussage der einzelnen Verse des lyrischen Textes. Man könnte das Grundprinzip seiner Liedkomposition, wie sie sich in diesem Lied hier zeigt, auf einen Nenner gebracht so beschreiben:
    Er setzt kompositorisch an der Semantik des lyrischen Textes an und versucht sie mit den jeweils angemessenen musikalischen Mitteln zu erfassen und in dieser verwandelten Form zum Ausdruck zu bringen. Im Unterschied zu Brahms interpretiert er nicht auf der Grundlage der personalen Identifikation mit der zentralen Aussage des lyrischen Textes, sondern er gibt dessen semantischen Gehalt in möglichst umfassender Weise mit musikalischen Mitteln wieder. Das ist im Grunde ein Verständnis von Liedkomposition, wie es die Berliner Schule von Reichardt und Zelter entwickelt hat.


    Und darin erweist sich Robert Franz als durchaus diesem Johann Hoven nahestehend. Das aber muss im einzelnen noch aufgezeigt werden.

  • Du sagst, lieber hart, „Robert Franz ist bei mir unter »seltene Liedkomponisten« abgelegt“.
    Das war er bei mir auch. Und wenn Du hinzufügst, dass beim Hören seiner Lieder bei Dir keine so rechte Freude aufkomme, dann hätte ich Dir in der Zeit, bevor ich mich näher auf seine Liedkompositionen eingelassen habe, auch zugestimmt.
    Inzwischen habe ich mein Urteil ein wenig revidiert. Der Aspekt „Freude“ ist dabei zu einem sekundären geworden. Die Lieder von Franz sind für mich in der Art und Weise, wie der lyrische Text kompositorisch gehandhabt wird, zu interessanten musikalischen Gebilden geworden.
    Aber ich danke Dir dafür, dass Du ein erstes Urteil über sie hier abgegeben hast. Du wirst sehen, dass auch ich kritisch an sie herangehen werde. Und im Fall Heinrich Heine sogar sehr kritisch.
    Damit nehme ich Bezug auf Deine Bemerkung "auch wenn die Analyse ergibt, dass der Komponist theoretisch alles richtig gemacht hat".
    Er hat es - jedenfalls so wie ich das sehe - durchaus nicht immer!
    Aber vielleicht folgst Du mir ja in meinen Bemühungen um die Liedmusik von Robert Franz und beteiligst Dich daran. Ich würde mich sehr darüber freuen!

  • Durch schwankende Wipfel
    Schießt güldener Strahl,
    Tief unter den Gipfeln
    Das neblichte Tal.
    Fern hallt es am Schlosse,
    Das Waldhorn ruft,
    Es wiehern die Rosse
    In die Luft, in die Luft!


    Bald Länder und Seen
    Durch Wolkenzug
    Tief schimmernd zu sehen
    In schwindelndem Flug,
    Bald Dunkel wieder
    Hüllt Reiter und Roß,
    O Lieb', o Liebe
    So laß mich los!


    Immer weiter und weiter
    Die Klänge ziehn,
    Durch Wälder und Heiden
    Wohin, ach wohin?
    Erquickliche Frische,
    Süß-schaurige Lust!
    Hoch flattern die Büsche,
    Frei schlägt die Brust.


    (Joseph von Eichendorff)


    Seine lyrische Aussage enthüllt dieses Gedicht erst im Verlauf seiner Entfaltung. Mutet es zunächst so an, als ginge es hier tatsächlich im eine Jagd in gewöhnlichen Sinn des Wortes, so deutet sich schon am Ende der ersten Strophe an, dass sein Gegenstand ein anderer ist. Und spätestens am Ende der zweiten Strophe erweisen sich diese Verse als Aussage eines lyrischen Ichs, das von der Erfahrung einer imaginativen Entgrenzung spricht. Sie ereignet sich als ziellos-schwindelnder Flug durch die Luft und wird, wie es der letzte Vers zum Ausdruck bringt, als Erfahrung von Freiheit empfunden. Es ist das spezifisch romantische Thema der Befreiung aus den Fesseln die Individuation, um das es hier lyrisch geht.


    Wie ist die Liedmusik von Robert Franz auf diesen Text angelegt? Greift sie dessen Mehrdimensionalität in der lyrischen Aussage auf?
    Zu den formalen Eigenschaften der Liedkomposition ist zunächst einmal festzustellen: Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied, dem ein Sechsachteltakt zugrunde liegt. Es steht in H-Dur als Grundtonart, und die Tempoanweisung lautet „Allegro con brio“. Die Variationen sind nur geringfügig und beschränken sich auf wenige Stellen in der melodischen Linie. Die Strophen sind dreiteilig angelegt und reflektieren darin den Aufbau der lyrischen Strophe: Je zwei Verse bilden als eine Art Stollen den Aufgesang, aus den letzten vier Versen wird dann ein Abgesang. Diese Binnengliederung lässt die Lied-Strophe zu einem in sich geschlossenen, klar gegliederten und damit übersichtlichen musikalischen Gebilde werden, das sich der Rezeption leicht erschließt.


    Mit einer Folge von aufsteigend angelegten Sechzehntel-und Achtelfiguren setzt das viertaktige Vorspiel ein. Sie weisen die Anmutung von Hornsignalen auf und verleihen der Liedmusik eine rasante Aufbruch-Stimmung. Ohnehin erweist sich der Klaviersatz alsbald als eine Art Antriebsfaktor für die melodische Linie, die sich in großer Lebhaftigkeit entfaltet und voranbewegt. Schon mit deren Einsatz, der im fünften Takt auftaktig erfolgt, geht das Klavier zu Achtel-Akkord-Repetitionen über, und dabei bleibt es die ganze Strophe über. Der Klaviersatz ist im Diskant durchgängig so angelegt, der Bass besteht aus der Bewegung von punktierten und mit Pedaleinsatz zu spielenden Viertel-Oktaven, diese gehen aber drei Mal ebenfalls in den Gestus der Repetition über. Nur in den beiden Zwischenspielen und im Nachspiel weicht das Klavier von diesem Satz ab, diese bestehen aber allesamt aus der unveränderten Wiederholung des Vorspiels. Besonders durch die Akkordrepetitionen, die meistens in sechsfacher Weise erfolgen, gewinnt die Liedmusik die Anmutung großer, geradezu stürmisch vorwärtsdrängender Lebhaftigkeit. Nur einmal, und das im Zusammenhang mit einer Variation der melodischen Linie, kommt ein zweitaktiges Ritenuto in sie. Die bei den Worten „wohin, ach wohin?“ (vierter Vers, dritte Strophe“). Was aber im Hinblick auf die Funktion des Klaviersatz grundsätzlich anzumerken ist: Diese beschränkt sich auf die Begleitung der melodischen Linie der Singstimme. Der Klaviersatz entfaltet keine eigenständige, in den Dialog mit der Singstimme tretende musikalische Aussage.


    Wenn der strophische Bau und der Klaviersatz in seiner Anlage strukturelle und funktionale Einfachheit der Liedmusik erkennen lassen, so gilt das nicht in gleicher Weise für die melodische Linie und ihre Harmonisierung. Hier ist ein höherer Grad an Komplexität festzustellen, wenn auch einer, der der semantischen Vielschichtigkeit des lyrischen Textes nicht adäquat ist und ihr voll gerecht zu werden vermag. Das ist natürlich auch eine Folge der Entscheidung für das Strophenlied-Konzept. Auch in der Struktur der melodischen Linie findet sich das Prinzip der Repetition, ja sogar sie selbst in Gestalt der deklamatorischen Wiederholung des Einzeltons. Die melodische Bewegung, die auf dem ersten Verspaar liegt, wiederholt sich in strukturell ähnlicher Form beim zweiten Verpaar der Strophen. Dies allerdings, und das ist bemerkenswert, in anderer Harmonisierung.
    Franz misst also, und das ist gleich hier in dieser Stelle als charakteristisch für seine Liedkomposition festzuhalten, der Harmonik große Bedeutung für die musikalische Aussage zu.


    In beiden, gleichsam als Stollen fungierenden Melodiezeilen der ersten beiden Verspaare, steigt die melodische Linie aus unterer Mittellage in Sekundschritten in obere Lage auf, verfällt dort in der ersten Strophe auf der ersten Silbe der Worte „güldener“ und „neblichte“ in eine Dehnung, senkt sich danach noch einmal kurz ab, um danach erneut in eine Dehnung überzugehen, beim ersten Mal um eine Terz angehoben, beim zweiten Mal auf der der gleichen tonalen Ebene wie bei der ersten Dehnung verbleibend. Die Harmonik, die in der ersten Melodiezeile mit H-Dur einsetzt und am Ende eine Rückung nach Fis-Dur vollzieht, beginnt bei der zweiten mit A-Dur und rückt am Ende nach fis-Moll. Beides, die Modifikation der melodischen Linie in ihrer Struktur und in ihrer Harmonisierung, lässt eine liedkompositorische Reflektion der lyrisch-sprachlichen Semantik erkennen. Das lyrische Bild vom durch die Wipfel „schießenden“ „güldenen Strahl“ treibt die melodische Linie mit ihrer zweiten Dehnung um einer Terz in die Höhe, verbunden mit einer harmonischen Rückung in die Dur-Dominante. Das ruhige Bild vom unten sich auftuenden und überdies noch „neblichten“ Tal lässt hingegen die melodische Linie mit ihrer Dehnung nun auf der einmal erreichten tonalen Ebene verharren, und der Nebel lässt die Harmonik von dem ohnehin schon tieferen A-Dur nach fis-Moll rücken.
    Das ist durchaus beachtliche, weil unter Berücksichtigung der lyrischen Aussage auf Differenzierung des musikalischen Ausdrucks abzielende Liedkomposition.


    Bei den Worten „Fern hallt es am Schlosse“ verharrt die melodische Linie in Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, dabei bei dem Wort „hallt“ eine Dehnung beschreibend. Auch hier reflektiert die Melodik also das Bild, und nicht nur sie, auch die Harmonik tut es. Die hat nämlich eine – durchaus beachtliche – Rückung nach G-Dur vollzogen, und das in der Funktion einer Dominante, denn am Ende dieser kleinen Melodiezeile ereignet sich sogar eine Rückung nach C-Dur. Man kann das, dieses Abschweifen der Harmonik vom anfänglichen H-Dur in die Ferne eines C-Durs, durchaus als liedkompositorischen Reflex auf das Bild vom „fernen Schloss“ empfinden. Das Problem dabei ist freilich: Beides ereignet sich auch bei den entsprechenden Worten der zweiten und der dritten Strophe, also bei „bald Dunkel wieder hüllt“ und „erquickliche Frische“. Immerhin hat Franz im letzten Fall die melodische Linie leicht variiert. Nun beschreibt sie einen Quartsprung zu dem Wort „Frische“ hin, - aber die Problematik des Strophenlied-Konzepts wird hier wieder einmal sinnfällig. Denn diese nur minimale Variation der melodischen Linie vermag die lyrische Aussage liedmusikalisch nicht adäquat zu reflektieren.


    Bei den Worten „Das Waldhorn ruft“ steigt die melodische Linie, weiterhin in G-Dur harmonisiert, nach einer Dehnung auf der ersten Silbe von „Waldhorn“ mit schwungvollen und mit einem Crescendo versehenen Sekundschritten zu einem hohen „D“ auf und überlässt sich dort wieder einer Dehnung. Beim letzten Vers verfällt sie erneut in Tonrepetitionen auf ansteigender tonaler Ebene, die einen Steigerungseffekt in sie bringen, und die Worte „In die Luft, in die Luft“ werden dann forte auf einer mit einem Quartsprung einsetzenden und bei dem Wort „Luft“ in eine lange Dehnung übergehenden melodischen Linie deklamiert, die in einen dreischrittigen, auf dem Grundton „H“ endenden Fall übergeht.


    Neben der bereits erwähnten Variation wandelt Franz noch drei weitere Male die melodische Linie ab. Beim vierten Vers der dritten Strophe (Wohin, ach wohin?“) steigt sie mit zwei Terzsprüngen in hohe Lage empor und senkt sich beim zweiten „wohin“ über zwei Sekundschritte zu einer Dehnung auf einem „Cis“ in mittlerer Lage ab. In dieser Variation schlägt sich die Dringlichkeit der Frage nieder, die sich das lyrische Ich stellt, ohne eine Antwort darauf zu wissen. Eine letzte Umstrukturierung der melodischen Linie ist den Anforderungen einer Kadenz geschuldet, - allerdings nicht nur. Sie ist die markanteste und die am tiefsten in die melodische Struktur eingreifende in diesem Lied. Bei den Worten „Frei schlägt die Brust“ setzt die Vokallinie mit einer langen Dehnung in hoher Lage ein, um das Wort „frei mit einem Akzent zu versehen. Die nachfolgenden Worte werden dann auf zwei Dehnungen mit zwischengeschaltetem Terzsprung deklamiert, wobei sich bei der zweiten Dehnung die tonale Ebene um eine Sekunde anhebt und die Harmonik eine Rückung von der Dominante zur Tonika H-Dur vollzieht.


    Einerseits ist das eine auf eine Kadenz abzielende Variation der melodischen Linie, auf der anderen Seite lässt aber die auf dem Wort „frei“ liegende und forte zu deklamierende und den ganzen Takt einnehmende Dehnung in hoher Lage erkennen, dass Franz dieser imaginativ erfahrenen Empfindung von Freiheit einen ganz besonderen Akzent verleihen will. Und das ist ja auch die liedmusikalische Aussage, auf die seine Vertonung dieser Eichendorff-Verse abzielt. Darin, und auch in der vom Geist des Aufbruchs beflügelten Liedmusik, wird er – um auf die Ausgangsfragestellung zurückzukommen – der Aussage des lyrischen Textes durchaus gerecht. Was er aber offensichtlich nicht anstrebte, das ist ein Aufgreifen des evokativen Potentials der lyrischen Bilder. Das wäre auch mit dem Modell des nur geringfügig variierten Strophenliedes schwer möglich gewesen.

  • Um auszuschließen, dass eine mögliche Beteiligung an diesem Thread dadurch nicht zustande kommen könnte, dass keine Aufnahmen von den Liedern zur Verfügung stehen - was im Fall von Robert Franz naheliegend ist - , habe ich mich entschlossen, wann immer es möglich ist, jeder Liedbesprechung einen Link zu einer solchen Aufnahme beizugeben.
    Hier ist ein Link zu einer gesanglichen Interpretation von "Jagdlied". Es ist die, die ich selbst als Grundlage für meine Besprechung des Liedes benutzte.


  • Hallo Helmut,


    es liegt für mich an der zeitlich sehr raschen Folge Deiner Beiträge. Dabei brauche ich zum Lied auch den Text - allein das schon kostet Zeit und dann habe ich noch nichts getan, mich mit Text und Musik vertraut zu machen (und ich bin nicht nur hier tätig) .
    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Sie weisen die Anmutung von Hornsignalen auf und verleihen der Liedmusik eine rasante Aufbruch-Stimmung.


    Lieber Helmut,


    das hast Du sehr gut in Worte gefasst. Ich kannte den Komponisten bisher auch überhaupt nicht - ich bin sehr gespannt wie es weitergeht, dieses Lied gefällt mir jedenfalls ausgezeichnet! Zunächst einmal fällt natürlich dieses hornartige Motiv auf, und die ganze Anmutung der Jagd wird hier in wenigen Tönen gekonnt wiedergegeben. Aber tatsächlich gibt es da, auch für mein Empfinden, noch eine weitere Ebene, das rasante Aufbrechen, wie Du es nennst, ich würde es fast sogar als etwas rastlos-Getriebenes bezeichnen - dieser Ausruf "O Lieb', o Liebe/ So laß mich los!" und "Wohin, ach wohin?" die zur Steigerung führen: "Süß-schaurige Lust!" legen für mich sogar nahe, dass neben dem frischen Tatendrang hier fast sogar eine Art Zwang oder Getriebenheit vorherrschen, die das lyrische Ich regelrecht in seinem wilden Ritt fortreißt, und er gar nicht weiß, wie ihm so recht geschieht - und wo die Reise hingeht. Somit ist hier der Jäger auch gleichzeitig der Gejagte, der von einer Macht getrieben ist -der Liebe-, die er, anders als sein Ross, gar nicht zu zügeln weiß und die ihm "süß-schaurig" vorkommt, die ihm trotz aller Erregung also nicht ganz geheuer ist...
    Interpretiere ich da zuviel hinein? Die Musik, übrigens glanzvoll und gesungen und gespielt, scheint mir dies jedoch durchaus so mitschwingen zu lassen. Jedenfalls ein tolles Lied, das Du mir da nahegebracht hast - danke!


    liebe Grüße

  • Du beklagst Dich zu Recht, lieber zweiterbass. Wir hatten über dieses Problem ja schon einmal gesprochen, und ich hatte Dir bedeutet, dass es dadurch entsteht, dass die Liedbesprechungen bei mir immer schon fertig vorliegen, wenn ich einen Thread starte, und ich sie dann in kürzerem Zeitabstand hier im Forum einstelle, als ich ursprünglich benötigte, um sie selbst abzufassen. Vielleicht sollte ich diesbezüglich einfach für zeitliche Identität sorgen, und das Problem wäre gelöst.
    Schön aber, dass Du Anteil nimmst an dem, was hier zu den Liedern von Robert Franz geschrieben wird!

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  • Lieber "Helmut Hofmann",


    dürfte ich dich hier noch einmal kurz auf die Rubrik "Austausch über Höreindrücke zu den Sänger-Jubilaren" und meine dortige Bitte, dass du dich vielleicht zur dort eingestellten "Erlkönig"-Interpretation von Frau Söderström äußerst (und vielleicht auch noch meine konkrete Frage nach der geschlechtlichen "Eignung" bzw. den Realinterpreten zur Schubert-Zeit beantwortest?). Ich wäre dir dafür sehr dankbar! :yes:


    Das von "Caruso41" dazu einstellte Video findest du hier, die höchst kontroversen Einrücke dazu dann in den Beiträgen darunter:


    http://tamino-klassikforum.at/…&postID=623031#post623031


    Zu Rubert Franz kann und will ich mich eigentlich gar nicht äußern, weil er mir bislang viel zu selten begegenet ist. Im Gesangsunterricht habe ich einmal ein Lied von ihm gesungen, ohne es zu lieben - tut mir Leid! :(

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es freut mich sehr, lieber Don Gaiferos, dass ich Dir hier ein Lied vorstellen konnte, das Dir bislang unbekannt war und an dem Du Gefallen findest!


    Du fragst: "Interpretiere ich da zuviel hinein?" Das finde ich gar nicht. Es ist im Gegenteil so, dass ich zu wenig "interpretiere", also meine eigenen Gedanken und Empfindungen in die Besprechung der Lieder einfließen lasse. Ich scheue mich ein wenig davor, weil ich die Ebene der Objektivität im analytisch-deskriptiven Zugriff auf die Liedkomposition nicht mit der der Subjektivität vermengen möchte. Deshalb habe ich früher jeder Vorstellung und Besprechung eines Liedes am nächsten Tag eine Nachbetrachtung beigegeben, in der ich auf eben diese subjektive Ebene abhob. Davon nahm ich dann aber bei den beiden letzten Threads Abstand, weil mir das alles hier allmählich ein wenig zu viel wird und regelrecht über den Kopf wächst.
    Deshalb ist es für mich so hocherfreulich, wenn jemand, so wie Du hier in diesem Fall, das in den Thread einbringt, was bei mir zu kurz kam und nicht hinreichend Beachtung fand. Vielen Dank dafür!

  • Eben stoße ich auf die Bitte, die Du an mich gerichtet hast, lieber Stimmenliebhaber.
    Selbstverständlich werde ich ihr nachkommen, obgleich sich in mir gewisse Bedenken regen, denn für die Beurteilung gesanglicher Liedinterpretationen fehlt mir die Kompetenz. Und das ist keine faule Ausrede, sondern eine Tatsachenfeststellung.
    Auf jeden Fall werde ich mir diese Aufnahme aber anhören, lesen, was ihr beide, Caruso und Du, darüber geschrieben habt, und mir dann meine eigenen Gedanken machen.
    Aber bitte gib mir ein wenig Zeit. Vielleicht kann ich mich morgen um diese Zeit im entsprechenden Thread dazu äußern. Für flotte Beiträge im Forum bin ich ungeeignet, - im Denken und Formulieren schlicht zu langsam und zu umständlich.

  • Lieber Helmut,


    Du hast nicht nur Lieder beschrieben, die viele noch nie gehört haben, sondern auch einen Komponisten erwähnt, der mir bisher völlig unbekannt war. Als langjähriger Einwohner von Halle kenne ich immerhin eine nach ihm benannte Straße und die Singakademie, die seinen Namen trägt. Ich glaube, auch die Musikschule ist nach ihm benannt.


    Ich wohne seit 40 Jahren nicht mehr in Halle, aber jetzt weiß ich wenigstens, wer sich hinter dem Namen verbirgt. Danke!


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Da habe ich ja, ganz unabsichtlich, mit meinem Thread hier etwas Sinnvolles bewirkt, lieber La Roche.
    Ja, Robert Franz ist ein bedeutender Sohn der Stadt Halle, und man hat zu Recht nach ihm eine Straße und die Singakademie benannt. Sein Ruf reichte damals weit über die Stadtgrenzen hinaus, und als Liedkomponist war er bekannter als Schubert und Schumann.


    Das Seltsame ist nur: Er ist der Vergessenheit anheimgefallen. Seine Lieder kennt man nicht, sie werden nicht aufgeführt, und es gibt eine nur schmale Auswahl aus seinem großen liedkompositorischen Werk auf nur wenigen CDs zu hören. Dietrich Fischer-Dieskau erwähnt ihn in seinem Abriss der Geschichte des deutschen Liedes (Töne sprechern, Worte klingen) nur nebenbei. Er stehe im Schatten Loewes und sei darin geblieben, meint er, und die Bewunderung, die Schumann ihm habe angedeihen lassen, sei nur darauf zurückzuführen, dass er in seiner Liedkomposition die Eigenchaften des Kirchenmusikers, polyphon zu begleiten, nicht geleugnet habe. Immerhin hat er in der LP-Kassette „Stilwandlungen des Klavierliedes" zehn Lieder von ihm eingesungen.


    Ursprünglich trug mein Thread den Titel: „Robert Franz. Ehemals ein Großer unter den Liedkomponisten, heute aber vergessen“. Davon bin ich abgegangen, weil ich einen gleichsam neutraleren für sinnvoller hielt. Aber die dem ursprünglichen Titel implizite Frage ist geblieben und für mich zentrales Motiv dieses Threads: Wie lässt sich dieser Sachverhalt erklären? Sind die Ursachen dafür in den Liedern selbst zu finden? Und wenn ja, welcher Art sind sie?

  • Sonnenuntergang;
    Schwarze Wolken zieh'n,
    O wie schwül und bang
    Alle Winde flieh'n,
    O wie schwül und bang!


    Durch den Himmel wild
    Jagen Blitze bleich;
    Ihr vergänglich Bild
    Wandelt durch den Teich,
    Ihr vergänglich Bild.


    Wie Gewitter klar
    Mein' ich Dich zu seh'n,
    Und dein langes Haar
    Frei im Sturme weh´n,
    Frei im Sturme weh´n!


    (Nikolaus Lenau)


    Bedrohliche Bilder von Vergänglichkeit reiht Lenau hier aneinander. Himmel und Erde beziehen sie ein: Die wild jagenden Blitze wandeln als vergängliches Bild durch den Teich. Im Fluss der im trochäischen Metrum mit stumpfer Kadenz aufeinander folgenden Verse ereignet sich für das lyrische Ich Zeitlichkeit und Vergänglichkeit als unmittelbare Erfahrung. Und sie mündet in das Bild eines Du, das sich in frei im Sturm wehendem langem Haar verdichtet. Inbegriff von Leben, das der Vergänglichkeit ausgeliefert ist.


    Die Komposition, mit der Robert Franz diese Verse in Liedmusik umsetzt, stellt, unter formalem Aspekt, ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-A-B“ dar. Sie weist einen Zweivierteltakt auf, und sie steht in fis-Moll als Grundtonart. Die Tempoanweisung lautet „Allegro agitato“, und damit ist der Geist dieser Liedmusik angesprochen. Auf bemerkenswerte Weise fängt sie sowohl in der Melodik, wie auch – und vor allem – im Klaviersatz das evokative Potential der lyrischen Bilder und darüber hinaus auch noch die lyrische Aussage ein. Dies vor allem durch das Abweichen vom Schema des Strophenlieds in Gestalt einer liedmusikalisch eigenständigen dritten Strophe. Und schließlich trägt auch die Harmonik das Ihre dazu bei.


    Schon das viertaktige Vorspiel setzt den maßgeblichen musikalischen Akzent. Fallend angelegte Figuren aus jeweils vier Sechzehnteln folgen im Diskant aufeinander, im Bass erklingen mit Vorschlag versehene lang gehaltene Oktaven. Das bleibt, unter partiellem Wegfall des Vorschlags und dem Übergang der Oktaven im Bass zu ruhiger Bewegung, die Struktur des Klaviersatzes das ganze Lied über. Und dieser prägt damit in maßgeblicher Weise den Geist der Liedmusik. Zusammen mit den permanent sich ereignenden harmonischen Rückungen bringt er den Gestus des jagenden Eilens in sie ein, wie es die lyrischen Bilder in ihrer Abfolge verlangen.


    Die melodische Linie bewegt sich mit Ausnahme der von Franz dem Lenau-Gedicht hinzugefügten Wiederholungen im letzten Vers der Strophe durchgängig nach dem gleichen rhythmischen Muster: Der zweimaligen Aufeinanderfolge von einem punktierten Achtel und einem Sechzehntel – wobei sich am Anfang häufig Tonrepetitionen ereignen – folgt ein Fall oder ein Sprung zu einem Viertel oder einer halben Note nach. Das hat zur Folge, dass diese rasch und wie hektisch wirkenden deklamatorischen Schritte nach einem Takt immer in eine den nachfolgenden Takt entweder ganz oder mindestens teilweise ausfüllenden Dehnung münden. Der Effekt des in hektischen Schritten Vorwärtsdrängens, das der melodischen Linie eigen ist, wird noch dadurch gesteigert, dass sich bei den ersten beiden Strophen die tonale Ebene anhebt, die melodische Linie also aus tiefer Lage in obere Mittelage aufsteigt, um dort dann bei den Worten „o wie schwül und bang“, bzw. „ihr vergänglich Bild“, in den letzten Versen der beiden Strophen in lange Dehnungen überzugehen. Auf den Worten „schwül“ und der Silbe „-gänglich“ liegt eine den Takt übergreifende Dehnung, und auf „bang“ und „Bild gar eine, die sich über zweieinhalb Takte erstreckt. Das stürmische Vorandrängen der Melodik wirkt also wie zielgerichtet, findet in diesem Ziel auch zur Ruhe, dies aber nur, um danach wieder in den alten Gestus überzugehen.


    Verbunden ist diese Bewegung mit harmonischen Rückungen, die sich bei fast jeder Wiederholung dieser melodischen Grundfigur ereignen: Von fis-Moll nach Cis-Dur und von H-Dur nach E-Dur. Bei den langen Dehnungen am Ende rückt die Harmonik von A-Dur über E-Dur nach cis-Moll. Die Unruhe, die von der Harmonik ausgeht, verstärkt, im Einklang mit dem Klaviersatz, diesen Effekt des Voranstürmens der melodischen Linie. Die Liedmusik reflektiert auf diese Weise die starke, unruhige Bewegtheit, die den lyrischen Bildern innewohnt.


    Bei der dritten Strophe erfährt dieser Grund-Gestus der Liedmusik und der melodischen Linie im Besonderen noch eine Steigerung. Nun steigt diese in Gestalt ihrer rhythmisierten Einzelfiguren wieder aus unterer Mittellage in obere empor, dieses Mal aber in einer chromatisch ansteigenden Harmonisierung und in einem dynamischen Crescendo vom Piano zum Forte. Bei den Worten „Frei im Sturme wehn“ erfolgt ein Anstieg der melodischen Linie von einem „Cis“ zu einem „Eis“ in oberer Mittellage, das eine Dehnung trägt. Die Wiederholung dieses Verses führt das Lied zum Höhepunkt seiner Expressivität. Auf dem Wort „Sturme“ liegt nun eine Dehnung in Gestalt eines hohen „Fis“, die vier Takte übergreift und fortissimo auszuführen ist. Die Harmonik rückt dabei von fis-Moll nach Cis-Dur. Und das ganze wiederholt sich noch einmal eine Quarte tiefer auf dem Wort „weh´n“. Dieses Mal ist es ein „Cis“, das wieder vier Takte lang gehalten wird, wobei die Harmonik nun allerdings eine Rückung von Cis-Dur nach fis-Moll vollzieht.


    Was ereignet sich hier liedmusikalisch? Die Vision der Geliebten in Gestalt ihres langen, im Sturme wehenden Haares wird in der Vertonung dieses Lenau-Gedichts zum Zentrum und Höhepunkt der Liedmusik, auf den alles, was sich darin ereignet, wie auf einen Zielpunkt zuläuft. Nun könnte man aus der Tatsache, dass die letzte so überaus lange Dehnung sich nicht nur auf einer um eine Quarte abgesenkten tonalen Ebene ereignet und überdies auch noch in fis-Moll-Harmonisierung endet, schließen, dass Franz diese Vision als eine flüchtige verstanden hat und es sich also auch hier um ein „vergänglich Bild“ handelt. Hört man aber das Lied zu Ende, dann wird man diesbezüglich stutzig. Im achttaktigen Nachspiel ergeht sich das Klavier wiederhin in den fallend angelegten Sechzehntel.-Figuren, wobei die Harmonik permanent zwischen den Tongeschlechtern wechselt. Nun sollte man, vom Ende der melodischen Linie her, eigentlich erwarten, dass der Schlussakkord einer in fis-Moll ist. Es erklingt aber einer in Cis-Dur. Und das kann nur heißen:
    Franz hat dieses Lenau-Gedicht nicht als lyrische Evokation von Vergänglichkeit gelesen, sondern als Erfahrung von stürmisch bewegter Welt, in der sich die visionäre Begegnung mit dem Bild der Geliebten als Inbegriff von Vitalität ereignet.


    Und so kann man das ganze Lied auch tatsächlich hören. Damit wäre es freilich musikalischer Ausdruck einer gleichsam naiv-eindimensionalen Rezeption des lyrischen Textes.

  • Aus meinen großen Schmerzen
    Mach' ich die kleinen Lieder;
    Die heben ihr klingend Gefieder
    Und flattern nach ihrem Herzen.


    Sie fanden den Weg zur Trauten,
    Doch kommen sie wieder und klagen,
    Und klagen, und wollen nicht sagen,
    Was sie im Herzen schauten.


    (Heinrich Heine)


    Das ist die für Heine so typische und für sein lyrisches Werk so konstitutive Grundsituation: Das unter seinem seelischen Schmerz leidende lyrische Ich wendet sich in seinem Wort in der Hoffnung auf liebevolle Empathie an das Du, - und bleibt allein in hoffnungslosem Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst. Es sind kleine, aber hübsche Lieder, aus „klingendem Gefieder“, diese an die „Traute“ gerichteten Worte. Sie finden auch den Weg zu ihr und kommen sogar wieder. Dies aber mit der Klage, nicht sagen zu können, was sie in deren Herzen schauten. Die eigentliche lyrische Aussage ist damit dezent umspielt. Denn direkt, für Heine unvertretbar rabiat und direkt zum Ausdruck gebracht, müsste sie lauten: Meine Verse sind nicht angekommen, haben nichts bewirkt.


    Ich weiß nicht, da ich über kein Werk-Verzeichnis verfüge, ob es sich bei diesem Lied um die erste der über sechzig Heine-Vertonungen von Robert Franz handelt. Es ist jedenfalls die in den Lied-Opera früheste, die mir in Gestalt einer gesanglichen Interpretation und den zugehörigen Noten zur Verfügung steht. Und ich gestehe: Ich war neugierig auf sie, - gespannt auf die Art und Weise, wie Franz liedkompositorisch mit der Lyrik Heines umgeht.
    Verfolgt er auch hier, bei einer Lyrik, die sich hinter der Fassade von sprachlicher Schlichtheit und Einfachheit als in ihrer Aussage tief gebrochen und damit hochgradig komplex erweist, den liedkompositorischen Weg, wie er sich in den beiden vorangehend vorgestellten Weg abzeichnet? Den einer Reduktion der semantischen und metaphorisch-evokativen Komplexität des lyrischen Textes auf eine Ebene, die sich mit einer ihrerseits auf eine in ihrer Aussage klare und darin eingängige und große Komplexität um eben dieser Intention wegen meidenden Liedmusik erfassen lässt?
    Um es gleich vorweg festzustellen: Er verfolgt diesen Weg auch bei Heine. Und die Frage wird sein, ob er ihm damit liedkompositorisch gerecht z werden vermag. Dieser Thread wird darauf eine Antwort zu geben haben.


    Das Lied setzt ohne Vorspiel ein. Es steht in F-Dur als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Andante (Innig)“. Es stellt ein variiertes Strophenlied dar. Beide Strophen beginnen mit einem melodischen Motiv dem eine zentrale Rolle in der Liedmusik zukommt, denn die nachfolgenden deklamatorisch-melodischen Schritte wirken wie eine Wiederkehr seiner Grundstruktur in modifizierter Gestalt. Das Klavier begleitet mit ihm die melodische Linie des letzten Verses und lässt es abschließend im Nachspiel noch einmal erklingen. In seiner volksliedhaften Schlichtheit ist es von großer Eingängigkeit: Die melodische Linie beschreibt eine bogenförmige Bewegung im Intervall einer Quinte, wobei sich eine Art Sechzehntel-Anlauf zum höchsten Ton ereignet, der dann in ein ruhiges, weil in gedehnten Sekundfall-Schritten erfolgendes Ausklingen übergeht, das in eine Achtelpause mündet. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit Achteln im Diskant, zwischen die sich wie hingetupft wirkende Sechzehntel-Quarten und -Quinten einlagern. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von der Tonika F-Dur hin zur Subdominante B-Dur und von dort zur Dominante C-Dur.


    In ihrem Innehalten auf dem Grundton der Dominante ist es also eine offene melodische Figur, mit der das Lied einsetzt, eine, die eine Fortführung und Weiterentwicklung in dem Geist will, mit dem sie angetreten ist. Und das geschieht auch mit dem zweiten Vers, der das von der Syntax des ersten Verspaares ja regelrecht fordert. Aber es geschieht auf eine höchst reizvolle, weil diesen eingängigen melodischen Geist über eine Rückung in Moll-Harmonik bereichernde Weise. Die melodische Linie beschreibt bei den Worten „Mach ich die kleinen Lieder“ fast die gleiche Bewegung, nun aber auf einer um eine Terz abgesenkten melodischen Line und in d-Moll und g-Moll harmonisiert. Bemerkenswert aber: In diesem Tongeschlecht verharrt die melodische Linie in dieser Zeile nicht, der wieder eine, dieses Mal noch kleinere (Sechzehntel-) Pause nachfolgt. Bei dem Sekundfall auf dem Wort „Lieder“ ereignet sich eine Rückung nach A-Dur, also wieder die Dominante in der Harmonik dieser kleinen, die erste fortführenden Melodiezeile. Freilich eine, die die Melodik des Liedes aus ihrer kurzen Moll-Eintrübung wieder in das Tongeschlecht Dur zurückholt, in dem sie einsetzte.


    Wieder ist es ein offener Schluss, der nach einer Fortführung verlangt. Und in der Melodik, die auf den letzten beiden Versen der ersten Strophe liegt und auftaktig um eine Quarte angehoben an die vorangehende anbindet, ereignet sich liedmusikalisch das Gleiche wieder, was beim ersten Verpaar geschah. Wieder in Gestalt einer Wiederholung der melodischen Grundstruktur, wieder in der ersten Zeile harmonisch offen endend, und dann danach aber zu einem wirklichen Ruhepunkt findend. Nun beschreibt die melodische Linie in jeder ihrer beiden Zeilen zweimal eine Fallbewegung, wieder mit diesem Sechzehntel-Doppelschritt, wie man ihn schon aus dem ersten Melodiezeilen-Paar kennt, nun zwar fallend angelegt, gleichwohl im melodischen Gestus an dieses anbindend. Das Klavier behält zwar seinen Gestus in der Begleitung der melodischen Linie ebenfalls bei, lässt sich aber durch das lyrische Bild vom „klingenden Gefieder“ der „kleinen Lieder“ dazu verleiten, seine hingetupften Sechzehntel-Figuren im Diskant zu arpeggieren.


    Und wieder beschreibt die Harmonik am Ende der ersten Melodiezeile eine, eben diese Offenheit konstituierende Rückung, - dieses Mal aber eine noch extremere. Nach der Rückung in die Subdominante B-Dur bei der Wiederholung der anfänglichen melodischen Fallbewegung, wie sie sich auf den Worten „ihr klingend“ vollzieht, ereignet sich bei dem kleinen, aber gedehnten melodischen Sekundfall auf den beiden letzten Silben des Wortes „Gefieder“ eine geradezu kühne harmonische Rückung von B-Dur nach E-Dur. Und in diesen Kreuzton-Gefilden bleibt die melodische Linie dann auch, um bei dem letzten Vers der ersten Strophe erst einmal zur Ruhe zu finden. Das geschieht, nachdem sie bei den Worten „flattern nach ihrem“ die Fallbewegung aus der ersten Zeile wiederholt hat, in Gestalt eines weit gespannten, sich um eine Sekunde anhebenden und legato auszuführen melodischen Bogens auf dem Wort „Herzen“ Das Klavier begleitet das wie im Nachvollzug in klanglich lieblicher Weise mit terzbetonten Akkorden im Diskant.


    Eine solch detaillierte Beschreibung der Liedmusik erübrigt sich bei der zweiten Strophe, denn dort entfaltet und vollendet sie sich in prinzipiell und strukturell gleicher Weise. Dies allerdings in Gestalt von Variationen im Bereich von Melodik und Klaviersatz. Nur diese bedürfen hier noch einer Berücksichtigung in ihrer liedkompositorischen Intention.


    Bei den beiden ersten Versen wiederholen sich melodische Linie und Klaviersatz der ersten Strophe. Auf den Worten „Und klagen und wollen nicht sagen“ liegt nun aber eine durchgängige melodische Fallbewegung, die in a-Moll und g-Moll harmonisiert ist und vom Klavier sogar unter Einbeziehung der Sechzehntel-Schritte mitvollzogen wird. Dadurch, dass die melodische Linie zu dem Wort „klagen“ hin einen verminderten Quintsprung zu einem hohen „Es“ hin beschreibt, der mit einer Rückung von A-Dur nach a-Moll verbunden ist, erhält dieses einen starken Akzent. Bei den Schlussworten „Was sie im Herzen tragen“ kehrt die Melodik, darin vom Klavier begleitet, zu ihrem zentralen Motiv, wie es am Anfang erklingt, zurück. Nun aber erklingt es in tiefer Lage und ist in g-Moll harmonisiert. Um aber zu einer Kadenz zu gelangen, weicht die melodische Linie am Schluss von ihm ab und beschreibt einen ruhigen, weil nun in Gestalt von Viertelnoten vollzogenen Sekund-Anstiegsbogen vom Grundton „D“ zu einem „E“ und wieder zurück, wobei die Harmonik eine Rückung über die Dominante macht. Das Lied endet – auch im Nachspiel, in dem das Klavier das melodische Grundmotiv letztmals erklingen lässt – in d-Moll, der Moll-Parallele also zum F-Dur, mit dem es einsetzte.


    Es ist ein klanglich schönes und eingängiges Lied. Und zweifellos hat mit der immer stärker sich durchsetzenden Moll-Eintrübung der melodischen Linie die lyrische Aussage Eingang in die Liedmusik gefunden. Der Sekundfall, mit dem das zentrale melodische Motiv endet, erhält auf diese Weise die Anmutung von Schmerzlichkeit. Aber es bleibt eine nur leichte, eher wehmütige. Die melodische Schönheit des Liedes erfährt dadurch keinen wirklichen Bruch. Wird es damit aber der tiefen existentiellen Betroffenheit, die sich in Heines Versen artikuliert, voll gerecht?
    Mir scheint, dem ist nicht so.

  • Aus den Himmelsaugen droben
    Fallen zitternd lichte (Heine:„goldne“) Funken
    Durch die Nacht, und meine Seele
    Dehnt sich liebeweit und weiter.


    O ihr Himmelsaugen droben!
    Weint euch aus in meine Seele,
    Daß von lieben (Heine: „lichten“) Sternentränen
    Überfließet meine Seele.


    (Heinrich Heine)


    Der Titel des Liedes stammt von Robert Franz, hat aber insofern seine Berechtigung, als diese beiden Strophen aus dem „Buch der Lieder“, Kap. „Die Nordsee“, „Nachts in der Kajüte“ genommen sind. Sie bringen die Imagination eines Erfüllt-Werdens der Seele durch das als liebe Sternentränen“ erfahrene Licht der Sterne zum Ausdruck, einer Seele, die, ohne dass dies gesagt werden muss, von Dunkelheit erfüllt und von Enge bedrückt ist. „Liebeweit“ dehnt sie sich und will sich dem himmlischen Licht öffnen, um aus dieser irdischen Dunkelheit und Enge befreit zu werden.


    Franz hat zwei Änderungen an diesem Heine-Text vorgenommen, ohne dass man aus der Liedkomposition Gründe dafür erkennen könnte. Sie ist als – substantiell nur im Klaviersatz – variiertes Strophenlied angelegt, steht in a-Moll als Grundtonart, weist einen Zweivierteltakt und die Tempovorschrift „Andantino“ auf, und die Vortragsanweisung lautet „Sehr innig“ . Die Liedmusik ist, um, was für Franz von großer Bedeutung ist, eine in sich geschlossene und einheitliche Melodik zu ermöglichen, in dominanter Weise auf das Erfassen und Zum-Ausdruck-Bringen der zentralen lyrischen Aussage hin angelegt: Es ist das „Weiten der Seele“ in der Begegnung mit dem sternenübersäten Nachthimmel über dem Meer.


    Ein von der Melodik, ihrer Harmonisierung und dem zugehörigen Klaviersatz her eingängiges und klanglich von leicht beschwingter Innigkeit geprägtes Lied ist daraus hervorgegangen. Die melodische Linie setzt mit zwei repetierenden Sechzehnteln auftaktig und ohne Klavierbegleitung ein. Das lyrische Bild von den aus den „Himmelsaugen“ fallenden Funken greift sie dadurch auf, dass sie zweimal, und zwar bei den Worten „Himmelsaugen“ und „zitternd lichte“, eine Fallbewegung in Sekundschritten beschreibt, beim zweiten Mal im Ansatz aber um eine Sekunde höher ansetzend. Die Fallbewegung mündet beim ersten Mal auf einer um eine Querte angehobenen tonalen Ebene und setzt von da aus wieder auftaktig mit einem Doppelschritt und einem nachfolgenden Sextsprung zum zweiten Fall an. Danach beschreibt sie bei dem Wort „Funken“ einen mit einem Vorschlag versehenen Sekundsprung und geht bei „durch die Nacht“ in einen Quartfall mit nachfolgendem Sekundanstieg über.


    Nicht nur die dem lyrischen Bild innewohnende Grundbewegung von oben nach unten bildet die melodische Linie in ihrer Struktur ab, auch die Haltung des lyrischen Ichs, das Herbeisehnen der Begegnung mit den Sternenfunken und das Weiten der Seele dazu wird, sozusagen im Vorgriff, zum Ausdruck gebracht: Durch das langsame Anheben der tonalen Ebene, durch den Klaviersatz und durch die Rückungen in der Harmonik. Das Klavier begleitet die Singstimme zunächst mit einer Folge von vier Achtel-Akkorden, in denen sich aber durch die Intervall-Verschiebungen eine Aufstiegsbewegung andeutet. Die lässt das Klavier dann aber bei dem Wort „droben“ explizit erklingen: In Gestalt einer Figur aus in eine Terz mündenden aufsteigenden Sechzehnteln im Diskant. Das wiederholt sich noch einmal beim zweiten Vers: Auch dort gehen die Akkorde, von denen der erste bei dem Wort „Funken“ in arpeggierter Form erklingt, bei den Worten „durch die Nacht“ in eine Sechzehntel-Aufstiegsbewegung über. Und schließlich schlägt sich das, was sich auf den beiden Ebenen des lyrischen Textes ereignet, das Fallen der Sternenfunken und das sich Öffnen der Seele des lyrischen Ichs, auch in der Harmonik nieder. Dies in Gestalt einer permanenten Rückung: Von a-Moll nach d-Moll, von G-Dur nach C-Dur – dies bezeichnenderweise bei dem Wort „Funken“ – und von dort zurück nach d-Moll.


    Und dann ereignet sich das, worauf die Liedmusik der ersten beiden Verse (unter Einbeziehung der Worte „durch die Nacht“) geradezu hinauszulaufen scheint, weil sie darauf angelegt ist. Bei den Worten „und meine Seele dehnt sich liebeweit und weiter“ geht die melodische Linie nach einem Sekundsprung erst einmal wieder in einen Sekundfall über, dieser mutet nun aber wie ein Anlauf zu der expressiven Bewegung an, in die sie sich anschließend steigert. Über zwei Sprung- und Fallbewegungen in großen Intervallen steigt sie zur tonalen Ebene eines hohen „E“ empor und überlässt sich dort bei dem Wort „weiter“ einer langen, nämlich zwei Takte einnehmenden Dehnung, die am Ende in einen veritablen Oktavfall übergeht.


    Auch Klavier und Harmonik gehen hier zur Entfaltung größerer Expressivität über. Die Worte „und meine Seele dehnt sich“ begleitet das Klavier mit Akkorden in gis-Moll-Harmonik. Bei den Worten „liebeweit und weiter“ werden daraus teilweise arpeggierte und nun in a-Moll harmonisierte Akkorde. Und bei der langen Dehnung auf dem Wort „weiter“ lässt das Klavier im Diskant die Anfangs-Bewegung der melodischen Linie in Gestalt von Terzen und dreistimmigen Akkorden noch einmal erklingen, wobei sich im Bass eine gegenläufige Bewegung von Oktaven ereignet und die Harmonik eine Rückung von E-Dur, also der Dominante, hin zur Tonika a-Moll vollzieht.


    Das ist die Liedmusik der ersten Strophe. Sie wiederholt sich mit einer nur minimalen Variation in der Melodik (bei dem Wort „Seele“, auf dem nun ein einfacher Sekundanstieg liegt) in unveränderter Weise, - dies einschließlich der für die Liedmusik so maßgeblichen expressiven Dehnung mit Oktavfall am Ende. Und dem analytischen Blick erweist sie sich als durchaus differenzierte und komplexe, die aber diese ihre Eigenschaft durchaus zu verbergen weiß, um sich die Anmutung von schlichter Eingängigkeit zu verleihen. Erst bei ihrem neuerlichen Höhepunkt, der besagten melodischen Dehnung am Ende der Strophe, ereignet sich eine markante Variation im Klaviersatz. Noch einmal artikuliert das Klavier, wie bei der ersten Strophe, die melodische Figur auf den Anfangsworten des lyrischen Textes, nun aber in Gestalt von überwiegend dreistimmigen Sechzehntel-Akkorden, und damit in lebhafterer und expressiverer Weise. Die Harmonik vollzieht dabei eine kadenzmäßige Rückung über die Dominante E-Dur zur Tonika a-Moll.

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  • von einem Mitleser erreicht mich diese email, welche ich gern mit Dank hier veröffentliche:



    mfg aus Wien Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Vielen Dank, lieber Alfred, für das Einstellen dieser Mail mit ihrem Link zu dem Artikel "Begegnung mit dem Liedkomponisten Robert Franz". Er stellt eine gewichtige Bereicherung dieses Threads dar.
    (Ach wie schön, dachte ich, dass es offensichtlich doch Leser dessen gibt, was hier im Tamino-Forum zum liedkompositorischen Werk von Robert Franz verfasst wird. In manchen Situationen ist eine solche Erfahrung für den, der sich diesbezüglich müht, höchst hilfreich. Gerade war wieder einmal eine solche eingetreten.)

  • Mädchen mit dem roten Mündchen,
    Mit den Äuglein süß und klar,
    Du mein liebes, süßes (Heine: kleines“) Mädchen,
    Deiner denk' ich immerdar.


    Lang ist heut der Winterabend,
    Und ich möchte bei dir sein,
    Bei dir sitzen, mit dir schwatzen,
    Im vertrauten Kämmerlein.


    An die Lippen wollt' ich pressen
    Deine kleine weiße Hand,
    Und mit Tränen sie benetzen,
    Deine kleine, weiße Hand.


    (Heinrich Heine)


    Ein sehnsüchtiger Wunschtraum, der sich in zärtlichen, sprachlich mit dem Diminutiv spielenden lyrischen Bildern konkretisiert. Aber er kommt aus der Situation des Einsam-Seins an einem langen Winterabend und ist von einer Erfüllung weit entfernt. Das kann einen Liedkomponisten dazu bringen, dass er beides in seine Liedmusik einfließen lässt: Die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in seiner winterlichen Einsamkeit und die Süße der darin imaginierten Sehnsuchtsbilder. Robert Franz verfährt hier liedkompositorisch so, wie er es mit Blick auf die in ihrer Struktur auf Einfachheit angelegte Melodik für geboten hält: Er legt die Liedmusik nicht polyvalent an, wie sich das unter Berücksichtigung der Aussage der zweiten Strophe ergäbe, sondern stellt sie primär auf das Erfassen der Wunschbilder ab. Die situative Befindlichkeit des lyrischen Ichs lässt er in Gestalt einer partiellen Moll-Harmonisierung der melodischen Linie einfließen, die dieser einen leicht wehmütigen Zug verleiht. Aber es scheint kein Zufall zu sein, dass er in der ersten Strophe aus Heines „kleinem Mädchen“ ein „süßes“ macht, was für diesen allein schon deshalb unakzeptabel hätte sein müssen, weil das Adjektiv „süß“ bereits gerade zuvor im Bild von den „Augen“ Verwendung fand.


    Das Lied steht in Des-Dur als Grundtonart, weist einen Zweivierteltakt auf, und die Tempovorgabe lautet „Andante con moto“. Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied, wobei sich die Variation auf die Liedmusik des letzten Verses der zweiten und der des zweiten Verspaares der dritten Strophe beschränkt. Die Strophen sind, was ihren inneren Aufbau anbelangt, nach einem von Franz offensichtlich gerne verwendeten Schema angelegt, das an den des Bars mit Stollen und Abgesang erinnert. Das schließt eine Wiederkehr der melodischen Grundstruktur auf der Liedmusik des zweiten Verspaares der Strophe ein, und das ist tatsächlich auch hier der Fall.


    Die melodische Fallbewegung, die auf den Worten „Mädchen mit dem roten Mündchen“ liegt, kehrt bei den Worten „Du mein liebes süßes Mädchen“ in strukturell unveränderter Gestalt wieder, sie ereignet sich nun allerdings auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene und ist statt in es-Moll, wie das bei der ersten der Fall ist, nun in b-Moll harmonisiert. Es ist ein kontinuierlicher Fall, den sie beim ersten und beim dritten Vers beschreibt, und er ereignet sich in vollkommener Gleichförmigkeit, das heißt: ohne irgendeine Form von Rhythmisierung in der Aufeinanderfolge von deklamatorischen Schritten im Wert von Achteln. Bei dem Wort „roten“ (bzw. „süßes“) geht der Sekundfall in einen doppelten Sekundanstieg über, und am Ende folgt bei „Mündchen“ (bzw. „Mädchen“) ein Quintfall. Das Klavier begleitet mit Figuren die aus einem triolischen Fall von einem Achtel hin zu einem Sechzehntel bestehen, und das ist der Grundbaustein, aus dem sich der Klaviersatz bis zum Ende des Liedes im Diskant zusammensetzt. Die Harmonik rückt bei diesen identischen Melodiezeilen einmal von es-Moll nach As-Dur, das andere Mal von b-Moll nach Es-Dur. Es ereignet also jeweils am Ende eine Wandlung im Tongeschlecht.


    Die Struktur dieser Melodiezeile wurde, einschließlich ihrer Harmonisierung, deshalb so detailliert beschrieben, weil sie in der Kombination mit der jeweils nachfolgenden, und in der Struktur nun nicht identischen Melodiezeile die Quelle für die klangliche Eingängigkeit bildet, die dieses Lied zweifellos aufweist. Sie prägt sich in der Gleichförmigkeit ihres Sich-Neigens, wieder Steigens und dem nachfolgenden Fall sofort ein. Und da man sie ja nun insgesamt fünf Mal vernimmt, will sie einen gar nicht mehr loslassen. Aber es ist nicht nur der eigentümliche klangliche Reiz, der von dieser ihrer Struktur ausgeht, dieser kommt nämlich erst voll zur Geltung durch das Zusammentreffen mit der Gestalt der jeweils nachfolgenden Melodiezeile. Denn diese weist nun in der Abfolge der deklamatorischen Schritte nicht nur eine Rhythmisierung auf, sie entfalten sich auch im Auf und Ab über größere Intervalle, wirken also in ihrem Gestus lebhafter.


    Bei den Worten „Mit den Äuglein süß und klein“ setzt die melodische Linie mit einem Quartsprung ein, der aus einem wie ein Auftakt wirkenden repetierenden Doppel-Sechzehntel-Schritt auf den Worten „mit den“ hervorgeht. Auf dem Wort „Äuglein“ liegt dann ein legato auszuführende Dehnung, bei der ein Achtel-Sekundfall in einen aus zwei Sechzehnteln übergeht. Danach senkt sich die melodische Linie weiter in Sekunden ab und mündet in eine kleine Dehnung bei dem Wort „klar“. Die Harmonik vollzieht bei dieser kleinen Melodiezeile eine durchaus expressive Rückung von Des-Dur nach F-Dur, die den melodischen Akzent, der bei dem Wort „klar“ durch die Dehnung zustande kommt, noch verstärkt. Die Melodik bei den Worten „Deiner denk ich immerdar“, dem letzten Vers also, ist zwar anfänglich vom Gestus des Falls geprägt, der sich in gleich doppelter Weise ereignet: Zunächst als Quintfall auf dem Wort „deiner“, danach dann in Gestalt einer Abwärtsbewegung in Sekundschritten, wobei wieder, wie bei der Melodiezeile auf dem zweiten Vers, ein Sechzehntel-Schritt eingelagert ist. Auch das Klavier folgt mit seinen Standard-Figuren im Diskant dieser Fallbewegung. Sie reicht aber nicht bis zum Ende der Zeile. Am Ende ereignet sich ein Sekundanstieg, der sich, auch weil er mit einer Rückung vom vorangehenden dominantischen Es-Dur nach As-Dur verbunden ist und die melodische Linie auf dem zugehörigen Grundton „As“ enden lässt, als Kadenz erweist.


    Diese Melodik der ersten Strophe wiederholt sich bei der zweiten und auf den beiden ersten Versen der dritten Strophe. Die Variation der melodischen Linie auf dem Schlussvers der zweiten Strophe erweist sich, mit Ausnahme des Sekundstiegs am Ende, als Wiederkehr der melodischen Figur, die auf dem zweiten Vers der ersten Strophe liegt, und nur die Liedmusik auf dem letzten Verspaar bringt eine wirkliche klangliche Neuerung in das Lied. Dies allerdings in markanter Weise, denn sie ist durch eine ganztaktige Generalpause abgesetzt und schon dadurch mit einem ganz besonderen liedmusikalischen Gewicht versehen. „Molto più lento“ lautet hier die Vortragsanweisung. Gerade war, bei den Worten „Deine kleine weiße Hand“ die melodische Linie in einer Fallbewegung auf dem in F-Dur harmonisierten Grundton „F“ in unterer Mittellage angekommen, da tritt völlige Stille in die Liedmusik. Und sie wirkt, so sich denn ihre Interpreten an die Zeit eines ganzen Taktes halten, nach all der Lebhaftigkeit in Melodik und Klaviersatz geradezu überraschend, ja fast verwirrend lang.


    Danach beschreibt die melodische Linie auf den Worten „Und mit Tränen sie benetzen“ eine in hoher Lage bogenförmig in Sekundschritten – darunter ein kleiner – ansteigende und wieder fallende, in des-Moll harmonisierte Bewegung, die bei dem Wort „benetzen“ zu einem expressiven, auf einem hohen „Ges“ ansetzenden dreifachen Sechzehntel-Fall übergeht, der in ges-Moll harmonisiert ist und vom Klavier mit den Obertönen seiner Akkorde im Diskant, von denen der erste ein arpeggierter ist, begleitet wird. Die nachfolgenden Worte „Deine kleine weiße Hand“ werden auf einer ruhig in Sekunden fallenden melodischen Linie deklamiert, die nur einmal noch kurz mit einem gedehnten Sekundanstieg auf der ersten Silbe von „weißen“ innehält, um danach ihren Abwärtsweg fortzusetzen und, verbunden mit einer kurzen harmonischen Rückung in der Dominante, auf der Terz zum Grundton der Tonika Des-Dur ausklingen zu lassen, - dies ohne Nachspiel.


    Dieser Schluss ist zweifellos ein gelungener kompositorischer Griff, der das Lied zu einer die Situation des lyrischen Ichs in seiner Sehnsucht nach einem Zusammensein mit dem „Mädchen mit dem roten Mündchen“ musikalisch voll und ganz einfangenden Komposition werden lässt. Die Innigkeit des Sich-Sehnens und die Zärtlichkeit der Geste, die dem letzten Bild eigen ist, - beides wird wirklich auf beeindruckende Weise vernehmlich.

  • Die Höh'n und Wälder schon steigen
    Immer tiefer in's Abendgold;
    Ein Vöglein fragt in den Zweigen
    Ob es Liebchen grüßen sollt'?


    O Vöglein, du hast dich betrogen,
    Sie wohnet nicht mehr im Tal,
    Schwing' auf dich zum Himmelsbogen,
    Grüß' sie droben zum letztenmal.


    (Joseph von Eichendorff)


    Der vom lyrischen Ich in die Ferne gehende Gruß ist eine für die Lyrik Eichendorffs geradezu typisch-sprachliche Figur. Hier soll er ans „Liebchen“ gehen und vom „Vöglein“ überbracht werden. Der spezifische Reiz dieses zweistrophigen Gedichts besteht darin, dass es mit einem friedlichen, in Gold getauchten Abendbild einsetzt, aus dem sich in der zweiten Strophe erst enthüllt, dass dieser Abend über einer Welt liegt, in der der Tod gewaltet hat. Auch das aber wird erst mit dem letzten Wort des Gedichts sinnfällig. Davor spricht der lyrische Text nur davon, dass das „Liebchen“ nicht mehr im Tal wohne.


    Die Komposition von Robert Franz setzt diesen lyrischen Text in geradezu großartiger, man kann durchaus sagen genialer Weise in Liedmusik um. Das Großartige und Beeindruckende daran ist ihre klangliche Schlichtheit, die aus der Haltung des lyrischen Ichs gegenüber dem schmerzlichen Verlust des geliebten Menschen die eines stillen Sich-Ergebens in die Unabänderlichkeit werden lässt. In einer ruhig, in Gestalt von leicht rhythmisierten Tonrepetitionen sich entfaltenden melodischen Linie drückt sich das schlechterdings Ungeheuerliche aus, und nur die Moll-Harmonisierung und der sich mehrmals ereignende Anstieg der tonalen Ebene, auf denen sie deklamiert werden, künden in verhaltender Weise von der Last, die dem lyrischen Ich auf der Seele liegen muss. In dem, was die Liedmusik zu sagen hat, erschließt sie eine Dimension der Aussage, die dem lyrischen Text nur gleichsam immanent innewohnt. Und das macht ihre Größe aus.


    Das Lied ist durchkomponiert, es steht in d-Moll als Grundtonart, ein Sechsachteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „Andante, leise und innig“ vorgetragen werden. In der Tat bleibt die Liedmusik dynamisch durchweg im Bereich des Pianos, in der ersten Strophe wird sie sogar pianissimo vorgetragen. Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt es ein, in dem das Klavier im Diskant jeweils vier Akkorde im Wechsel von Viertel- und Achtel-Akkord erklingen lässt. Sie werden im Bass synchron von Oktaven begleitet, und dies bleibt bis zum Lied-Ende die – im Grunde höchst schlichte – Grundstruktur des Klaviersatzes.


    Er entspricht darin dem Charakter der melodischen Linie, die ebenfalls strukturell einfach angelegt und in ihrer deklamatorischen Entfaltung in gleicher Weise rhythmisiert ist. Franz hat, wie er das in bevorzugter Weise tut, die Melodik der Strophe nach dem Modell der Untergliederung in zwei Verspaare gestaltet, bei denen sich die melodische Grundstruktur jeweils im Anfangsvers wiederholt, im zweiten dann aber eine unterschiedliche Gestalt annimmt, wobei diese im Schlussvers abgesangmäßige Struktur und Harmonisierung erhält. Die melodische Figur, die auf dem Anfangsvers liegt, erweist sich als prägend für die gesamte Melodik, kehrt sie doch in unterschiedlich starken Varianten immer wieder. Die melodische Linie verharrt in Gestalt von Repetitionen eines Tones in Gestalt einer Abfolge von Achteln, Vierteln und einem Sechzehntel - was eine Rhythmisierung im Sechsachteltakt mit sich bringt – auf einer tonalen Ebene und beschreibt am Ende eine Sprungbewegung, die mit einer harmonischen Rückung verbunden ist. Beim ersten Vers der ersten Strophe ist das ein bei dem Wort „steigen“ stattfindender Sekundsprung mitsamt harmonischer Rückung von d-Moll nach g-Moll, bei dritten Vers hingegen ereignet sich bei dem Wort „Zweigen“ ein Terzsprung, der nun mit einer Rückung in verminderte Fis-Harmonik verbunden ist.


    Beim zweiten Vers der ersten Strophe beschreibt die melodische Linie eine in gleicher Weise rhythmisierte bogenförmig fallende und wieder steigende und in A-Dur harmonisierte Bewegung in unterer Mittellage, die in einem Sekundfall endet, der sie in die Grundtonart d-Moll zurückbringt. Beim letzten Vers ereignet sich aber Ungewöhnliches: Er wird wiederholt, und das hat natürlich seinen guten Sinn, birgt er doch die Schlüsselfrage in sich, die das zentrale lyrische Geschehen auslöst. Zweimal steigt sie melodische Linie hier mit dem gleichen Sechzehntel-Sekundsprung an. Beim ersten Mal geht sie danach nach einem kurzen Sekundfall bei dem Wort „sollt´“ in eine lange Dehnung auf einem hohen „D“ über, die das Klavier im Diskant mit bitonalen d-Moll-Akkorden begleitet; bei der Wiederholung beschreibt die melodische Linie noch einmal die gleiche Bewegung, nun aber in a-Moll-Harmonisierung und mit einem schlichten Terzfall auf dem Wort „sollt´“, der insofern eine Kadenz darstellt, als ihm eine harmonische Rückung über die Dominante E-Dur vorausgeht, die in a-Moll übergeht.


    Es ist eine ganz aus der Melodik kommende und in ihr sich artikulierende Liedmusik, die sich in der ersten Strophe entfaltet. Sie ist nicht auf klangliche Evokation der lyrischen Bilder hin angelegt, sondern auf das Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs. Und in dem zweimaligen, in Tonrepetitionen mit Moll-Harmonisierung sich ereignenden Aufstieg der melodischen Linie auf eine höhere tonale Ebene mit nachfolgendem Rückfall drückt sich bereits in der ersten Strophe die seelische Haltung dieses Ichs aus, die es dann in der Melodik der zweiten Strophe musikalisch explizit werden lässt.


    Dort ist sie zwar anfänglich in der gleichen Weise deklamatorisch rhythmisiert, sie geht jedoch nun schrittweise in Dehnungen und gedehnte Fallbewegungen über, die diesen rhythmischen Gestus gleichsam transzendieren, ohne ihn aber wirklich abschütteln zu können, bleibt er ihr doch gleichsam inhärent. Bei den Worten „O Vöglein, du hast mich betrogen“ setzt die melodische Linie mit der melodischen Figur des Liedanfangs ein, nun aber in der tonalen Ebene um eine Sekunde abgesenkt. Bei dem Wort „Tal“ geht sie nach einem Terzsprung in eine lange Dehnung auf einem hohen „Des“ über, und bei „Himmelsbogen“ beschreibt sie auf der Silbe „bo“ einen legato auszuführenden gedehnten Quartfall.


    Am Ende aber, bei den Worten „Grüß´ sie droben zum letzten Mal“, wirkt sie, als habe sie alle Bemühungen um ein Sich-Bewegen aufgegeben, - was ja auch der Haltung des lyrischen Ichs entspricht, wie sie sich in dieser Bitte an das „Vöglein“ ausdrückt. Sie überlässt sich einem langen, nämlich drei Takte umfassenden Verharren auf der tonalen Ebene eins „A“ in mittlerer Lage, dies zwar durchaus noch in silbengerechter Deklamation, jedoch „ritardando e diminuendo“ in gedehnter Form und unter allmählichem Erlöschen der Rhythmisierung. Das Wort „letztenmal“ erklingt in Gestalt von drei punktierten Vierteln, wobei das letzte sogar noch um ein weiteres Viertel legato erweitert ist. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung über die Dominante A-Dur nach D-Dur.
    Ein Nachspiel gibt es nicht. Es wäre nach diesem wie in tiefer Müdigkeit sich ereignenden Erlöschen der Liedmusik unangebracht.

  • Ja, du bist elend, und ich grolle nicht;
    Mein Lieb, wir sollen beide elend sein!
    Bis uns der Tod das kranke Herze bricht,
    Mein Lieb, wir sollen beide elend sein!


    Wohl seh ich Spott, der deinen Mund umschwebt,
    Und seh dein Auge blitzen trotziglich,
    Und seh den Stolz, der deinen Busen hebt,
    Und elend bist du doch, elend wie ich.


    Unsichtbar zuckt auch Schmerz um deinen Mund,
    Verborgne Träne trübt des Auges Schein,
    Der stolze Busen hegt geheime Wund,
    Mein Lieb, wir sollen beide elend sein!


    (Heinrich Heine)


    In geradezu hartnäckiger, weil in sich permanent in verschiedenen sprachlichen Varianten wiederholender Weise konstatiert das lyrische Ich in diesen Versen sein „Elend“, und es geht dabei so weit, den – wohl in Liebe begehrten – anderen Menschen in diese existenzielle Befindlichkeit einzubeziehen und dem gemeinsamen Elend eine Finalität zuzuschreiben, indem es behauptet: „Wir sollen beide elend sein.“ Es werden Symptome am Du ausgemacht, die für die Gemeinsamkeit des „Elend“ zu sprechen scheinen, und dabei werden Stolz, Trotz und Spott im gewünschten Sinne uminterpretiert. Und dies alles doch wohl, um das eigene „Elend“ in der Hypothese von Gemeinsamkeit erträglicher werden zu lassen, - wenn es denn schon eine Gemeinsamkeit in Liebe gibt.


    Die Komposition von Robert Franz auf diese Heine-Verse fängt den Gestus des Sich-Hineinsteigerns in die These von Gemeinsamkeit im Elend und die damit einhergehende Vereinnahmung des Partners mit einer Liedmusik ein, die den Schwerpunkt auf die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs legt, sein „Elend-Sein“ also. Das geschieht mit einer immer wieder aufs Neue in Moll-Harmonisierung fallenden melodischen Linie, bei der bestimmte deklamatorische Figuren in Variation wiederkehren und darin das Sich-Ergehen des lyrischen Textes im repetierenden Konstatieren reflektieren. Es ist ein wirkliches Sich-Einfühlen in die Situation des lyrischen Ichs, die man in dieser in ruhig-schmerzlichem Klageton entfaltenden Liedmusik zu vernehmen meint. Die Dimension der untergründigen Selbstreflexion, die Heines Versen ja ebenfalls aufweist und schon gleich am Anfang in den Worten „ich grolle nicht“ lyrisch-sprachlich aufschimmert, bleibt in dieser Liedmusik unerschlossen, - was wohl auch der Grund für ihre klangliche Anmut sein dürfte.


    Das Lied ist durchkomponiert, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Largo appassionato“. Wenn man aus den drei „B“ als Vorzeichen schließen würde, dass die Liedmusik in Es-Dur, bzw. der Parallele c-Moll als Grundtonart stehe, dann würde man als ihre Hörer alsbald eines Besseren belehrt. Die Harmonik erweist sich dem genaueren Hinblick in ihren Rückungen und Modulationen als hochgradig komplex, insofern sie ohne wirkliches harmonisches Zentrum im Bereich von B-und Kreuz-Tonarten weit ausgreift. Das Eigenartige dabei ist freilich, dass man das gar nicht so empfindet, vielmehr als der Bewegung der melodischen Linie und ihrer Aussage voll und ganz gemäß auffasst. Und so ist das ja auch: In dieser Art Weise, wie die melodische Linie entfaltet und wie sie darin harmonisiert ist, schlägt sich die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs nieder, so wie Franz sie in der Rezeption der Verse Heines wahrgenommen hat. Es ist die eines an seinem existenziellen Elend Leidenden.


    Der Gestus der konstatierenden Ansprache, der die lyrische Sprache in elementarer Weise prägt, schlägt sich in der Melodik in Gestalt einer Untergliederung in kleine, durch mehr oder weniger lange Pausen und harmonische Rückungen voneinander abgehobene Zeilen nieder. Man begegnet dem gleich am Anfang in gleichsam exemplarischer Weise, - und dies auch hinsichtlich der Art und Weise, wie die melodische Linie die lyrische Aussage reflektiert. Auf den Worten „Ja, du bist elend“ liegt, dem sprachlich konstatierenden Gestus gemäß, eine melodische Fallbewegung, die, das „Ja“ akzentuierend, mit einer Dehnung in hoher Lage ansetzt, in einen Quartfall übergeht, dort sich in Achtel-Tonrepetitionen mitsamt kleinem Sekundfall fortsetzt und in einem leicht gedehnten Terzfall auf dem Wort „elend“ erst einmal endet. Denn eine Dreiachtel-Pause folgt nach. Sowohl das Ausrufartige des lyrischen Textes, wie auch seine sich im Wort „elend“ verdichtende Semantik wird mit dieser Struktur der melodischen Linie voll und ganz aufgefasst. Und die Harmonik liefert dazu einen höchst markanten Beitrag: Sie vollzieht eine hochgradig expressive Rückung von Es-Dur nach e-Moll.


    Die Worte „und ich grolle nicht“ weisen eine ganz andere melodische Linie auf und sind durchgängig in e-Moll, mit einer kurzen Rückung in die Dominante H-Dur, harmonisiert. Auch darin reflektiert die Melodik die lyrische Aussage. Die melodische Linie beschreibt einen Bogen aus triolischen Achteln und einem Viertel, sinkt bei „grolle“ mit einem veritablen Oktavfall in tiefe Lage ab, um sich bei dem Wort „nicht“ mit einem in eine Dehnung mündenden Quartsprung daraus wieder zu erheben. Das Klavier begleitet mit Figuren im Diskant, die aus einer Aufeinanderfolge von bitonalen Achtelakkorden und einem Fall eines Einzelachtels bestehen. Sie werden nach einem Bass-Einzelton angeschlagen, der in seinen Bewegungen der melodischen Linie Folgt. Das ist – mit nur wenigen Ausnahmen – die Struktur des Klaviersatzes im ganzen Lied, wobei häufig aus dem Einzelton im Diskant ein zweiter bitonaler Achtelakkord wird. Er verleiht mit dieser Struktur der melodischen Linie die Rhythmisierung eines ruhigen Schreitens, das von den Achtelfiguren des Diskants gleichsam umspielt wird. Verstärkt wird dieser Effekt durch die kurzen Zwischenspiele, in denen Oktaven im Bass die letzten melodischen Schritte noch einmal nachvollziehen.


    Es ist immer die gleiche Figur, die das Klavier in den Zwischenspielen mir seinen Oktaven im Bass beschreibt, nur dass dies auf wechselnden tonalen Ebenen und in unterschiedlicher Harmonisierung geschieht: Ein zweimaliger Anstieg in Sekundschritten, dem ein Oktavfall nachfolgt. In der ersten und der dritten Strophe erklingt er in den eintaktigen Pausen am Ende der Melodiezeilen, die regelmäßig je einen Vers umfassen, darin aber mehrfach noch einmal eine Binnengliederung aufweisen. Nur am Strophenende fehlt diese Oktavenfigur, sie wird dort durch einen arpeggierten Akkord ersetzt. Aber auch in der zweiten Strophe, die sich in ihrer Liedmusik – in der Struktur der Melodik, der Harmonik und im Tempo („etwas bewegter“) von den einander zugehörigen Strophen eins und drei abhebt, erklingt diese Figur am Ende der Melodiezeilen auf den ersten drei Versen. Und das heißt: Man vernimmt sie bei diesem Lied im Klavierbass insgesamt neun Mal. Verwunderlich allerdings ist dabei, dass dies auch in der Mittelstrophe der Fall ist.


    Warum? Und warum überhaupt diese krämerische Aufzählerei? Nun, das sagt etwas über das Wesen der Liedkomposition von Robert Franz. Es sagt sogar sehr viel. Hört man nämlich genau hin, dann kommt einem diese Bassoktaven-Figur alsbald sehr bekannt vor. Und das ist in gar keiner Weise verwunderlich, verkörpert sie doch klanglich den Geist der Melodik dieses Liedes. Die melodische Linie den ersten drei Versen der ersten Strophe endet in bemerkenswerter Regelmäßigkeit mit einem aus einem Sekundanstieg heraus erfolgenden Oktavfall, dem ein in eine Dehnung mündender Quartsprung nachfolgt. Das ist die melodische Figur, die die Liedmusik in maßgeblicher Weise prägt. Und das tut sie auch dort, wo die melodische Linie – wie in der zweiten Strophe und bei den ersten beiden Versen der dritten – am Ende eine davon abweichende Bewegung beschreibt. Am Ende der melodischen Linie auf dem dritten Vers der dritten Strophe, bei den Worten „hegt geheime Wund“ also, kehrt sie allerdings wieder zu dieser ihr eigentliches Wesen verkörpernden Figur zurück. Und auch hier in der für sie so typischen Rückung von Moll nach Dur, - hier von Des-Dur nach g-Moll.


    Weil dieses Lied in der klanglich beeindruckenden Art und Weise, wie es seinem Hörer entgegentritt, hier nicht liedanalytisch zerpflückt werden darf, soll ich die Betrachtung auf das Nachdenken über diesen Sachverhalt seiner Faktur beschränken. Zunächst einmal: In der Dominanz dieser melodischen Figur drückt sich ein fundamentales Wesensmerkmal der Liedkomposition von Robert Franz aus, der Intention, die ihr zugrundeliegt. Man könnte sie auf den Nenner bringen: Thematische Konzentration der Liedmusik auf ein melodisches Motiv, das die Aussage des lyrischen Textes in ihrem Kern, so wie er sich in der Rezeption desselben darstellt, zu erfassen in der Lage ist. Hier ist es das „Elend-Sein“ des lyrischen Ichs, das sich in diesem permanenten, in Moll-Harmonik gebetteten Oktavfall in Melodik und Klaviersatz klanglichen Ausdruck verschafft.


    Aber so eindimensional ist diese melodische Figur ja gar nicht, und das zeigt, wie sensibel die Liedmusik von Robert Franz für die lyrische Sprache von Heinrich Heine ist. In der gibt es ja doch neben der Klage „Ich bin elend“ auch die Ansprache an das „Du“ im Gestus der Vereinnahme zur Schaffung von Zweisamkeit im Leid, - wo es denn in der Liebe nicht möglich ist. Und deshalb dieser mit Rückung in Dur-Harmonik gekoppelte Quartsprung am Ende dieser liedmusikalisch so zentralen Figur. Deshalb auch die Abkehr der melodischen Linie vom Oktavfall mit Quartsprung am Ende, wie das in der zweiten Strophe der Fall ist. Stattdessen ein geradezu insistierendes Verharren in Gestalt von Sekundschritten auf und ab in hoher Lage. Dies aber in durchgehender Begleitung durch die weiterhin in Klavierbass gegenwärtige melodische Zentralfigur.


    Die Vereinnahmung des lyrischen „Du“ für die Gemeinsamkeit des Elends erreicht ihren liedmusikalischen Höhepunkt in den Aufgipfelungen der melodischen Linie bei den Worten „Schmerz um deinen Mund“ und „trübt des Auges Schein“ in der dritten Strophe. Die Harmonik unterstützt dies mit markanten Rückungen von a-Moll über H-Dur nach e-Moll und – geradezu kühn – von e-Moll über C-Dur nach f-Moll. Dann aber kehrt die Melodik wieder zu sich selbst, ihrem klanglichen Wesenskern zurück. Bei den Worten „geheime Wund“ und „elend sein“ beschreibt sie wieder ihren Oktavfall mit nachfolgendem, in eine Dehnung mündendem Quartsprung.


    Aber während beim ersten Mal die Harmonik wieder ihre Rückung von Dur nach Moll (hier Des-Dur und ges-Moll) vollzieht, ereignet sich am Schluss des Liedes, also bei „elend sein“ eine Rückung von c-Moll über die Dominante nach G-Dur. Der Quartsprung führt die melodische Linie nun hin zu einem gedehnten „G“ in mittlerer Lage, das vom Klavier mit einem arpeggierten G-Dur-Akkord begleitet wird.
    Das lyrische Ich, so will die Liedmusik hier wohl verstanden werden, sieht das Elend-Sein als Beiden auferlegtes Schicksal, und weil sich daraus eine Gemeinsamkeit ergibt – die einzige, die noch möglich ist – empfindet es diesen Sachverhalt als positiv.

  • Dieses Lied „Ja, du bist elend“ ist das letzte der insgesamt sechs Lieder des Opus 7, das Franz Liszt gewidmet ist. Das zugrundliegende Gedicht folgt im „Lyrischen Intermezzo“ als Nummer 19 unmittelbar auf „Ich grolle nicht“ und schließt im ersten Vers ja mit dieser Wendung direkt an dieses an. Franz hat wohl bei seiner Auswahl nicht zur Nummer 18 gegriffen, weil er vermeiden wollte, in unmittelbare Konkurrenz zu Robert Schumann zu treten, - sehr wohl wissend, dass er mit seiner Vertonung von „Ich grolle nicht“ nicht an die von diesem heranreichen würde.
    „Ja, du bist elend“ war übrigens, wie wir von dem Schwager von Robert Franz, dem Komponisten und Philosophen Friedrich Wilhelm Hinrichs wissen, längere Zeit das Lieblingslied Richard Wagners, der es einmal, sich dabei selbst begleitend, in Gegenwart von Franz vortrug. Dieser soll geschockt von dem Pathos gewesen sein, das Wagner dabei an den Tag legte.

  • Grolle lauter, zürnend Gewitter,
    Sturmwind, rase, du wilder Geselle,
    Öffne dem Blitz das Wolkengitter,
    Daß er die schwarze Nacht mir erhelle.
    Tröstlich ist mir, o Himmel, dein Hadern:
    Zweifel im Herzen, Zorn in den Adern,
    Bin ich von meinem Mädchen geschieden,
    Ohne Kuß und Wort, so ging ich fort
    In die grollende Nacht und suche Frieden.


    Weh! Auf ewig ist mir verloren
    Jenes selige Glück des Bundes,
    Das ihr Auge mir zugeschworen
    Und der glühende Hauch des Mundes.
    Träume der Jugend, wie seid ihr verflogen,
    Falsch wie die Schwüre habt ihr gelogen!
    Schneidend fühl' ich durchs Herz mir beben
    Das Blitzeslicht:"Sie liebt mich nicht!"
    Mein Herz ist gebrochen, was soll ich leben?


    Grolle lauter, Gewitterstimme,
    Flammender Himmel, wild und vermessen
    Laß mich eifern mit deinem Grimme,
    Laß die Kälte mich ewig vergessen!
    Aber du schweigst in säuselnden Regen
    Wandelt dein Zorn sich, Himmel, in Segen,
    Tränen der Liebe, o rieselt nieder!
    Ach! ohne sie genes' ich nie!
    Mädchen, Geliebte, liebe mich wieder!


    (Karl Wilhelm Osterwald)


    In diesem Gedicht des Pädagogen, Schriftstellers und Kirchenlied-Verfassers Karl Wilhelm Osterwald (1820-1887) wird das Gewitter zur Metapher für all das, was die Trennung von der Geliebten für das lyrische Ich mit sich bringt. Sie wird lyrisch-sprachlich kräftig und plastisch gezeichnet und in unmittelbaren Kontext zur menschlichen Ebene, der Konkretisierung der nun aufgekündigten Liebesbeziehung gebracht, wenn von den verflogenen Träumen der Jungend gesprochen und die Erkenntnis „sie liebt mich nicht“ zur „Blitzeslicht“-Erfahrung wird. Am Ende aber ereignet sich Erstaunliches: Das Gewitter klingt ab, der „säuselnde Regen“ wird zu „Tränen der Liebe“ und das lyrische Ich bricht in den Ruf aus: „Mädchen, Geliebte, liebe mich wieder!“


    Das ist ein entsprechend gewaltiges emotionales und lyrisch-sprachliches Gewitter, was sich in diesen Versen ereignet, und so mutet auch die Liedmusik von Robert Franz darauf an: Sie wirkt in einer Weise hochgradig expressiv und sich in melodischen, harmonischen und dynamischen Extremen entfaltend, wie das dem Hörer in den bislang hier vorgestellten Liedern noch nicht begegnet ist und wie es auch wohl einen Ausnahme-Fall in seinem liedkompositorischen Werk darstellen dürfte. Das muss aber eine Vermutung bleiben, da sich diese Feststellung nicht auf eine umfassende Kenntnis dieses Werkes zu stützen vermag. Die grelle Metaphorik des lyrischen Textes und die darin zum Ausdruck kommenden, zwischen elegischer Erinnerung und unmittelbar gegenwärtigem emotionalem Ausbruch pendelnden Aussagen des lyrischen Ichs finden jedenfalls adäquaten liedmusikalischen Ausdruck.


    Robert Franz hat seine Komposition als variiertes Strophenlied angelegt. Dabei hat er die drei Strophen in ein A-B-Schema untergliedert, bei der dritten Strophe daraus aber einen A-C-Teil gemacht. Auf den ersten vier Versen der drei Strophen liegt jeweils die – nur unwesentlich variierte – Liedmusik. Sie bildet den A-Teil des Strophenlied-Schemas. Nach einem dreitaktigen Zwischenspiel, das vor der letzten Strophe einer Variation unterzogen wird, erklingt bei der ersten und zweiten Strophe auf den nachfolgenden fünf Versen eine im zweiten Fall in Melodik und Klaviersatz zwar variierte, aber in ihrer Substanz identische Liedmusik, - der B-Teil des Liedes also. Die überraschende Wandlung in der Haltung des lyrischen Ichs in den letzten fünf Versen der dritten Strophe bewirkt einen ebenso tiefgreifenden Wandel der Liedmusik, so dass aus dem „Allegro maestoso ed appassionato“, das „mit größter Energie“ auszuführen und vorzutragen ist, nun ein „Larghetto“ wird, für das die Anweisung „Mit innigster Empfindung“ gilt und in dem die melodische Linie, die sich zuvor unter Moll-Harmonisierung in heftigem Auf und Ab bewegte, sich jetzt mit einem Mal „dolce“ und überwiegend in Des-Dur-und Ges-Dur-Harmonik entfaltet. Darin stellt sich dieser letzte Teil des Liedes als das „C“ im liedkompositorischen Strophen-Schema dar.


    Wird aus all diesen Gegebenheiten seiner liedkompositorischen Faktur ein einheitliches, in sich geschlossenes liedmusikalisches Gebilde? Seinem Rezipienten begegnet es durchaus so, und daran dürfte eben dieses kompositorische Strophenlied-Konzept einen maßgeblich-ursächlichen Anteil haben. Das hat freilich seinen Preis, was den Grad anbelangt, in dem die Melodik die lyrische Aussage zu reflektieren vermag. Diesbezüglich ist – besonders in der zweiten Strophen - zweifellos ein partieller Mangel an Binnendifferenzierung zu konstatieren. Auf den klanglichen Eindruck, den das Lied zu vermitteln vermag, und damit ebenso auf seine musikalische Aussage, wirkt sich das nicht wirklich aus. Immerhin, und das gibt zu denken, hat ein Hugo Wolf diesem Lied als einzigem im Werk von Robert Franz seine Anerkennung gezollt. Man möchte vermuten, dass dies an der Intensität liegt, mit der die Liedmusik die Aussage des lyrischen Textes und seine Metaphorik reflektiert.


    Und die ist in der Tat hochgradig ausgeprägt, wie anhand einiger repräsentativer Beispiele aus dem A- und B-Teil der ersten Strophe und dem C-Teil der dritten aufgezeigt werden soll. Das Lied setzt ohne Vorspiel ein, und die melodische Linie entfaltet sich sofort in einem geradezu stürmischen Gestus. Sie durchmisst im A-Teil mit Sprüngen und Fallbewegungen über z.T. große Intervalle beachtliche tonale Räume, und dies in Forte und Fortissimo-Deklamation. So liegt auf dem Wort „grolle“ ein gedehnter Quintfall, und danach geht es mit der melodischen Linie auf dem ersten Vers abwärts über das Intervall einer Undezime bis in extrem tiefe Lage. Beim zweiten Vers wiederholt sich diese melodische Fallbewegung noch einmal, nur dieses Mal nur über das Intervall einer Septe, sie sinkt also bei dem Wort „Geselle“ nicht weiter in die Tiefe, sondern verharrt in Gestalt einer Tonrepetition. Bei den Worten „Öffne dem Blitz das Wolkengewitter“ reflektiert die melodische Linie die Metaphorik mit einem fortissimo auszuführenden Auf und Ab über eine Sexte und zwei Quinten, die das Klavier, das bislang mächtige triolisch angelegte Akkordfolgen im mit vorgeschalteten Oktaven erklingen ließ, nun mit Figuren aus fallenden und repetierenden Achteln im Diskant begleitet. Beim letzten Vers geht die melodische Linie nach einem Quintfall bei den Worten „schwarze Nacht mir erhelle“ in eine Bogenbewegung in tiefer Lage über, die vom Klavier mit einem Auf und Ab von Achteln im Diskant und Oktaven im Bass unisono mitvollzogen wird.


    Die Harmonik bewegt sich bei der A-Strophe im wesentlichen zwischen der Grundtonart es-Moll und ihrer Dominante. Erst am Ende, bei der Tonrepetition der melodischen Linie auf den letzten Silben des Wortes „erhelle“, die das Klavier mit einem mächtigen Tremolo begleitet, ereignet sich in Gestalt Aufstiegs von Terzen im Diskant eine Rückung nach b-Moll, mit der das Zwischenspiel eingeleitet wird, in dem das Klavier noch zwei weitere Male mächtige Tremoli im Klavierbass erklingen lässt, bevor nach einer fast ganztaktigen Generalpause die Liedmusik der B-Strophe einsetzt. Diese hebt sich in den ersten vier Versen durch eine stärker gebundene, weniger sprunghaft ausgerichtete und kleinere tonale Räume durchmessende Melodik von der A-Strophe ab. Die Harmonik weist deutlich größeren modulatorischen Reichtum auf. Sie vollzieht zunächst – also bei den ersten vier Versen – Rückungen im Bereich von C-Dur und f-Moll, kehrt aber im letzten Teil in den Bereich der Grundtonart es-Moll zurück und moduliert dort im Raum von Dominante und Subdominante. Die Dynamik verbleibt anfänglich durchgehend auf der Stufe des Pianos, bricht aber dann bei den Worten „ohn Gruß und Wort, so ging ich fort“, ins Forte und Fortissimo aus.
    Das ist ohnehin in jeglicher Hinsicht eine Art herausgehobene Passage in der Liedmusik der B-Strophe. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie, durch eine Pause unterbrochen, einen Quintfall aus einer Dehnung und geht zunächst in ein Auf und Ab über, gipfelt dann aber über eine Kombination aus Terz- und Quartsprung mit Dehnung in hoher Lager auf. Das Klavier begleitet mit forte angeschlagenen drei- und vierstimmigen Akkorden, und die Harmonik rückt erst von es-Moll nach b-Moll, dann von es-Moll nach as-Moll.


    Die melodische Linie wirkt bei den ersten vier Versen in ihrer Anlage so, als bewege sie sich auf diesen Ausbruch der Liedmusik in die Fortissimo-Expressivität in Gestalt eines langsamen Sich-Steigerns zu. Ohne zwischengeschaltete Pause beschreibt sie bei den ersten vier Versen aus einem Fall hervorgehende bogenförmige Bewegungen, bei denen sich in der Wiederholung die tonale Ebene jeweils anhebt, und das Klavier lässt dazu durchweg im Diskant Folgen von fünf Achtelakkorden erklingen, die jeweils nach einer Achtelpause einsetzen. Am Ende, bei den Worten „in die grollende Nacht und suche Frieden“ senkt sich die melodische Linie nach einem kurzen Anstieg in unterer Mittellage in tiefe Lage ab und beschreibt bei dem Wort „Frieden“ einen gedehnten Sekundfall mit nachfolgendem Sekundanstieg. Zuvor lässt das Klavier wieder sein as-Moll-Tremolo im Bass erklingen, - nun aber im Pianissimo. Nach dem expressiven Forte-Ausbruch bei den Worten „so ging ich fort“ hat die Liedmusik nun erst einmal zur Ruhe gefunden.


    Beim „Larghetto“, der C-Strophe also, leitet das Klavier wieder mit seinem Zwischenspiel aus aufsteigenden Achteln über, nun aber ohne das Tremolo in den Bässen. Die Liedmusik nimmt nun einen lieblichen Ton an. Die melodische Linie bewegt sich ruhig in mittlerer Lage und neigt dazu, auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verbleiben. Nur dort, wo es die lyrische Aussage, bzw. das lyrische Bild es verlangen, geht sie zu Sprungbewegungen über, so bei „säuselnden Regen“ (Septfall mit nachfolgendem triolischem Aufstieg) und bei „Tränen der Liebe“. Hier geht sie aus einem Fall in einen, dolce auszuführenden Sextsprung über und beschreibt bei „Liebe“ einen Septfall, wobei das Klavier einen klanglich lieblich wirkenden Bogen aus Oktaven über repetierenden Akkordfolgen im Bass beschreibt. Die Harmonik, die in dieser Schlussstrophe nur wie flüchtig das Tongeschlecht Moll streift, vollzieht hier eine Rückung von Ges-Dur nach Des-Dur. Genauso lieblich klingt der melodische Bogen auf den Worten „o rieselt nieder“, den das Klavier im Diskant wieder mit zunächst fallenden, dann ebenfalls einen Bogen beschreibenden Oktaven begleitet.


    Noch einmal, bei dem Wort „Geliebte“ nämlich. Vollzieht die melodische Linie einen, dieses mit einem Akzent versehenden Sextsprung mit nachfolgendem Sekundfall, und dann klingt sie bei den Worten „liebe mich wieder“ mit einem ruhigen Fall in Sekunden und einer Dehnung auf dem Wort „wieder“ aus. War sie bei dem Wort „Geliebte“ in Moll (es-Moll) harmonisiert, so ist sie es hier auch bei dem Wort „liebe“ noch einmal. Dieses Moll (as-Moll) fungiert aber als klanglich liebliche Vor-Dominante zu der nachfolgenden harmonischen Rückung von Ges-Dur über Des-Dur und zurück nach Ges-Dur, in der das Lied ausklingt.
    Im dreitaktigen, in einen Ges-Dur-Akkord mündenden Nachspiel vollzieht das Klavier mit bitonalen Achtel-Figuren die letzte Bewegung der melodischen Linie noch einmal nach.

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