Jean Sibelius als Sinfoniker

  • Ach Wolfgang, und ich dachte, jetzt wäre erstmal genug Sibelius im Haus, aber offenbar wird der Bournemouth-Zyklus von Berglund wohl "leider" seinem Ruf gerecht.


    Ich warte jetzt noch Deine Bewertung der Zweiten ab. Wenn die auch so positiv ausfällt, gibt es kein Halten mehr, versprochen. :D


    Wo Du Roschdestwenskij erwähnst: Ich finde diesen Zyklus auch grandios. Ausgerechnet bei der Zweiten fehlt ein wenig die Kraft im Finalsatz. Aber man kann nicht alles haben. Mal sehen, wie das bei Berglunds Erstling aussieht.


    Beste Grüße und danke für die Info
    Joseph
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Unterschiede von mehreren Zyklen eines Komponisten sind bei vielen Dirigenten mal mehr mal weniger stark ausgeprägt. Bei Karajan ist die Handschrift immer erkennbar und "grob gesagt" die Unterschiede weit weniger krass.
    Ich habe jetzt die Sinfonie Nr. 5 , 2, 3 und Tapiola gehört (nur 6 und 7 stehen noch aus).


    Berglunds Handschrift von Präzision und Durchhörbarkeit ist auch geblieben; aber die gesamte Herangehensweise, die Emotionen sind nach einem Jahrzehnt zwischen den Helsinki-Aufnahmen (80er) und den Bournemouth-Aufnahmen (mitte 70er) schon sehr krass auseinander.
    Das spiegelt sich einmal in den Spielzeiten wieder. Die Helsinki-Zyklus gehört ausnahmslos zu den flottesten Int, die ich bei meinen zahlreichen Sibelius - GA überhaupt vorfinde. Beim Bournemouth-Zyklus findet man eher "normale" Zeiten vor, wie man es bei der goldenen Mitte bei Ashkenazy (Decca) vorfindet. Besonders die langsamen Sätze lies sich Berglund weit mehr Zeit als später.


    Die Unterschiede sind bei der Sinfonie Nr.2 und bei Tapiola ganz besonders hoch. Da gibt es pro Satz Spielzeitunterschiede von bis zu 3,5 Minuten.
    Die Sinfonie Nr.2 hat mir als einzige Aufnahme in der Helsinki-GA nicht gefallen, da viel zu nüchtern ohne die gewohnten bernsteinschen Emotionen - das ist einfach nur auf schöne Klangfarben und präzise Durchhörbarkeit getrimmt. Es fehlt an Power !


    Schon die ersten Takte aus Bournemouth lassen erkennen, dass hier Hochspannung aufkommt - und wie. Selten habe ich die Spannungsbögen so eindrucksvoll und die Höhepunkte mit so fantastischem Gänsehautfeelling gehört. Die Spielzeiten bewegen sich auch mehr in Richtung Bernstein, aber nicht ganz so übertrieben wie in bernsteins Hammeraufnahme bei DG (die ich jetzt alle als DVD bekomme). Eigendlich sollte nach Berglunds Wünschen die Helsinki-Aufnahme mehr Durchhörbarkeit haben - aber die anlagoge Klangqualität ist durchsichtiger und die Pauken haben ebenfalls in England mehr punch ! Die von Josef seinerzeit empfohlene Ormandy - Aufnahme (CBS) wirkt dagegen wie ein "Serenädchen".
    Spielzeiten: 9:54 - 15:25 - 5:59 - 13:35


    :thumbsup: Diese Berglund-GA (EMI) gehört fortan zu meinen Favoriten, die aus Bernstein (alle), Ashkenazy (Decca), Roshdestwensky (Melodiya) besteht.
    Ich hatte in Beitrag 140 diesen Monat geschrieben, dass die Berglund-GA aus Helsinki (EMI) zu meinen besten Neuanschaffungen der letzten Monate gehört. Dass jetzt mit der älteren Berglund-GA nochmal eine Steigerung möglich ist, hätte ich nicht vermutet. Selbst die Klangqualität ist noch durchsichtiger und klarer, als die Digitale. Die Aufnahmen dieser Neuerscheinung wurden alle 2013 neu remastert - wirklich TOP remastert !



    Tapiola ist für mich eines der grössten Sinfonischen Dichtungen des 20.Jhd. Bei Berglund hatte ich zunächst vorbehalte wegen der sehr schnellen Spielzeit von 14: 52 bei der Helsinki-Aufnahme; mich aber schnell auch daran gewöhnt, da mir soetwas liegt.
    :thumbsup: In Bournemouth lässt er dem Werk seinen Atem und braucht nachvollziehbare 18:11. Schon die ersten rassigen Paukenschläge lassen auch hier den kommenden Wahnsinn erahnen. So kommt es dann auch mit einer fabelhaften Dramaturgie, dass dem Stück an keiner Stelle eine langweile Passage überlässt, sondern mit Hochspannung zum Ende führt.
    Diese Aufnahme gehört für mich auch zu den Besten und kann sich somit in die Riege von Blomstedt (Decca), Ashkenazy (Decca) und Segerstam (ONDINE) einreihen. Karajan, dessen EMI-Aufnahme ich auch immer schätzte, ist nun leider mehr und mehr abgeschlagen ...



    Die Sinfonie Nr.5 klingt ausgewogen mit allen gebotenen Spannungmomenten. Die Pauken sind an allen Stellen präsent - auch der Paukenauftakt im Finalsatz, der bei vielen fast unhörbar unterschlagen wird, kommt hier deutlich mit Nachdruck. In diesem Punkt sogar auch besser als in Helsinki !



    EMI, 1972-1978, ADD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Wolfgang,


    Dein enthusiastischer Bericht hat mich jetzt dazu angestiftet, mir diese Box auch zu bestellen, obwohl ich von wohl keinem Symphoniker neben Beethoven so viele Aufnahmen besitze.


    Dank des neuen Amazon-Service stand mir die mp3-Version aller Titel bereits sofort zur Verfügung (woran ich bei der Bestellung gar nicht dachte). So konnte ich es mir gleich auch herunterladen.


    Ich konnte nicht widerstehen und hörte sogleich auszugsweise in die Symphonien Nr. 1 und 2. Was Du zu den Pauken schriebst, trifft absolut zu. Das ist hochemotional gespielt und voll "reingehauen", aber auch sehr differenziert. Der Paukist steigert sich von Anfang bis Ende. Gänsehaut ist garantiert.


    Nun werde ich mich in nächster Zeit also durch diese Box hören. Ein schönes Andenken an den kürzlich verstorbenen Paavo Berglund.


    Liebe Grüße
    Joseph
    :hello:


    P.S. Es gibt noch einen "Kullervo" aus Bournemouth von ihm, der im Gegensatz zu den Symphonien immer relativ problemlos erhältlich war (plus ein paar weitere Orchesterstücke). Vielleicht auch ein "Hit"?


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich konnte nicht widerstehen und hörte sogleich auszugsweise in die Symphonien Nr. 1 und 2. Was Du zu den Pauken schriebst, trifft absolut zu. Das ist hochemotional gespielt


    Hallo Josef,


    freut mich und war klar, dass Dir Berglund / Bournemouth bei den Sinfonien Nr.1 und 2 zusagt.
    :!: Bei der Sinfonie Nr.1 habe ich eine tontechnische Einschränkung zu machen: Die Pauken sind im 3.Satz, bei dem die Solo-Pauke präsent sein muss, voll ausgesteuert, während sie im ersten Satz mehr im Hintergrund wahrnehmbar ist. Das wäre nicht nötig gewesen, steht aber dennoch weit über der Helsinki-Aufnahme. Beispielhaft ist in der Hinsicht die Ashkenazy-Aufnahme (Decca), bei der das Klangbild (und die Pauken) immer gleichbleibend ist.
    Bei der Sinfonie Nr.2 und im Prinzip dem Rest ist dann aber auch bei Berglund tontechnisch alles stimmig.


    Auf die KULLERVO-Sinfonie bin ich nicht so wild - die habe ich in den sehr guten Aufnahmen mit Salonen (SONY) und P.Järvi (xxx); und noch in der DG-GA mit N.Järvi. Das sollte für alle Zeiten reichen.


    Heute habe ich die ausstehenden Sinfonien Nr. 6 und 7, sowie Finlandia gehört - dazu mein Bericht in folgendem Beitrag.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Der Eindruck, das die Berglund-GA mit dem Bournemouth SO einfach noch besser gelungen ist, setzt sich auch bei den Sinfonien Nr.6 und 7 fort.


    Die Sinfonie Nr.7 steigert Berglund zu einem grossen Epos. Er erreicht zwar nicht diese (für manche übertriebene, aber nicht für mich) überschäumende Emotion von Bernstein (DG), die ohnehin einzigartig ist; er bleibt mehr auf dem Teppich, erzielt nie gehörte Klangfarben und steigert die Höhepunkte hochemotional mit Gänsehautfeeling. :thumbup: Klasse Aufnahme !
    Von den Spielzeiten unterscheiden sich beide Aufnahmen aus Helsinki und Bournemouth nicht entscheidend, aber wieder deutlich von der Aussagekraft. Die Pauken sind absolut präsent.
    Im Prinzip fand ich von der Int hier sogar deutliche Parallelen zu der exqusiten Karajan-Aufnahme (DG) - nicht die EMI-Aufnahme, die deutlichen Klangbrei bietet !


    Die Sinfonie Nr.6 finde ich mit Berglund nicht ganz so gelungen. Auch hier wieder mehr Emotionen, mehr Spannung als in Helsinki. Nur der 4.satz, bei dem es auf die Herausarbeitung der rhythmischen Elemente ankommt ist besonders bei der Helsinki-Aufnahme zu belanglos geraten; in Bouremouth weit packender ... aber so beispielhaft wie es Ashkenazy (Decca); Roshdestwensky (Melodiya), der den Höhepunkt auf absolute Sidehitze bringt; oder auch Karajan (DG) - ich könnte fortsetzen - ist die Chance vertan. Ausserdem liegt mir das Tempo mit >11Miunten für den Satz weniger.


    Nicht alles kann Gold sein. Finlandia hätte ich als finnischer Dirigent mit Nationalbewustsein erwartet. Bei berglund ist schon der Anfang ohne Pepp und Nachdruck. Später lässt er ja etwas mehr Emotion zu - bei der Bouremouth-Aufnahme auch wieder aufgewühlter und mit weit deutlicheren Pauken und nicht ganz so nüchtern wie in Helsinki.
    beispilehaft, wie ich mir Finlandia vorstelle ist auch hier Ashkenazy (Decca) - das wäre dann der Hammer !



    :) Ich hatte noch vor zwei Wochen zu der Helsinki-GA geschrieben "meine beste Neuanschaffung der letzten Monate", sie ist ja auch für sich genommen insgesamt gut. Aber jetzt, wo mit Berglund die Bouremouth-GA vorliegt, wäre sie sogar entbehrlich ... nicht zu glauben.
    Hätte ich zuerst die Bournemouth-GA gehabt, wäre die Helsinki-GA eine kleine Enttäuschung geworden.Nun habe ich 2 * ein AHA-Erlebnis für berglund (wenn auch mit kleinen Einschränkungen bei der Sinfonie Nr.6 und Finlandia).

    Gruß aus Bonn, Wolfgang


  • Vollste Zustimmung!


    Man sollte noch hinzufügen, dass die DVD-Aufnahmen auch sonst nicht 100-prozentig identisch sind mit jenen von der CD. Der Klang ist in der Tat auch nach meinem Empfinden deutlich natürlicher, "plastischer". Gewisse Stellen wirken auf der DVD-Tonspur noch ekstatischer. Die Wiener Blechbläser sind wirklich ein Wahnsinn. Da merkt man erst, welch ein Qualitätsverlust mittlerweile eingetreten ist. Eine Rundumempfehlung an Einsteiger und Fortgeschrittene. An Bernstein kommt man in Sachen Sibelius nicht vorbei. Wermutstropfen bleibt, dass der Wiener Zyklus aufgrund Bernsteins Tod unvollendet blieb.


    Hier noch ein Vergleich der exakten Spielzeiten zwischen DVD und CD:


    Symphonie Nr. 1
    DVD: 12:09 - 11:19 - 5:44 - 12:43 (20.-24. Februar 1990)
    CD: 11:56 - 11:05 - 5:31 - 12:46 (Februar 1990)


    Symphonie Nr. 2
    DVD: 11:10 - 18:14 - 6:32 - 16:02 (4.-6. Oktober 1986)
    CD: 10:56 - 18:11 - 6:25 - 15:58 (Oktober 1986)


    Symphonie Nr. 5
    DVD: 17:15 - 10:23 - 10:18 (1.-2. September 1987)
    CD: 9:41 - 5:34 - 10:04 - 10:15 (September 1987)


    Symphonie Nr. 7
    DVD: 8:25 - 5:42 - 4:35 - 6:21 (1.-4. Oktober 1988)
    CD: 8:18 - 3:13 - 2:27 - 4:37 - 6:19 (Oktober 1988)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Eine Rundumempfehlung an Einsteiger und Fortgeschrittene. An Bernstein kommt man in Sachen Sibelius nicht vorbei. Wermutstropfen bleibt, dass der Wiener Zyklus aufgrund Bernsteins Tod unvollendet blieb.


    Lieber Joseph,


    gestatte mir, daß ich Deinem ersten Satz widerspreche. ;)


    Einem "Einsteiger", also jemandem, der sich das erste Mal mit Sibelius beschäftigt, würde ich niemals den "späten Bernstein" empfehlen.


    Beim früheren Zyklus aus den 60ern mit dem New York Philharmonic Orchestra (der offenbar nur noch gebraucht erhältlich ist) würde ich Dir bedenkenlos zustimmen. Dort wird Sibelius tatsächlich mitreißend, schwungvoll und engagiert dargeboten. Aber der spätere Zyklus ist nicht nur, aber auch, von den Tempi so "radikal", daß er vielleicht als eine besonders extreme Alternative dient, aber in meinen Augen nicht als Einstieg.


    Das spezifische Moment später Bernstein Interpretationen, etwa bei Tschaikowsky, Dvorak, einigen Mahler-Sinfonien oder Brahms, ist die fast schon ungezügelte Emotionalität. Bernstein machte aus seinem Gefühlsleben kein Geheimnis und projizierte dieses stellenweise in die Sinfonien hinein, die er gerade interpretierte.


    Für mich hat Bernstein in etwa in der Zeit, in der er für die Deutsche Grammophon aufnahm, nur noch Bernstein dirigiert. Sein Tschaikowsky ist "Bernstein, arrangiert von Tschaikowsky", sein Mahler "Bernstein, arrangiert von Mahler" etc.
    Mit diesem Ansatz hat er bei Schumann oder bei manchen Beethoven Sinfonien oder Konzerten, auch bei Tschaikowskys 5. z.B. mitreißendes geschaffen, aber bei anderen Komponisten, für mich auch bei Sibelius, schlägt das Gefühlsleben ins Sentimentale um und das könnte einen Neueinsteiger eher verschrecken als begeistern.


    Für mich wandelt Bernstein Sibelius zwischen Sentimentalität und "Knalleffekten", zwischen zerdehnten und zu sehr accelerierenden (gibt es das Adjektiv überhaupt?) Tempi.
    Das darf natürlich gerne anders gesehen werden, aber unterm Strich dazu führen, daß in der Erkenntnis, im Prinzip nur zwischen kompletter Begeisterung oder Ablehnung unterscheiden zu können, Neueinsteigern eher nicht der "späte Bernstein" empfohlen werden sollte - zumindest nicht bei Sibelius.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Norberts Antwort bringt mich zu folgender Überlegung: Bei Sibelius sind es nicht die Emotionen, die herausgearbeitet werden müssen, sondern das Mystische, Geheimnisvolle, Verborgene.
    Ich finde, dass es auf eine gewisse Art eine "unmenschliche" Musik ist, weil sie eben nicht den Menschen und sein Empfinden in den Mittelpunkt stellt, sondern das, was der Mensch nur vage wahrnehmen kann. Ich höre bei Sibelius Ahnungen, alpine Größe und das Wehen des Weltgeistes.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Lieber Norbert,


    so kritisch kann man das auch sehen. Ich kann nur für mich sprechen. Mich hätte Bernsteins späte Leseart bei Sibelius jedenfalls von Anfang an gepackt. ;)


    Zum Spiegel-Artikel:


    Na ja, das zeigt mal wieder, dass Adorno doch völlig subjektiv urteilte. "Blut und Boden" bei Sibelius — was soll etwa dieser Schwachsinn? Nur weil es Adorno behauptet, wird es ja nicht wahrer. Da denkt man unweigerlich an was ganz anderes. M. E. inakzeptabel, solche Vergleiche aufzustellen. Hier sieht man zudem, dass der angloamerikansiche Raum in der Sibelius-Rezeption schon damals viel weiter war. Mittlerweile scheint im deutschen Sprachraum ja zumindest die Zweite fest ins Konzertrepertoire zu gehören.


    Ich zitiere nochmal Harald Reiter aus dem Beiheft der oben genannten DVDs:


    "Vorbehalte [Anm.: Adornos], um die sich Bernstein ebenso wenig scherte wie die beiden anderen Sibelius-Pioniere Barbirolli und Karajan. Bernstein interessierte sich vor allen sozio-politischen Überlegungen für Sibelius' musikalische Qualitäten: die kunstvollen symphonischen Entwicklungen, die völlig eigene Rhythmik, die immer wieder plötzlich ausbrechende melodische Schönheit, die fein zwischen Hymnus und Melancholie austarierten langsamen Sätze sowie die leidenschaftliche Urgewalt seiner Steigerungen, vor allem gegen Ende der Zweiten und Fünften Symphonie. "In einer Siblius-Symphonie geht es nicht nur um Nationalismus", sagt Bernstein in seinem Tribute, "der ganz eigene Reiz dieser Musik beruht in der dramatischen Spannung, die aus ihrer Struktur entsteht." Aber auch in politischer Hinsicht war der homo politicus Bernstein von Sibelius fasziniert: Immer wieder rühmte er die Sprengkraft und die wichtige Rolle, die vor allem Finlandia und die Zweite Symphonie im finnischen Kampf um Selbstbehauptung gegenüber dem Einfluss Russlands und Schwedens gespielt hatten."


    Was las ich neulich über die Kritiken bei Erscheinen der 2. Symphonie, dirigiert von Bernstein 1986? Seine Leseart wäre zu emotional, die Rubati, Crescendi, Accelerandi und Dynamiksprünge zu extrem, die Blechbläser zu theatralisch, die Streicher zu nahe am Kitsch? Welch nüchterne Geister diese Urteile auch immer fällten, sie liegen doch daneben. Fakt ist, dass er eine einzigartige Interpretation geschaffen hat. Ob das jetzt mehr Bernstein oder Sibelius ist, interessiert mich persönlich im Ergebnis gar nicht besonders. Ich sehe jedenfalls keine Fehlinterpretation. Die Finnen hätten, wäre sie 1902 bei der Uraufführung so dirigiert worden, wohl jubiliert. Schaut euch mal die Rezensionen des YouTube-Videos an: 641 positive Bewertungen, nur 14 negative.



    Einige Kommentare im Zitat:


    "Bernstein at his absolute best! Although he is often accused (and perhaps rightly so) for his idiosyncratic interpretations I feel he really shines with the Sibelius 2nd. Love his tempos in this one. Bernstein, always full of passion, delivers a truly stellar performance full of brilliance, beauty and national fervor!"


    "Wow. This is truly incredible. Once the 3rd mvmt. transitions into the 4th mvmt., a wave of pure glory and emotion just washes over me."


    "I have no words... am absolutely beside myself. I am a different person now."


    "20:43 I freaking love his facial expression here, it makes me want to cry."


    "This is the most beautiful, moving, sense-arousing composition and performance I have ever heard ... and I have heard many."


    Liebe Grüße
    Joseph
    :hello:

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    – Luís de Camões

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  • Interessanter finde ich am Spiegel-Artikel die Zitate, die positiv über Sibelius gemeint sind (inkl. Bernsteins Sonnenaufgangkitschbild).
    Der ungenannte Autor scheint zwar auf der Seite Adornos zu sein, aber die Gemeinheit seiner Strategie besteht ja viel eher darin, dass die Zitate der Sibelius-Befürworter nach kitschiger Filmmusik und verquaster Naturverbundenheit klingen. Wenn sie recht haben, verdammen sie mit der Art ihres Lobes Sibelius als rückständigen Kitschkomponisten.


    Adornos Polemik stammt meines Wissens aus den späten 30er Jahren, angeblich jedoch auf der Basis ziemlich weniger Werke. In dieser Zeit hatten die Nazis tatsächlich eine gewisse Affinität für den "nordischen" Sibelius (u.a. brauchte man Ersatz, da eines der populärsten Violinkonzerte nicht mehr gespielt werden sollte). Da konnte Sibelius nicht unbedingt was dafür.


    Ich kann das natürlich nicht nachprüfen, aber von einigen polemischen Anmerkungen, kommt Adornos Kritik ja eher beckmesserisch konservativ daher. Er kreidet Sibelius nicht an, dass er "spätromantisch" komponiert (statt atonal o.ä.), sondern behauptet, er könne nicht mal einen Choral richtig aussetzen und keinen Kontrapunkt, seine Motive seien schwach und banal, die Entwicklungen nicht schlüssig ("tausend Löcher") usw.
    Da jeder Kompositionsstudent solche fundamentalen Satztechnikmängel im Prinzip nachprüfen kann, würde mich allerdings ebenso wundern, wenn diese Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen wären.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Na ja, das zeigt mal wieder, dass Adorno doch völlig subjektiv urteilte.


    Wenn Adorno etwas von vornherein ablehnte, dann zeigte er einfach keine Bereitschaft, sich um ein tieferes Verständnis zu bemühen. Deswegen die schwankende Qualität seiner Analysen und musikphilosophischen Auslegungen. Bei Mahler oder Berg war er ungeheuer scharfsinnig und differenzert, Rachmaninow, Sibelius und Schostakowitsch hat er dagegen einfach polemisch abqualifiziert wie ein gewöhnlicher Feuilletonist. Ich finde das, was er über Sibelius sagt, einfach völlig unmöglich.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Norbert,


    so kritisch kann man das auch sehen. Ich kann nur für mich sprechen. Mich hätte Bernsteins späte Leseart bei Sibelius jedenfalls von Anfang an gepackt. ;)

    Lieber Joseph,


    Du bist ja auch kein Sibelius-Einsteiger ;) .


    Ich vergaß vorhin zu schreiben, daß beim "späten Bernstein" sehr häufig vollkommene Begeisterung oder Bewunderung oder komplette Ablehnung existieren. Zu extrem bzw. subjektiv war seine Sichtweise, als daß man sie idR gefühlsmäßig neutral betrachten oder bewerten könnte.



    Zitat

    Was las ich neulich über die Kritiken bei Erscheinen der 2. Symphonie, dirigiert von Bernstein 1986? Seine Leseart wäre zu emotional, die Rubati, Crescendi, Accelerandi und Dynamiksprünge zu extrem, die Blechbläser zu theatralisch, die Streicher zu nahe am Kitsch? Welch nüchterne Geister diese Urteile auch immer fällten, sie liegen doch daneben.

    Nein, das tun sie eben nicht. Alleine schon deswegen nicht, weil ich mich dieser Ansicht sehr wohl anschließen würde. ;)


    Sie liegen nach Deiner Meinung daneben, weil Du zu der Fraktion "Bewunderung" bzw. "Begeisterung" gehörst.
    Wer eher die Sichtweise eines George Szell oder Charles Mackerras, eines frühen Herbert von Karajan (London), eines Maazel oder, mit ein bisschen mehr Gefühl, Barbirolli oder Jansons, schätzt, für den kann Bernstein sehr schnell "too much" werden. Und diese Sichtweise ist genauso legitim bzw. statthaft wie es legitim und statthaft ist, Bernsteins Interpretation zu lieben.



    Zitat

    Fakt ist, dass er eine einzigartige Interpretation geschaffen hat. Ob das jetzt mehr Bernstein oder Sibelius ist, interessiert mich persönlich im Ergebnis gar nicht besonders. Ich sehe jedenfalls keine Fehlinterpretation. Die Finnen hätten, wäre sie 1902 bei der Uraufführung so dirigiert worden, wohl jubiliert. Schaut euch mal die Rezensionen des YouTube-Videos an: 641 positive Bewertungen, nur 14 negative.

    Die Rezensionen dürften kaum als objektiver Maßstab dienen, denn ich unterstelle einmal, daß sich das Video in erster Linie Befürworter des "Bernsteinschen Subjektivismus" angesehen haben oder Zeitgenossen, denen gesagt wurde "Hör mal, das ist gut".

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • ..., aber die Gemeinheit seiner Strategie besteht ja viel eher darin, dass die Zitate der Sibelius-Befürworter nach kitschiger Filmmusik und verquaster Naturverbundenheit klingen. Wenn sie recht haben, verdammen sie mit der Art ihres Lobes Sibelius als rückständigen Kitschkomponisten.


    Wieso rückständig? Eher visionär, denn dann hätte Sibelius "kitschige Filmmusik" lange vor Erfindung des Tonfilms komponiert (und befände sich in punkto vorausgeahnter Filmmusik in guter Gesellschaft von z.B. Tschaikowsky und ... äh ... Wagner).


    ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Norbert und Josef,


    ich muss Norbert auch recht geben, dass die späten Bernstein-Aufnahmen nicht unbedingt sinnvoll für Einsteiger wären. Denn alle anderen sachlicheren Aufnahmen hätten dann danach keine Chance mehr für diesen Einsteiger.
    Ich hatte als Einstieg die Kamu (1-3)/Karajan (4-7)-GA (DG) kennengelernt, die bei aller Wertschätzung wesentlich lascher dagegen anmuten, aber als Einstieg wirklich ideal waren.


    Das Schöne daran, dass im Laufe der Jahre noch mehre Steiegrungen kamen. ;) Einzelbetrachtungen der Sinfonien wären jetzt sinnvoll !
    Schon die von mir ebenfalls favorisierte und hochgeschätzte Bernstein-GA mit den New Yorker PH (SONY) war eine ungeahnte Steigerung gegenüber meiner Erstaufnahme.
    :angel: Bernstein(DG) baut die Sinfonien zu absoluter Grösse auf - das ist bei aller Kritik, die an mir vollkommen abprallt, schon der Wahnsinn. Mehr Gefühl geht kaum ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Erwähnt wurde es ja schon öfter, aber heute musste ich mich mal selbst davon überzeugen, was Theodor W. Adorno über Jean Sibelius verfasst hat.


    Geht man von der Wirkungsmächtigkeit dieses Pamphlets (dazu gleich mehr) im deutschen Sprachraum aus, so müsste man fast davon ausgehen, dass es sich um eine einzelne Monographie handelt. Schließlich litt der Ruf von Sibelius bis in die 90er Jahre hinein unter diesen Auslassungen des Philosophen. Allein, es handelt sich um einen geradezu mickrigen Artikel aus dem Jahre 1938, zuerst veröffentlicht in der "Zeitschrift fur Sozialforschung".


    Als ich ihn mir heute durchgelesen habe, konnte ich ein unweigerliches Entsetzen nicht unterdrücken. Es ist bemerkenswert, wie ein so großer Geist wie Adorno sich in primitivster Art und Weise über einen der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik auslässt. Es ist teilweise geradezu haarsträubend, was man da liest. Doch will ich es nicht bei einer vagen Beschreibung belassen, sondern den "Meister" selbst zitieren:


    Zitat

    "Wer in der deutschen oder österreichischen Musiksphäre aufgewachsen ist, dem sagt der Name Sibelius nicht viel. Wenn er ihn nicht geographisch mit Sinding, phonetisch mit Delius verwechselt, so ist er ihm gegenwärtig als Autor der Valse triste, eines harmlosen Salonstücks, oder es sind ihm im Konzert einmal Füllnummern wie die Okeaniden und der Schwan von Tuonela begegnet - kürzere Programmusiken von etwas vager Physiognomie, auf die sich zu besinnen schwer fällt.


    Kommt man nach England oder gar nach Amerika, so beginnt der Name ins Ungemessene zu wachsen. Er wird so häufig genannt wie der einer Automarke. Radio und Konzert hallen von den Tönen aus Finnland wider. Toscaninis Programme sind Sibelius offen. Es erscheinen lange
    Essays, gespickt mit Notenbeispielen, in denen er als der bedeutendste Komponist der Gegenwart, als echter Symphoniker, als überzeitlich Unmoderner und schlechterdings als eine Art Beethoven gepriesen wird. Es gibt eine Sibeliusgesellschaft, die seinem Ruhm dient und sich damit befaßt, Grammophonaufnahmen seines oeuvres an den Mann zu bringen."


    Das fängt ja schon sehr subjektiv an, könnte man sich da jetzt denken, aber das ist ja noch gar nichts. Man höre weiter:


    Zitat

    "Man wird neugierig und hört sich einige der Hauptwerke, etwa die vierte und fünfte Symphonie an. Zuvor studiert man die Partituren. Sie sehen dürftig und böotisch aus, und man meint, das Geheimnis könne sich nur dem leibhaften Hören erschließen. Aber der Klang ändert nichts am Bild.


    Das sieht so aus: es werden, als »Themen«, irgendwelche völlig unplastischen und trivialen Tonfolgen aufgestellt, meistens nicht einmal ausharmonisiert, sondern unisono mit Orgelpunkten, liegenden Harmonien und was sonst nur die fünf Notenlinien hergeben, um logischen akkordischen Fortgang zu vermeiden. Diesen Tonfolgen widerfährt sehr früh ein Unglück, etwa wie einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorgesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen. Diese Teile gelten den Apologeten für beethovenisch: aus dem Unbedeutenden, Nichtigen eine Welt schaffen. Aber sie ist derer würdig, in der wir leben: roh zugleich und mysteriös, abgegriffen und widerspruchsvoll, altbekannt und undurchsichtig."


    In dieser Machart geht es dann weiter:


    Zitat

    "Über Sibelius als Komponisten wären so wenig Worte zu verlieren wie über solche Amateure. Er mag sich um die musikalische Kolonisierung seines Heimatlandes erhebliche Verdienste erworben haben. Man kann sich gut vorstellen, daß er nach seinen deutschen
    Kompositionsstudien dorthin mit berechtigten Inferioritätsgefühlen zurückkam, wohl bewußt der Tatsache, daß ihm weder einen Choral auszusetzen, noch einen ordentlichen Kontrapunkt zu schreiben vergönnt war; daß er sich ins Land der tausend Seen vergrub, um vor den kritischen Augen seiner Schulmeister geborgen zu sein. Wahrscheinlich war keiner erstaunter als er zu entdecken, daß sein Versagen als Gelingen, sein Nicht-Können als Müssen gedeutet wurde. Schließlich hat er es wohl selbst geglaubt und brütet nun jahrelang über der achten Symphonie, als ob es die Neunte wäre."


    Freilich gelingt es Adorno, noch mehr in den Angriffsmodus zu schalten:



    Am Schluss versteigt sich Adorno gar noch zu diesem Unsinn:


    Zitat

    "Wenn Sibelius gut ist, dann sind die Maßstäbe der musikalischen Qualität als des Beziehungsreichtums, der Artikulation, der Einheit in der Mannigfaltigkeit, der Vielfalt im Einen hinfällig, die von Bach bis Schönberg perennieren. All das wird von Sibelius an eine Natur verraten, die keine ist, sondern die schäbige Photographie der elterlichen Wohnung. Zu seinem Teile trägt er in der Kunstmusik zum großen Verschleiß bei, in dem ihn doch die industrialisierte leichte spielend überbietet. Aber solche Destruktion maskiert sich in seinen Symphonien als Schöpfung. Ihre Wirkung ist gefährlich."


    Er spricht Sibelius sogar jedweden Intellekt ab, indem er ihn überheblich als "bodenständigen Finnen" abqualifiziert.


    Für mich hat der generell überschätzte Adorno noch stärker an Ansehen verloren. Musikalischen Sachverstand hatte dieser Mann jedenfalls nicht. Der Gipfel ist wirklich, dass er Sibelius in NS-Nähe rückt ("Blut und Boden"). :no:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Für mich hat der generell überschätzte Adorno noch stärker an Ansehen verloren. Musikalischen Sachverstand hatte dieser Mann jedenfalls nicht. Der Gipfel ist wirklich, dass er Sibelius in NS-Nähe rückt ("Blut und Boden").

    Ich finde das auch völlig ungenießbar. Für überschätzt halte ich Adorno allerdings nicht - er ist der einzige wirklich bedeutende Musikästhetiker unter den großen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Philosophie der Neuen Musik, sein Mahler-Buch, seine Alban Berg-Monographie z.B. sind wirklich bedeutend und maßstabsetzend. Da gibt es weit und breit keine Konkurrenz. Leider ist es bei Adorno so, daß er, wenn ihm eine Musik nicht in seine Weltanschauung paßt, in schlechteste Polemik abgleitet. Da fällt er hinter sein Niveau zurück. Diese zwei Seiten von Adorno muß man einfach kennen.


    Da sind natürlich einige kulturkritische Töne drin, die typisch sind für die damalige Zeit, ein deutlich spürbarer Antiamerikanismus z.B. Und dahinter steht eine Art von "engagierter" und polemischer Kritik, die durchaus ihre Tradition hat. Von Eduard Hanslick, der als der bedeutendste Kritiker sein Zeit galt und zudem ein bedeutender und sehr einflußreicher Ästhetiker war, gibt es auch solche für uns heute befremdlich zu lesenden polemischen Entgleisungen. Da steht Adorno mit diesem Stil also durchaus nicht alleine.


    Diese Sicht von Sibelius ist natürlich einfach ein krasses Fehlurteil. Sibilius ist eine ähnlich hochoriginelle und sperrige Figur unter den Symphonikern, die in keine Kategorie paßt, wie man das auch von Bruckner sagen kann. Auch der ist ja von vielen zunächst nicht verstanden worden.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    danke für Deine Antwort.


    Ich ging vielleicht etwas weit, indem ich Adorno als generell für überschätzt erachtete, aber dies mag der Spontanreaktion auf diesen Verriss geschuldet gewesen sein.


    Soviel ich weiß, erzielte dieser Artikel von 1938 zunächst auch gar keine allzu große Breitenwirkung. Erst im Zuge der Apotheose Adornos als Lichtgestalt der Studentenbewegung in den 60er Jahren scheint diese "Glosse über Sibelius" dann wohl allgemein bekannt geworden zu sein.


    Was ich bedenklich finde, ist, dass Adorno diesen Artikel noch 1968, ein Jahr vor seinem Tod, in seiner Sammlung "Impromptus" noch einmal veröffentlichte, sich von seinem 30 Jahre zuvor gemachten (Fehl-)Urteil also auch am Ende seines Lebens in keiner Weise distanzierte.


    Zurecht urteilte Annti Vihinen in seiner 2000 veröffentlichten Dissertation: "Adornos Theorien erweisen sich als nationalistisch, chauvinistisch, sogar rassistisch, wenn man sie mit Hilfe der postkolonialistischen Theorie betrachtet" (vgl. hierzu auch hier).


    Die Wirkungsmächtigkeit des Adorno-Verdikts und weiterer verbaler Fehlgriffe (der Dirigent René Leibowitz bezeichnete Sibelius 1955 tatsächlich als "den schlechtesten Komponisten der Welt") scheint der Beliebtheit des Finnen im deutschsprachigen Raum bis um 1990 nachhaltig geschadet zu haben, während sein Ansehen im angloamerikanischen und fennoskandinavischen Bereich davon weitestgehend unberührt blieb.


    Sehr namhafte und eigentlich besonders in der Spätromantik angesiedelte Dirigentenpersönlichkeiten wie Furtwängler, Knappertsbusch, Klemperer, Walter, Reiner, Solti und Tennstedt befassten sich dann auch nicht oder nur sehr marginal mit diesem Komponisten, was eigentlich verwundert. Christian Thielemann ignoriert ihn noch heute.


    Dass unvoreingenommene Dirigenten wie Arturo Toscanini, Lorin Maazel (Sibelius-Zyklus in den 60er Jahren mit den Wiener Philharmonikern) oder Herbert von Karajan (fast vollständige Aufnahme der Symphonien und der wichtigsten Orchesterwerke ab den 50er Jahren) und vor allem Leonard Bernstein (intensive Beschäftigung mit diesem Komponisten seit den 60er Jahren), aber auch sowjetische Dirigenten wie Roschdestwenskij (Zyklus Ende 60er/Anfang 70er Jahre), Kondraschin und selbst Mrawinskij (mit anzunehmender Wirkung auf die DDR) sich für Sibelius einsetzten, mag die Situation auch im deutschsprachigen Raum allmählich verändert haben.


    Beste Grüße
    Joseph
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zurecht urteilte Annti Vihinen in seiner 2000 veröffentlichten Dissertation: "Adornos Theorien erweisen sich als nationalistisch, chauvinistisch, sogar rassistisch, wenn man sie mit Hilfe der postkolonialistischen Theorie betrachtet" (vgl. hierzu auch hier).


    Lieber Joseph,


    der Artikel ist wirklich sehr erhellend. Man sieht, wie da Sibelius in der Zeit in einem "Kulturkampf" um den angeblich einzig wahren Weg der Musik (tonal oder atonal) von beiden Seiten funktionalisiert wurde. Was Sibelius eigentlich selbst ausmacht, geriet fast völlig in den Hintergrund. Mich fasziniert und fesselt die 4. Symphonie besonders, weil sie die Umkehrung des Prinzips von Beethovens 9. ist - nicht Musik als Entstehen, sondern als fortwährendes Verschwinden. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Und wir sollten in diesem Zusammenhang keinesfalls Thomas Beecham und John Barbirolli vergessen.


    ... und Colin Davis nicht, sein Sibelius-Zyklus gilt als einer der besten. Ashkenazy ist auch sehr gut und Neeme Järvi. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • ... und Colin Davis nicht, sein Sibelius-Zyklus gilt als einer der besten. Ashkenazy ist auch sehr gut und Neeme Järvi.


    ...und die stehen deshalb auch komplett (Colin Davis), halb komplett (Neeme Järvi) und beispielhaft (Ashkenazy) in meinem Regal.

  • Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich, vom Thema dieses Threads abweichend und zugleich gegen mein Prinzip verstoßend, das Forum nicht mit Geplauder vollzumüllen, dennoch zu der Bemerkung von Dr. Holger Kaletha, Adorno betreffend, eine Notiz hier einstelle (dieser Adorno lässt den, der ihn philosophierend erlebt hat, ganz einfach nicht mehr los, so kritisch er ihn heute auch sehen mag).


    Dem Urteil von Dr. Holger Kaletha über Adorno kann ich nur voll zustimmen. Aber nun zu meiner Notiz.
    Eben stoße ich bei meinen Studien zu Alban Berg auf folgende kuriose Geschichte. Hermann Scherchen hatte Alban Berg ja während seines Aufenthalts in Frankfurt 1914 (anlässlich der Aufführung der "Wozzeck-Bruchstücke) den damals 22jährigen "Dr. Theodor Wiesengrund-Adorno" vorgestellt, der sich prompt danach erkundigte, ob er als Schüler aufgenommen werden könne (was dann ja auch geschah).
    Alban Berg fertigte auf der Grundlage eines Briefes, den Adorno danach an ihn richtete ("... möchte ich mich zunächst Ihrer Führung und Kontrolle anvertrauen...") , eine Art graphologisches Gutachten über ihn an, - folgenden Inhalts:


    "Wiesengrund
    leidvoll den Körper fühlend weil er
    tief trauriger Mensch
    physisch lebt nicht sein (überschrieben mit: ihm) eigenes Leben
    tiefe Verwundbarkeit der Seele
    ewig (überschrieben mit: heroisch) sich eingelassen
    scharf hinzielender Intellekt
    Gefahr zugroßer Steigerung des Intellekts in 1000
    Möglichkeiten zuletzt verliert."


    (Nochmal: Pardon!)

  • Das eigentlich dreiste ist, dass anscheinend sowohl Adorno als auch Leibowitz kaum etwas von Sibelius kannten (es ist kein Zufall, dass Valse Triste und Finlandia erwähnt werden). Freilich war das niemals als eine faire Beurteilung gedacht gewesen, sondern von Anfang an Polemik, u.a. da Sibelius (der damals ja schon aufgehört hatte zu komponieren) für diese Autoren sozusagen das Gegenteil wünschenswerter neuer Musik darstellte.


    Ich halte aber den Einfluss dieser Kommentare für überschätzt. Man sollte doch wohl annehmen, dass sich andere Musiker und Dirigenten ein eigenes Bild von Sibelius machen konnten, statt sich auf solche, offensichtlich polemischen Texte zu verlassen. Ein Dirigent wie Hans Rosbaud, der sich stark für die Avantgarde eingesetzt hat, hat zB in den 1950ern durchaus Sibelius dirigiert, an offiziellen Plattenaufnahmen (DG) gibt es aber nur Tapiola und einige kleinere Werke.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich will hier noch einen kurzen Nachtrag liefern zu den Ausführungen zu Adorno:


    Zitat

    "Im Musikleben des NS-Staats war Sibelius ein Sonderfall. Bereits lange vor den dreißiger Jahren zählte er zu den wichtigsten zeitgenössischen Symphonikern Europas und erreichte kurz vor 1940 nicht zuletzt in den angelsächsischen Ländern den Höhepunkt seiner Beliebtheit — in den USA, einer repräsentativen Umfrage zufolge, sogar als wichtigster E-Musikschaffender der Gegenwart und überhaupt als beliebtester Tonkünstler nach Beethoven. Nicht nur der NS-Ideologe und Journalist Alfred Rosenberg, sondern auch viele Musiker schätzten seine Werke. Das Orchester des Jüdischen Kulturbundes in Berlin spielte ihn genauso wie die Emigranten Bruno Walter und Otto Klemperer sowohl vor als auch nach ihrer Auswanderung — gleichermaßen Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan."


    (Besprechung von Gleißner, Ruth-Maria, Der unpolitische Komponist als Politikum. Die Rezeption von Jean Sibelius im NS-Staat, Frankfurt a. M. u. a. 2002, in: Die Musikforschung 56, Heft 4 (Okt.—Dez. 2003), S. 448—450.)


    Ferner:

    Zitat

    "Der siebzigjährige Sibelius wurde [Anm.: 1935] mit Ehrenerweisungen überhäuft. Deutschland zum Beispiel verlieh ihm die höchste deutsche Auszeichnung für Kunst, die Goethe-Medaille. Schon waren die Nazis an die Macht gekommen und so unterzeichnete Reichskanzler Adolf Hitler die Verleihungsurkunde.


    Das festliche Abendessen war Sibelius' letzter großer Auftritt in der Öffentlichkeit. Aino Sibelius durfte neben ihrem Idol, Carl Gustaf Emil Mannerheim, sitzen. Aus den Lautsprechern des Saales rauschte Sibelius' Symphonie Nr. 2 in einer Radiosendung, in der Otto Klemperer die „New Yorker Philharmoniker“ dirigierte."


    (http://www.sibelius.fi/deutsch…/sib_suosion_huipulla.htm)


    Kurios finde ich, dass Klemperer offensichtlich mindestens einmal die 2. Symphonie von Sibelius dirigiert hat und das sogar gesendet wurde. Davon liest man sonst in keiner Diskographie. Hier der Beweis auf der offiziellen Homepage des New York Philharmonic.

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    – Luís de Camões

  • Ich habe in letzter Zeit immer wieder die Symfonien von Segerstam gehört. Für mich ist es mittlerweile festgemeisselt: Die Aufnahmen mit dem Danish symphony Orchestra sind deutlich besser. Die Sachen mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra sind bestimmt genauer, akkurater. Aber die Emotionen kommen mit den Dänen sowas von deutlicher rüber, dass ich mich entschlossen habe, die Helsinkiaufnahmen tief im Regal verschwinden zu lassen.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Aber die Emotionen kommen mit den Dänen sowas von deutlicher rüber, dass ich mich entschlossen habe, die Helsinkiaufnahmen tief im Regal verschwinden zu lassen.


    Ich würde es insgesmt eher umgekehrt beurteilen und den Helsinki-Zyklus (ONDINE) weiter nach vorne holen.
    Hallo Klaus,


    aus bisherigen Beiträgen ist ja bekannt, dass Du an Segerstam mit dem Dänischen RSO (Brillant /früher Chandos) einen Narren gefressen hast. :hello: Ist ja schön, wenn sie Dir gefällt.
    :!: Dieser Segerstam-Zyklus ist einer der ungewohnt Langsamsten, was oft eher zum auseinanderfallen führt, statt die Spannung zu halten.
    Die Sinfonien Nr.4 und 7 vertragen das gut und sind IMO die herausragensten des Zyklusses.
    Aber ausgerechnet die Sinfonie Nr.2, die von Haus aus schon so viel Emphase mitbringt, wirkt recht lasch und ist dann klangtechnisch auch noch total verhallt.
    Aber die ist im Helsinki-Zyklus (ONDINE) auch nicht sehr viel besser; dafür klangtechnisch einwandfrei. Insgesamt hätte ich gerade Segerstam hier viel viel mehr Emotionen zugetraut und erwartet. Die Zweite mit Segerstam ist damit für für alle Zeiten für mich obsolet.
    * Das er es kann, zeigt er nämlich bei der Sinfonie Nr.7 mit einer Hingabe mit einer Megaspannung, die alleine das Behalten der beiden GA rechtfertigt. Allerdings für meinen Geschmack auch hier wieder zu Gunsten der Helsinki-Aufnahme (ONDINE).



    8o Müsste ich mich für eine Sibelius-Sinfonien-GA entscheiden, so würde ich warscheinlich Bernstein (SONY) nehmen (ich habe die tolle neu remasterte SONY-Neuausgabe). Aber da ich auch die Klangtechnik bei mir einen hohen Stellenwert hat, würde ich ungerne auf Ashkenazy (Decca) verzichten wollen; die Hammerpauken in der Ersten hörst Du nirgendwo so megaklasse.
    :jubel: Gut das ich mich nicht entscheiden muss.
    8| Wenn ich hingegen eine meiner GA abgeben müsste - welche wäre es dann ? => Ja, doch tatsächlich Segerstam mit den Dänen (Brillant); weil ich ja den Helsinki-Zyklus (ONDINE) habe. ;) So unterschiedlich können die Eindrücke sein.


    :( Die laschste und langweiliste Sibelius-Sinfonien-GA ist die mit Segerstam bei weitem trotzdem nicht: Denn die habe ich schon lange in hohem Bogen rausgeschmissen = Maazel mit den Pittsburgern (SONY) ... Maazels mit den Wienern (Decca) hatte ich in der neuen klanglich TOP remasterten Version auf BluRay ... auch die hatte mich nicht besonders überzeugt und wurde ebenfalls alsbald weitergegeben.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Je langsamer des besser!
    Hallo Wolfgang!
    Ich finde gerade dieses sehr getragene, tragische, gezogene verstärkt die Wirklung ganz ungemein. Weite, Ruhe, Tragik, das sind meine Assoziationen bei Sibelius und das wächst mit der Langsmkeit.
    Insofern finde ich Bernstein hier nicht so angebracht. Bernstein hatte für so was einfch zu viel Temperament.
    Wenn ich eine noch langsamere Aufnahme finde, dann kaufe ich die.
    Ich habe die 5. übrigens in Köln gesehen und das war auch sehr gut. Fing relativ nüchtern an und gegen Ende hat Sarastre alle Register gezogen und jede Scheu abgelegt.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hallo Klaus,


    gerade in seinen späten Wiener Aufnahmen ist Leonard Bernstein besonders langsam. Sie unterscheiden sich ziemlich stark von den gut zwanzig Jahre älteren aus New York.


    Ich nenne mal die Zeiten der 2. Symphonie (1986): 10:54 - 18:02 - 6:23 - 15:57 = 51:28


    Das ist noch etwa 4 Minuten langsamer als Segerstam mit den Dänen. Eine großartige, sehr emotionale und intensive Lesart. Auf DVD kommt das sogar noch besser rüber.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões