Gustav Mahler: 6. Sinfonie a-Moll - die Tragische

  • In meinem Vorbericht habe ich geschrieben, dass der Ausdruck "Die Tragische" passt. Heute war ich etwas anderer Meinung, als ich den dynamisch-rhythmisch-temporalen Ablauf insgesamt über alle vier Sätze gewichtete. Ich finde: dramatisch trifft es mindestens genauso gut.


    Lieber Willi,


    heute höre ich die späte Neumann-Aufnahme, die ich aus Japan bekommen habe:



    Auch da steht auf dem Cover "Die Tragische". Die Bezeichnung bezieht sich auf die Hammerschläge im Finale, wo der "Held" der Symphonie vom Schicksal zu Fall gebracht wird.


    Abbado spielt in dieser Aufnahme (anders als in seiner alten aus Chicago) wie es scheint den langsamen Satz vor dem Scherzo? Das hat die neue Mahler-Ausgabe "verbrochen". Schlüssig ist das nämlich nicht. Haitink ist zum Glück bis heute bei der bis dahin üblichen Reihenfolge geblieben.

    Denn es sind auch etliche Sequenzen dabei, die regelrecht ins Triumphale gehen.

    Ja, aber das geschieht nach dem Motto: Je höher der Aufschwung, desto tiefer der folgende Fall. Mahler hat die Reihenfolge der Themen im Finale krebsgängig umgekehrt. Im Kopfsatz folgt das positive, überschwängliche Seitenthema (nach Mahler ein Portrait von Alma) auf die garstigen Marschcharaktere. Der Satz endet - doppeldeutig - mit einer Scheinapotheose, einem nur erzwungenen positiven Schluss. Im Finale schwebt durch die Umkehrung das sich wiederholende böse Erwachen wie ein Damoklesschwert über dem überschwänglichen positiven Thema. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Ich weiß nicht, wie lange ich diese Aufnahme nicht mehr gehört habe – vielleicht 30 Jahre? Meine erste Berührung mit Mahlers 6. verlief über diese Abbado-Platte. Früher besaß ich sie auf LP – die Schallplatten sind aber schon lange verkauft. Da ich glaubte, diese Aufnahme „verinnerlicht“ zu haben, wurde sie einfach nicht in meine CD-Sammlung aufgenommen. „Schuld“ daran war sicher auch die Bernstein-Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern – vielleicht Bernsteins beste Mahler-Aufnahme.


    Heute endlich höre ich Abbados 6. wieder und denke: Was für ein riesen Fehler, sie quasi „vergessen“ zu haben! Das ist wahrlich meisterhaft. Abbado zeigt hier seine ganz große Qualität, nämlich eine – man kann es nur so nennen – ideale Balance herzustellen. Freilich nicht etwa im Sinne eines egalisierenden Mittelmaßes. Nein. Er übertreibt nicht, und trotzdem wird nichts unterdrückt, sondern alles gesagt! Die 6. ist vielleicht Mahlers komplexeste Symphonie, weil sie scheinbar Unvereinbares vereint: sowohl einen Klassizismus als auch einen auf Schönberg und die Neue Musik vorausweisenden Expressionismus. Genau hier zeigt Abbado seine außergewöhnlichen musikalischen Qualitäten, diesen Drahtseilakt des Balancierens ohne jeden Wackler von Anfang bis Ende mit größter Umsicht, höchst intelligent und mit bewundernswerter Einfühlsamkeit in die emotionalen Tiefen durchzuführen. Der Marsch im Kopfsatz hat Wucht, „markig“ wie Mahler es vorschreibt und damit den nötigen Trotz der Verzweiflung, gleichwohl werden die „architektonischen“ Kontraste und Proportionen penibel und glasklar austariert. Anders als Bernstein braucht Abbado keine extrovertierten „Gesten“, um beklemmende Ausdrucksgewalt zu erzeugen. Beeindruckend auch das Gefühl, dass er das Scherzo eben nicht „nur“ wuchtig nimmt, sondern auch die gewisse Scherzo-Leichtigkeit gewährt, welche es als „klassisches“ Scherzo erscheinen lässt. Alle Facetten dieses Mahler typisch „komplexierten“ Scherzos sind hier in der Folge zu hören – die Stimmungsumschwünge bis hin zur rabenschwarzen Unheimlichkeit. Das Andante besticht durch eine niemals süßliche, aber dafür kraftvolle und zugleich punktgenaue, plastische Phrasierung, wie ich sie sonst nur bei Mrawinsky bewundern kann – Trauer nicht larmoyant, sondern als heftige Leidenschaft einer kraftvollen Seele als Fortsetzung der „diesseitigen“ Stimmung der 5. – dann freilich mit den tragisch kollabierenden „Durchbrüchen“, die vergeblich aus dieser Welt weg wollen in ein „himmlisches Leben“ . Das alles ist zudem absolut durchsichtig musiziert bis in die letzte Stimmenverästelung. Im Finale – dem hochkomplexen dramatischen Gipfel der Symphonie – zeigt sich ein Meisterstück an Gestaltungskraft des großen Dirigenten. Abbado dirigiert unglaublich präzise und subtil, wobei ihn das wirklich phantastische Orchester voll unterstützt, so als ob es spieltechnisch und musikalisch keinerlei Grenzen kennen würde. Eine wahrlich meisterliche Interpretation in jeder Hinsicht! Zum Glück spielt Abbado hier noch die Reihenfolge Scherzo-Andante und folgt nicht dem philologistischen Sündenfall der neuen Mahler-Edition, die Satzfolge umzustellen, was schlicht die Dramaturgie in der Satzfolge zerstört. (Mahler hat in dieser Hinsicht immer geschwankt, nicht nur bei der 6. Symphonie, und man sollte deshalb die Entscheidung der Interpretation überlassen und nicht auf formalistischen Kriterien herumreiten, denn wirkliche Eindeutigkeit lässt sich in dieser Frage unter Berücksichtigung wirklich aller Aspekte einfach nicht herstellen. Positivistisch betrachtet bleibt diese Frage deshalb letztlich unentscheidbar.)


    Ich brauche nur drei Aufnahmen der 6.: diese von Abbado, Bernstein mit den Wienern und den ebenfalls fabelhaften Vaclav Neumann mit der Tschechischen Philharmonie (Supraphon). :) :) :)


    Siehe auch:


    Claudio Abbado - "übersehener" Großer?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich habe die 6. Symphonie in der Einspielung mit John Barbirolli kennen- und schätze gelernt. Bis heute eine meiner Lieblingsaufnahmen sowohl dieser Symphonie wie auch dieses Dirigenten.



    Später kamen Bernstein, Gielen und Tilson-Thomas hinzu.


    Kürzlich erstanden, aber noch nicht gehört. Das sind nicht die Aufnahmen aus der Studio GA, sondern Live-Mitschnitte. Mit einer der beiden Symphonien (leider weiß ich nicht mehr genau mit welcher) habe ich Tennstedt in der Carnegie Hall live erlebt.


  • Von Sir John gibt es auch noch eine Live-Aufnahme mit demselben Orchester, dem New Philharmonia Orchestra (1967, Stereo):



    Daneben wurde bereits zu Beginn dieses Thread auch Jascha Horenstein lobend erwähnt. Hier gibt es zwei Aufnahmen, einmal mit dem Stockholm Philharmonic Orchestra (1966, Stereo) sowie mit dem Bournemouth Symphony Orchestra (1969, Mono):


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe die 6. Symphonie in der Einspielung mit John Barbirolli kennen- und schätze gelernt. Bis heute eine meiner Lieblingsaufnahmen sowohl dieser Symphonie wie auch dieses Dirigenten.

    Das kann ich sehr gut verstehen. Diese Aufnahme hat etwas ganz Besonderes, Einmaliges, Charakteristisches. Das zeigt sich schon am Beginn, wie Barbirolli die Celli und Kontrabässe spielen lässt. Er war ja selber Cellist und arbeitete mit den Streichern besonders intensiv. Die Testament-Liveaufnahme finde ich nicht so gut wie die Studioaufnahme - diese ist unmittelbarer und packender und hat den besseren Klang.
    Mit Abbados Aufnahme aus Chicago konnte ich noch nie etwas anfangen - sie hat das Problem vieler Aufnahmen der Sechsten: sie ist zu glatt und professionell, ja zu steril und auch zu schnell gespielt.
    Tennstedts EMI-Studioaufnahme hat mich hingegen von Anfang an begeistert. Diese Intensität und, ja, auch die drückende Schwere dieser Aufnahme, die erstaunlich voll und mächtig klingt und auch die gemessenen, schreitenden Tempi von Tennstedt treffen m. E. voll ins Schwarze.
    Bernsteins Wiener Aufnahme ist sehr gut, aber als ich sie neulich einmal wieder im Vergleich hörte, fand ich sie nicht mehr so gut wie früher. Trotzdem entwickelt Bernstein eine mächtige Sogwirkung, die er bis zum Schluss aufrecht erhält.


    Eine absolut hervorragende Aufnahme legte übrigens Mariss Jansons mit dem London Symphony Orchestra live in 2002 hin:



    Diese Aufnahme wird oft übersehen, völlig zu Unrecht. Hier zeigen sich Jansons Fähigkeiten: uneitle Zurücknahme seiner Person, Konzentration aufs Wesentliche, messerscharfe Analyse des Notentextes, volle Kontrolle übers Orchester.

  • Mit Abbados Aufnahme aus Chicago konnte ich noch nie etwas anfangen - sie hat das Problem vieler Aufnahmen der Sechsten: sie ist zu glatt und professionell, ja zu steril und auch zu schnell gespielt.

    Von wegen "zu schnell". Dann vergleichen wir doch mal die Zeiten. Deinem Urteil zufolge musst Du dann die hier im Forum hoch gelobte Kubelik-Aufnahme (die finde ich auch ganz ausgezeichnet) als super aalglatt und Fromel-1-Tempo-Sause empfinden. :D


    Die Aufnahmen sortiert - die "schnellsten" (Kopfsatz) zu Beginn


    Kubelik 1. 21.07 2. 11.41 3. 14.39 4. 26.37
    Vaclav Neumann (Supraphon) 1. 22.02 2. 11.55 3. 14.05 4. 30.30
    Vaclav Neumann (Exton) 1. 22.35 2. 11.57 3. 15.42 4. 31.39
    Bernstein (Wien Ph.) 1. 23.00 2. 14.15 3. 17.20 4. 33.12
    C. Abbado 1. 23.31 2. 13.13 3. 15.53 4. 30.49
    M. Jansons (KCO) 1. 23.45 2. 15.35 3. 15.15 4. 31.12 (Reihenfolge Andante, Scherzo)


    Wie nicht anders zu erwarten ist Bernstein im Andante sehr breit - aber im Kopfsatz immerhin eine halbe Minute schneller als Abbado. Jansons und Abbado liegen dicht beieinander (bis auf das Scherzo). Kubelik ist zweieinhalb, Neumann (Supraphon) eineinhalb Minuten schneller. Und das ist viel! Abbados Tempogestaltung spricht für meine Interpretation, dass es Abbado um eine Balancierung der Gegensätze geht, welche jedwede Forcierung meidet.


    Zu Barbirolli: Mahler schreibt vor: Allegro energico, ma non troppo. Heftig, aber markig. Barbirolli spielt eindeutig kein "Allegro energico", dafür ist er einfach viel zu langsam und energielos schleppend - und "heftig" ist das schon gar nicht. (Worüber ich nichts über die Qualität der Aufnahme gesagt habe.) Abbado dagegen trifft Mahlers Satzbezeichnung in allen Aspekten exakt.


    Wie man Abbados Aufnahme als "steril" empfinden kann - da kann ich nur :no: .

    Tennstedts EMI-Studioaufnahme hat mich hingegen von Anfang an begeistert.

    Siehst Du, so unterschiedlich sind die Geschmäcker. Mit Tennstedts Mahler konnte ich nie irgend etwas anfangen. :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Von wegen "zu schnell". Dann vergleichen wir doch mal die Zeiten. Deinem Urteil zufolge musst Du dann die hier im Forum hoch gelobte Kubelik-Aufnahme (die finde ich auch ganz ausgezeichnet) als super aalglatt und Fromel-1-Tempo-Sause empfinden. :D

    Naja, weißt Du, Holger, es ist immer ein Zusammengehen verschiedener Faktoren, die das Besondere einer Aufnahme ausmacht. Auch das Tempoempfinden ist sehr oft durch subjektive Wahrnehmung geprägt. Ich halte nicht viel von diesen Zahlen-Tempo-Vergleichen. Das hat keine Aussagekraft. Es sind nur Zahlen. Ich habe Abbados Chicago-Aufnahme schon vor Längerem aussortiert, weil ich für mich keinen Grund mehr gesehen habe, sie zu behalten. Da war so gut wie Nichts, was mich gefesselt hätte.

    Zu Barbirolli: Mahler schreibt vor: Allegro energico, ma non troppo. Heftig, aber markig. Barbirolli spielt eindeutig kein "Allegro energico", dafür ist er einfach viel zu langsam und energielos schleppend - und "heftig" ist das schon gar nicht. (Worüber ich nichts über die Qualität der Aufnahme gesagt habe.) Abbado dagegen trifft Mahlers Satzbezeichnung in allen Aspekten exakt.

    Ja, und das zeigt eben, daß man bei Mahler mit Exaktheit und Genauigkeit nicht unbedingt eine überzeugende Aufnahme hinlegt. Abbado ist ja ein guter Mahler-Dirigent - aber die Sechste scheint Ihm nicht wirklich zu liegen (im Gegensatz zur Siebten aus Chicago, die mich von Anfang an überzeugt hat). Barbirolli hat einfach eine sehr persönliche und individuelle Verbindung zur Sechsten - und das spürt man stark. Er exekutiert die Partitur nicht einfach, sondern macht sich das Werk zu eigen und durchlebt es. Und so etwas muß man können (Tennstedt und Bernstein konnten es auch).


    Vielleicht ist Abbados Chicago-Sechste nicht wirklich steril, aber im Vergleich zu den Genannten fehlt da etwas.

  • Naja, weißt Du, Holger, es ist immer ein Zusammengehen verschiedener Faktoren, die das Besondere einer Aufnahme ausmacht. Auch das Tempoempfinden ist sehr oft durch subjektive Wahrnehmung geprägt. Ich halte nicht viel von diesen Zahlen-Tempo-Vergleichen. Das hat keine Aussagekraft. Es sind nur Zahlen.

    Lieber Agon.


    ich sehe es auch so, dass man Zahlen nicht absolut nehmen sollte. Aber dass sie nun keine Aussagekraft hätten, stimmt auch wieder nicht. Ich hatte z.B. letztens den Fall bei Maurizio Pollini, dass er auf seiner letzten CD ein Chopin-Nocturne noch einmal 20 Sekunden schneller spielt als in der Studio-Gesamtaufnahme. Das verändert die Wirkung aber entscheidend. Abbado liegt hier was das Tempo angeht im moderaten Mittelfeld, und das halte ich für aussagekräftig.

    Ich habe Abbados Chicago-Aufnahme schon vor Längerem aussortiert, weil ich für mich keinen Grund mehr gesehen habe, sie zu behalten. Da war so gut wie Nichts, was mich gefesselt hätte.

    Ich habe sie wie gesagt auch schon 30 Jahre nicht mehr gehört. Der Grund war nicht zuletzt Bernstein. Die Bernstein-Aufnahme hat mich so gefesselt, dass ich eben überzeugt war: Eigentlich brauche ich nur noch diese. Also wurde Abbado vergessen. :D Aber manchmal ist dann der zeitliche Abstand heilsam. Dann löst man sich von bestimmten Dingen und sieht das Alte wieder neu - und anders.

    Ja, und das zeigt eben, daß man bei Mahler mit Exaktheit und Genauigkeit nicht unbedingt eine überzeugende Aufnahme hinlegt. Abbado ist ja ein guter Mahler-Dirigent - aber die Sechste scheint Ihm nicht wirklich zu liegen (im Gegensatz zur Siebten aus Chicago, die mich von Anfang an überzeugt hat).

    Joachim Kaiser hat einen schönen Nachruf auf Arturo Benedetti Michelangeli geschrieben. Dort sagt er: Ihm, dem Perfektionisten, ging es um "Schönheit" - aber in einem ganz untrivialen Sinne, nämlich dem eines "absoluten" Strebens nach Durchsichtigkeit und Ausgewogenheit, auch nicht das Geringste, was zu sagen ist, zu verdecken oder zu unterschlagen. Bezeichnend ist Abbado ebenfalls ein Italiener mit Sinn für Schönheit und Form und ein Perfektionist. Ich habe mich ja nun speziell mit der 6. auch theoretisch-hermeneutisch beschäftigt. Es ist kein Zufall, dass ein Pierre Boulez Mahlers 6. für seine mit bedeutendste Komposition hält - ganz gewiss aber nicht wegen dem, was Bernstein interessiert, der existenziell aufwühlenden Expressivität. Abbado hat auch Komposition studiert und sich intensiv mit Neuer Musik beschäftigt. Von daher sieht er in der 6. offenbar nicht nur expressionistische Ausdrucksmusik, sondern wie Boulez "mehr". Dieses "Mehr", das "Formalistische", will er eben feinsinnig wie er ist nicht unterschlagen. Wenn man daraufhin hört, was er macht, dann zeigen sich da ganz bewußte interpretatorische Entscheidungen, eben diese "strukturalistische" modernistische Seite der Musik nicht im Rausch von expressiver Wirkung untergehen zu lassen. Das betrifft z.B. das Überleitungsthema, das berühmte "exterritoriale Feld" in der Durchfühhung, wo Abbado die integrierenden Momente gegen die "Durchbruchs"-Tendenzen betont. Da muss man schon sehr genau hinhören, denn Abbado ist sehr subtil in dem was er macht. Auch dass er z.B. den Beginn des Scherzos zügiger angeht, ist eine bewusste Entscheidung, um die klassische Satzarchitektur mit ihrem Ausgleich von Charakter-Gegensätzen (schwer-leicht) hervorzuheben gegen die hermeneutische Sinnebene der Auf- und Übernahme der Bewegungscharaktere aus dem Kopfsatz. Die Qualität von Abbados Interpretation liegt in der unglaublichen Durchdachtheit solcher scheinbar unscheinbarer Details. Natürlich, so plakativ effektvoll wie Bernstein ist das alles nicht. Ich bin auch nach wie vor von Bernstein überzeugt, nur ist dieses Werk eben so vielschichtig, dass es auch ein Bernstein nicht ausschöpfen kann. Bernstein ist letztlich eindrucksvoller, aber auch eindimensionaler als Abbado. Ich glaube nicht, dass sich Abbado mit dieser Symphonie weniger identifiziert. Er bleibt nur ein sehr reflektierter Interpret. Im Finale, in der Darstellung der Tragik einer Apotheose, die sich verzweifelnd selber zerstört, finde ich ihn auch ungemein eindrucksvoll expressiv. Ich finde diese seine Aufnahme deshalb erhellend und möchte sie nicht missen.

    Barbirolli hat einfach eine sehr persönliche und individuelle Verbindung zur Sechsten - und das spürt man stark.

    Ja, aber das ist dann wie bei Bernstein allein die expressionistische Seite. Ob er wirklich den Sinn dieser Marschcharaktere verstanden hat? Da ich die Aufnahme komplett nicht kenne, kann ich auch nichts dazu sagen. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn man daraufhin hört, was er macht, dann zeigen sich da ganz bewußte interpretatorische Entscheidungen, eben diese "strukturalistische" modernistische Seite der Musik nicht im Rausch von expressiver Wirkung untergehen zu lassen. Das betrifft z.B. das Überleitungsthema, das berühmte "exterritoriale Feld" in der Durchfühhung, wo Abbado die integrierenden Momente gegen die "Durchbruchs"-Tendenzen betont. Da muss man schon sehr genau hinhören, denn Abbado ist sehr subtil in dem was er macht.

    Lieber Holger, in seiner Berliner Aufnahme hat Abbado diese Tendenz, die 'integrierenden Momente' zu betonen, noch weiter getrieben, allerdings führt dies meines Erachtens zu einem weniger überzeguenden Ergebnis und zielt damit am Kern vorbei, obgleich mir der etwas aufgeraute Klang der Berliner viel besser gefällt als der auch für mich etwas glatte Chicago-Sound. Aber interessant ist auch diese Berliner-Aufnahme. Mein Favorit ist und bleibt allerdings Janons mit dem LSO: Der Sog und die Ausdruckswucht sind hier einfach unvergleichlich, gleichzeitig ist das aber auch eine refletkierte und sehr bewusste Arbeit. Der Rausch ist kalkuliert. Weiter oben wurde sie ja schon genannt. Im Vergleich dazu fallen Jansons jüngste, hoch gelobte Aufnahmen mit dem BR-Orchster doch deutlich ab. Vielleicht willst Du Deinen drei Aufnahmen doch noch ein vierte zur Seite stellen? Diese faszinierende, komplexe Symphonie höre ich alle paar Jahre wieder von neuem und wie bei allen großen Kunstwerken habe ich auch bei ihr noch nie den Punkt erreicht, wo ich glaube alles durchdrungen und begriffen zu haben. Geschweige denn, dass es eine Aufnahme gäbe, die mich resetlos glücklich machen würde.


    Viele Grüße
    Christian

  • Aber interessant ist auch diese Berliner-Aufnahme.

    Das glaube ich, lieber Christian. Nur spielt er da die Reihenfolge Andante-Scherzo, was ich nicht ertragen kann. Vielleicht ist seine beste Aufnahme die späte aus Luzern. Die hatte ich im Fernsehen gesehen, aber auf DVD-R habe ich sie nicht (nur die 1. und 7., die 2. auf CD).

    Mein Favorit ist und bleibt allerdings Janons mit dem LSO: Der Sog und die Ausdruckswucht sind hier einfach unvergleichlich, gleichzeitig ist das aber auch eine refletkierte und sehr bewusste Arbeit. Der Rausch ist kalkuliert.

    Von Jansons habe ich diese 6.:



    Die Aufnahme ist schon hervorragend - und ein besseres Mahler-Orchester als das Concertgebouw-Orkest gibt es sowieso nicht. Das einzige, was mich - wiederum erheblich - stört ist die Reihenfolge Andante-Scherzo...

    Im Vergleich dazu fallen Jansons jüngste, hoch gelobte Aufnahmen mit dem BR-Orchster doch deutlich ab.

    Die habe ich gar nicht - nur in die 5. reingehört und überlege mir, sie anzuschaffen. (S.u.!)

    Vielleicht willst Du Deinen drei Aufnahmen doch noch ein vierte zur Seite stellen? Diese faszinierende, komplexe Symphonie höre ich alle paar Jahre wieder von neuem und wie bei allen großen Kunstwerken habe ich auch bei ihr noch nie den Punkt erreicht, wo ich glaube alles durchdrungen und begriffen zu haben. Geschweige denn, dass es eine Aufnahme gäbe, die mich resetlos glücklich machen würde.

    So ist es. Bei mir ist die "Problem-Symphonie" die 5. Da gefällt mir schlicht keine Aufnahme so, dass ich rundum begeistert wäre. Wie findest Du denn Jansons mit dem BR-Orchster? Die ist ganz neu. :hello:


    Liebe Grüße
    Holger

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  • Das einzige, was mich - wiederum erheblich - stört ist die Reihenfolge Andante-Scherzo...


    Die könnte man aber mittels CD-Player auch andersherum abspielen lassen, oder? Ich weiß, ein eher nicht idiomatischer Vorschlag, aber besser, als sich jedes Mal ärgern. :D

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat von »Dr. Holger Kaletha«
    Das einzige, was mich - wiederum erheblich - stört ist die Reihenfolge Andante-Scherzo...


    Die könnte man aber mittels CD-Player auch andersherum abspielen lassen, oder? Ich weiß, ein eher nicht idiomatischer Vorschlag, aber besser, als sich jedes Mal ärgern.


    Ich höre die Symphonie auch nur in der ursprünglichen Reihenfolge Scherzo-Andante, die für mich musikalisch einfach auch mehr Sinn macht. Außerdem habe ich sie so kennengelernt. Ein Umdrehen klingt für mich so als würde man das gleiche mit den Mittelsätzen von Beethoven 9 machen. Ich weiss, dass Mahler das später anders wollte, aber für mich gilt nur diese Reihenfolge. Kurioserweise ist auf der ursprünglichen Barbirolli LP diese Reihenfolge Scherzo - Andante ebenfalls vorhanden, aber bei den CD Überspielungen dann umgedreht worden. Insofern ist Josephs Vorschlag schon legitim.


  • Die könnte man aber mittels CD-Player auch andersherum abspielen lassen, oder? Ich weiß, ein eher nicht idiomatischer Vorschlag, aber besser, als sich jedes Mal ärgern. :D

    Das geht aber lieder nicht, lieber Joseph, denn der Dirigent hat ja seine Tempo-Dramatugie auf die jeweilige Satzfolge abgestimmt.

    Ich höre die Symphonie auch nur in der ursprünglichen Reihenfolge Scherzo-Andante, die für mich musikalisch einfach auch mehr Sinn macht. Außerdem habe ich sie so kennengelernt. Ein Umdrehen klingt für mich so als würde man das gleiche mit den Mittelsätzen von Beethoven 9 machen. Ich weiss, dass Mahler das später anders wollte, aber für mich gilt nur diese Reihenfolge. Kurioserweise ist auf der ursprünglichen Barbirolli LP diese Reihenfolge Scherzo - Andante ebenfalls vorhanden, aber bei den CD Überspielungen dann umgedreht worden. Insofern ist Josephs Vorschlag schon legitim.

    Was sie da mit der Barbirolli-Aufnahme gemacht haben, geht gar nicht! Das ist ein Eingriff in die künstlerische Integrität. Eindeutig halte ich die Reihenfolge Scherzo-Andante für hermeneutisch schlüssiger - auch Mahler-Experten wie H.H. Eggebrecht sind dieser Meinung. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Kurioserweise ist auf der ursprünglichen Barbirolli LP diese Reihenfolge Scherzo - Andante ebenfalls vorhanden, aber bei den CD Überspielungen dann umgedreht worden.


    Na das ist ja wirklich ein Ding! Ich denke, Holger hat schon Recht, wenn er auf die Tempo-Dramaturgie verweist. Zumindest hier ist ein "Umdrehen" dann wohl wirklich legitim.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Wobei: Ich lese gerade, dass die ursprüngliche LP-Reihenfolge bei Barbirolli ein Eingriff von EMI war. Barbirolli selbst habe die Reihenfolge Andante-Scherzo präferiert, wie auch aus seinen beiden Live-Aufnahmen hervorgeht. Insofern wurde auf der letzten CD-Veröffentlichung dem Wunsch des Dirigenten nach Jahrzehnten doch noch entsprochen.


    LP:


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    CD:


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    Ein Zitat aus einer Amazon-Rezension:


    Zitat

    A major issue with this symphony is the "correct" order of the two middle movements - and Barbirolli's recordings are themselves contradictory. The very first LP issue of the 1967 studio performance with the NPO placed the Scherzo before the Andante - the order as directed by the Critical Edition of Mahler's works from the Internationale Gustave Mahler Gesellschaft, published in 1963. The interesting thing is that this was done by EMI to conform with the aforesaid "Edition", and apparently without Barbirolli's permission, as the conductor had, at around the same time and with the same orchestral forces performed the symphony "live", with the Andante movement second and the Scherzo third. When the studio performance appeared on CD for the first time, the original LP order of movements was maintained - but subsequent remasterings have allowed the conductor his original preference of Andante BEFORE the Scherzo. Also confirming Barbirolli's long-established preference is this January 1966 Berlin Philharmonic performance.


    Und hier noch die Satzfolge in den beiden Live-Aufnahmen:


    419thVUsPmL.jpg


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    – Luís de Camões

  • Ja, das ist schon kurios. Wobei es bei einer Studioaufnahme, die eventuell über mehrere Tage entstand, wo also möglicherweise der 2. und der 3. Satz an unterschiedlichen Tagen eingespielt wurden, kein so gravierender Eingriff wäre, wie bei einer Live-Aufnahme. Wie gesagt, ich höre es in der ursprünglichen Reihefolge.

  • Ich habe sie wie gesagt auch schon 30 Jahre nicht mehr gehört. Der Grund war nicht zuletzt Bernstein. Die Bernstein-Aufnahme hat mich so gefesselt, dass ich eben überzeugt war: Eigentlich brauche ich nur noch diese. Also wurde Abbado vergessen. :D Aber manchmal ist dann der zeitliche Abstand heilsam. Dann löst man sich von bestimmten Dingen und sieht das Alte wieder neu - und anders.

    Ja, das ist oft so, lieber Holger. Der zeitliche Abstand ist in der Tat manchmal heilsam und verändert die Wahrnehmung einer Aufnahme oder auch eines Werks ganz allgemein. Ich habe die Sechste Mahler über die Jahre mehrfach live gehört, und es fiel mir sehr auf, wie unterschiedlich dieses Werk doch wirken kann.


    Mein Favorit ist und bleibt allerdings Janons mit dem LSO: Der Sog und die Ausdruckswucht sind hier einfach unvergleichlich, gleichzeitig ist das aber auch eine refletkierte und sehr bewusste Arbeit. Der Rausch ist kalkuliert. Weiter oben wurde sie ja schon genannt. Im Vergleich dazu fallen Jansons jüngste, hoch gelobte Aufnahmen mit dem BR-Orchster doch deutlich ab.

    Ja, nicht wahr? Das ist ziemlich gut beschrieben, so erlebe ich diese relativ frühe Jansons-Aufnahme auch. Er hatte 2002 offensichtlich noch mehr Energie und Inspiration als dann später. Deshalb ist und bleibt die Aufnahme etwas Besonderes.

  • Wobei es bei einer Studioaufnahme, die eventuell über mehrere Tage entstand, wo also möglicherweise der 2. und der 3. Satz an unterschiedlichen Tagen eingespielt wurden, kein so gravierender Eingriff wäre, wie bei einer Live-Aufnahme.


    Finde ich auch. Und hier wohl gegeben: Eingespielt zwischen 17. und 19. August 1967 in der Kingsway Hall, London. Der Live-Mitschnitt der BBC datiert übrigens auf den 16. August.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Als Szell-Fan habe ich mir vor einigen Jahren auch seine CBS-Aufnahme zugelegt um meine sinfonische Szell-Discographie komplett zu machen:



    SONY, 1967, ADD



    Wie sehr man sich nur über Interpretationsunterschiede wundern kann und wie sehr man von Erstaufnahmen geprägt wird, zeigt mir diese Szell - CD, die zu meinem prägenden Favoriten Solti/CSO (Decca) total krasser Kontrast ist und nicht unterschiedlicher sein könnte. Eine Sogwirkung bleibt da bei mir aus ...

    Bei Szell höre ich Mahler als "Klassiker", sicher keine schlechte Aufnahme, aber nichts mehr für mich ...
    kurz und bündig: :huh: Szell steht bei mir zum Verkauf !
    :?: Wer will sie haben ?

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • SONY, 1972, ADD


    Das muss das Erscheinungsdatum der ersten LP sein. Szell starb bereits 1970. Einige Recherche förderte folgendes Aufnahmedatum zu Tage: Severance Hall, Cleveland, Oktober 1967. Scheinbar sogar live.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Holger: Ich meinte diese Aufnahme von Jansons und dem LSO, sie ist allerdings auch mit der ursprünglichen Reihenfolge der Binnensätze und von daher wohl nichts für Dich. Jansons Tempodramturgie ist hier so schlüssig, dass eine Umprogrammierung zu Scherzo - Andante sinnentstellend wäre. Meines Erachtens der Aufnahme mit dem Concertgebouw weit überlegen! In seine jüngste 5te mit dem tollen BR-Orchester habe ich bisher nur reingehört, blieb aber nicht daran hängen. Das ging mir schon bei der 9ten so.



    Viele Grüße
    Christian

  • Ich habe mir jetzt seit langem mal wieder die Aufnahme von Barbirolli angehört. Die Idiomatik der Musik trifft er schon extrem gut, auch die Klanqualität ist für das Alter der Aufnahme wirklich hervorragend, vom Dynamikumfang gewiss größer als manche Neueinspielung. Das ist eine ganz vorzügliche und nicht von ungefähr legendäre Einspielung. Das langsame Tempo im ersten Satz verstärkt eher die düsterne, unausweichliche Atmosphäre - damit habe ich gar kein Problem. Allerdings wiederholt Barbirolli die Exposition im ersten Satz nicht und ist deswegen mit 21Minuten schneller als die anderen fertig!
    Viele Grüße, Christian

  • Allerdings wiederholt Barbirolli die Exposition im ersten Satz nicht und ist deswegen mit 21Minuten schneller als die anderen fertig!

    Vielleicht ist das ja, lieber Christian, die Folge des schleppenden Tempos gegen die Spielanweisung Mahlers, sonst würde es wirklich langatmig. Wenn dem so ist, zeigt das allerdings auch die Problematik einer solchen Interpretation (Form und auf den Inhalt bezogene Hermeneutik sind nicht in Einklang zu bringen), die ich mir wohl auch zu Gemüte führen muss! :)


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Als Szell-Fan habe ich mir vor einigen Jahren auch seine CBS-Aufnahme zugelegt um meine sinfonische Szell-Discographie komplett zu machen:

    Meine erste Berührung mit der 4. Mahler war die Szell-Aufnahme, als ich in meiner Jugend noch Zugang zu seiner Musik suchte. Das gelang mir mit der Szell-Aufnahme nicht, die war mir einfach zu hart. Regelrecht hingerissen war ich dann von Abbados Aufnahme mit den Wienern, deshalb liebe ich diese Symphonie bis heute besonders! Die 6. mit Szell kenne ich nicht! :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Und trotzdem,


    habe ich mir die sechste mit Szell bestellt ( sein Brahms...) - ich bin einfach ein Szell Fan, Jansons LPO ,und Bernstein WP habe ich bestellt, Abbado BP SACD hat mich nicht berührt, ich weiß nicht warum. Vielleicht liegt es ja an der 6ten ? Abwarten !


    Gruss


    Kalli

  • Ich habe mir jetzt seit langem mal wieder die Aufnahme von Barbirolli angehört. Die Idiomatik der Musik trifft er schon extrem gut, auch die Klanqualität ist für das Alter der Aufnahme wirklich hervorragend, vom Dynamikumfang gewiss größer als manche Neueinspielung.

    Da muss ich nun mal etwas Ketzerisches sagen, lieber Christian! Das ist natürlich von der musikalischen Qualität her überragend, aber trotzdem erinnert mich Barbirolli (ihn habe ich mir gerade bei Youtube angehört) hier an Glenn Gould, wenn er Beethovens "Appassionata" in ein Slow-Motion-Abenteuer verwandelt. :D Ich halte das für nicht nur völlig unidiomatisch, sondern auch eine grandiose Fehlinterpretation. Warum: Das sagt schon die Satzbezeichnung "Allegro energico". Wenn man den Marschcharakteren so wie Barbirolli ihren energisch-energetischen Sinn nimmt, dann raubt man ihnen die destruktive, niederschmetternde Kraft. Die Folgen sind nicht nur eine Verkennung des Sinnes auf der hermeneutischen Ebene, sondern auch der formalen. Von Mahler gibt es ja das schöne Bild "das Ixionsrad der Erscheinung stillstellen", indem sich alles auflöst in "Ruhe und Sein" (Programmentwurf zur 3. Symphonie). Wenn man im 1. Satz der 6. den Gegensatz von Bewegung und Ruhe nicht herausarbeitet, wird die ganze Dramaturgie unkenntlich. Die Marschcharaktere bei Barbirolli entfesseln keine Bewegung, die wirklich "Kraft" hätte, sondern sie schreiten britisch vornehm dahin. So aber wird gleich in der Exposition die formal-semantische Bedeutung des Überleitungsthemas unkenntlich. Nur wenn die Märsche "energiegeladen" sind, wird deutlich, dass das ebenso viel zu energiegeladene Seitenthema Syntax-widrig gar nicht richtig mit dem Hauptthema kontrastiert, sondern zur Kontrastschärfung das Überleitungsthema als Ruhepol braucht. Noch drastischer bei Barbirolli ist der Sinnverlust beim "exterritorialen Feld" in der Durchführung. Der Sinn ist der eines Mahlerschen "Durchbruchs" (so wird das in der Mahler-Literatur auch allgemein gesehen), genau hier sollen nämlich die wild rotierenden Märsche mit ihrer Eigendynamik "stillgestellt" werden wie das Ixionsrad und sich statt dessen "Ruhe und Sein" ereignen. Bei Barbirolli gibt es aber nahezu überhaupt keine Veränderung der "Bewegung" - der Durchbruchscharakter der Episode verschwindet völlig, weil die Märsche, so bedächtig wie sie zu marschieren angefangen haben, einfach genau so weiterlaufen. Damit wird die Dramaturgie des ganzen Satzes aber schlicht unverständlich. Man versteht so nämlich gar nicht mehr, warum sich die Reprise in eine Katastrophe wandelt, wenn der Durchbruch zuvor kein Durchbruch mehr ist. Die Bedeutung dieses 1. Satzes der 6. ist es gerade, dass die Sinnebene und die formale ineinandergreifen und das klassizistische Schema damit umgekrempelt wird. Das ist aber nur nachvollziehbar, wenn das "Allegro energico" eben auch wirklich eines bleibt. Mahler schreibt ja noch dazu: "Heftig aber markig". Barbirolli dirigiert durchaus "markig", aber britisch distinguiert wie er das angeht kann von "Heftigkeit" nun wirklich keine Rede sein. :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Barbirolli hätte mich auch interessiert.....aber zu dem Preis - nene...

    ... da kommt bestimmt eine Neuauflage bei so einer berühmten Aufnahme - oder eine Barbirolli-Box wie so viele andere! Die Aufnahme schaffe ich mir jedenfalls auch an, weil sie exemplarisch zeigt, was Interpretation alles bewirken kann.


    Nur als Nachtrag:


    Ich denke ja nicht wie die RT-Gegner, dass ein Interpret quasi moralisch verpflichtet ist, den Angaben des Komponisten buchstäblich zu folgen und das nicht zu tun so etwas wie ein "Verbrechen" oder einen "Mißbrauch" darstellt mit dem Straftatbestand der "Werkschändung". Mit Barbirolli habe ich in dieser Hinsicht genauso wenig Probleme wie mit Gould oder Pogorelich z.B., die auch schon mal bewußt das Gegenteil von dem machen, was der Komponist will. Die Frage ist allein, was das für einen Sinn macht. Wenn ein wirklich tragender, essentieller Sin nicht mehr zu erschließen ist, erst dann wird das zu einem Einwand. :hello:


    Einen schönen guten Morgen wünscht
    Holger

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