Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau

  • Robert Holl singt am 10. März 2017 Schuberts Winterreise?
    Bemerkenswert! An diesem Tag wird er siebzig Jahre alt.


    Oh, vielen Dank, dass du so aufmerksam bist! Mir ist das gar nicht aufgefallen.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Nein, Du musst Dich nicht bedanken, lieber Melot1967!
    Mir war das ja gar nicht bewusst, da ich nicht zu denen hier im Forum gehöre, die von Sängern und Sangeskunst wirklich was verstehen und diesbezüglich über große einschlägige Kenntnisse verfügen.


    Ich wurde nur stutzig, als ich den Namen "Robert Holl" las, denn ich hatte ihn ja bei meinen Einlassungen zu diesem Thread, um die Generation wissend, der er angehört, gar nicht berücksichtigt.


    Gleichwohl gibt es hier dankenswerterweise Kommentare zu seiner Winterreise-Interpretation, und zwar von Glockenton (Beitrag 123) und von William B.A. (Beitrag 127)

  • Es ist vielleicht in diesem Zusammenhang interessant, dass Robert Holl die Winterreise zumindest dreimal aufgenommen hat, zum ersten Mal im Jahre 1980 mit Konrad Richter, im Alter von 33 Jahren:



    dann zum zweiten Mal (erschienen 1992) mit Oleg Maisenberg, evtl. im Alter von 45 Jahren:
    51AuoTgxc6L.jpg


    dann zum dritten Mal im Jahre 1995 mit Naum Grubert, im Alter von 48 Jahren (diese Aufnahme ist in meiner Sammlung):
    41tpPZEwSyL._SS500.jpg


    Alle drei Gesamtaufnahmen sind bei Amazon Music über die "Unlimited-funktion" komplett kostenlos anzuhören..


    Am 10. März werde ich aus gegebenem Anlass noch etwas näher auf Robert Holl eingehen, einen, wie ich finde, äußerst vielseitigen Musiker.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Die Interpretation der „Winterreise“ durch Robert Holl vermag – aus meiner Sicht, versteht sich - in hohem Maße zu überzeugen. Dies deshalb, weil man in allen Liedern vernimmt, dass ihrer gesanglichen Gestaltung ein interpretatorisches Konzept zugrundeliegt, das auf einem spezifischen Verständnis des Protagonisten basiert. Es ist das eines still vor sich hin wandernden, einsamen, seine existenzielle Situation reflektierenden und dies in monologische Äußerungen umsetzenden Menschen.


    Bemerkenswert, und darin gleichsam der Niederschlag dieses interpretatorischen Konzepts, ist Holls Verzicht auf den großen expressiven Ausbruch. Sein Gesang verbleibt allemal in der monologischen Stille des einsamen Wanderers, und die Ausbrüche, die es – vom zugrundeliegenden lyrischen und von Schuberts Notentext her – natürlich geben muss, erfolgen gesanglich bemerkenswert zurückhaltend und werden auf die wirklich relevante liedmusikalische Passage beschränkt.


    Um das zu konkretisieren, sei kurz auf das erste Lied eingegangen. Holl fügt sich hier ganz und gar in die von Schubert vorgegebene, wie schicksalhaft anmutende Gleichförmigkeit des chromatisch harmonisierten Schreit-Rhythmus ein. Eben deshalb setzt er kaum deklamatorische Akzente. So wird das Wort „fremd“ nicht sonderlich hervorgehoben, vielmehr deklamatorisch in die fallende melodische Linie eingebunden. Das gilt auch das nächste lyrisch relevante Wort „der Mai“. Hier verfährt er deklamatorisch genauso. Dort aber, wo in die retrospektivische Reflexion das zurückliegende Erlebnis einbricht, wird Holl – und das macht eben die Stimmigkeit seiner Interpretation deutlich – punktuell expressiv.


    So bei etwa bei den Worten „die Mutter gar von Eh´“. Bei den Worten „nun ist die Welt so trübe“ fällt er aber wieder in seinen zurückhaltend-introvertierten und wie resignativ wirkenden gesanglich-interpretatorischen Gestus zurück. Die in Moll-Harmonik gebettete und ganz und gar vom Fall geprägte melodische Linie auf den Worten „Ich kann zu meiner Reise“ gibt er gesanglich deshalb so überzeugend wieder, weil er sich ihr völlig überlässt, dergestalt dass er kein Wort deklamatorisch hervorhebt. Und wie sehr er Schuberts Liedmusik interpretatorisch gerecht wird, das wird an dem Umschlag sinnfällig, der mit einem Mal bei den Worten „Es zieht ein Mondenschatten“ in die gesangliche Realisierung der melodischen Linie kommt: Nun wird jedem deklamatorischen Schritt auf den einzelnen Silben des lyrischen Textes ein behutsam vorgenommenes, also keineswegs auf Expressivität angelegtes Gewicht beigemessen.


    Diese Erfahrungen, Zeugnisse einer hochgradig reflektierten und – selbstverständlich – adäquaten gesanglichen Realisierung Auseinandersetzung mit Schuberts Liedmusik, macht man bei allen Liedern der „Winterreise“ in der Interpretation durch Robert Holl.


    (Zugrunde liegt diesen Anmerkungen der Höreindruck, wie ihn die 1980 entstandene Aufnahme mit Konrad Richter am Klavier vermittelt)

  • vom zugrundeliegenden lyrischen und von Schuberts Notentext her – natürlich geben muss, erfolgen gesanglich bemerkenswert zurückhaltend und werden auf die wirklich relevante liedmusikalische Passage beschränkt.


    Robert Holl komponiert selbst Lieder und Klavierstücke, das könnte der Grund sein, warum er die Anweisungen des Komponisten in ganz besonderer Weise achtet. Schon oft durfte ich ihn im Konzertsaal erleben, Zurückhaltung ist so eine Art »Markenzeichen« von ihm.

  • Zit.: "Zurückhaltung ist so eine Art »Markenzeichen« von ihm."


    Mir ist diese "Zurückhaltung" als Wesensmerkmal seiner Winterreise-Interpretation aufgefallen, und ich habe sie als interpretatorische Konsequenz aus seinem Verständnis des Protagonisten, wie ihn Schubert liedmusikalisch gestaltet hat, verstanden.
    Wenn sie überdies ein "Markenzeichen" von Robert Holl ist, dann ist er also im Falle der Winterreise als Sänger nicht nur beim Protagonisten, sondern auch bei sich selbst.

  • Man lese die ursprüngliche Intention für diesen Thread: Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau


    Ich habe beim Renovieren der schwarzen a....-Löcher festgestellt, dass diese erwähnte Aufnahme ohne Cover erwähnt wurde.


    Man könnte die Interpreten dieser Winterreise-Aufnahme, den Bariton Hans Christoph Begemann und den Pianisten Thomas Seyboldt im Thread übersehen. Auf dem Cover ist der Titel Winterreise nicht sichtbar..


    Helmut Hofmann hat in Beitrag 369 das Lied Im Dorfe daraus gewürdigt. Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau


    Ich stelle die Box hier vor, worin Winterreise D. 911 enthalten ist. Beim Werbepartner ist sie noch erhältlich.


    Es ist eine Live-Aufnahme, die der Südwestfunk 1997 aufgezeichnet hatte.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Auf diese Aufnahme wurde ich durch den Liedbegleiter Thread aufmerksam gemacht.


    Der Tenor Jan van Elsacker und der Pianist Tom Beghin haben 2013 die schubertsche Winterreise D. 911 aufgenommen und 2014 beim Label Evil Penguin veröffentlicht.


    Bemerkenswert ist: Es kommt ein Hammerklavier von Gottlieb Hafner zum Einsatz. Es stammt aus dem Jahr 1830 und wurde in Wien gefertigt. Es bietet gegenüber dem modernen Konzertflügel klanglich weitere Möglichkeiten.


    Tom Beghin ist ein ausgewiesener Fortepiano-Spezialist. Er setzt die klanglichen Möglichkeiten ein, die ihm das Instrument bieten. In Die Post hört man dies auch im Hörschnipsel Track 11. Wenn er das Pedal einsetzt, bekommt die Begleitung einen murmelnden Klang. Die Phrasierung setzt er anders ein, als ich sie von anderen Begleitern kenne. Ich muss mich in seine Interpretation eingewöhnen. Das Irrlichten in Täuschung Track 19 mit abgesetzten Akkorden sagt mir zu. Rubato setzt er oft ein.


    Ich muss meine Partitur der Winterreise aus dem Stapel suchen um zu prüfen, wie eng sich die Interpreten an den Notentext halten.


    Dass Deutsch nicht die Muttersprache des Sängers ist, darüber muss man hinweghören. Die Stimme ist hell. Jan van Elsacker wählt einen deklamatorischen Ansatz.



    Zum Sänger:


    Jan Van Elsacker gewann Erste Preise in den Fächern Gesang und Klavier am Königlichen Flämischen Konservatorium in Antwerpen. Bereits in jungen Jahren arbeitete er mit Philippe Herreweghe, Gustav Leaonhardt, Sigiswald Kuyken und Jos van Immerseel. Heute tritt Jan Van Elsacker regelmäßig mit Le Poème Harmonique (Vincent Dumestre), L'Arpeggiata (Christina Pluhar), Concerto Palatino (Bruce Dickey), Weser Renaissance (Manfred Cordes) und La Fenice (Jean Tubery) auf. 1996 war er Preisträger beim internationalen Wettberweb Musica Antiqua in Brugge. 2003 nahm er beim Festival Musica Antiqua in Brugge eine zentrale Rolle ein, als er neben dem Combattimento di Tacredi e Clorinda (Monteverdi) ein Schumann-Recital mit der Pianistin Claire Chevallier gab. Im Januar 2008 gab er sein Debüt als Orfeo (Monteverdi) am Nationalen Opernhaus in Polen mit dem Ensemble La Fenice (Leitung: Jean Tubery).

    "Ein außergewöhnlicher Evangelist, der dem Text atemberaubende Präsenz verleiht", Jan Van Elsacker ist jedes Jahr sehr gesucht, um die Passionen von J.S.Bach aufzuführen. Aber sein raffiniertes Feingefühl passt auch perfekt zur italienischem Monodie des Anfangs des siebzehnten Jahrhunderts.


    Seit 2010 unterrichtet Jan Van Elsacker an der Staatlichen Hochschule für Musik in Trossingen/Deutschland.


    Quelle: Webseite Staatliche Hochschule für Musik Trossingen



    Zum Pianisten


    Tom Beghin studierte am Lemmens-Institut in Löwen, Belgien (bei Alan Weiss), an der Musik-Akademie in Basel, Schweiz (bei Rudolf Buchbinder und Jean Goverts) und promovierte bei Malcolm Bilson und James Webster an der Cornell University ( Ithaka, New York). Nach seiner Tätigkeit an der Fakultät der University of California, Los Angeles (1997–2003) und einem Aufenthalt am National Humanities Center (North Carolina) als „William J. Bouwsma Fellow“ (2002–03) wurde er außerordentlicher Professor an der University of California, Los Angeles an der Schulich School of Music der McGill University (Montreal, Kanada), wo er Musikgeschichte, Aufführungspraxis und Hammerklavier unterrichtet. Seit 2015 ist er außerdem Senior Researcher am Orpheus Institute (Gent, Belgien).


    Quelle Webseite McGill University



    Mehr zur Aufnahme und dem Fortepiano erfährt man in diesem You Tube Film.



    Der Leiermann



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    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Wer den Notentext der Winterreise im Autograph verfolgen möchte, die Webseite von The Morgan Library & Museum, New York macht es zugänglich.


    zum Browsen (rote Schaltfläche oben) oder als PDF (rote Schrift unten)


    https://www.themorgan.org/music/manuscript/115668


    Aufschlussreich ist schon der Beginn der Klaviereinleitung "Gute Nacht" im 2/4-Takt mit der Tempoangabe: Mässig, in gehender Bewegung


    Schubert setzt p für piano, dann, man muss sehr genau hinsehen zwei mal fp




    "in gehender Bewegung" fehlt, im zweiten Takt sind vier Punkte über den Noten hinzugefügt (Edition Peters, hohe Stimme)



    bei Breitkopf 1895 steht "Mässig, in gehender Bewegung", die vier Punkte in zweiten Takt sind hinzugefügt


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  • Bemerkenswert ist: Es kommt ein Hammerklavier von Gottlieb Hafner zum Einsatz. Es stammt aus dem Jahr 1830 und wurde in Wien gefertigt. Es bietet gegenüber dem modernen Konzertflügel klanglich weitere Möglichkeiten.

    Mir sagt das Hammerklavier in der "Winterreise" zu. Es bringt eine gewisse klangliche Härte in die Darbietung, die mir auch imnhaltlich zu passen scheint. In der von moderato vorgestellten finde ich das Instrument dann doch etwas zu dominant. Das dürfte auch daran liegen, dass der Tenor Jan van Elsacker nach meinem Eindruck etwas zu blass agiert. Er kann mit dem Hammerklavier nicht mithalten.

    Dass Deutsch nicht die Muttersprache des Sängers ist, darüber muss man hinweghören. Die Stimme ist hell. Jan van Elsacker wählt einen deklamatorischen Ansatz.

    Leider ist mir die gewiss nützliche Eigenschaft nicht gegeben, über die individuelle Aussprache eines Sängers hinwegzuhören. :no:

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • im zweiten Takt sind vier Punkte über den Noten hinzugefügt

    und ein Bogen! Was inkonsequent ist; die Artikulationszeichen gelten grundsätzlich (wie Vorzeichen) einmal gesetzt bis zur Anzeige des Gegenteils für gleichlautende Stellen, also in dem Fall für die gesamte gezeigte linke Hand; m. E. gilt das Portato schlußfolgernd aus Takt 1 auch für Takt 2, rH (Unterstimme).


    Von Takt 4 zu 5 ist die Bogenführung auch in lH und rH unterschiedlich abgebildet resp. freizügig ergänzt.

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Lieber Ulli


    Der fehlende Bogen in der Basstimme ist mir auch aufgefallen. War es eine Nachlässigkeit Schuberts, was ich nicht denke, denn der Komponist war in dem, was er zu Papier machte sehr sorgfältig.


    Klär mich auf: Sind die gedruckten Noten richtig gesetzt?


    Letzthin hatte ich eine Seite eines Klaviertrios von Beethoven im Autograph gesehen und die Notenstecher bemitleidet, die aus dem handschriftlichen Notentext mit den vielen Streichungen eine druckbare Vorlage machen mussten.


    Worauf ich mir bei der Unterschrift Franz Schubert oben rechts keinen Reim machen kann sind die Kringel unter dem Namen. Lese ich Wien richtig?

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  • Worauf ich mir bei der Unterschrift Franz Schubert oben rechts keinen Reim machen kann sind die Kringel unter dem Namen. lese ich Wien richtig?

    Das sollte, wie damals üblich, eine Variante von vielen Abkürungsmöglichkeiten für Manu propria sein. Findest Du auch meist bei Mozart.

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Der fehlende Bogen in der Basstimme ist mir auch aufgefallen. War es eine Nachlässigkeit Schuberts, was ich nicht denke, denn der Komponist war in dem, was er zu Papier machte sehr sorgfältig.


    Klär mich auf: Sind die gedruckten Noten richtig gesetzt?

    Frühe Drucke sind meist recht willkürlich und nicht zwingend mit den Komponisten abgestimmt; bei Beethoven allerdings sehr oft (das Dilemma hast Du ja treffend beschrieben; es ist umfangreiche diesbezügliche Korrespondenz erhalten, die heutigen Editeuren Aufschluss geben kann). Bei Schubert (und Mozart) ist das anders - da muß man oft das Autograph zu Rate ziehen (sofern noch vorhanden) und interpretieren, Gepflogenheiten erkennen (z.B. Abkürzungen). Insofern würde ich mich zunächst auf das Manuscript verlassen (natürlich mal mit einem Erst- oder Frühdruck vergleichen und versuchen zu eruieren, welchen Einfluß Schubert darauf ggfs. hatte).


    Auszüge aus dem Erstdruck sind hier zu finden (Reiter: Noten). Wenn Du Manuscript und Erstdruck vergleichst, siehst Du, was ich meine: Schubert hat in Takt 8 die Abbreviaturen extra nochmals mit Portato versehen (allerdings nur rH, gilt aber logisch auch für die lH), Takt 9 nicht (weil das schlüssig dafür auch gilt): so wurde es dann im Druck umgesetzt.


    Das Portato ist m. E. konsequent durchzuziehen, sofern es nicht explizit durch z.B. Legato, Staccato oder sonstwas aufgehoben wird.

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Den Ankündigungstext von 14. Jänner '28 (Wr. Zeitung) halte ich für zitierenswert, weil herzallerliebst:


    Dieser Kreis von Gesängen, von welchem dem kunstliebenden Publicum hiermit die erste Abtheilung vorgelegt wird, und dessen zweyte Hälfte bald möglichst folgen soll, ist das jüngste Geistesproduct eines durch seine zahlreichen Gesangbehandlungen mit Recht geschätzten Tonsetzers, der hier neuerdings beweiset, was er vorzugsweise in dieser Gattung vermöge. Jeder Dichter darf sich Glück wünschen, der von seinem Componisten so verstanden, mit eben so warmem Gefühl, als kühner Fantasie aufgefasst, ja durch der Töne Allgewalt der todte Buchstabe erst ins rege Leben gerufen wird.


    Die Verlagshandlung darf sich schmeicheln, bey einer so werthen Gabe auch ihrerseits rücksichtlich der äußerlichen wohlgefälligen Ausstattung nichts versäumt zu haben: [...]


    Teil II erschien am 30.12.1828, sechs Wochen nach Schuberts Tod.

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    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Sind die gedruckten Noten richtig gesetzt?

    Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass eine Urtextausgabe automatisch auf dem Autograph basieren muss. Tatsächlich tut sie das bei den meisten Komonisten eher selten. Deshalb kann die gestellte Frage auch nicht einfach anhand der paar Takte Autograph beantwortet werden, denn dazu müsste man wissen, welche anderen Quellen es noch gibt, also z.B. Abschriften, Stichvorlagen, Erstdrucke usw. Der Erstdruck der ersten 12 Lieder der Winterreise erschien ungefährt ein Jahr nach ihrer Niederschrift und damit noch zu Schuberts Lebzeiten bei Tobias Haslinger in Wien. War Schubert an dieser Edition beteiligt? Hat er Stichvorlagen oder Vorabdrucke durchgesehen, wenn ja, wie intensiv? Gibt es Abschriften, Reinschriften o.ä.? Das alles muss man wissen, um Differenzen zum Autograph bewerten zu können. Aber das ist noch nicht alles: Was sind Schuberts persönliche Gepflogenheiten in der Notation? Setzt er Legato-Bögen zwischen Akkorden üblicherweise an die Oberstimme, die Unterstimme oder irgendwo dazwischen? Sind Akzente und Decresc.-Gabeln immer eindeutig unterscheidbar? Was ergibt der Vergleich mit Parallelstellen? Und so weiter: Als Herausgeber muss man eine Fülle solcher und ähnlicher Fragen beantworten und seine Entscheidungen in jedem Einzelfall begründen. Und als Musiker bzw. Notenleser muss man, wenn man an solchen Textfragen interessiert ist, gute Urtextausgaben nehmen und die Kritischen Berichte studieren.

    Den KB zur Winterreise aus der Neuen Schubert-Ausgabe habe ich online nicht gefunden, aber den Notentext gibt es bei IMSLP, und der stimmt für die Anfangstakte mit der oben zitierten Peters-Ausgabe überein, also Tempo "mäßig" (mit Fußnote zur abweichenden Lesart im Autograph), mit Bögen und Punkten im zweiten Takt usw.. Man kann also davon ausgehen, dass als Primärquelle nicht das Autograph sondern vermutlich der Erstdruck verwendet wurde, und dass es dafür im Falle der NSA gute Gründe gibt.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Gut zusammengefasst. Gleichwohl lohnt sich ein kritischer Blick ins (noch vorhandene) Manuscript immer; und sei es bloß, um sich der Unterschiede zwischen Druck und Handschrift bewußt zu werden. Das Autograph spiegelt ja zumindest die ersten Gedanken des Komponisten wider. Spätere Zutaten sind dann Verfeinerung, Verdeutlichung, Richtigstellung, Fehlerkorrektur; seltener eine vollständig neue Variante.

    Man kann also davon ausgehen, dass als Primärquelle nicht das Autograph sondern vermutlich der Erstdruck verwendet wurde, und dass es dafür im Falle der NSA gute Gründe gibt.

    Vermutlich beides mit besonderem Fokus auf den Erstdruck.


    Es ist ein wunderlich Ding, wenn man (zum reinen Vergnügen) aus den Originalen (Abdrucken, Faksimiles) spielt, was vielfach bei Bach, Mozart und Schubert inzwischen möglich ist (bei Beethoven würde das eher in freie Fantasien ausarten ...). Ich habe immer das Gefühl, dem Werk dann "näher" zu sein, es scheint dann auch anders zu klingen. Vermutlich reine Suggestion.


    Lustig sind dann die Fälle, bei denen das Autograph oder Teile davon später (nach Drucklegung und aufwendigen Recherchen, Expertisen, sonstigen Begründungen) wieder auftaucht wie beispielsweise Seiten der alla-turca-Sonate bei Mozart; es gibt inzwischen eine revidierte Druckausgabe, da doch erhebliche Abweichungen (was eben die MuWi darunter versteht; ist relativ) zu vermelden waren; blöd, jetzt muß das alles wieder neu eingespielt werden. Auch so bei KV 449 ... solche Überraschungen erlebt man immer wieder gerne ...


    Bei Schuberts WR aber scheint die Quellenlage recht eindeutig zu sein, jedenfalls was den 1. Teil betrifft. Beim 2. wage ich zu behaupten, daß Schubert krankheitsbedingt vermutlich nicht mehr aktiv mitgewirkt haben kann (aber das lässt sich ja im KB herausfinden).

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Gleichwohl lohnt sich ein kritischer Blick ins (noch vorhandene) Manuscript immer; und sei es bloß, um sich der Unterschiede zwischen Druck und Handschrift bewußt zu werden.

    Unbedingt. Ich habe deshalb bei meinen (Brahms-)Urtextausgaben immer auch die Lesarten des Autographs im KB dokumentiert (was natürlich nicht meine Erfindung sondern heutzutage selbstverständlicher Standard ist). Wer also das Autograph nicht zur Verfügung hat, oder wem dessen eigenes Studium zu aufwändig ist, kann trotzdem und vergleichsweise einfach die Varianten vergleichen und kann auch andere Entscheidungen treffen als ich als Herausgeber. Beim Anblick des Autographs kommt aber noch hinzu, dass die Handschrift selbst eine Art musikalischen Ausdruck hat bzw. haben kann, wenn z.B. die Notenhälse bei Beethoven in schnellen, nach vorne drängenden Passagen plötzlich alle nach rechts abkippen. Das gibt eine ganz andere Vorstellung von der musikalischen Aussage als das wohlgestochene bzw. heute per PC wohlgesetzte Notenbild.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • wenn z.B. die Notenhälse bei Beethoven in schnellen, nach vorne drängenden Passagen plötzlich alle nach rechts abkippen. Das gibt eine ganz andere Vorstellung von der musikalischen Aussage als das wohlgestochene bzw. heute per PC wohlgesetzte Notenbild.

    :cheers:

    Ich finde auch, es muß immer ein Original geben, in dem das Werk "wohnt", also seine Seele beheimatet ist; das hast Du sehr pittoresk beschrieben. Ich könnte z.B. nicht damit leben, wenn Kompositionen nur am PC geschrieben wurden - wo ist dann das Original? Selbst wenn es nicht mehr vorhanden ist, so hat es das doch bei den Klassikern gegeben.


    Wenn es sich nicht um eine spätere Reinschrift handelt, so kann man durch das Manuscript das Werk anders erleben, quasi beim Schaffensprozss "live" dabei sein. Es gab hier schonmal einen Thread zum Thema "Was ist das Werk?"; schon damals habe ich nicht ohne berechtigten Gegenwind behauptet, daß es die Originalhandschrift ist.

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    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Bemerkenswert ist: Es kommt ein Hammerklavier von Gottlieb Hafner zum Einsatz.

    Da kann ich noch ein paar aus meiner bescheidenen Sammlung beisteuern - kleines Geflügel-Salat-Buffet:


    Thomas Bauer (Bariton), Jos Van Immerseel

    Hammerflügel Christopher Clarke (1988) nach Anton Walter


    Peter Harvey (Bariton), Gary Cooper

    Hammerflügel frühes 19. Jahrhundert o.n.A.


    Christian Hilz (Bariton), Eckart Sellheim

    Fortepiano Conrad Graf (c1827), Sammlung Imberger


    Werner Güra (Tenor), Cristoph Berner

    Rönisch-Flügel, 1872


    Christoph Prégardien (Tenor), Andreas Staier

    Fortepiano Johann Fritz c1825


    Hans Jörg Mammel (Tenor), Arthur Schoonderwoerd

    Pianoforte Johann Fritz c1810


    Max van Egmond (Bariton), Penelope Crawford

    Fortepiano Conrad Graf c1835


    Jan Kobow (Tenor), Christop Hammer
    Hammerflügel Joseph Brodmann (Wien c1810)


    Jan van Elsacker (Tenor), Tom Beghin
    Fortepiano Gottlieb Hafner, Wien c1830


    Markus Schäfer / Tobias Koch
    Instrument aus Thüringen oder Sachsen c1835


    Tini Mathot & Klaus Mertens
    Michael Rosenberger (Wien c1802)


    Frauenstimmen halte ich generell für nicht authentisch; das wirkt nicht nur fremd, sondern auch irgendwie perspektivisch falsch. Allerdings last but not least noch ein "echter" Leyermann:


    Natasa Mirkovic-De Ro, Gesang

    Matthias Loibner, Leyermann


    Ich war in den letzten Jahren etwas weniger an Trübsinnigem interessiert und daher auch nachlässig, was die Katalogisierung betrifft; insofern ist dies weder eine vollständige Liste aller Erscheinungen, noch meiner gesamten Sammlung (ähnlich bin ich übrigens beim FQ verfahren; SchwaG nicht so ergiebig, leider - SchöMü nicht so interessant für mich).


    :hello:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Eine solide Diskographie der "Winterreise"* findet sich hier. Wenn ich mich richtig erinnere, sind um die 400 Einspielungen gelistet. In Wirklichkeit dürften es noch mehr sein. Die mir wichtigste Aufnahme mit Hammerklavier kann nicht dabei sein, weil sie 1982 im WDR produziert wurde und (bisher) nicht auf CD gelangte. Der Tenor Werner Hollweg wird von Roman Ortner begleitet.


    * Wie ich erst jetzt sehe, hat bereits moderato an andere Stelle einen Link gesetzt.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Rheingold1876


    Ich habe sie auf der von dir erwähnten Seite gezählt: Es sind 530 offizielle Aufnahmen, 113 private inoffizelle Mitschnitte und 331 Aufnahmen mit Ausschnitten des Zyklus Winterreise.


    Deine von dir erwähnte Einspielung mit dem Tenor Werner Hollweg und Roman Ortner am Klavier ist nicht dabei. :(

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928