Seht auf, ihr Männer. Männer dort am Feuer,
die ihr den grenzenlosen Himmel kennt,
Sterndeuter, hierher! Seht, ich bin ein neuer
steigender Stern. Mein ganzes Wesen brennt
und strahlt so stark und ist so ungeheuer
voll Licht, daß mir das tiefe Firmament
nicht mehr genügt. Lasst meinen Glanz hinein
in euer Dasein: Oh, die dunklen Blicke,
die dunklen Herzen, nächtige Geschicke,
die euch erfüllen. Hirten, wie allein
bin ich in euch. Auf einmal wird mir Raum.
Stauntet ihr nicht: der große Brotfruchtbaum
warf einen Schatten. Ja, das kam von mir.
Ihr Unerschrockenen, o wüßtet ihr,
wie jetzt auf eurem schauenden Gesichte
die Zukunft scheint. In diesem starken Lichte
wird viel geschehen. Euch vertrau ichs, denn
ihr seid verschwiegen; euch Gradgläubigen
redet hier alles. Glut und Regen spricht,
der Vögel Zug, der Wind und was ihr seid,
keins überwiegt und wächst zur Eitelkeit
sich mästend an. Ihr haltet nicht
die Dinge auf im Zwischenraum der Brust
um sie zu quälen. So wie seine Lust
durch einen Engel strömt, so treibt durch euch
das Irdische. Und wenn ein Dorngesträuch
aufflammte plötzlich, dürfte noch aus ihm
der Ewige euch rufen, Cherubim,
wenn sie geruhten neben eurer Herde
einherzuschreiten, wunderten euch nicht:
ihr stürztet euch auf euer Angesicht,
betetet an und nenntet dies die Erde.
Doch dieses war. Nun soll ein Neues sein,
von dem der Erdkreis ringender sich weitet.
Was ist ein Dörnicht uns: Gott fühlt sich ein
in einer Jungfrau Schoß. Ich bin der Schein
von ihrer Innigkeit, der euch geleitet.
Zu dieser Komposition merkt Hindemith an, dass die „musikalische Substanz“ der Neufassung zwar „ungefähr die gleiche“ sei wie die der Erstfassung, aber trotzdem habe sich „gerade dieses Lied in so vielen Änderungen seiner inneren Struktur unterwerfen müssen wie kein anderes.“ Und zu den spezifischen Anforderung, die die Vertonung dieses Textes an ihn stellte, meint er: „Es wird immer ein kompositorisches Problem erster Ordnung bleiben, eine Ansprache mit so viel eindringlichen Worten in äquivalente Musik zu setzen, besonders wenn man kein anderes Ausdrucksmittel als eine klavierbegleitete Frauenstimme hat.“
Das Lied lässt durchaus vernehmen, vor welche kompositorischen Probleme Hindemith sich bei diesem Text gestellt sah und auf welche Weise er sie bewältigte: Es reflektiert in der Komplexität seiner Struktur die inhaltliche Vielfalt der Aussagen, die der „neue steigende Stern“ an die Hirten richtet, und der Bilder, die er dafür benutzt.
Der Anfang des Liedes soll „bewegt“ vorgetragen werden. Der Takt pendelt zwischen zwei und drei Halben hin und her. Die Grundtonalität ist „A“, - für Hindemith die Tonart, die er für alles Himmlische einsetzt, „die andere Seite Jesu“ also, die Engel und hier den die Verkündigung tätigenden Stern. Noch zwei weitere „Tonalitäten“ kommen aber zum Einsatz: Das „H“, - diese Tonalität „gibt … den Grund an, warum auf den schauenden Gesichtern der unerschrockenen Hirten die Zukunft erscheint“ und das „As“, bzw. „Gis“, „das für unsere Unfähigkeit“ steht, „Dinge zu begreifen, die jenseits unserer Auffassungsgabe liegen“, - hier bei den Worten „die dunklen Blicke, die dunklen Herzen“ (Verse 8/9) die melodische Linie harmonisierend.
Die klangliche Vielfalt des Liedes, die sich als solche des deklamatorischen Gestus ebenso darstellt wie als eine strukturelle des Klaviersatzes, wird zusammengehalten durch die Figur, mit der es im Vorspiel einsetzt. Denn diese kehrt, in variierter Form und partieller Gestalt, im Verlauf des Liedes immer einmal wieder, aber vor allem geht sie unverändert als Zwischen- und Vorspiel dem letzten Teil des Liedes voraus, der mit den Worten „Was ist ein Dörnicht uns“ einsetzt. Sie besteht aus einer mit einem fortissimo angeschlagenen dreischrittigen Sekundanlauf einsetzenden Folge von Achteln, die zweimal über einen Terzfall in einen Moll-Akkord münden und das beim dritten Mal in Gestalt einer längeren bogenförmigen Absturzbewegung tun. In ihrer harten diatonischen Moll-Klanglichkeit weist diese Figur durchaus die Anmutung einer gleichsam fanfarenhaft aus der Ferne kommenden Verkündigung auf.
Das Lied weist eine deutlich ausgeprägte Binnengliederung im Hinblick auf die Struktur von Melodik, Klaviersatz und Tempo auf. Dementsprechend lauten auch die Vortragsanweisungen jeweils verschieden. Der erste Liedteil umfasst die beiden ersten Verse und den dritten bis zu dem Wort „hierher“. Hier sind Melodik und Klaviersatz ganz von dem appellativen Charakter der Ansprache des Sterns an die Hirten geprägt. Die melodische Linie weist viele Dehnungen auf und ist in Pausen untergliedert. „Männer dort am Feuer“ trägt zum Beispiel eine eigene kleine Melodiezeile, und in der nachfolgenden Pause lässt das Klavier fortissimo wieder die Achtelfiguren des Vorspiels erklingen. Das ist auch der Fall nach dem stark gedehnten Sextfall, der auf dem Wort „Himmel“ liegt. Die Worte „Sterndeuter“ und „hierher“ werden ebenfalls auf einer eigenen kleinen Melodiezeile deklamiert, wobei diese bei „hierher“ aus einem appellativ-expressiven Oktavsprung mit nachfolgender sehr langer Dehnung besteht.
Wenn der Stern von sich selbst spricht (Versgruppe 4-8), geht die melodische Linie in lebhaftere Bewegung über, sie weist sogar einen leichten klanglichen Anflug von Pathos auf. Auch das Klavier artikuliert sich nun anders: Im Diskant gehen die Achtel in eine fließende Bewegung auf nur einer tonalen Ebene über. Dann aber, wenn die melodische Linie zu einer expressiven, in eine lange Dehnung mündenden Aufstiegsbewegung übergeht, bei den Worten „und ist so ungeheuer voll Licht“ nämlich, vollzieht es diesen Aufstieg in Gestalt von sich im Umgang weitenden Akkorden mit. Und bei dem pathetisch anmutenden Höhenflug, den die melodische Linie bei den Worten „daß mir das tiefe Firmament nicht mehr genügt“ vollzieht, schweigt es gar und trägt nur einmal kurz eine unisono in Bass und Diskant erklingende Aufstiegsbewegung von Achteln bei. Den Worten „Laßt meinen Glanz hinein in euer Dasein“ wird durch eine eigene Melodiezeile wieder besonderes Gewicht verliehen. Das Klavier gibt ihnen seinerseits Nachdruck, indem es in der nachfolgenden achttaktigen Pause der Singstimme mehrfach nach oben aufsteigende Figuren erklingen lässt, die zum Schluss in zwei lang gehaltene Akkorde münden.
Durchweg reflektiert die melodische Linie den jeweiligen rhetorischen Gestus des lyrischen Textes und weist deshalb eine stark ausgeprägte strukturelle Differenziertheit auf. Wenn der Stern von den „dunklen Blicken“ und den „nächtigen Geschicken“ spricht, kommt sowohl in die melodische Linie wie auch in den Klaviersatz eine fließende Bewegung. Nach der Deklamation der Worte „wie allein bin ich euch“, die auf einer aus hoher Lage gedehnt fallenden melodischen Linie erfolgt, hat die Singstimme erst einmal eine Pause. Dann aber deklamiert sie die Worte „Auf einmal wird mir Raum“ forte auf einer expressiv nach oben steigenden und in eine lange Dehnung mündenden melodischen Linie. Und überaus gewichtig wirkt dann die Vokallinie bei den Worten „Ja, das kam von mir“. Auf „Ja“ und „das“ liegt je eine punktierte halbe Note, der eine Viertelpause folgt, und danach geht es melodisch mit ganzen Noten in hoher Lage weiter. Das Klavier akzentuiert das mit lang gehaltenen sechsstimmigen Akkorden und geht danach wieder zu einem – diesmal zehntaktigen – Nachspiel aus stark rhythmisierten Akkordfolgen über.
Eindringlich, weil sich in lebhaften Bewegungen der Melodik artikulierend, wirkt die Ansprache des Sterns an die Hirten in der Versgruppe 14 bis 26 (von „Ihr Unerschrockenen“ bis „das Irdische“). Auch hier ist die Struktur der melodischen Linie wieder stark vom rhetorischen Gestus des lyrischen Textes geprägt, etwa, wenn sie bei der Anrede „Ihr Unerschrockenen“ eine Fallbewegung beschreibt, um nach einer Viertelpause bei den Worten „o wüßtet ihr in zwei Sprüngen über eine Oktave in hohe Lage aufzusteigen und dort in einer Dehnung zu verbleiben, oder wenn sie bei den Worten „euch Gradgläubigen redet hier alles“ am Ende eine forte zu deklamierende weit gespannte und gedehnte Fallbewegung beschreibt. Das Klavier begleitet das in höchst differenzierter, weil die jeweilige Aussage mit den jeweils angemessenen Mitteln kommentierender Weise, hier zum Beispiel mit einer Folge von fallend angelegen Achtelfiguren. Und immer wieder geht es zu längeren Zwischenspielen über, die den jeweiligen Liedteil in einer seine Aussage zusammenfassenden und kommentierenden Weise abschließt. Hier, nachdem die melodische Linie in einer langen Dehnung auf dem Wort „Irdische“ geendet hat, ist das eine über fünf Takte sich erstreckende rhythmisierte Fallbewegung von Akkorden, die am Ende in einen E-Dur-Akkord mündet.
Geradezu dramatisch wird die melodische Linie in jener Passage des Liedes, in der sich die expressive Aufgipfelung bei dem Wort „Cherubim“ ereignet (Vers 28). Einsetzend mit den Worten „Und wenn ein Dorngesträuch“ beschreibt sie, von Pausen unterbrochen, vier Mal eine aus tiefer Lage aufsteigende und mit einer Dehnung endende Aufstiegsbewegung, die das Klavier nicht mit- sondern in den Pausen nachvollzieht. Bei „Cherubim“ vollzieht sie dann einen aus einer langen Dehnung hervorgehende, fortissimo und „sehr breit“ vorzutragenden Oktavsprung zu einem hohen „A“, das fast zwei Takte lang gehalten wird bevor ihm ein ebenfalls gedehnter doppelter Sekundfall nachfolgt. Das Klavier begleitet dies mit einer Abfolge von lang gehaltenen und kurzen Akkorden. Und wieder kommt dem Klavier nach dieser durch die Bezugnahme auf ein himmlisches Bild bedingten Steigerung der Expressivität die Aufgabe zu, das fortzuführen und zu kommentieren, indem dieses Bild mit klanglichen Mitteln imaginiert wird.
Bevor die Singstimme den mit den Worten „Was ist ein Dörnicht uns“ einsetzenden letzten Teil des Liedes vorträgt, erklingt noch einmal das Vorspiel. Die Liedmusik nimmt nun einen durch den theologischen Gehalt der lyrischen Aussagen und Bilder bedingten gewichtigen Ton an. Bei dem Wort „uns“ gipfelt sie wie eine Eröffnung für das Nachfolgende in einer hohen Dehnung auf. Die nachfolgenden Aussagen „Gott fühlt sich ein“ und „in einer Jungfrau Schoß“ erhalten eine eigene kleine Melodiezeile, der das Klavier mit in Bass und Diskant parallel artikulierten Oktavfolgen jeweils einen Akzent verleiht. Und die letzten Worte („Ich bin der Schein…“) werden auf einer langsam in hohe Lage aufsteigenden melodischen Linie deklamiert, langsam, weil ausschließlich aus halben und ganzen Noten bestehend. Das Wort „Innigkeit“ trägt dabei eine lange, in eine Fallbewegung übergehende Dehnung in hoher Lage. Auf dem Wort „geleitet“ liegt ebenfalls eine, nun gar über drei Takte sich erstreckende Dehnung auf einem hohen „D“, die das Klavier wieder mit seinen klanglich dramatisch wirkenden Oktavparallelen begleitet. Beschlossen wird das Lied von einem lang gehaltenen A-Dur-Akkord, einem in der Tonalität der himmlischen Sphäre also.