Jutta Vulpius, Sopran - ein Leben für den Gesang

  • Anlässlich des Todes von Kammersängerin Jutta Vulpius in der vorletzten Woche ist es mir ein Bedürfnis, diese Rubrik zum Andenken an diese bedeutende Sängerin zu eröffnen.


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    Die Sopranistin Jutta Vulpius (31.12.1927 - 16.11.2016) hat Berliner Operngeschichte geschrieben und war in den letzten Jahren die Inkarnation einer lebendigen großen Vergangenheit. Sie sang unter Dirigenten wie Hermann Abendroth, Franz Konwitschny, Hans Knappertsbusch und Joseph Keilberth, mit Partnern wie Josef Traxel oder Fritz Wunderlich. Noch vor wenigen Jahren stand sie selbst auf der Bühne: an der Seite ihres berühmtesten Schülers Jochen Kowalski in der Berliner Volksbühne als Primadonna Jutta Vulpius in Johann Kresniks Stück "Villa Verdi" nach dem Dokumentarfilm "Un baccio di Tosca" und im Umfeld des Spielfilms "Quartett".


    Diese begeistert aufgenommenen letzten Bühnen-Auftritte, bei denen sie eine unglaublich intakte und feine Sopranstimme mit erstaunlich vielen Obertönen erklingen ließ, erfolgte immerhin sechs Jahrzehnte nach ihrem umjubelten Berlin-Debüt 1954 als Königin der Nacht in der bemerkenswerten Inszenierung der "Zauberflöte" von Walter Felsenstein. Dieser hatte sie bereits 1951 frisch von der Hochschule in Weimar an seine Komische Oper verpflichtet - und dann erst einmal jahrelang schmoren lassen, bis er die reine Sängerin darstellerisch - und seine mehrfach verschobene und einmal kurz vor den Endproben abgebrochene und völlig neu konzipiert noch einmal begonnene Inszenierung der "Zauberflöte"- so weit hatte, sie dem Publikum zu präsentieren.
    In einer vor mehreren Jahren im Berliner Privatfernsehen ausgestrahlten Sendung berichtete die rüstige Mittachtzigerin von ihren damaligen Auseinandersetzungen mit Walter Felsenstein. Sie schrie ihn an: "Dann werd' ich eben Gärtnerin" und er schrie zurück: "Dann wirst du eben Gärtnerin!"- Nun ja, so weit kam es nicht, aber 1956 wechselte Jutta Vulpius ins Ensemble der Deutschen Staatsoper Berlin und blieb diesem Haus bis zu ihrem offiziellen Eintritt in den Ruhestand 1988 (in der DDR galt für Frauen die Rente mit 60!) treu, gastierte dann noch eine weitere Spielzeit als Jungfer Marianne Leitmetzerin im "Rosenkavalier" und zog sich dann von der Bühne zurück - eben bis zu "Villa Verdi" an der Berliner Volksbühne in der Spielzeit 2012/13, als sie ein bemerkenswertes Bühnencomeback gab. Dazwischen gab sie das Singen allerdings nie auf, sondern gab Benefizkonzerte in Kirchen, um für deren Sanierung zu werben (solche Konzerte gab es bis vor zwei bis drei Jahren) und sie unterrichtete mit derselben Hingabe, mit der sie Jahre zuvor ihre großen Partie wie Konstanze, Donna Anna, Fiordiligi, Violetta, Alice Ford, Nedda oder Butterfly auf der Bühne verkörpert hatte.


    Dass Jutta Vulpius in den letzten Jahren eine unorthodoxe Rentnerin war, sieht man schon daran, dass sie mit 84 Jahren noch eine einstündige Radiosendung komplett selbstständig moderierte!
    Hier ihre Selbstvorstellung am Beginn ihrer Moderation:



    Und hier die Sendung im Berliner Privatfernsehen, zu der sie vor wenigen Jahren geladen war und aus ihrem Leben plauderte:


    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Jutta Vulpius wurde am Silvestermorgen des Jahres 1927 in Erfurt geboren und wuchs in einem kleinen Ort in Thüringen auf. In den letzten Tagen war mitunter zu lesen, sie entstamme der durch Goethe berühmt gewordenen Familie von Christiane und Christian Vulpius, das stimmt jedoch nicht. Richtig ist, dass sie in diese Familie eingeheiratet hat. Als junges Mädchen spielte sie Klavier und sang. Wie ihre Idee, den Gesang zum Beruf, ja, zur Berufung zu machen, durch ein Naherlebnis mit dem Tenor Gerhard Unger, dessen 100. Geburtstag wir hier gerade erst gedachten, verstärkt und bestärkt wurde, erzählte sie 84-jährig ebenfalls in der Sendung "Klassik, Pop et cetera", und zwar an dieser Stelle:



    Das Studium war noch gar nicht ganz vorbei, da fuhr sie nach Berlin, um sowohl an der (noch im Ausweichquartier Admiralspalast spielenden) Deutschen Staatsoper Berlin als auch an Walter Felsensteins Komischer Oper vorzusingen. Sie sang im Admiralspalast vor und bekam von Intendant Ernst Legal ein Angebot, ins Ensemble einzutreten. Dann sang sie bei Felsenstein vor und bekam ebenfalls ein Angebot. Als sie ihm sagte, dass die Staatsoper ihr ein Angebot gemacht hatte, das sie eigentlich schon zugesagt hatte, fragte er sie, welche Gage man ihr geboten habe, und sie nannte diese. Seine Reaktion: "Bei mir bekommen Sie das Doppelte!" Damals, unmittelbar nach dem Krieg, wo Mangel herrschte, konnte sie dieses Angebot (was sich finanziell nur ein Felsenstein leisten konnte, der in ihr seine zukünftige Königin der Nacht sah) nicht abschlagen und sagte ihm zu. Legal war natürlich sauer, und obwohl damals noch viele Sängerinnen und Sänger sowohl an der Staatsoper als auch an der Komischen Oper sangen, durfte sie zu Zeiten seiner Intendanz kein einziges Mal an der Berliner Staatsoper gastieren. Künstlerisch hatte sie die Entscheidung gegen die Staatsoper und für die Komische Oper in den nächsten Monaten, ja Jahren bitter bereuen müssen, denn Felsenstein bezahlte sie zwar, ließ sie aber nicht auftreten. Sie hatte ja noch keinerlei Bühnenerfahrung und war ihm darstellerisch zu schwach. Er probierte zwar immer wieder mal mit ihr, aber mehr als zwei Jahre lang durfte sie keine einzige Vorstellung singen. Sie sang zwar außerhalb des Hauses Konzerte und Liederabende und machte Rundfunkaufnahmen, an ihrem Haus selbst durfte sie aber nicht öffentlich auftreten. So etwas wäre heute gar nicht mehr denkbar und es war eine schlimme Zeit für sie. Trotzdem entstanden damals schon bemerkenswerte Aufnahmen, die eine frische jugendliche Stimme offenbaren:


    Alle diese Aufnahmen müssen vor 1956 entstanden sein (die "Ariadne" definitiv 1954) und unterstreichen ihr überragendes Talent:






    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Stimmenliebhaber,


    ich komme gerade vom Abendessen an meinem Urlaubsort zurück und muss mich noch mit meinem grippalen Infgekt plagen. Nichtsdestoweniger freue ich mich über diesen Thread und habe das Sterbedatum auch sogleich in meine Dateien übernommen.
    Welch eine natürliche Stimme, die es verdient, dass an sie erinnert wird. Ihr Geburtsdatum habe ich natürlich in meinen Unterlagen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Mehrfach hatte Walter Felsenstein seine "Zauberflöte" verschoben, dann sogar ganz abgebrochen und völlig neu konzipiert neu begonnen, aber im Februar 1954 war endlich die umjubelte Premiere und Jutta Vulpius war plötzlich jemand, nachdem sie vorher in Berlin noch ein niemand war. Das Publikum raste nach ihren beiden Arien und die erste Aufnahme (unter Meinhard von Zallinger) ließ nicht lange auf sich warten:



    Am hier zu hörenden Dialog vor der zweiten Arie kann man ahnen, wie intensiv Felsenstein mit ihr gearbeitet hat, denn ihm reichte es nie, wenn jemand nur schön oder auch perfekt singen konnte, er wollte Wahrhaftigkeit auf der Bühne, und dazu gehörte zu ihn auch ein geradezu hässlich gesprochener Dialog für einen hässlichen Charakter in einer extremen Situation:



    Bemerkenswert ist auch die hohe Textverständlichkeit der Vulpius in diesem Fach! (Auch das war Felsenstein ja ein existenzielles Anliegen.)


    Dass die Vulpius trotz der Begeisterung des Publikums als Sängerdarstellerin im Felsensteinschen Sinne Defizite hatte, spürt man anhand der Eintragungen der Felsensteinschen Regieassistenten dieser Produktion (mit so prominenten Namen wie Joachim Herz und Götz Friedrich!!!) in die Vorstellungsberichte. Polemisch, teilweise amüsant und auch etwas böse, in einem Fall dann leider wirklich tragisch:


    Joachim Herz schrieb als Abendspielleiter über die Aufführung vom 6.6.1954:
    "Frau Vulpius: Gegen Ende des Dialogs hatte ich 'Ziellose Aufgeregtheit' konstatiert. Es stellte sich heraus, dass ihr eine Fliege in den Mund geflogen war."


    Am 12.3.1955 dann der Schicksalsschlag, den Joachim Herz wie folgt berichtet:
    "Unfall Frau Vulpius. Der Wagen hat beim Hinausfahren plötzlich gestoppt, Frau Vulpius ist hinuntergestürzt, der diensttuende Arzt stellte Prellung der Kniescheibe fest. "


    Dieser Vorfall, so harmlos er erst einmal klingen mag, hat sie bei weiteren Auftritten in dieser Inszenierung psychisch blockiert, sie hatte eine panische Angst vor diesem Wagen und gab die Rolle daher bald ab. Da sich dieser Vorfall tief bei ihr eingrub, sang sie die Königin der Nacht auch später anderswo nicht mehr, sondern sang dann an der Staatsoper Berlin stattdessen lieber die Erste Dame der Königin der Nacht. (Vulpius vor zwei Jahren zu mir: "Das hat mich diese Rolle gekostet.")


    Ein paar Aufführungen kamen aber noch:


    Am 13.2.1956 notierte Götz Friedrich:
    "Vulpius: 'Zurück!' hatte noch nicht einmal die Kraft, die eine Mutter hat, wenn auf einem Spaziergang ein großer Hund ihren Kinderwagen beschnuppert. Bei 'Sieh diesen Dolch' war sie nicht in der inneren Erregung, die das Wahnsinnige ihres Plans glaubwürdig machen würde."


    Joachim Herz am 15.6.1956 (seinem 32. Geburtstag):
    "Vulpius-Dialog: Erzählt Märchen für die mondäne Welt."
    (Witzigerweise verabschiedeten sich damals sowohl Herz - Richtung Köln - als auch Vulpius - Richtung Staatsoper - aus dem Ensemble des Hauses. Beide kehrten wieder als Gast zurück, Herz später sogar als Intendant und Felsenstein-Nachfolger, wenn auch nur für nicht einmal fünf Jahre).


    Insgesamt sang Jutta Vulpius in ihren fünf Ensemblejahren an der Komischen Oper Berlin lediglich drei Rollen:
    - Königin der Nacht in "Die Zauberflöte" (Inszenierung: Walter Felsenstein, Premiere 1954)
    - Margiana in "Der Barbier von Bagdad" von Peter Cornelius (Inszenierung von Heinz Rückert, Premiere 1955)
    - Désirée in "Die Wirtin von Pinsk" von Richard Mohaupt (Inszenierung von Joachim Herz, Premiere 1956)


    Nachdem sie ins Ensemble der Deutschen Staatsoper Berlin gewechselt war, kehrte sie als Gast für zwei Rollen an ihr erstes Haus zurück:
    - Großmutter in "Der Fiedler auf dem Dach" ("Anatevka") von Bock (Inszenierung Walter Felsenstein)
    - Lydia Barbent in "Noch einen Löffel Gift, Liebling?" von Siegfried Matthus (Inszenierung von Götz Friedrich, seine letzte vor seinem Weggang)
    Die Lydia war eine echte Hauptrolle an der Seite von Hanns Nocker.


    Obwohl Felsenstein sie für seinen "Fiedler" noch einmal an sein Haus zurückholte, sollten die beiden nicht mehr die besten Freunde und Arbeitspartner werden, Felsenstein hatte andere Lieblinge wie Anny Schlemm oder Irmgard Arnold, die wirklich Vollblut-Sängerdarstellerinnen waren, während Jutta Vulpius doch immer zuallererst Sängerin war. Sie passte nicht zu ihm und für ihn und zog daher die Konsequenzen, verließ das Ensemble der Komischen Oper und wechselte an die Deutsche Staatsoper Berlin. Inzwischen war man freilich (nicht zuletzt dank Felsenstein und seinem Renommee) auch international auf Jutta Vulpius aufmerksam geworden. An der Staatsoper Berlin sang Jutta Vulpius dann viele Jahren und ein riesiges Pensum. Dass sie an diesem Sängerhaus so begeisterte, lag ein wenig aber auch am darstellerischen Rüstzeug, dass sie sich in fünf harten Jahren bei Walter Felsenstein erworben hatte.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • In der Zeit, als Felsenstein sie an der Komischen Oper schmoren ließ und sie kaum einsetze, sang die Vulpius viele Konzerte mit Helmut Koch, Franz Konwitschny und anderen.


    Hier erzählt sie 84-jährig von einem kuriosen Erlebnis in London, als Josef Traxel im 3. Akt "Lohengin" statt "Mein lieber Schwan, ach, diese letzte traur'ge Fahrt" versehentlich "Nun sei bedankt, mein lieber Schwan" aus dem 1. Akt sang - hinreißend emotional berichtet, auch wenn sie sich dabei mit den Texten etwas vertut:



    Von 1954 bis 1956 sang Jutta Vulpius auch bei den Bayreuther Festspielen, und zwar Blumenmädchen im "Parsifal" unter Knappertsbusch und Woglinde im "Ring" unter Joseph Keilberth.
    Hier erzählt sie von ihrer Bayreuth-Zeit:



    Was sie dort nicht erzählt und was mich am meisten interessiert hat, habe ich sie bei meinem Besuch vor zwei Jahren natürlich gefragt: Warum war nach drei Festspielsommern Schluss?
    Darauf erzählte sie mir, dass Wieland Wagner von ihr begeistert war und ihr für seine erste "Meistersinger"-Inszenierung 1956 das Evchen angeboten hatte, von diesem Angebot aber später zurücktrat. Der Grund: Der vorgesehe Stolzing der Produktion, Wolfgang Windgassen, wollte unbedingt, dass seine spätere Frau Lore Wissmann an seiner Seite die Eva singt, und drohte, andernfalls selbst nicht zu singen. Wieland gab nach, für Lore Wissmann blieb es bei dem einen Bayreuther Festspielsommer als aktive Sängerin, aber Jutta Vulpius war zu stolz, im nächsten Jahr wieder für kleine Partien nach Bayreuth zu kommen. Ein Angebot der Staatsoper Stuttgart, dort ins Ensemble zu gehen (viele erste Sänger der Berliner Staatsoper nahmen solche Angebote damals aus Gründen des harten Westgeldes an, Rudolf Gonszar und Anny Schlemm gingen nach Frankfurt am Main usw.) nahm sie aus demselben Grund nicht an und blieb in Berlin - es war im Nachhinein nicht ihre schlechtestes Entscheidung, denn im dortigen großen Ensemble konnte sie alt werden und hatte eine soziale Sicherheit auch dann noch, als die ihren Zenit deutlich überschritten hatte, was eigentlich schon Mitte der 1960er Jahre der Fall war.


    Mit Eugen Jochum erlebte sie 1956 ein kurioses "Parsifal"-Gastspiel in Rom. Sie war als Blume dabei und plötzlich wackelte die Vorstellung, weil er der beiden als Knappen vorgesehen Tenöre kurzfristig ausfiel. Eines der Blumenmädchen sollte einspringen, und da die Vulpius als besonders musikalisch und auffassungsbegabt galt, fiel die Wahl auf sie und sie sprang tatsächlich kurzfristig im ersten Akt als Tenor-Knappe ein, natürlich in ihrer Stimmlage eine Oktave drüber singend. Es gibt von dieser Vorstellung, vielleicht der einzigen, in der unter den vier Knappen drei Frauen und nur ein Tenor sangen, sogar einen Mitschnitt:



    Und hier die bei Youtube verfügbaren Bayreuther Vorstellungsmitschnitte unter Beteiligung von Jutta Vulpius:





    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Lieber Stimmenliebhaber,


    die beiden Arien habe ich gerade gehört, und ich meine, dass ich die erste: "O zittre, nicht, mein lieber Sohn", noch kaum je so natürtlich und beseelt gesungen gehört habe, und ich muss in der zweiten Arie zu dem von dir getätigten Ausspruch, Felsemstein wollte Wahrhaftigkeit in der Aussage seiner Sänger(innen), das nicht so gesehen habe, dass hier ein Dialog hässlich gesprochen würde, passend zu einem hässlichen Charakter. Ich sehe das eher so, wie ich seit über 50 Jahren die Figur der "Königin der Nacht" gesehen habe: hier ist zwar eine machtvolle, aber auch unglücliche Mutter, die sich nach dem Tod ihres Mannes eintscheiden muss, und sie entscheidet sich dafür, um ihre Macht und ihre Tochter zu kämpfen, auch um den Preis, den Tod eines anderen Menschen in Kauf zu nehmen. Das ist zwar falsch, aber ist das auch hässlich? Ich empfinde ihr Aussage als zutiefst leidenschaftlich und aus der Sicht "einer liebenden Mutter" verständlich, auch, wenn das moralisch natürlich verwerflich ist.
    Diese ganze Probelematiik bringt jutta Vulpius in ihren beiden Arien m. E. wunderbar rüber.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Am 13. Dezember 1955 gastierte Jutta Vulpius erstmals an der Deutschen Staatsoper Berlin (Intendant war seit 1954 Prof. Max Burghardt), und zwar als Konstanze in Mozarts "Entführung aus dem Serail" - mit so durchschlagendem Erfolg, dass ihr ein Eintritt ins Ensemble zur kommenden Spielzeit 1956/57 angeboten wurde - die Vulpius nahm an und blieb mehr als 30 Jahre an diesem Haus fest engagiert, bis zur Rente.


    Mehr als 100 Mal (bis 1971) verkörperte sie die Konstanze auf der Bühne der Deutschen Staatsoper Berlin.
    Ihre Belmontes hießen u.a. Gerhard Stolze, Josef Traxel, Julius Katona, Martin Ritzmann, Peter Schreier und Eberhard Büchner - und einmal auch Fritz Wunderlich bei dessem einzigen Auftritt an der Deutschen Staatsoper Berlin am 3. Mai 1960 - und die Vulpius soll ihn angeblich nicht angesehen haben... :D


    1958 folgte ihre erste Studio-Gesamtaufnahme als Konstanze in der "Entführung aus dem Serail" - unmittelbar, nachdem die Sängerin ihre erste Tochter geboren hatte, und ihr den Namen Konstanze gegeben hat (vielleicht war die Pause nicht lang genug, aber es gehört leider zur Wahrheit, dass sie Stimme der Vulpius sich verändert hatte und anders klang als vor der ersten Schwangerschaft. Dennoch ein eindrucksvolles Dokument insbesondere ihrer Koloraturfähigkeiten in der Martern-Arie:




    6 Jahre später, nachdem die Vulpius noch eine zweite Tochter zur Welt gebracht hatte, kam sogar noch eine zweite Gesamtaufnahme unter Otmar Suitner in Dresden mit der dortigen Staatskapelle.
    Am Beginn des ersten Aufnahmetages sagte Suitner in seiner bekannt "charmanten" Art zu ihr, sie solle doch mal ein paar Jahre mit dem Singen pausieren. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und dachte dann: Jetzt erst recht! Also sang sie die Aufnahme mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch und dem nötigen Adrenalin, und es gelang ihr noch einmal ein eindrucksvolles Dokument ihrer großen Gesangskunst auch wenn die Stimme nach der zweiten Schwangerschaft noch weniger klang wie vor der ersten, sondern säuerlicher und in der Höhe spitzer als früher. Dem familiären Glück hat sie eine noch größere Karriere geopfert.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • An ihrem neuen Stammhaus, der Deutschen Staatsoper Berlin, sang Jutta Vulpius neben der Konstanze so ziemlich alles, was gut und teuer ist, darunter weitere Mozart-Partien wie Donna Anna und Fiordilgi, zwei Händel-Rollen, aber auch Violetta, Nedda und Butterfly sowie zeitgenössische Rollen wie die Königin die "Die Verurteilung des Lukullus".
    Insbesondere als Violetta muss sie ungeheuer eindrucksvoll gewesen sein und großen Erfolg gehabt haben. Leider gibt es keine Aufnahme davon.
    Ihr durchaus vorhandenes komisches Talent konnte sie als Frau Fluth und Rosalinde ausleben.
    Die ihr in Bayreuth durch die Lappen gegangene Eva konnte sie nun auch nachholen.


    In folgenden Rollen trat die Vulpius zwischen Dezember 1955 und Juni 1989 an der Deutschen Staatsoper Berlin auf:


    - 105x Konstanze in „Die Entführung aus dem Serail“
    - 22x Fiakermilli in „Arabella“
    - 33x Nedda in „Der Bajazzo“
    - 42x Rollen in „Die Frau ohne Schatten“ (davon 17x Hüter der Schwelle des Tempels und 13x Stimme des Falken)
    - 36x Helmwige in "Die Walküre“,
    - 13x Damigella in „Die Krönung der Poppea“
    - 22 x Woglinde in „Das Rheingold“
    - 13x Waldvogel in „Siegfried“
    - 50x Fiordiligi in „Cosi fan tutte“ (+ 4 Gastspiele),
    - 13x Woglinde in „Götterdämmerung“
    - 11x Cio-Cio-san in „Madame Butterfly“
    - 25x Ginevra in „Ariodante“ (+ 2 Gastspiele)
    - 11x Königin in „Die Verurteilung des Lukullus“
    - 1x Agathe in „Der Freischütz“
    - 65x Frau Fluth in „Die lustigen Weiber von Windsor“
    - 35x Donna Anna und 7x Donna Elvira in „Don Giovanni“
    - 42x Violetta in „La Traviata“
    - 9x Engelsstimme und 2x Elisabeth in „Don Carlos“
    - 17x Fulvia in „Ezio“
    - 17x Erster schwarzer Vogel in „Peer Gynt“
    - 12x Felice in „Die vier Grobiane“
    - 22x Abigaille in „Nabucco“
    - 24x Rosalinde in „Die Fledermaus“
    - 178x 1. Dame in „Die Zauberflöte“ (+ Gastspiele in Lausanne, Japan, Las Palmas u.a.)
    - 3x Aloysia in „Masaniellio“
    - 14x Gräfin in „Die Hochzeit des Figaro“
    - 9x Zweite Elfe in „Rusalka“
    - 8x Eva in „Die Meistersinger von Nürnberg“
    - 24x Praskowja in „Die Nase“ (+ Gastspiele in Lausanne, Stockholm, Hamburg, Wiesbaden)
    - 6x Viola Healy in „Joe Hill“
    - 23x Alice Ford in Falstaff
    - 9x Axinja in „Katerina Ismailowa“
    - 19x Dicke in „Einstein“ (+ Gastspiele in Stockholm, Hamburg und Wiesbaden)
    - 37x Mutter in „Hänsel und Gretel“
    - 28x Kartenaufschlägerin in „Arabella“
    - 18x Tante Emma in „Hin und zurück“ + Caroline von Recklitz in „Rufen Sie Herrn Plim“
    - 14x Rollen in „Der gestiefelte Kater“
    - 49x Leitmetzerin in „Der Rosenkavalier“ (+ Gastspiele)
    - 28x Theodorine in „Die Insel Tulipatan“
    - 10x Hausfrau in „Baal“
    - 11x Grüne Nachbarin in „Die wundersame Schustersfrau“ (+ Gastspiel in Zürich)


    dazu zahlreiche Konzerte und einen Abschiedliederabend Anfang Januar 1989


    Nach meiner Zählung (nach bestem Wissen und Gewissen aber ohne Gewähr!) komme ich auf 1160 Staatsopernauftritte (exlusive Gastspielen mit dem Ensemble des Hauses und weiteren individuellen Gastauftritten an anderen Häusern) - ein mehr als eindrucksvolles Pensum!


    Ihre meistgesungene Rolle am Haus wurde beim Japan-Gastspiel vom Fernsehen aufgezeichnet. Vulpius - Schöter - Burmeister, das ist schon ein verdammt starkes Damen-Trio:



    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"


  • Lieber Willi, sei bedankt für deine Beiträge in dieser Rubrik!
    Letztlich ist es die größte und schlimmste Prüfung für Pamina, was ihre Mutter da von ihr an Unmenschlichkeit verlangt. Ich finde schon, dass sie sich da als sehr hässlich demaskiert, während sie im 1. Akt dem armen Tamino noch die traurige hilflose Mutter, das arme Opfer vorgaukelte. Aber das ist ein anderes Thema und etwas für eine Rubrik zur "Zauberflöte". Ich mache jetzt mal noch ein bisschen mit Frau Vulpius weiter. :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Einiges hat Jutta Vulpius zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Karriere eingespielt, darunter mehr Konzertliteratur als Oper (neben den drei Mozart-Gesamtaufnahmen als Königin der Nacht und 2x Konstanze wäre noch ein Operettenquerschnitt der "Lustigen Witwe" mit ihr als Hanna Glawari zu nennen), u.a. Werke von Bach und Händel, Mozart (darunter das Requiem) bis hin zur "Carmina burana" von Orff und zeitgenösssichen Sachen.






    Bemerkenswert finde ich ihre beiden Arien in dem Oratorium "Wenn der Wacholder blüht" von Ruth Zechlin. Ja, die Aufnahme entstand 1960, also nach der ersten Schwangerschaft, aber die Musik finde ich einfach wunderschön (vielleicht das beste, was ich je von einer Komponistin gehört habe, Pardon!) und die Vulpius singt das ungemein beseelt und emotional beteiligt - das muss auch das Faszinosum ihrer Violetta gewesen sein:



    Ich muss gestehen, dass ich seit der Nachricht vom Ableben von Jutta Vulpius täglich mehrfach das Bedürfnis habe, diese Musik zu hören, weil das meiner Stimmung am besten entgegen kommt und ich mich - irrationalerweise - beim Hören dieser Musik ihr besonders nahe fühle. (Gerade, wenn ich daran denke, welche Unwürdigkeiten sich unmittelbar vor und nach ihrem Tod abgespielt haben, worüber ich mich hier aber nicht ausbreiten möchte...)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Es ist nur Wenigen gegeben, gleichzeitig ein großer Sänger und ein großer Gesangslehrer zu sein. Seit vielen Jahren genoss Jutta Vulpius einen hervorragenden Ruf als Gesangslehrerin, hat sie sich rührend um zahllose bekannte und unbekannte Schülerinnen und Schüler gekümmert. Noch ganz junge Sängerinnen und Sänger suchten bis zuletzt ihren Rat, noch bis wenige Wochen vor ihrem Tod hat sie regelmäßig unterrichtet.


    Ihr berühmtester Schüler, der Altus Jochen Kowalski, ist nicht durch sie berühmt geworden (seine ersten Lehrer waren Prof. Heinz Reeh und Prof. Marianne Fischer-Kupfer), aber als er um die Jahrtausendwende in eine Krise kam, hat sie ihn aufgefangen und wieder fit gemacht und somit seine Alterskarriere ermöglicht.


    Ungemein rührend, weil für solche offiziellen Publikationen ungewöhnlich ehrlich, berichtet Jochen Kowalski voller Dankbarkeit in seinem 2013 in Leipzig im Vorfeld seines 60. Geburtstages am 30. Januar 2014 erschienenen autobiographischen Buch "Der Countertenor Jochen Kowalski. Gespräche mit Susanne Stähr" unter anderem:


    "Richtig singen gelernt habe ich erst bei meiner heutigen Lehrerin Jutta Vulpius, die mich seit zehn Jahren unterrichtet. Wenn ich die von Anfang an gehabt hätte - nicht auszudenken, was dann aus mir geworden wäre..." (S. 33)


    "Ja, und sie weiß, wovon sie spricht, , den sie ist eine Schülerin der berühmten Pädagogin Franziska Martinssen-Lohmann, von der viele Standardwerke über Gesangskunst und Stimmtechnik stammen. Jutta Vulpius war Koloratursopran zunächst an der Komischen Oper und dann an der Staatsoper, eine großartige Konstanze in Mozarts ENTFÜHRUNG und eine berühmte Königin der Nacht. Als Lehrerin ist sie sehr dezidiert, mit etwas vornehmer Diktion: "Jochen, Sie machen das nicht für mich, sondern für sich selbst. Sie müssen ganz korrekt sein", erklärt sie gerne mit gespitztem Mund, "und was ich Ihnen sage, ist auch nicht von mir, das kommt alles von Frau Professor." Mittlerweile ist Jutta Vulpius über 85 Jahre alt, aber sie hat teilweise noch Töne drauf, dass ich hin und weg bin." (S. 60)


    "Ja, das war ein glücklicher Zufall, denn Jutta Vulpius kam von sich aus auf mich zu, nach einem Konzert für den Förderkreis der Komischen Oper, das ich ziemlich bald nach meinen beiden schweren gesundheitlichen Krisen gegeben habe. Ich hatte mich zwar wieder eingermaßen gefangen, aber ich war nicht mehr wirklich zufrieden mit mir. Angeblich will keiner etwas davon bemerkt haben, aber wer Ohren hatte zu hören, der wusste doch, dass sich etwas verändert hatte. Nach diesem Konzert kamen sie wieder alle zu mir und schwärmten: "Wie toll, wie toll wie toll...", die übliche Lobhudelei also. Nur Frau Vulpius zog mich zur Seite und erklärte: "Jochen, mit Ihnen stimmt etwas nicht!" Ich sagte: "Frau Vulpius, ich weiß, aber was ist es denn? Wir müssen jetzt gar nicht debattieren, aber wann kann ich zu Ihnen kommen?" Es war eine Sonntagsmatinee und am Dienstag darauf war ich schon bei ihr zu meiner ersten Unterrichtsstunde. Und da hat sie dann begonnen, diesen ganzen Schutt abzuräumen, der sich bei mir im Laufe der Jahre abgelagert hatte." (S. 154)


    Das sind nicht alle Stellen über Jutta Vulpius in diesem SEHR lesenswerten Buch von Jochen Kowalski, in dem man nicht nur viel über ihn, sondern auch über die damalige DDR und über die Staatsoper Berlin erfährt, in der Kowalski vor seinem Gesangsstudium in den 1970er Jahren immerhin fünf Jahre als Requisiteur gearbeitet hat.


    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Stimmenliebhaber,


    hab besten Dank, dass Du Jutta Vulpius so engagiert und kompetent ein würdiges Ehrenmal errichtest.
    Jutta Vulpius war mir bei vielen Besuchen der Opernhäuser in der DDR immer ein Sängerin, auf die ich mich gefreut habe.
    Ich werde sie stets in guter Erinnerung behalten. Die vielen Dokumente, die Du eingestellt hast, sind mir eine sehr willkommene Hilfe dabei.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!