Ariodante (Händel), Elbphilharmonie, 14.05.17

  • Das Stück handelt von einem Ritter (Ariodante, Mezzosopran: Alice Coote), dem vom schottischen König (Bassbariton: Matthew Brook) dessen Tochter Ginevra (Sopran: Christiane Karg) und damit das Reich zugesprochen wird. Beides begehrt auch der Ritter Polinesso (Kontra-Alt: Sonia Prina). Dieser heuchelt der Kammerzofe Dalinda (Sopran: Mary Bevan) Liebe vor; die ihn (als Ginevra verkleidet) daraufhin in das Gemach ihrer Herrin einlässt. Ariodante stürzt sich ob der vermeintlichen Untreue seiner Geliebten ins Meer, überlebt aber. Ginevra wird von Lurciano (Bruder des Ariodante, Tenor: David Portillo) der Untreue angezeigt. Im Duell tötet Lurciano den intriganten Polinesso, Ariodante erscheint, klärt alles auf, Dalinda bereut, alle sind glücklich.


    Der Ariodante sollte von Joyce Di Donato gesungen werden. Wegen Erkrankung hatte sie die Tourneerolle an Alice Coote abgegeben. Diese sang den Ariodante mit warmer modulationsfähiger Stimme, nutzte die schwierigen Koloraturen zum Ausdruck von Leid oder Empörung und zeigte eine große Strimmspannweite. Es war eine großartige gesangliche Leistung. Die eher weiße Stimme von Christiane Karg fand ich bei aller technischen Perfektion zu uncharismatisch, um der gesungenen Partie viel Empathie entgegen gebracht zu haben. Über einen wärmeren Stimmklang verfügte Mary Bevan, Die Stimme von Matthew Brook verfügte eher über Glanz in der Höhe als sonoren Klang in der Tiefe. Sein leidendes Spiel schien mir etwas überzogen. Sonia Prina und David Portillo sangen ohne Fehl und Tadel.


    Insgesamt war das stimmliche Niveau sehr hoch, keine der Sängerinnen oder Sänger hatte ein stärkeres Vibrato, mir fielen jedenfalls keine deutlich wahrnehmbaren Tonhöhenschwankungen auf. Bei insgesamt sechs Protagonisten ist das eigentlich ungewöhnlich. Lag das eventuell an den akustischen Bedingungen des Großen Saals der Elbphilharmonie? Denn die Höhe erwies sich offenbar als ein Problem für die Stimmen, nicht eine Frequenzbegrenzung des Gesangs nach oben, sondern die bauliche Höhe des Saales. Die Stimmen der Sängerinnen und Sänger wirkten (zumindest auf der Ebene 16, wo wir saßen, und damit sehr hoch im Saal) insgesamt verschlankt, wie um Füllvolumen entkleidet. Solches empfand ich, in allerdings verstärktem Umfang, bei Freilichtaufführungen wie in der Arena von Verona oder auch in der ebenfalls sehr in die Höhe entwickelten Metroplitan Oper in New York. Ein weiteres Beispiel: die aktuelle Hamburger Rummelplatz-Traviata hat eine seitlich und vor allem nach oben offene Bühne, so das der Bühnenraum, dem die Resonanzfläche der Bühnendekoration fehlte, einen Teil der vokalen Emission zu verschlucken schien. Ganz so war es in der Elbphilharmonie nicht. Alles, auch die Piani, waren deutlich zu hören, an Hand des verteilten Textbuches lies sich der Gesang auch hervorragend textverständlich mitverfolgen. Woran es aber mangelte, war im gewissen Sinne die Resonanz der gedeckelten Bühne, die der Stimme mehr Raumeindruck nach vorn zum Publikum hin gibt. Besonders fiel mir das auf, als eine Sängerin während der halbszenischen Darstellung beim Hinausgehen unter einem Balkonvorsprung weiter sang und der Ton einen anderen, im gewissen Sinne vitaleren Klang annahm. Im Gegensatz zu meiner Vermutung spielte die Richtung des Gesangs im Kessel des Großen Saals keine wirkliche Rolle. Nicht immer sangen die Sängerinnen und Sänger nach vorn, sondern auch zur Gegenseite hin. Der akustische Unterschied war minimal.


    Ganz anders klang das (von Harry Bicket geleitete) Kammerorchester „The English Concert“. Warm, voller Volumen und dabei durchsichtig und zugleich glanzvoll (Hörner) entfaltete sich Händels Musik im Großen Saal, so dass man wünschte, diesen Orchesterklang akustisch festzuhalten und für immer im Gedächtnis zu bewahren. Deshalb war es trotz der langen Aufführungsdauer (von 20 Uhr bis kurz vor Mitternacht, mit zwei Pausen) keine Sekunde langatmig oder einschläfernd. Insgesamt war es ein großartiger Abend, der trotz der späten Stunde viel bejubelt wurde.


    Bisheriges Fazit: der Große Saal der Hamburger Elbphilharmonie hat für Orchestermusik eine großartige, hinreißende Akustik (entsprechende Erfahrung auch bei Mahlers 6. Sinfonie auf denselben Plätzen), für reinen Operngesang müsste man aber wohl dem Opernhaus den (akustischen) Vorzug geben.

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Bisheriges Fazit: der Große Saal der Hamburger Elbphilharmonie hat für Orchestermusik eine großartige, hinreißende Akustik (entsprechende Erfahrung auch bei Mahlers 6. Sinfonie

    Wenn diese Monumentalsinfonie ohne Probleme akustisch ein Genuß geworden ist, dann ist Hamburg echt zu beneiden. Vielleicht bekommen die das mit den Opern auch noch hin. War das eigentlich eine konzertante Aufführung (was ich wohl annehme)?


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Lieber La Roche, es war konzertant, es wurde aber vor dem Orchester in zeitgenössischer Bekleidung (die Frauen mit Männerpartien in Hosen, die anderen Damen in langen Kleidern und die Herren mit Anzug) gespielt, mit szenegerechten Auf- und Abtritten, manchmal mit Noten in der Hand. Mit freundlichen Grüßem, Ralf Reck

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Lieber Ralf,


    als ich mitbekommen hatte, dass Joyce di Donato abgesagt hatte, war ich nicht mehr ganz so bekümmert, dass es mir nicht gelungen war, Karten für diese Vorstellung zu ergattern. Nichts gegen Alice Coote, aber an die Ausdrucksspannweite von Joyce di Donato kommt sie sicherlich nicht heran. Als "Ersatz" habe ich mir - bereits am 30. April - auf Medici.tv den Livestream des Ariodante aus der Carnegie Hall angesehen. Man kann diese Aufnahme übrigens noch bis Anfang Juli auf Medici.tv sehen. Was die übrigen Sänger angeht, teile ich deine Beurteilung.


    Wenn du also magst, kannst du deine Live-Eindrücke nochmal mit der Aufzeichnung vergleichen. Ich stelle hier mal die Arie "Scherza infida" aus dieser Aufzeichnung ein:



    Kleiner Hinweis für diejenigen, die die Oper bzw. die Arie nicht kennen: Der Titelheld Ariodante wird durch eine Intrige veranlasst zu glauben, seine Verlobte sei ihm untreu. Er beklagt sein Leid und spielt mit dem Gedanken an Selbstmord.


    Ich glaube, besser und ausdrucksvoller kann man das nicht singen. Da braucht man auch keine Kulissen oder Kostüme. Und das Vorurteil, barocken Arien mangele es an Dramatik und sie seien nur zum Prunken mit der Virtuosität geschrieben, sollte hiermit zumindest einige Risse bekommen.


    Viele Grüße


    Mme. Cortese

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Hallo Ralf, danke für den Deinen Bericht; ich habe mir erlaubt, im "großen" Elbphilharmonie-Thread einen Link zu setzen. - Beinahe wäre ich auch in dem Konzert gewesen, hatte kurzfristig Karten angeboten bekommen, konnte es jedoch zeitlich nicht einrichten. Ein kleiner Tipp am Rande: Am Theater Lübeck bietet sich aktuell die Gelegenheit für eine szenische Ariodante; ich habe Karten für den 28.Mai 8o

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.