Neuerscheinung: Karl Richter in München 1951 - 1981

  • Richter mit Bach und Leppard mit Cavalli sind wirklich überholt. Es gibt einfach Traditionen, die wichtig sind, aber dann nicht mehr benötigt werden. Den Leppardschen Cavalli habe ich in der Mülltonne versenkt und der Richtersche Bach gehört da auch hin. Vergleiche nur einmal die Herreweghsche Matthäuspassion aus Köln 2010 mit Richter! Dass Gardiner, Herrweghe usw. abgewirtschaftet haben sollen, ist mir neu, und ich darf doch sagen, dass ich dem Häuflein hier angehöre, die sich in der alten Musik wirklich auskennen, nicht zuletzt durchs eigene Singen.
    Ich denke, wir alle nutzen moderne Computer und keinen Commodore. Ich zitiere jetzt mal einen schlauen Tamino, der sagte, er bewundere die chirurgischen Instrumente und die Operationen der alten Römer, aber damit operieren lassen würde er sich nicht.
    Nachtrag: was mich stört, ist der Ausdruck "bashing", weil das meine Kritik entwertet. Ich habe soviel Bach gesungen und gehört, dass das mir kein "bashing" ist. Die Kritik ist begründet: das Orchester spielt die falschen Instrumente und ist viel zu groß, die Chöre sind steif und auch viel zu groß und unbeweglich, die Sänger sind Opernsänger, die versuchen, die Emotionen, die Bach in die Musik gelegt hat, noch durch eigenständige "Interpretation" zu überhöhen.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Den Leppardschen Cavalli habe ich in der Mülltonne versenkt und der Richtersche Bach gehört da auch hin.


    Für weitere Entsorgungsaktionen hier schon mal ein passendes Modell. Vorher wäre aber zu klären, ob hochwertiges Kulturgut als Sondermüll zu behandeln ist - oder nicht. Mehr fällt mir als Antwort nicht ein.


    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Vorher wäre aber zu klären, ob hochwertiges Kulturgut als Sondermüll zu behandeln ist - oder nicht. Mehr fällt mir als Antwort nicht ein.


    Das Bild mit der Tonne finde ich großartig, mal sehen, was ich daraus machen kann. Das mit dem "hochwertigen Kulturgut" gilt ja nicht für alle Kulturgüter. Um das zu "bewundern", schaut euch bitte diese Threads an: "Frisch entsorgt" und "YouFail".
    Bei YouFail wird Karl Richter bald wieder auftauchen, diesmal mit Heinrich Schütz.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Karl Richters Bach gehört, völlig pauschalisiert, also in die Tonne? ?(


    Man kann doch nicht leugnen, dass man damit quasi der Bach-Rezeption 50er bis 70er Jahre (recht passend die im Threadtitel genannte Zeitspanne 1951-1981) die Existenzberechtigung abspricht. Das geht mir zu weit.


    Natürlich ist manches bei Richters Bach heute überholt. Die Chöre sind vermutlich die größte Schwachstelle. Aber die Ernsthaftigkeit des Musizierens bei Karl Richter (sogar optisch nachzuvollziehen) sehe ich so keineswegs bei jedem der späteren Bach-Interpreten gegeben. Dieser Mann hat wohl mehr für Bach getan als viele andere, die heute als Bach-Koryphäen gelten. Die Bach-Renaissance im deutschsprachigen Raum bleibt untrennbar mit dem Namen Karl Richter verbunden. Das war bereits vor Harnoncourt, der zudem in seiner Anfangszeit kaum als ernsthafter Konkurrent gelten konnte. Erst in den letzten Lebensjahren Richters wurde sein Stil mehr und mehr hinterfragt. Wer kann schon sagen, ob es diesem Mann bei längerer Lebensdauer nicht noch gelungen wäre, die HIP-Bewegung ernsthaft in Bedrängnis zu bringen.


    Mich erinnert dieses Verdikt gegen Karl Richter ein wenig an jenes gegen Leopold Stokowski, der auf seine Art auch viel für Bach tat, indem er die heute so berühmten Orgelwerke für Orchester (m. E. übrigens vorzüglich) transkribierte und so überhaupt erst in die Konzertsäle brachte. Der Bekanntheitsgrad stieg dadurch ganz erheblich an, was man nicht unterschätzen sollte. Stokowski meinte in einem späten Interview (in gutem Deutsch!), dass es seinerzeit kaum Orgeln in den Konzertsälen gegeben habe, er diese Musik aber dennoch dem Publikum zu Gehör bringen wollte. Die Publikumsreaktionen seien dann auch sehr positiv ausgefallen - allerdings nicht jene der Kritiker, die schon damals daran herummäkelten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo,


    Natürlich ist manches bei Richters Bach heute überholt. Die Chöre sind vermutlich die größte Schwachstelle.

    und nicht zu vergessen sein "Tempo" (besser "kein" Tempo).



    Dieser Mann hat wohl mehr für Bach getan als viele andere, die heute als Bach-Koryphäen gelten.

    Das eine schließt doch das andere nicht aus.



    Leopold Stokowski, der auf seine Art auch viel für Bach tat, indem er die heute so berühmten Orgelwerke für Orchester (m. E. übrigens vorzüglich) transkribierte

    Seine Transkriptionen sind die, welche ich für passend finde, da es sich um einen völlig anderen Klang handelt und deswegen mit einer völlig anderen Klangerwartung gehört wird.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Was ich nur sagen wollte, war, dass Richter überholt ist und ich es überflüssig finde, ihn auszugraben, weil es heute so viele bessere Aufnahmen gibt. Dass er historisch große Verdienste hat wie auch Leppard mit Cavalli, habe ich mehrfach betont. Es gibt ja ähnliche Beispiele, wenn man bedenkt, wie in den 60ern Händelopern gespielt wurde, wie zur Zeit der Neuentdeckung Monteverdi gespielt wurde. Malipiero war ja der Neuentdecker Monteverdis in den Zwanzigern. Letzte Woche wurde eine seiner Bearbeitungen eines Monteverdi-Madrigals für großes Orchester gespielt. Ich konnte darin keinen Monteverdi erkennen.
    Auch die Bearbeitungen der Monteverdi-Opern von Erich Kraack sind so verwaschen, dass man die Handschrift des Komponisten nicht mehr erkennt. Sie werden darum zu Recht nicht mehr gespielt. Für Richter kann ich verstehen, wenn Mitglieder sich des Chores sich die alten Sachen kaufen und ansehen und auch das Buch mit einbeziehen.
    Für Liebhaber von Bach sind diese Aufnahmen irrelevant (so sagt sich vielleicht besser als die Mülltonne anzuführen).
    In meinem Thema "Musikalische Perlen vor Bach" bespreche ich einige Aufnahmen eines Schütz-Werkes, da kann man sich auch ein Bild von der Richterschen Aufnahme machen.
    Ich möchte zum Schluss noch anführen, dass es hier 2 Chorsänger mit langer Erfahrung sind, die Kritik an Richter üben. Und dass Richter mehr für Bach getan hat als Herreweghe, Gardiner, Koopman, Suzuki, das möchte doch sehr bezweifeln.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Richters Verständnis hinsichtlich Klangrede war sehr begrenzt, aber er hat natürlich andere Aspekte in der Musik erkannt, die Bach wahrscheinlich so gar nicht wollte, die aber dennoch im Potenzial dieser Musik liegen.
    Wenn man hört, wie sehr einem der Choral "Komm, o Tod du Schlafes Bruder" aus der Kreuzstabskantate in seiner sehr romantischen Interpretation unter die Haut geht, dann ist es zwar objektiv falsch, was er da macht, aber dennoch ist es irgendwie doch künstlerisch legitimiert, nämlich aus dem Text und aus der Harmonik heraus. Dennoch höre ich da den "anständig" dirigierenden Herreweghe für diesen Schlußchoral lieber.


    Wenn ich von der Klangrede sprach (ein Begriff, den Mattheson in seinem Standardwerk sehr ausführlich gebraucht und erklärt), dann meine ich damit unter anderem in der Praxis das rhetorische Verständnis der im Barock noch sehr skeletthaft notierten Musik, welches analog bis zu den Worten und Silben der Sprache geht. Da gibt es dann Halbsätze und Sätze, Kommata, Fragezeichen, Ausrufezeichen und eben die sinnvolle Gliederung und Aussprache dieser Klangsprache, die durch Artikulation, eine reichhaltige und detaillierte Dynamik und durch feine agogische Rückungen erzeugt wird.
    Viel wichtiger ist aber von diesem Basiswissen ausgehend, dass mit Gestik und Emphase vorgetragen wird, so wie es eben ein guter Redner kann, der einen Saal sozusagen im Griff hat und Affekte von höchster Freude bis zur starken Trauer beim Publikum hervorrufen kann.


    Von all dem ist bei Richter wenig zu hören. Sein Stil ist oft durch eine äußerst exakte Wiedergabe im Rhythmischen gekennzeichnet, die mich schon an Maschinen oder Sequenzer erinnern können. Andererseits konnte es bei ihm auch sehr romantisch werden, eher an Wagner und Bruckner erinnernd. Die Emotionen werden dann weniger durch die rhetorische Gestik, sondern durch großflächige Dynamik und langsame Tempi angesprochen.
    Zudem sollte man nicht unerwähnt lassen, dass viele ihn seinen sonstigen Non-Hip Zeitgenossen bzw. Vorgängern vorziehen, auch ich.
    In seiner Zeit war er durchaus so eine Art Papst der Bachpflege. Ich höre ihn auch viel lieber als den frühen Rilling.


    Ist Richter damit also heute, wo man z.B. mit Herreweghe oder Jos von Veldhoven (All of Bach!) ganz wunderbare Bachdirigenten hat, überholt/obsolet?


    Nein!
    Es gibt einen Bereich, bei dem ich ihn wirklich zunehmend schätzen lerne, und das ist die Registrierung bei Bachs Orgelwerken.
    Ich finde, dass man heute, meistens zu schreiend und nervig/eintönig registriert. Das hat auch mit dem Studium von alten Quellen zu tun, in denen man fand, dass man z.B. eine Fuge oder eine Passacaglia im vollen Plenum durchzuspielen habe.
    Für mein Gehör ist es ermüdend, anstrengend und auch musikalisch nicht überzeugend, denn es klingt dann oft wenig transparent. Man kann nicht mehr so gut hören, was die einzelnen Stimmen machen.
    Richter hingegen registrierte nach meinem Geschmack sehr farben- und einfallsreich. Man kann die Strukturen und Stimmen schön hören, und es klingt angenehm/wohllautend.
    Nicht wenig überrascht war ich z.B., dass er den Eingangschoral von der Partita " O Gott du frommer Gott" nicht im dröhnender Vollregistrierung, sondern eher dunkel, weich und mit warm-vollem Bass spielt.
    Auch sonst nutzt er den Kontrast von obertonreichen Zutaten zu dunkleren Registrierungen meiner Ansicht nach meistens sehr schön aus. Eigentlich schade, dass er von der Interpretation her nicht so wie später ein Leonhardt, Koopman (abzüglich zu wilder Ornamentorgien...) oder Suzuki spielte.
    Aufgrund einiger guter Youtube-Beispiele von Organisten habe ich mir die Gesamtbox des Bachschen Orgelwerks von Hänssler im letzten Sommer zugelegt. Leider bin ich doch eher enttäuscht, und zwar genau aus dem Grund, dass ich bei diesen lauten und kreischenden Registrierungen recht früh Lust bekomme, mit Hilfe der Fernbedienung dem Leiden ein Ende zu machen.
    Richter registrierte m.E. schöner und musikalischer.


    Neulich hörte ich bei Spotify in diese CD hinein, die meine anerkennenden Meinungen über seine Registrierungen bestätigte:



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton, vielen Dank für diesen Text, der ja viel genauer Richter und Bach analysiert, als ich das kann. Als erfahrener Chorsänger habe ich schon aber ein "Bauchwissen" von dem, was adäquat ist und was nicht. Wer meine Themen, besonders die über alte Musik, liest, wird feststellen, dass sich Lob und Tadel wie 10:1 verhalten.
    Den Orgelspieler Richter kannte ich gar nicht. Dennoch überzeugt mich deine Interpretation, denn ich möchte nicht missverstanden werden als jemand, der sagt "Früher war alles schlecht"!
    Übrigens denke ich gerade darüber nach, ob es ehrenrührig ist, Vergangenes wie Richter zu vergessen. Ist es natürlich nicht, denn das ist doch der Lauf der Welt. Die meisten von uns haben doch das Schicksal, selbst nach einem erfüllten und kreativen Leben, sehr schnell vergessen zu werden. Das gilt selbst für Nobelpreisträger wie Böll und Grass.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Was ich nur sagen wollte, war, dass Richter überholt ist und ich es überflüssig finde, ihn auszugraben,


    Die Sache ist nur die, daß er gar nicht "ausgegraben" werden muß - ich fand auf die Schnelle 56 !!! Veröffentlichungen mit ihm, da sind natürlich Doubletten dabei, aber Compilationen, wo er "auch" mit drauf ist, hab ich nicht mitgezählt. Inwieweit man alte Interpretationsansätze "vergessen" darf oder soll, dazu in Bälde mehr im Thread:
    Rendevouz mit der Zukunft - Die Schallplatte als Fenster in die Vergangenheit.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die Sache ist nur die, daß er gar nicht "ausgegraben" werden muß - ich fand auf die Schnelle 56 !!!


    Wenn das mal reicht, lieber Alfred. Hinzu kommen die DVDs und die Bücher. Sein zweites "Weihnachtsoratorium" gehört nach meinen Informationen zu einer der erfolgreichsten Veröffentlichungen dieser Art. Richter hat für Bach vielleicht mehr getan als manch anderer tun konnte. Das ist ein Fakt. Dass sein Stil Erwartungen, die Menschen heute an Bach haben - auch bedingt durch neue Forschungen - nicht mehr erfüllt, ist ein andres. Die Neuen mussten ja schließlich auch etwas haben, was sie wegfegen, woran sie sich abarbeiten konnten. Sie können Richter also dankbar sein. Er hat die Steilvorlage geliefert. Und wenn meinetwegen Bach in heutigen Interpretationen klingt wie er klingen muss oder müsste, wir wüsstens nicht, hätte es nicht Leute wie Richter gegeben. Solche Zusammenhänge finde ich interessant.


    Vor einigen Jahren gab es hier in Berlin eine große Ausstellung über den Expressionismus in der Malerei. Es wurden nur Bilder dieser Epoche gezeigt. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, als sei zu der Zeit nur so gemalt worden. Bedeutung und Rang des Expressionismus wurden dadurch aber nur ungenügend deutlich. Wie kann ich die Expressionisten gebührend würdigen, mich für sie entflammen, wenn ich nicht wüsste, wie in dieser Zeit oder kurz davor noch gemalt wurde, wenn ich nicht die Bilder kennte, von denen sie sich absetzten. So ähnlich ist es auch in der Musik und ihrer Aufführungsgeschichte.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Ich kann mich der negativen Sicht über Karl Richters Interpretationen auch nicht anschließen, denn ich mag den Rückblick auf vergangene Sichtweisen. Deshalb höre ich auch heute noch beispielsweise die Aufnahmen, die Wilhelm Ehmann mit seiner Westfälischen Kantorei Herford hinterlassen hat (und die ich Dank Doktor Pingel nach Jahren der Abstinenz wieder habe), die aber ganz gewiss auch nicht mehr heutigen Hörgewohnheiten entsprechen. Was ich allerdings nie gerne gehört habe (und mit dieser Bemerkung möchte ich keinesfalls einen neuen Zwirnsfaden aufnehmen, sondern lediglich ein Gegenbeispiel anführen!), das waren die philharmonischen Bach-Interpretationen von Eugen Jochum und Otto Klemperer.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Wenn ich noch etwas an meinen vorhergehenden Beitrag anschließen darf:


    Für mich gibt es da eine wichtige Lehre zu ziehen:
    Die Erforschung der historischen Aufführungspraxis hat sehr viel Gutes, sehr viel Erkennen und ein damit verbundenes stärkeres Erlebnis der Alten Musik für viele bewirkt.
    Dennoch war ich immer der Ansicht (und fühle mich angesichts meines eigenen Beitrags oben darin bestätigt), dass das historisch "Richtige" nicht zum Fetisch werden darf. Die letzte Instanz muss das Gehör sein, verbunden mit einem hoffentlich guten Geschmack und einer im Laufe der Jahre immer mehr verfeinerten ästhetischen Beurteilungskraft.


    Wenn man also (meint!) historisch herausgefunden zu haben, dass man die Passacaglia von Bach von vorne bis hinten im vollen Plenum durchzuorgeln habe, dann heißt das für mich noch lange nicht, dass man es auch so machen muss, wenn es doch einfach nicht überzeugend wirkt und anstrengend klingt. Was helfen dann die schönen Noten oder die gute Artikulation, wenn das Gehör ständig durch die Frequenzen der Mixturen überfordert wird, das auch noch wahrzunehmen?
    Es sollte weniger das historische Interesse eines Museums oder eines Restaurators sein, dass jemanden antreibt, etwas so zu machen, wie es als historisch richtig erscheint.
    Wenn ein auf modernen Instrumenten spielendes Orchester heutzutage also plötzlich bei einem Barockstück auf jegliches Vibrato verzichtet, weil sie meinen, das wäre es schon mit der historischen Aufführungspraxis, dann halte ich das nicht nur für historisch falsch (was mich weniger interessiert) sondern vor allem für unmusikalisch, da man sich eines sehr effektvollen Ausdrucksmittels beraubt.
    Es ist so, als wenn man in einer Küche ohne Salz, Pfeffer oder Zucker meint, zu müssen, weil es ja früher Zeiten gab, in denen es ggf. so gehandhabt wurde. Dem Geschmackserlebnis des Schnitzels wird es aber nicht guttun....


    Richters Verdienst ist es, dass er mir als Kind den Bach sehr nahegebracht hat. Ich wollte Bachs Musik nur noch in seinen Interpretationen hören.
    Da muss es also etwas gegeben haben, was wirklich suggestiv und überzeugend war.
    Später, im Alter von 12 Jahren, hatte ich dann so eine Art Erweckungs- bzw. Bekehrungserlebnis durch eine ausgeliehene Aufnahme Harnoncourts von Orchestermusik aus Bachs Kantatenwerk, was zu einer intensiven Beschäftigung mit der Materie in jungen Jahren führte.


    Meinen Respekt wird Richter jedenfalls immer haben, auch wenn ich auch mit der Abgeklärtheit eines in die Jahre gekommenen Menschen immer noch nicht verstehen kann, wie er ernsthaft bei diesen furchtbaren Cembali bleiben konnte, obwohl es in seinen späten Jahren durchaus schon richtige aus Holz hergestellte Kielflügel gab.
    Das schmälert aber seine Verdienste insgesamt nicht.


    Verstehen kann ich dr. pingel schon: Es macht für mich nicht so viel Sinn, mir nun seine Aufnahmen der Bachkantaten anzuhören oder gar neu auf CD zuzulegen.
    Vielleicht gibt hier und da Aspekte, die man heute wieder übersieht, aber lange kann ich dem doch nicht mehr zuhören. Allein schon der Laienchor...


    Wie sich später so herausstellte, hat er etwas historisch "richtiger" gemacht, etwas was Harnoncourt und Leonhardt in ihren Kantatenaufführungen so nicht praktizierten: Richter verwendete eine große Orgel als Continuo-Instrument. Erst in den letzten Jahren begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass das gar nicht - im Grundsatz - so schlecht war, ja eigentlich der bessere Weg ist.
    So wird es heute z.B. bei Jos van Veldhoven vom Stimmton her möglich sein, oder der arme Organist muss transponieren, was ja durchaus auch der bachschen Praxis entspricht.
    Die Spielweise ist bei denen jedoch von der Phrasierung etc. her sehr anders als bei Richter, was auch seine Berechtigung hat.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich denke, dass wir uns hier nie einigen werden, obwohl ich die Richter-Fraktion inzwischen besser verstehe. Eines aber habe ich nie verstanden, warum er als d e r Bachinterpret in Deutschland überhaupt galt. Ich kenne ja jetzt einiges aus YouTube, und da muss ich sagen: besser als Eugen Szenkar in Düsseldorf mit seinem Riesenapparat bei der Matthäuspassion war er nicht.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich finde, dass man heute, meistens zu schreiend und nervig/eintönig registriert. Das hat auch mit dem Studium von alten Quellen zu tun, in denen man fand, dass man z.B. eine Fuge oder eine Passacaglia im vollen Plenum durchzuspielen habe.
    Für mein Gehör ist es ermüdend, anstrengend und auch musikalisch nicht überzeugend, denn es klingt dann oft wenig transparent. Man kann nicht mehr so gut hören, was die einzelnen Stimmen machen.


    Wenn man also ( meint!) historisch herausgefunden zu haben, dass man die Passacaglia von Bach von vorne bis hinten im vollen Plenum durchzuorgeln habe, dann heißt das für mich noch lange nicht, dass man es auch so machen muss, wenn es doch einfach nicht überzeugend wirkt und anstrengend klingt. Was helfen dann die schönen Noten oder die gute Artikulation, wenn das Gehör ständig durch die Frequenzen der Mixturen überfordert wird, das auch noch wahrzunehmen?


    Hallo,


    genau diese Umstände/Zustände haben dazu geführt, dass ich manches Orgelkonzert in St. Sebald/St. Lorenz, Nürnberg mehr mit Frust anstatt Freude zu Ende gebracht habe; insbesondere wenn ich berücksichtige, welch hervorragende Orgel in St. Lorenz zur Verfügung steht.


    Danke für den Tipp Richter als Organist, da ist er an mir irgendwie vorbei gegangen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • An Wilhelm Ehmann hatte ich auch gedacht. Der Unterschied ist allerdings der, dass die Westfälische Kantorei ein viel besserer Chor als der Richtersche war. Außerdem hat Ehmann instinktiv begriffen, dass man Schütz mit dem spielen muss, was ich den "Gabrieli-Faktor" nenne.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Ich kann mich der negativen Sicht über Karl Richters Interpretationen auch nicht anschließen, denn ich mag den Rückblick auf vergangene Sichtweisen.


    Dem schließe ich mich vollinhaltlich an. Denn andernfalls wäre die Produktion von Schallplattenaufnahmen generell ein Irrweg.
    Aufnahmen von Richter, Rilling, Böhm, Karajan, Jochum in die Tonne, dann noch von allen, die "politisch belastet" sind. etc, etc
    Glücklicherweise entspricht dieses Szenario nicht der Realität, denn die Plattenfirmen veröffentlichen die Aufnahmen der hier genannten ja nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil ein Markt dafür existiert. Alle paar Jahre kommen neue Aufnahmen auf den Markt, die die entsprechenden Werke "vom Staub" befreien. Soviel Staub wie da entfernt wird, gibt es vermutlich auf der ganzen Welt nicht.
    Ganz kurz zu Bach: war er nicht ein Pragmatiker, der sich relativ undogmatisch bestehenden Gegebenheiten anpasste?
    Ich erinnere mich an eine Veröffentlichung aus den späten siebziger Jahren, "Switched on Bach", wo Bach sogar auf einem Moog Synthesizer gespielt wurde.
    Die Kritik jubelte, einer der Rezensenten schrieb damals sogar, es sei hier der Beweis erbracht, daß Bachs Musik unter allen Umständen hervorragend - weil unzerstörbar - sei, ein Standpunkt der heute vermutlich nicht ganz unumstritten sein dürfte.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ganz kurz zu Bach, War er nicht ein Pragmatiker, der sich relativ undogmatisch bestehenden Gegebenheiten anpasste ?

    Ja, absolut. Hätte Bach nicht selbst aus einem Satz der Sonate für Violine solo einen prachtvollen Konzertsatz für konzertierende Orgel (die spielt in etwa das, was die Violine spielt) plus Orchester gemacht, würde heute jeder der gelehrten Herren Professoren sagen: "das geht nicht auf der Orgel, das ist idiomatisch zu 100% eine Violinmusik, das ist Streicherästhetik." Obwohl es auch stimmt, gibt es dennoch bei Bach diese Enge nicht, sondern Musik ist für ihn zunächst einmal etwas Abstraktes, das mit Hilfe verschiedenster Instrumente in die klingende Wirklichkeit gebracht werden kann, je nachdem mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Am Ende klingt es aber alles nach Bach, und das ist ja auch gut so.



    Ich erinnere mich an eine Veröffentlichung aus den späten siebziger Jahren, "Switched on Bach", wo Bach sogar auf einem Moog Synthesizer gespielt wurde.
    Die Kritik jubelte, einer der Reznesenten schrieb damals sogar, es sei hier der Beweis erbracht, daß Bachs Musik unter allen Umständen hervorragend . weil unzerstörbar - sei, ein Standpunkt der heute vermutlich nicht ganz unumstritten sein dürfte.

    Von der Spielweise her spielte Walter/Wendy Carlos extrem anti-HIP, also entweder nur Legato oder Staccato, ohne den geringsten Hauch einer sprechenden Artikulation. Dennoch mag ich diese CDs sehr (ich habe sie mir alle als CD nachträglich besorgt), weil sie auf ihre Art sehr gut gemacht sind und tatsächlich diesen Beweis für die unglaubliche Universalität der Bachschen Qualitätsmusik erbringen.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat von dr. pingel

    Richter mit Bach und Leppard mit Cavalli sind wirklich überholt.

    Zitat von Joseph II.

    Man kann doch nicht leugnen, dass man damit quasi der Bach-Rezeption 50er bis 70er Jahre die Existenzberechtigung abspricht.

    Steht Richter derartig repräsentativ für die Bach-Interpretation des fraglichen Zeitraumes? Harnoncourts Passionseinspielungen erschienen bereits ab Mitte der 60er Jahre und HIP-Ansätze finden sich in Mitteleuropa ab den 50ern. Selbst transatlantisch war man bereits in den 50er-Jahren schon weiter: Robert Shaw hat nicht nur den besseren Chor als Richter. Und Dauer-Skandieren war auch damals nicht vorgeschrieben.



    Zitat von Joseph II.

    Dieser Mann hat wohl mehr für Bach getan als viele andere, die heute als Bach-Koryphäen gelten.

    Da bin ich mir nicht sicher. Der oben mit Richter gleichgesetzte Leppard hat immerhin viel neues Repertoire erschlossen und auch wertvolle philologische Editionsarbeit geleistet. Da hätte Richter wenigstens Bachs Kantoratsvorgänger Knüpfer, Schelle oder Kuhnau einspielen müssen o.ä. Der Verdienst Richters besteht wohl v.a. darin, dass in manchem Münchner Haushalt Bach stand, wo andernfalls vielleicht Beethoven gestanden hätte....



    Zitat von Glockenton

    Richters Verdienst ist es, dass er mir als Kind den Bach sehr nahegebracht hat.

    Es gibt wohl viele Hörer mit biographisch bedingter Bindung. Da ich sehr unmittelbar mit HIP, PI (und wie diese ganzen IT-Kürzel auch heissen...) aufgewachsen bin, war die Begegnung mit Richter von sehr exotischem Reiz. So betrachtet kann auch die bekannte Kantate "Ein fette Burg ist unser Bach" lohnend sein, ebenso Fischer-Dieskaus Lortzing-Kantaten.



    Zitat von Glockenton

    Es gibt einen Bereich, bei dem ich ihn wirklich zunehmend schätzen lerne, und das ist die Registrierung bei Bachs Orgelwerken. {...] Richter hingegen registrierte nach meinem Geschmack sehr farben-und einfallsreich.

    Daher gefällt mir Richters Spiel auch besser als das Walchas oder anderer Zeitgenossen.



    Zitat von Glockenton

    Ich finde, dass man heute, meistens zu schreiend und nervig/eintönig registriert. Das hat auch mit dem Studium von alten Quellen zu tun, in denen man fand, dass man z.B. eine Fuge oder eine Passacaglia im vollen Plenum durchzuspielen habe. [...]Wenn man also ( meint!) historisch herausgefunden zu haben, dass man die Passacaglia von Bach von vorne bis hinten im vollen Plenum durchzuorgeln habe, dann heißt das für mich noch lange nicht, dass man es auch so machen muss, wenn es doch einfach nicht überzeugend wirkt und anstrengend klingt.

    Einerseits lässt ja auch der Begriff "volles Plenum" Spielraum, andererseits klingt eine Thüringische Dorforgel des 18. Jahrhunderts (von Schröter oder Volckland etwa) auch dann nicht anstrengend, wenn man quasi "alle Register zieht". Ausserdem bieten sich artikulatorische Differenzierungsmöglichkeiten, die Richter natürlich weniger nützt. Jedenfalls ist Richter auf seine Weise überzeugend. Bezeichnend, dass es bei ihm nur wenig auffällige Unterschiede gibt zwischen romantischen oder modernen Orgeln und Instrumenten von Silbermann oder Riepp, obgleich diese recht französisch und zungenlastig disponiert sind (protoromantische Instrumente wie jene von Trost oder Gabler waren damals vielleicht nicht in einem brauchbaren Zustand?).