Steht die Integrität von Operntexten zur Disposition?

  • Am 19 August kann man sich la Clemenza du Tito aus Salzburg auf 3 Sat anschauen.

    Fein, ich hatte schon gesucht.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Bin gespannt, wie das im Fernsehen wirkt. Werde es mir aber vermutlich nicht noch mal anhören!
    Aber ihr werdet eure Eindrücke sicherlich mitteilen.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Was mich viel mehr beschäftigt ist die Erfahrung, dass auch ein (auch hier im Forum) hochgelobter Musiker wie Theodor Currentzis dem Notentext nicht traut!
    Er streicht, stellt um und fügt einfügt! So bekommt man im "Titus" Teile der Maurerische Trauermusik, der c-moll-Messe und aus dem Adagio und Fuge in c-moll. Viel moll also in einem Werk, in dem Mozart auffällig fast demonstrativ wenig in moll schreibt.
    Aber damit nicht genug! Currentzis begnügt sich nicht mit den Eingriffen in den Text! Er unterwirft das, was er aufführt, auch einer Ästhetik des schamlosen Herauskitzelns aller Reize.
    Das fängt gleich in der Ouvertüre an: die Eingangsakkorde wollen nicht von Fleck kommen und haben ein Gewicht, wie in einer Bruckner-Sinfonie. Dann auf einmal bricht es los in rasendem Tempo. Wie ein Sturzbach! Bei dem zweiten Thema wird wieder so hart abgebremst, dass man fast mit dem Kopf an die Windschutzscheibe zu prallen glaubt. Und dieses stop-and-go herrscht den ganzen Abend. Es ist oft gar nicht einzusehen, wann und warum gedehnt wird und wann und warum die Musik wieder vorangetrieben wird.
    Aber damit nicht genug. Auch die Klangregie ist extrem eigenwillig. Ruppige und grobe Effekte stehen neben empfindsamen, extrem ausgekosteten Momenten. Manchmal glaubt man in einem peitschenden Sturm von Berlioz zu sein und dann wieder in einer bitter-süßen Liebesszene von Massenet! Und immer wieder überrumpelt Curretzis mit unvermittelten Zäsuren und nie gehörten Effekten! Ob man die hören wollte, wird man natürlich nicht gefragt. Und ob sie Mozart hätte haben wollen, sowieso nicht.


    Das ist ja ---
    Das ist ja ---
    Das ist ja ---
    Ich muss mich selber ausbremsen! Mir fallen reichlich Verbalinjurien ein, die ich hier natürlich nicht niederschreibe!
    Aber mir fällt der Text einer Osmin-Arie ein, die den Notentext-Vergewaltiger treffen sollte...


    X(

    .


    MUSIKWANDERER

  • Zum Thema zurück: Ich würde das Einfügen anderer Werk-Teile nicht unbedingt als "dem Notentext nicht trauen" bezeichnen. Es kann ja ein interessantes und schlüssiges Konzept dahinter stecken, eine Mozart-Oper durch Teile anderer Werke zu ergänzen.

    Zwischen den Regieanweisungen von Mozart gibt es viel Spielraum für eigene Ideen der Regisseure, da lasse ich mich gerne überraschen. Aber wenn es um Eingriffe in die Musik bzw. den musikalischen Ablauf geht, da wäre bei mir eine Grenze erreicht!


    Eine Oper von Mozart (stellvertretend für andere Opern dieser und der Zeit davor) hat ja eine bestimmte Dramaturgie, die man durch solche Dinge stören würde. Aber es geht auch um andere Dinge: die Tonarten, die Mozart für eine Oper auswählt, werden genau ausgesucht und auf eine bestimmte Art und Weise angeordnet. Und da sollte man m.E. nicht hineinpfuschen. So könnten beispielsweise alle Tonarten, die da vorkommen, miteinander verwandt sein, nur für bestimmte Nummern werden weiter entfernte Tonarten verwendet, um etwa das Hereinbrechen von etwas Bösem oder Unbekannten zu schildern, und einen starken Kontrast dazu zu erzeugen.
    (Gut, fairerweise muss ich sagen, dass dieses Argument bei Aufführungen mit modernen Instrumenten nichtig ist, weil mit diesen Instrumenten alle Tonarten genau gleich klingen.)


    Aber dennoch, ich denke, dass es aus Respekt vor einem Werk Grenzen geben sollte, weil diese Werke nicht einfach nur eine Abfolge von für sich stehenden Bausteinen ist, die man willkürlich umstellen oder durch andere Steine aus anderen Bausätzen ergänzen kann. Jede Nummer hat einen Bezug zur vorhergehenden und zur nachfolgenden, und alle Nummern sind genau aufeinander abgestimmt, was die Tonarten, die Instrumentierung und die Dramaturgie generell betrifft.


    Auch textliche Eingriffe sind für mich nicht mehr vertretbar. Katharina Thalbach etwa hat für ihre "Hänsel und Gretel"-Inszenierung, wegen der Marshmallows im Hintergrund, den Text umgeändert: von "gar ein Lebkuchenzaun" in "gar ein Marshmallowzaun".


    Ich finde es wesentlich interessanter (und besser), wenn ein Regisseur aus dem, was bereits da ist, etwas Interessantes macht, kreativ ist, und nicht versucht, das Werk selbst zu ändern.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Aber damit nicht genug! Currentzis begnügt sich nicht mit den Eingriffen in den Text! Er unterwirft das, was er aufführt, auch einer Ästhetik des schamlosen Herauskitzelns aller Reize.

    So etwas behagt mir auch nicht, lieber Caruso! Denn dann geht es letztlich nur um den Effekt. Ich finde natürlich auch, dass wir mit unserem historischen Bewusstsein nicht einfach einer Aufführungstradition blind folgen sollten, auch wenn das nicht verboten ist. Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch gut. Man sollte sich heute schon fragen: Was ist nach unserem Wissensstand die bestmögliche Form, ein solches "Werk" aufzuführen?


    Verboten ist nichts!
    Die Vorstellung von der intégrité eines musikalischen Werkes ist an sich absurd, da musikalische Werke darauf angewiesen sind, durch Menschen aufgeführt zu werden. Diese Menschen sind nicht einfach Ausführende sondern immer auch Gestaltende! Wie weit sie sich dabei von dem lösen, was den Librettisten und Komponisten eigentlich vorgeschwebt haben mag, im Einzelfall zu bestimmen, ist höchst subjektiv! Texte - zumal Notentexte - sind nie eineindeutig !!


    Es wäre interessant mal zu hören, wann genau die Vorstellung von der Integrität, ja Heiligkeit musikalischer Werke aufkam. Vielleicht weiss das Holger Kaletha das? Ich vermute, dass diese Vorstellung vor der Hochromantik den Autoren sehr sonderbar vorgekommen wäre.

    Man sollte hier unterscheiden zwischen Instrumentalmusik und Oper. Der Werkcharakter von Instrumentalmusik wird auch schon vor der Romantik zugestanden, bei der Oper aber nicht. Dafür gibt es natürlich sachliche Gründe (s.u.!)


    Aber dennoch, ich denke, dass es aus Respekt vor einem Werk Grenzen geben sollte, weil diese Werke nicht einfach nur eine Abfolge von für sich stehenden Bausteinen ist, die man willkürlich umstellen oder durch andere Steine aus anderen Bausätzen ergänzen kann. Jede Nummer hat einen Bezug zur vorhergehenden und zur nachfolgenden, und alle Nummern sind genau aufeinander abgestimmt, was die Tonarten, die Instrumentierung und die Dramaturgie generell betrifft.

    Liebe Hosenrolle,


    das muss man dann aber im Einzelfall jeweils entscheiden. Die eher spärlichen Ausführungen zur Opernästhetik betonen jedenfalls, dass im Unterschied zum klassischen Drama die Einzelszene in der Oper eine viel größere Selbständigkeit hat, von daher also die "Sukzession" nicht so geschlossen ist und Umstellungen/Auslassungen deswegen eher möglich sind. Die geringere Integrität hat so vor allem nicht zuletzt damit zu tun, dass es eine "strenge" Festlegung der Sukzession in der Oper so nicht gibt. Allerdings gibt es auch immer wieder Versuche, die Oper dem klassischen Drama anzugleichen, nicht zuletzt bei Wagner. Das führt zu einer stärkeren Betonung eben auch der dramatischen Sukzessivität. Bei Wagner sind Umstellungen und Kürzungen deshalb viel problematischer als in vielen anderen "Nummern"-Opern, welche diese sukzessive Geschlossenheit nicht so aufweisen.


    Schöne Grüße
    Holger