Beethoven, Klaviersonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3 CD-Rezensionen und Vergleiche (2016)

  • Zitat

    William B.A.: Bei Aufnahmen, die nicht bei Trovar gelistet sind, bin ich davon ausgegangen, dass sie vorher noch nicht erschienen sind, und das sind ja eine ganze Reihe.
    (V. n. n. e. = vorher noch nicht erschienen).


    So ist es, lieber Christian!


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3
    Bruno Leonardo Gelber, Klavier
    AD: Juli 1987
    Spielzeiten: 9:42 - 7:08 - 2:57 - 5:01 --- 24:48 min.


    Bruno Leonardo Gelber entfaltet vom ersten Ton an ein wunderbar warmes und in den ersten vier Takten aus einem veritablen Piano kommendes Klangbild, das aber gleichzeitig einen präzisen Rhythmus aufweist.
    In Takt 5 und 6 baut er langsam eine terrassenförmige dynamische Steigerung auf, die in der Sforzandokette ab Takt 9 durchaus schon Forte ist und ab Takt 9 nicht massiv Fortissimo ist, sondern eher f/ff. Er baut also die Steigerung kleinschrittig auf, durchaus schlüssig und pianistisch am ganz oberen Ende der Güteklasse.
    Die Behutsamkeit, mit der er den Klang aufbaut, zeichnet sich auch im Seitenthema aus, das im Gegensatz zu einigen seiner Vorgänger hier wieder eine mozartinische schwebende Leichtigkeit und, damit verbunden, einen zarten melancholischen Überzug erhält- wunderbar.
    Auch am Ende der 1. Hälfte, in der Sechzehntelsequenz, in der er zwar durchaus kräftiger zugreift, geht er jedoch nicht bis zum Äußersten. Hier, im Seitenthema, vor allem im Dolce, zeigt er einmal mehr seine großen lyrischen Fähigkeiten. So wunderbar berührend und beseligend singend habe ich das, so glaube ich, noch nicht gehört. Nichts desto trotz setzt er im letzten Viertel in den Sechzehnteln seinen dynamischen Bogen fort und erreicht am Ende der Oktaven dann doch das Fortissimo. In der Schlussgruppe bleibt er bei den großen dynamischen Kontrasten.
    natürlich wiederholt er diese wunderbar gespielte Exposition.
    Nach der fragenden Einleitung der Durchführung gibt er in deren zweiten Hälfte ab Takt 95 mit Auftakt schon die Antwort in einem veritablen Forte, das sich dann im 1. Zentrum zu kraftvollen Glockenschlägen steigert und mit einem zarten Calando endet. Im zweiten Zentrum bleibt er bei dem hohen dynamischen Bogen und dem eckigen Rhythmus, der in der Endphase durch den wiederholten Themenbeginn zuerst abgelöst wird und dann durch die fast gleiche Figur mit Sforzandi wieder aktiviert wird und direkt in die Reprise übergeht. Auch das spielt Gelber auf turmhohem Niveau.
    Die Synkopensequenz im Beginn der Reprise erfährt durch Gelbers Spiel in den ersten vier Takten im Piano in der Hüpfbewegung eine große Anmut und dann in den zweiten vier Takten im Forte einen insistierenden Vorwärtsdrang, bevor es dann im Ende des Hauptsatzes erneut dem Seitensatz zugeht.
    Hier ist er dann wieder im leicht schwebenden, leicht melancholischen , aber sich immer vorwärts bewegenden Gesang, nur strukturiert von den drängenden Fortesechzehnteln, die zum neuerlich verklärenden Dolce führen. Ich kann das gar nicht erklären, dass ich mich gerade bei dieser Interpretation schon zu Beginn des Seitensatzes wieder auf das Dolce freue. Dieses Gelbersche Dolce ist einfach unglaublich.
    Besonders groß, aber dennoch völlig schlüssig, spielt Gelber das Rinforzando ab Takt 194 Quasi als "Subito Forte" im äußerst bewegten letzten Viertel des Seitensatzes, der in Wirklichkeit immer wie ein zweiter Hauptsatz vorkommt und eine hochdynamische Klammer mit dem Schlusssatz bildet, einen hochdynamischen Block von 24 Takten, in Beethovens musikalischer Mathematik wieder ein Vielfaches von 2, 4, 6 und 8.
    Und dann, in der Coda, in jener rätselhaften 1. Phase (Takt 218 bis 232 auf der Eins), erlebe ich ein Wunder. Bruno Leonardo Gelber, den ich als Beethoven-Pianisten am zweithäufigsten live erlebt habe nach Alfred Brendel und noch vor Rudolf Buchbinder, beginnt diese erste Phase mit einem veritablen Fortissimoschlag, taucht dann ins verdämmernde Pianissimo ab, fährt das Tempo drastisch zurück und crescendiert in den vier Glissandotakten 226 bis 230 nur mäßig und endet in Takt 232 auf der Eins in einer unglaublichen mp-Fermate, das ist so überraschen, so bewegend und so schlüssig, dass ich einen Moment innehalten muss. Es gibt doch immer wieder faszinierende Überraschungen durch wahrhaft große Beethovenpianisten zu entdecken.
    Die Kurzkadenz legt er dann logischerweise als temporalen Kontrast an, ebenso großartig gespielt, und in der zweiten Phase hat er zu Beginn wieder eine Überraschung für uns parat, die Sequenz ab Takt 238 mit Auftakt (1. Sforzando) bis zum Fortissimo in Takt 243 als kleinschrittiges Crescendo an, welch eine stupende Wirkung, und ich glaube nicht, dass er es darauf angelegt hat, sondern das kam von innen heraus., und den beiden großen Intervallen (ich beschrieb sie in einer anderen Rezension) in Takt 246 und 247 gibt er ein überraschendes rhythmisches Gesicht von ungeheurer Leichtigkeit- direkt in die hochkontrastierenden abschließenden Fortissimotakte hinein.
    Ein überragender Satz!


    Im Adagio gehört er zu den objektiv Schnellen, doch zumindest im ersten Teil a klingt das gar nicht so. Das ist so wunderbar entspannt und hochlyrisch gespielt, dass es einfach nur "richtig" klingt.
    Auch im Teil b in den Zweiunddreißigstel bleibt diese Ruhe erhalten, da klingt nichts hastig und eilig.
    Stimmungsmäßig nimmt er die leichte Melancholie aus der 1. Hälfte des Seitenthemas im Kopfsatz wieder auf. Und das Ganze ist so berührend gespielt, dass man sich ihm einfach nur hingeben möchte. Den Seufzertakten 19 bis 24 gibt Gelber moderate dynamische Bewegungen bei.
    Alles andere als ein rundes, aber nicht überbordendes f/ff in den Wechseln ab Takt 26 wäre für mich eine große Überraschung gewesen. Gelber bleibt einfach bei seiner dynamischen Linie, und dadurch, dass er die p-Zwischentakt im Pianissimo spielt, bleibt der dynamische Gesamtrahmen erhalten, allerdings auf einem nicht alltäglichen, weniger brachialen Niveau, und seine letzten beiden Takte von Teil b, 41 und 42, runden das wunderbare Bild dieser Auffassung ab.
    Und als ob ich es geahnt hätte, zieht Gelber auch in diesem Satz den dynamischen Bogen über den ersten Teil des Sonatensatzes, Exposition und Durchführung (Teil a und Teil b) hinaus und kommt erst im reprisenförmigen Teil a' (mit integriertem Teil b) in den beiden ff-Takten 53 und 54 zu seinem dynamischen Höhepunkt. Er stellt also die Sätze nicht unter mehrere Bögen, sondern unter einen einzigen. Und im integrierten Teil b ist erneut große Ruhe und lyrische Empfindung zu verspüren.
    Die Annäherung zur Coda ist in der hohen Oktave im Thema und in der Vorschlagsnotensequenz in Gelbers großer lyrischer Ausdrucksstärke nur zu bewundern. Und nach den beiden hier natürlich auch moderaten ff-Akkorden und dem dritten gebrochenen folgt eine Coda der besonderen, Gelberschen Art: er crescendiert schon in den Takten 77 und 78, moderat, versteht sich, und spielt dann in Takt auf der Zwei einen ganz besonderen Triller, und selbst die letzten beiden Takte 81 und 82 sind noch einmal etwas ganz Besonderes!
    Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal zu einem Adagio der dritten Sonate von /:08 Minuten folgendes Urteil abgeben würde, aber hier tue ich es:
    Ein ebenfalls überragender Satz!


    Noch einmal blüht mir eine Überraschung: wieder denke ich an Mozart, aber nicht wegen dessen Verspieltheit, sondern wegen dessen Leichtigkeit und Schwerelosigkeit der zutiefst Beethovenschen Gedanken, denn dies ist ein Scherzo, und Gelber spielt es mit einer noch kaum je so gehörten schwebenden Souveränität, die wohl auch zu seinen großen pianistischen Fähigkeiten gehört. Und überall, wo andere Pianisten, z. B. im zweiten Teil des Scherzos, kräftige dynamische Bögen zeichnen, gelingen sie Gelber noch etwas zarter, aus einem niedrigeren dynamischen Niveau emporsteigend und rhythmisch noch etwas feiner, klanglich ungeheuer klar und rein. hier sehe und höre ich auch wieder die Mendelssohnschen Kobolde hin und her flitzen. Nur sind sie zierlicher und haben bunte mozartinische Gewänder an.
    Dem Trio verleiht Gelber durch die glutvollen Bassoktaven etwas mehr Gewicht, bleibt aber im gleichen Tempo. Auch der Übergang Gelbers zur Coda durch die drei Doppel-Fortissimo-Akkorde zur Coda bleibt nicht nur im dynamischen Konzept dieses Satzes, sondern der ganzen Sonate., und unter seinen Händen wird die unglaubliche Coda auch wieder zu einem Morendo.
    Sicherlich eines der besten Scherzos, das ich bisher gehört habe.


    Auch im Finale ist Gelber temporal recht flott unterwegs, etwa bei Paul Badura-Skoda und Claude Frank. Es wäre ja auch kaum zu verstehen, würde ich jetzt etwas anderes schreiben, aber auch im Finale setzt er seinen dynamischen, rhythmischen und temporalen Weg unvermindert fort. Es klingt wie Mozart, ist es aber nicht, sondern ist weit darüber hinaus. Gelber will m. E. nur zeigen, wie spielerisch die schwierigen Bestandteile dieses Finales und eigentlich der ganzen Sonate klingen, wenn man sie so versteht und spielt. Das ist kein Arrau, und Arrau hätte das so nie gespielt. Aber das kann man so spielen, und Gelber tut es. Auch zeigt er damit die ganze Bandbreite des Ausdrucks, die hier im Vergleich zu anderen Pianisten möglich ist. Auch im Seitensatz verbreitet sich Wohlklang, Schwung, Leichtigkeit und Vorwärtsdrang. Selbst die auf- und abwärts strebenden Staccati im Übergang zur Rückleitung habe ich kaum je so schwerelos gehört, und die Rückleitung ist trotz ihrer dynamisch höheren Grundstruktur kaum je so leicht und sicherlich auch pianistisch so souverän erklungen. Der schon oft beschriebenen Mittelteil, der sich langsam aus einem warmen Pianissimo erhebt, verbreitet in Gelbers Lesart eine berührende Stimmung, und die Intervalle und die ihnen gegenüber stehenden Oktaven wechseln sich in einer heiteren, pastoralen Atmosphäre munter ab. Die Sforzandi erheben sich vernehmlich, aber sie poltern und platschen nicht.
    Wunderbar schlägt er in der gleichen Weise den weg in den reprisenförmigen Hauptsatz ein. Unter seinen Händen klingen auch die wunderbaren Sechzehntel ab Takt 197 mit Auftakt noch eine kleine Spur wunderbarer. Und im Seitensatz lässt er den Sechsachtelsatz munter fließen, der sich den Weg durch die Oktaven unnachahmlich bahnt, hinein in die grandiose Trillercoda:
    Auch hier spielt er unglaublich, sein Calando und sein Rallentando werden kaum zu übertreffen sein.


    Ich habe es geahnt, dass ich über Bruno Leonardo Gelber, zu dem ich eine tiefe geistige Verbindung habe, viel schreiben würde, aber dass es so viel werden würde, hätte ich nicht gedacht.


    Ich glaube, dass ich hier meine neue Referenz gehört habe.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    Deine euphorische Besprechung macht mich natürlich mehr als neugierig! :) Gelber habe ich nie im Konzert erlebt, leider! Und von seinen Beethoven-Aufnahmen bei Denon besitze ich nur die CD mit der Waldstein-Sonate, op. 90 und op. 111. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich wäre dir geren behilflich gewesen, lieber Holger, aber diese CD lässt sich leider nicht kopieren.


    Gebraucht (gut) ist sie bei Amazon über Medimops für 9,59 € zu beziehen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Holger,


    in diesem Falle lag es wohl am Windows Media Player (siehe meine separate Mail).


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Lieber Willi,


    herzlichen Dank erst einmal, dass Du mir das Vergnügen verschafft hast, auch Gelber mit dieser Sonate zu hören! :hello:


    Meine Eindrücke habe ich nun zusammengefasst :) :


    Wenn man nach einem Antipoden zu Claudio Arrau sucht, dann ist es gewiss Bruno Leonardo Gelber! Würde man den Vergleich zwischen musikalischem Geschmack und dem Genuss von gutem Wein wagen, dann gäbe Arrau dem Frühwerk Beethovens die Reife einer Spätlese, wogegen wir bei Gelber einen ganz frischen „Primeur“ vor uns hätten. Bei Gelber kann man wie bei niemandem sonst nachvollziehen, dass dies die Musik eines wirklich „jugendlichen“ Beethoven ist. Gelber spielt burschikos zupackend, rhythmisch quirlig, befreit Beethoven von allem weltanschaulichen und interpretationshermeneutischen Ballast. Er will - völlig unambitioniert – nichts demonstrativ „zeigen“ oder „beweisen“, keine höhere oder tiefere Wahrheit über Beethoven gleichsam verkünden. Deshalb bleibt sein Spiel immer natürlich „musikantisch“, ist dabei aber alles andere als naiv, wird vielmehr von „unauffälligem“ Sachverstand getragen. Sicher, ein Detail- und Klarheitsfanatiker ist Gelber nicht, da können z.B. Rubinstein, Arrau oder gar ABM im Finale deutlich konturenschärfer spielen. Aber auch das gehört zur Jugend, nicht übermäßig „nachzudenken“ oder grüblerisch zu brüten, sondern unvorbelastet das Talent auszuspielen, das man von Natur aus mitbringt, wie auch den gewissen Übermut nicht zu unterdrücken und so manche dynamischen Akzente vielleicht etwas überzupointieren. Und Beethoven-Talent hat Gelber einfach! Er versteht es, Beethovens bei aller Dynamik doch wohlausgewogene Klassizität nicht einfach draufgängerisch zu überspielen. Wunderbar, wie er das Seitenthema im Kopfsatz mit Mozartscher Zartheit vorträgt und wie von selbst fließen lässt. Das Adagio ist ganz und gar unmetaphysisch, aber wiederum gefällt die an Mozart erinnernde Zartheit zu Beginn, die in der Folge mit ganz unverzärtelten kräftigen Tönen abwechselt. Gelbers Beethoven ist energisch zupackend, er scheut nicht, auf dem Flügel mit großer Pranke „zuzuhauen“ – aber wohltuend gleitet er dabei niemals ins Klobig-Derbe und Unschön-Gewaltsame ab. Eine wirklich rundum gelungene Verjüngungs- und Entschlackungskur in Sachen Beethoven, die man auf jeden Fall im Gedächtnis behält! :) :)


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Lieber Holger,


    schönen Dank für diese konzentrierte Rezension, die im Grunde genommen das Meiste von dem zusammenfasst, wozu ich wesentlich mehr Platz gebrauchte. Aber ich hatte das Bedürfnis, all das auch zu sagen, was ich empfunden hatte, und deswegen sind meine Rezensioen auch immer ziemlich lang, bei Gelber waren es 1567 Wörter. Ich wüsste jedoch soo auf Anhieb nicht, was ich streichen sollte.
    Eigentlich wollte ich mir heute noch Gieseking vornehmen, aber nach der Chorprobe und der heißen Phase meiner Reisevorbereitungen (Samstag früh um 6 Uhr geht es los, erste Etappe bis Chartres) finde ich keine Zeit und Ruhe mehr dazu. So werde ich meine nächste Rezension wohl erst nach dem 15.10. fertigen.
    Aber vielleicht bekomme ich ja wenigstens etwas Neues in diesem Thread zu lesen. :D


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    es ist doch schön, dass Du die Zeit hast - die ich gerne hätte, um ausführlicher zu sein! :D Ich schreibe auch gerne detailreich, doch zwangsläufig muss ich mich in der Regel beschränken. Aber alles hat letztlich etwas für sich! So ergänzen wir uns finde ich prima, auf der Länge folgt die Kürze. Und für den Leser ist es gewiss interessanter und abwechslungsreicher, wenn er dann zwei Rezensionen im ganz unterschiedlichen Stil lesen kann. Jedenfalls freue ich mich, nun auch Gelber mit der "Pathetique" ergänzen zu können. Er hat ja auch Chopins Trauermarschsonate aufgenommen, das habe ich kürzlich bei Youtube entdeckt. Das hat jemand von einer uralten LP mit Abtastgeräuschen überspielt. Die Aufnahme gibt es leider wohl nicht auf CD. :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3
    Walter Gieseking, Klavier
    AD: 1956
    Spielzeiten: 7:33 - 6:04 - 3:23 - 5:02 -- 22:02 min.


    Walter Gieseking spielt den Kopfsatz in normalem Tempo, woran man erkennen kann, dass er auch diesmal die Exposition nicht wiederholt. Aber rhythmisch und dynamisch ist das, was ich höre, durchaus überzeugend.
    In der ersten Hälfte des Seitenthemas kommt wieder seine mozartinisch gefärbte leichte Art zum Vorschein, und im Dolce lässt auch er sein Instrument berührend singen. Auch kann man hier wieder seine sorgfältige Behandlung der Dynamik, z. B. in Takt 51 bis 53, wieder schön hören. Auch die hochdynamische Passage des letzten Viertels des Seitenthemas und der Schlussgruppe gelingen ihm, wie ich finde ausgezeichnet.
    Auch in der Durchführung hält er nach der tastenden Einleitung die dynamischen Kontraste hoch und erzeugt im 1. Zentrum einen kraftvollen glockigen Klang, mit einem bezaubernden Calando abschließend. Im 2. Zentrum spielt er den abgehackten Rhythmus bei hoher Dynamik sehr überzeugend. Die Endphase der Durchführung gestaltet er sehr schön in ihren gegensätzlichen Dynamik.
    In der Reprise spielt er seine ausgezeichnete Synkopensequenz und leitet dann nach dem agilen zweiten Abschnitt des Hauptsatzes zum leichtfüßigen, wenn auch leicht melancholisch verhangenen des nun in der erhöhten Oktave noch fragileren Seitenthemas und spielt dann das letzte Viertel wieder sehr kontrastreich zum Dolce hin, welches er wieder sehr berührend und im weiteren Verlauf sehr kraftvoll spielt.
    Die wundersame Coda beginnt er mit einem sehr kraftvollen ffp-Akkord, spielt dann aus dem Dunkel kommende Legatobögen und in den letzen viert Takten sehr schöne Glissandi, diesen Abschnitt wiederum mit einem kraftvollen ffp-Akkord abschließend.
    Interessant ist, dass sein temporaler Gegensatz in der Kurzkadenz ein ganz gewaltiger ist, fast als wenn hier ein Mozart am Klavier säße, der sich eine Freude daraus macht, Beethoven zu zeigen, dass er auch gut Klavier spielen kann.
    Schade dass er in diesem sehr überzeugend gespielten Satz die Exposition nicht wiederholt hat.


    Im Adagio ist er leider sehr schnell, was sich vor allem im zweiten Teil b (32 Takte) bemerkbar macht, nicht im 10 Takte langen Teil a. Deshalb ist das für mich auch bestenfalls ein Andante. Hinzu kommt noch, dass er (ab Takt 19 bis 24) in der Seufzersequenz die jeweilige Sechzehntel im Bass staccato spielt, was der Phrase einen ganz anderen Charakter gibt. Das klingt dann nicht mehr nach Seufzer.
    Wenigstens sind im ff-p-Abschnitt die dynamischen Abläufe durchaus überzeugend, wenngleich das hohe Tempo auch hier etwas von der zwingenden "Schicksalsschwere" der Fortissimoakkorde nimmt.
    Im reprisenförmigen Teil a' mit integriertem Teil b kann man wieder etwas durchatmen. Nach den überzeugenden beiden ff-Takten 53 und 54 holt uns das hohe Tempo der Zweiunddreißigstel leider wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Leider entfalten auch die Takte 69 und 70 mit den Vorschlagsnoten nicht die bezaubernde Wirkung, wie man sie schon andernorts gehört hat. Die bezaubernde Coda entschädigt und wieder etwas, und hier spielt er auch die Zweiunddreißigstel im Takt 81 signifikant langsamer.


    Wie viel anders als das Adagio, ja geradezu überragend spielt er das Scherzo. Hier hat er plötzlich alle Zeit der Welt, stellt die rhythmischen und dynamischen Kontraste einander wunderbar gegenüber. Auch im Trio bleibt er im gemäßigten Tempo, spielt einen wunderbaren, von innen heraus schwingenden Dreier. Dann schließt er das Scherzo Da Capo an und spielt nach einem großartigen ff-Übergang eine atemberaubende Kurzcoda - welch ein Unterschied zum Adagio, aber warum?


    Auch im Finale zeigt er sich, zumindest im Hauptsatz, auf turmhohem Niveau: Dynamik, Tempo, Rhythmus, alles stimmt. Mozartinische Leichtigkeit, die ja hier sicherlich noch vorhanden sein darf, bestimmt die lyrischen Bögen und die Staccati.
    Auch im Seitensatz geht die spielerische, spielfreudige Reise durch die Oktaven in einer Dynamik und in einem Tempo vonstatten, von dem man das Gefühl hat, dass es genau das Richtige ist.
    Auch am Ende des Seitensatzes und zu Beginn der Rückleitung bleibt dieses lustvolle, leichte Spiel unvermindert erhalten. Und die nachfolgenden Forte(Fortissimo)sequenzen fügt er organisch in das Geschehen ein, ebenso die rhythmischen Intervallsprünge über teilweise mehrere Oktaven und die abschließenden Intervallwechsel ab Takt 96 fügen sich bukolisch in das Ganze ein.
    Im Mittelteil ab Takt 103 ertönt dann im Dolce ein reiner, heller Gesang, der in die Wechsel zwischen Intervallen und Oktaven einmündet und die diesen durchführungsartigen Abschnitt bestimmen.
    Das Ganze ist und bleibt trotz der kaum registrierbaren Molleintrübung in Takt 143 reines, helles Spiel, von Walter Gieseking hier wirklich kongenial wiedergegeben, und so geht es auch in den Reprisenteil.
    Und Gieseking fühlt sich m. E. in diesem Satz so etwas von zu Hause. Auch die Sechzehntel in der hohen Oktave ab Takt 196 sind wunderbar. Mit hörbarem vergnügen erklimmt er auch hier im Takt 213 wieder die ff-Höhen, die wieder in den Seitensatz führen. Diesen spielt er in gewohnt hurtiger und leichter Manier. bis zu jener Wahnsinns-Coda hin, die er grandios spielt mit einem atemberaubenden Calando und anschließenden ebensolchen Rallentando, schließlich einem geradezu explodierenden Tempo - welch ein überragender Satz!


    Ohne das so gespielte Adagio wäre Gieseking in meiner Rangliste ganz weit vorne gelandet.



    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Lieber Willi,


    es freut mich, dass Du nach Deiner erlebnisreichen Frankreich-Reise wieder mit einer so schönen Rezension weiter machst. Hast Du meine Mail gelesen, die ich Dir zwischenzeitlich geschickt hatte? :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich wäre schon am Sonntag wieder angefangen, lieber Holger, aber mich hatte, wie etliche der Reiseteilnehmer, eine dicke Erkältung erwischt. Jetzt geht es wieder etwas besser, und heute, pünktlich zu seinem 100. Geburtstag, ist Emil Gilels an der Reihe, was mir natürlich eine besondere Ehre ist. Doch zunächst werde ich mich zu einem weiteren kleinen Heilschlaf zurückziehen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Holger,


    ich glaube, der Heilschlaf hat gewirkt, denn er hat mir heute Abend dieses Erlebns beschert:



    Beethoven, Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3
    Emil Gilels, Klavier
    AD: Oktober 1981
    Spielzeiten: 10:05 - 8:48 - 2:58 - 5:30 --- 27:21 min.


    Eines möchte ich diesem Bericht vorausschicken. Gelegentlich verwende ich in meinen Hörberichten Zitate aus Joachim Kaisers Standardwerk, wenn sie die jeweilige Sonate und den Pianisten betreffen.
    In diesem Fall will ich darauf verzichten, weil Kaisers Werk 2 Jahre vor Entstehen dieser Aufnahme erschien.


    Emil Gilels beginnt diesen Satz unglaublich zart und baut erst langsam den dynamischen Bogen auf, hebt die Sforzandi zunehmend hervor, bevor er dann in Takt 13 das Fortissimo erreicht, dann, wenn es erreicht werden muss. Rhythmisch, vom dynamischen Ablauf her und pianistisch ist sein Vortrag wie immer exorbitant.
    Im Seitenthema ist er im Ton zwar diesseitig und nicht sehr leise, aber im Klang mitreißend kristallin und im Fortgang durchaus brio.
    Das Dolce spielt er in der ersten Hälfte als reinen pastoralen Gesang und in der zweiten Hälfte kraftvoll mit durchaus positivem Ausdruck. Dem schließt er eine rhythmisch wie dynamisch kontrastvolle Schlussgruppe an und wiederholt selbstverständlich die Exposition. Ohne Wiederholung wäre er auf etwa die gleiche Zeit gekommen wie Gieseking.
    In der Durchführung spielt er nach der tastenden Einleitung eine kraftvolle Trillerpassage und dann ein nochmals gesteigertes 1. Zentrum mit einem unglaublichen abschließenden Calando. Sein 2. Zentrum ist genauso rhythmisch und dynamisch kontrastreich wie die Besten in diesem Vergleich. So zu den Besten zählt auch seine Lesart der Endphase der Durchführung, aus dem zartesten Pianissimo entstehend, in ein helles, leichtes Fortissimo übergehend- wunderbar!
    Auch in der unglaublichen Synkopensequenz der Reprise verliert sein Spiel nicht diese schwebende Leichtigkeit. Dabei hat das m. E. nichts mit Mozart zu tun, ist durchaus echtester Beethoven, aber auf eine unnachahmliche "leichte" Art. Auch in der zum Seitenthema überleitenden Sechzehntelsequenz behält er dieses leichtfüßige Spiel. Das Seitenthema spielt er dann auf die gleiche zaubrische Weise wie in der Exposition, das dann über das kraftvolle letzte Viertel in die ebenso kraftvolle Schlussgruppe mündet, von dort aus allerdings in die wundersame Coda, die er allerdings nicht mit dem gleichen kraftvollen ffp-Akkord beginnt wie Gieseking, sondern mit einem (wie schon vorher beschriebenen) "leichten ffp-Akkord" und dann aus einem unglaublich tiefen ppp-Keller langsam steigend und im zweiten Teil langsam crescendierenden Glissando im ffp-Akkord Gilelsscher Lesart zu Beginn von Takt 232 endend, und dann seine Kurzkadenz - kein fingerakrobatischer Virtuosenzirkus, sondern ein ganz natürliches, schnelles und vor allem, wie gehabt ungeheuer leichtes, schwebendes Spiel - das macht ihm so leicht keiner nach. In der 2. Codaphase behält er auch hochdynamisch sein klares, fast russisch untypisches Spiel bei - ein überragendes Satz!


    Das Adagio ist fürwahr ein Wunder. Man ist von Anfang an von seinem Zauber gefangen. Gilels fasst es ganz von der mystisch leisen Seite auf. Das ist gefährlich, wenn man das nicht so recht kann. Gilels kann es, und wie!
    Und dann der Teil b: Wie schön kann auch langsames Fließen sein, wie sehnsüchtig verhangen sind doch die Sechzehntelbögen in der Begleitung in ihrer leichten Melancholie. Das geht nur in langsamem Tempo, wenn es diese Wirkung haben soll. Und Beethoven wollte es ja wohl so, sonst hätte er über den Satz nicht "Adagio" geschrieben. Und das kann man eben nicht in 6 Minuten so ausdrücken, lieber Walter Gieseking. Und Gilels spielt diesen Teil b wirklich in einer seltenen künstlerischen Geschlossenheit überragend.
    Gilels bleibt auch ab Takt 26 seiner Linie treu, vor allem, was das Adagio betrifft. Er spielt dort nicht ein donnerndes Fortissimo, sondern ein reines, leichtes Forte, wieder ganz unrussisch. Er ist sowieso in meiner bisherigen Wahrnehmung derjenige russische Pianist, der sich von diesem Bild des der russischen Pianistenschule entsprungenen "Tastendonnerers" am weitesten entfernt hat, und nach ihm vielleicht Ashkenazy.
    Um in dieser Sequenz zu bleiben, die Wechsel von p nach ff wirken auch bei Gilels ungeheuerlich, weil er aus dem Pianissimo kommt. Der Kontrast ist der Gleiche, nur tiefer gelagert, und das Ganze ist, ich sagte es schon öfters, leichter, weniger schicksalhaft, und es endet in einem atemberaubenden Doppeltakt 41/42. Gilels macht ihn zu einer Schlüsselstelle.
    Im reprisenförmigen Teil a' (mit integriertem Teil b) beginnt Gilels m. E. noch leiser (hier hat Beethoven auch nichts vorgeschrieben), und trotz des vermeintlichen dynamischen Gleichmaßes ist das ungeheuer spannungsvoll musiziert, was vielleicht gerade dadurch besonders auffällt und nur ganz wenige Pianisten können. Gilels ist einer von ihnen.
    Nur in einem Punkt weicht er von seiner dynamisch moderateren Behandlung der Partitur ab, wohl, weil er diese stelle als dynamischen Höhepunkt ansieht, und das ist auch wiederum äußerst schlüssig, es sind dies die ff-Takte 53/54, die ich aber auch schon lauter und massiver gehört habe. Auch die Takte danach (55 -58) spielt er unglaublich. Hier hört man noch einmal exemplarisch, dass er sehr wohl die vorhandenen dynamischen Bewegungen nachzeichnet. Nur, wo sie nicht vorhanden sind, ist es ganz allein seiner überragenden Anschlagskultur geschuldet, aus vermeintlicher dynamischer Gleichförmigkeit solche Spannung zu erzeugen.
    Was ist das doch schön, wenn man sich bei der Rezension einer Beethovensonate nicht um das Tempo der ausführenden Pianisten sorgen muss, und das ist bei Beethovenheroen wie Arrau und Gilels nicht der Fall.
    Oder kann mir einer sagen, wie man mit hohem Tempo die Vorschlagsnotensequenz Takt 69 mit Auftakt bis Takt 70 auch nur mit minimaler musikalischer Tiefe spielen kann? Gilels macht das äußerst berührend. Der letzte hochdynamische Teil, Takt 72 mit Auftakt, passt wieder ganz in Gilels Konzept, und die Coda ist vollends von einem anderen Stern.
    Auch dieser Satz ist überragend gespielt.


    Im Scherzo sind wir dann wieder beim Thema Leichtigkeit angelangt, aber wieder, wie ich meine, nicht mozartinischer, sonder eher mendelssohnscher, sommernachtsträumerischer Koboldzauberei.
    Im Trio behält er diesen Schwung bei, wenngleich natürlich hier schon fast ein legato erreicht ist, aber pianistisch ist das nach wie vor überragend und, natürlich partiturtreu.
    nach dem Scherzo Da Capo spielt er einen kraftvollen Übergang und dann ein Coda, wie ich es, so glaube ich, noch nicht gehört habe: ein Morendo-Versinken im Mendelssohnschen Zauberwald- Wahnsinn!


    Im Finale ist Gilels im Tempo wieder gemäßigter, aber keineswegs weniger ausdrucksvoll. Vom ersten Ton an stimmen Rhythmus und Dynamik im Verein mit seinem überragenden Anschlag, und in diesem Satz, der von Beethoven voller Spielfreude komponiert wurde, kann Gilels auch dieser frönen und tut es mit hörbarem Vergnügen.
    In diesem Tempo, das Gilels spielt, ich sagte es schon einmal bei einem anderen Pianisten, kann man auch deutlich die Sechzehntel im Diskant, z. B. in den Takte 31, 33, 41 und 43 unterscheiden. Das ist einfach große Pianistik. Wie hell und luzide klingen nicht seine Staccati zur Rückleitung hin in den Takten 63 bis 68. Und die Rückleitung selbst in ihrer rhythmischen Struktur ist nicht nur ein Paradebeispiel Beethovenscher Kompositionskunst, sonder auch Gilelsscher Spielkunst.
    Im Dolce-Mittelteil, der von seiner Position her auch mit einer Durchführung verglichen werden kann und in dem hier das Dolce-Thema vielfältig in Oktavwechseln variiert wird, zeigt Gilels erneut seine pianistische Meisterschaft. Hier kommt auch wieder die Zartheit seines Spiels als Gestaltungsmerkmal zum Ausdruck. Das ist Leichtigkeit, die die mozartinischen Gefilde längst verlassen hat. Auch in der leichten Molleintrübung in Takt 147 ff. wird dieser Pfad nicht verlassen.
    Im Übergang zum reprisenförmigen Hauptsatz will mir scheinen, als ob Gilels hier noch zu mehr Leichtigkeit als die meisten seiner Kollegen gelangt wäre.
    Auch im reprisenförmigen Hauptsatz setzt sich dieser Eindruck fort, auch wenn er hier natürlich die Dynamik auch in die Höhe schrauben muss. Gleich darauf atmet nach den Oktavparallelen jedoch die Musik in den Sechzehnteln wieder luzide Leichtigkeit, und auch im Übergangs-Fortissimo behält Gilels sein helles "leichtes" Forte bei.
    Im Seitensatz setzt er den wiegenden Sechsachteltakt mit den wiederum präzise gespielten Sechzehnteln im Diskant fort und nähert sich nach dem Achtelabstieg durch die Oktaven der wundersamen Trillercoda, in der er durch selten gehörte dynamische Bewegungen feinster Art noch einige begeisternde Funken mehr aus diesem seltenen Kleinod der Klaviermusik herausschlägt.


    Meine neue Referenz!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    da hast Du dem großen Emil Gilels das richtige Geburtstagsgeschenk gemacht zum 100.! :) Ich habe diese Aufnahme schon sehr lange nicht mehr gehört.


    Die Aufnahme, die Joachim Kaiser kennt, ist von 1950 und auf dieser CD drauf, die ich aber nicht habe:



    Bei Youtube ist diese Aufnahme von 1950 zu hören:



    Da wäre ein Vergleich Gilels mit Gilels natürlich sehr interessant. 1950 nimmt er z.B. im Trio des Scherzo das Tempo raus! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Holger,


    schönen Dank für den Tipp. Ich konnte die vier Sätze bei Amazon als MP3-Dateien erwerben und herunterladen. Ich habe natürlich sofort das Scherzo gehört, das bei Kaiser in Rede stand und das du jetzt auch genannt hast. In der Tat bremst er im Trio sehr stark, und ich weiß nicht, ob er da nicht des Guten zu viel getan hat, denn in seiner 31 Jahre späteren Aufnahme, die ich hier schon besprochen habe, bleibt er im Trio im Grundtempo des Scherzos.
    Ich werde mir das Ganze heute Abend mal zur Brust nehmen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Holger,


    schönen Dank für den Tipp. Ich konnte die vier Sätze bei Amazon als MP3-Dateien erwerben und herunterladen. Ich habe natürlich sofort das Scherzo gehört, das bei Kaiser in Rede stand und das du jetzt auch genannt hast. In der Tat bremst er im Trio sehr stark, und ich weiß nicht, ob er da nicht des Guten zu viel getan hat, denn in seiner 31 Jahre späteren Aufnahme, die ich hier schon besprochen habe, bleibt er im Trio im Grundtempo des Scherzos.
    Ich werde mir das Ganze heute Abend mal zur Brust nehmen.


    Lieber Willi,


    kannst Du mir da den "kleinen Dienstweg" öffnen und auch nochmal für Ashkenazy, ich habe zuletzt statt Ashkenazy dreimal Brendel von Dir bekommen. Da ist wohl ein Fehler passiert.


    Heute kann ich ein bisschen hören! :)


    :hello:


    Liebe Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    mit Ashkenazy will es einfach nicht klappen. Ich habe ihn zwar per iTunes auf die Festplatte kopieren können, aber der Wechsel aus der iTunes-Library auf WeTransfer klappt nicht. Dafür klappte es aber mit dem frühen Gilels, da die MP3-Dateien automatisch auf meine Festplatte geladen wurden (der erste Satz erscheint gleich doppelt).
    Ich muss mal schauen, wie ich das mit dem Ashkenazy noch geregelt bekomme.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Vielen Dank für Deine ausführliche Gilels-Gesprechung, Willi! Gilels ist wirklich bei jeder Sonate eine Quelle nie versiegender Leidenschaft und Genauigkeit. Das einzige Problem, das ich mit seinen Aufnahmen habe, ist der recht helle und auch etwas harte Klang. Da ich Gilels leider nie live gehört habe, weiß ich nicht, woran das liegt. Es gab mal in der FAZ vor vielen Jahren ein Interview mit seinem Klavierstimmer, der erzählt hat, dass Gilels den Flügel gerne eine Haaresbreite heller haben wollte, woraufhin der Klavierstimmer irgendwann etwas verzweifelt gefragt hat, ob er denn nun Gilels Haarebreite oder seine eigene meine. Herrlich. Aber dieser harte Studio-Klang führt bei mir dazu, dass ich im ersten Moment immer lieber zu Brendel greife, wenn ich mir mal wieder eine Sonate vornehme. Dessen klangliche Ausgewogenheit bei gleichzeitig maximaler Lebendigkeit lassen diese Aufnahmen auf nach Jahren jung klingen. Werde mir heute Dank Deiner genauen Besprechung wieder Gilels vornehmen und freue mich schon darauf!
    Viele Grüße, Christian

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Das einzige Problem, das ich mit seinen Aufnahmen habe, ist der recht helle und auch etwas harte Klang.

    Ich muß mir das auch noch einmal wieder anhören, lieber Christian. Die Aufnahme ist von 1981, also aus der Frühzeit der Digitaltechnik. In dieser Zeit sind DGG-Aufnahmen schon mal etwas hell, schlank und scharf, bei Orchester ist das ähnlich. Ich habe Gilels in den 80igern mit Beethoven in der Tonhalle Düsseldorf gehört, und da klang sein Flügel gar nicht gläsern oder hart! :hello:


    P.S. Heute bin ich wegen nerviger Alltagsquisquilien nicht dazu gekommen, Gilels in Ruhe zu hören. Das hole ich demnächst nach. Ich habe auch noch den Trifonov mit Liszt-Etüden, auf den Du hingewiesen hast, zu rezensieren. Herzlichen Dank auch für Ashkenazy! Willi, da brauchst Du Dich nun nicht mehr zu "quälen"! ;)


    Liebe Grüße
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3
    Emil Gilels, Klavier
    AD: 1950
    Spielzeiten: 9:15-8:02-2:48-4:56 --- 25:01 min.;


    Emil Gilels geht in dieser offenbar 31 Jahre vorher entstandenen Aufnahme temporal noch signifikant schneller zu Werke. Auch hat seine Tongebung noch nicht den fast intimen, zarten Grundton seiner 1981 entstandenen Aufnahme, einer, ähnlich auch bei Brendel feststellbaren zunehmenden Verinnerlichung, die ich in der vorher besprochenen Aufnahme so bewundert habe. Hier herrscht ein vollkommen diesseitiges, im Grundton von einer höheren Dynamik gekennzeichnet, der auch im Seitenthema vorherrscht, nicht so "zärtlich" wie der Spätere, und gemäß dem Grundtempo des ganzen Satzes ist auch das Seitenthema rascher, ein zweifacher Umstand den Kaiser hier Gilels vorwirft, während Gilels hier die geschlossene Tempoeinheit des ganzen "Con brio" sieht, was sich mir durchaus erschließt:

    Zitat

    Joachim Kaiser: Ein Pianist wie Emil Gilels, von dem eine großartig souveräne, (Tschaikowsky-Gedonner nicht scheuende, gleichwohl blitzsaubere) frühe Einspielung der Sonate existiert, überfährt diesen zärtlichen Seitensatz geradezu, nimmt ihn zu rasch, zu gestochen (S. 71 oben)".


    Im Gegensatz zu Kaisers Einwand bei Gilels Tempowahl im Trio des Scherzos bin ich hier nicht seiner Meinung. Gilels sieht m. E. hier das Seitenthema im Kontext des ganzen Satzes, der hier reinsten "Sturm und Drang" verkörpert.
    Und das "Tschaikowsky-Gedonner" habe ich an dieser Stelle auch schon von anderen Pianisten gehört.
    Im Dolce ist das doch wirklich heller, heiterer Gesang, wie ich finde mit aufmerksam gespielten dynamischen Bewegungen und im letzten Viertel lustvoll kraftvoller 4/4-Takt, der in eine nicht minder kraftvolle und dynamisch höchst kontrastreiche Schlussgruppe übergeht. Selbstverständlich wiederholt Gilels auch hier die Exposition.
    Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor knapp 2 Jahren Gilels ca. 1 Jahr später entstandene legendäre "Appassionata" (11. Juni 1951, Florenz, live) besprochen habe (4. 11. 2014). Auch in der Appassionata spielte Gilels in diesem Stil, war er im Kopfsatz 2 Minuten schneller als 22 Jahre später in seiner letzten Appassionata.
    Ich denke, dass diese Sturm-und-Drang-Lesart genauso ihre Berechtigung hat wie die spätere "altersphilosphische" Lesart von 1981.
    In der Durchführung entwickelt er schon donnernde Glockenschläge und kennt der Impetus weiterhin nur eine Richtung: vorwärts, so dass das Calando erst ganz am Schluss etwas langsamer wird. Es wäre aber ein Fehler zu glauben, dass Gilels hier nur eine Richtung der Dynamik kennte, nach oben. Sehr deutlich fällt sofort auf, dass er das Thema im 2. Durchführungszentrum in einem veritablen Pianissimo anstimmt, ganz im Gegensatz zum Expositionsbeginn, wo er ein gutes Piano wählt, ganz, wie es in der Partitur steht. Ansonsten kostet er natürlich die dynamischen Gegensätze und auch die rhythmischen Ecken und Kanten dieses 2. Zentrums voll aus auch in der Endphase der Durchführung, von der aus er dann logischerweise wieder in das Anfangspiano des Themas wechselt.
    Und die Synkopensequenz zu Beginn der Reprise klingt in diesem Tempo sehr beschwingt. Auch im weiteren Verlauf gestaltet er die Reprise wie die Exposition, einschließlich des Seitenthemas, und zu Beginn des letzten Viertels klingt der Oktavakkord zu Beginn des Rinforzando in Takt 194 auf der Eins wie ein Startschuss zum "letzten Gipfelsturm", und für mich sehr schlüssig.
    Natürlich stellt Gilels auch in der Coda einen riesigen dynamischen Kontrast dar. Vom beginnenden ff(f)p-Akkord geht es über mindesten 5 Dynamikstufen abwärts(!) innerhalb von 4 Takten- atemberaubend! Auch die Takte 288 bis 231 mit dem glissandierenden Crescendo sind grandios gespielt, ebenso wie die Kurzkadenz, Takt 232, die direkt in eine zweite gleichfalls stark kontrastierende Phase übergeht- ein herausragend gespielter Kopfsatz, der auch zeigt, wo 1950 eine Entwicklung begonnen hat und wo sie 1981 ankam.


    Gilels ist im Adagio signifikant schneller als 1981, aber immer noch 2 Minuten langsamer als Walter Gieseking. Auch ist sein Ton in diesem Adagio noch diesseitiger, hat etwas mehr Körper als in der späten Aufnahme, aber ansonsten wird hier das spätere "Wunder" schon grundgelegt. Gilels hat Respekt vor dem Adagio als solchen und vor diesem Adagio im Besonderen. Ich hatte es schon an anderer Stelle gesagt, dass Musik auch "langsam" atmen kann. Bei Gilels tut sie es.
    Im Teil b strukturiert Gilels sehr klug durch gut vernehmbare dynamische Bewegungen die drei Sechzehntelfiguren in Takt 13, 16 und 17 sowie die Seufzersequenz ab Takt 19 werden durch die dynamischen Bewegungen noch intensiviert.
    Atemberaubend ist auch die p-ff-Glockensequenz, die in einer wunderbaren dynamischen Bewegung in Takt 41/42 fast in einem ppp endet.
    Mit welch einem tief empfundenen Gesang hebt auch der reprisenförmige Teil a ' (mit integriertem Teil b) an. Im Ganzen meine ich, dass Gilels im Adagio schon ganz nahe an seine ultimative Reise zum Kern dieser Musik vorgedrungen ist, auch in solchen Schlüsselstellen wie Takt 41/42 (s. o.) und dem ff-Doppeltakt 53/54.
    Sehr anrührend ist auch der von ihm zu Beginn von Teil b (Takt 55 bis 58) gezeichnete feine dynamische Bogen von p über mf zurück nach p und dann nach pp. Noch einmal ziehen die bewegenden Seufzer auf ihrer Reise durch die Oktaven, berührt uns die Vorschlagsnotensequenz Takt 69 und 70, die letzte ff-Stelle und letztlich die unglaublich gespielte wundersame Coda.


    Das Scherzo ist ebenfalls als grandios gespielt zu bezeichnen . Da hört man das riesige potential Gilels', ohne dass man auch nur einen Augenblick das Gefühl hätte, er spielt das der Virtuosität willen.
    Wenn wir aber zum Trio kommen, muss ich in der Tat sagen, dass es mir auch zu langsam vorkommt und ich hier Kaiser Recht geben muss, wenn er zum Trio sagt:

    Zitat

    Joachim Kaiser: Noch leichter (als Gulda, William B.A.) macht es sich Emil Gilels, der im Trio einfach viel langsamer wird, obwohl der Aufbau des Satzes, die geschlossene und logische Entfaltung einer Scherzo-Bewegung, die am Ende erst in einer Pianissimo-Coda verdämmert, solche Tempo-Änderungen verbietet (Kaiser, S. 77)".


    Gilels spielt dann das Scherzo Da Capo mit einem Wahnsinnsübergang zu der atemberaubend gespielten veritablen "Morendo-Coda".


    Im Finale ist er auch deutlich schneller als 1981. Hier ist das Tempo wieder richtig am Platze, offenbart sich wieder sein überragendes Rhythmusgefühl und seine herausragende Pianistik.
    Im Seitensatz kommen die schon öfter erwähnten Sechzehntel in den Takten 31, 33, 41, 43 u. a. kristallklar, wunderbar auch die Staccati im Übergang zur Rückleitung, die er in ihrem hochvirtuosen Aufbau im wahrsten Sinne des Wortes spielend meistert und zum Dolce-Mittelteil (anstelle einer Durchführung) hinleitet, jenem breiten Variationen-Teil, indem sich das Oktaven-Thema mit den begleitenden Intervallen durch die Oktaven tummelt. Dies alles spielt er mit größtem lyrischen Einfühlungsvermögen als reinen, klaren Gesang, den auch eine vorübergehende leichte Molleintrübung nicht wirklich eintrüben kann. Am Ende kommt die hinführende Staccatotreppe in alter Frische, um das "Spielvergnügen" im reprisenförmigen Hauptsatz fortzuführen, und die "ewigen" Gegensätze zwischen Legato und Staccato feiern in Gilels präzisem Spiel fröhliche Urständ.
    Und genau 188 Takte später (s. o.) erfreuen uns wieder die klar vernehmbaren swingenden Sechzehntel ab Takt 219, und nach den tief hinabgestiegenen Achteln in beiden Oktaven nähern wir uns der unglaublichen Coda, von Gilels kongenial gespielt.


    Eine überragende Interpretation, wäre da nicht diese Tempoirritation im Trio des Scherzos.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Von Trifonov gibt es die Liszt-Etüden inzwischen auf CD, Holger! Und von Peraha eine neue Bach-CD. Und von Pollini ist eine CD mit späten Chopin-Werken angekündigt. Ein guter Klavier-Herbst, finde ich!
    Liebe Grüße,
    Christan


    Da der vorgehende Beitrag gelöscht wurde, macht dieser keinen Sinn mehr. Bitte auch löschen.

  • Von Trifonov gibt es die Liszt-Etüden inzwischen auf CD, Holger! Und von Peraha eine neue Bach-CD. Und von Pollini ist eine CD mit späten Chopin-Werken angekündigt. Ein guter Klavier-Herbst, finde ich!
    Liebe Grüße,
    Christan


    Da der vorgehende Beitrag gelöscht wurde, macht dieser keinen Sinn mehr. Bitte auch löschen.

    Die Trifonov-CD habe ich schon, den Pollini habe ich noch gar nicht gesehen. Den muss ich natürlich auch haben! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Danke für die Blumen, lieber Christian!


    Übrigens, meine 700. Rezension werde ich dieser Aufnahme aus Arezzo 1952 vorbehalten. Ich hoffe, den Geschmack meiner Herren Beethoven-Combattanten damit zu treffen:



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Garantiert, lieber Willi! :D :D :hello:


  • Beethoven, Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3
    Arturo Benedetti Michelangeli, Klavier
    AD: 192, Arezzo, live
    Spielzeiten: 11:00-7:59-3:00-5:09 --- 26:08 min.;


    Arturo Benedetti Michelangeli ist in dieser Aufnahme ca. 1 Minute im Kopfsatz langsamer als in seiner Aufnahme von 1941, allerdings dynamisch auch etwas moderater und pianistisch wie immer perfekt. Innerhalb der einzelnen Phrasen, z. B. im ersten Thementeil (Takt 1 bis 12) webt er kaum merkliche dynamische Bewegungen ein. Im ff-Teil legt er beherzt zu, allerdings ist immer noch etwas Luft nach oben.
    Den ersten Teil des Seitenthemas gestaltet er wunderbar zurückgenommen und bei weitem nach innen gerichtet, ganz im Gegensatz zu Gilels zwei Jahre zuvor. ABM hatte schon früh seine Tempovorstellungen festgelegt, der Unterschied im Kopfsatz scheint im Gegensatz zu Gilels nur marginal, allerdings liegen zwischen den beiden Aufnahmen auch nur 11 Jahre, bei Gilels 31 Jahre.
    Im Dolce ist der Gesang intimer und insgesamt auch, wie mir scheint, intensiver, und im letzten Viertel ist der dynamische Kontrast nicht so groß wie bei Gilels, und ABM spielt in der Schlussgruppe die Trillerkette in Takt 82 und 83 in einem faszinierenden Decrescendo, bevor er dann in den ff-Sechzehnteln ab Takt 86 seine Stimme noch einmal deutlich erhebt.
    Desgleichen spielt er in der Durchführungseinleitung die Trillerkette wieder decrescendo. Streng genommen richtet sich das gegen die Partituranweisungen, aber es klingt überwältigend. ich bin der Meinung, Beethoven hätte das im Nachhinein sehr gefallen.
    Das 1. Zentrum tritt so abrupter in Erscheinung und am Ende führt er den dynamischen Bogen auch wieder eher zurück in ein überwältigendes Calando- welch eine Schlüsselstelle unter ABM's Händen!
    Im zweiten Zentrum drückt er durch das moderate Tempo m. E. eine Art schicksalhafte Unerbittlichkeit in den schwer lastenden Sforzandi aus. Das ist mir m. E. so noch nicht aufgegangen.
    Obwohl er in der Spitze nicht so hochdynamisch ist, ist auch hier durch den tieferen Beginn ein ähnlich hoher Kontrast gegeben.
    In der Reprise spielt er durch sein kurzes Anzupfen der Staccati eine unvergleichlich anmutige Synkopensequenz, in der sich gleichsam im Forteteil ein großer dynamischer Kontrast auftut.
    Seine intime Behandlung des Seitenthemas ist auch in der Reprise wieder ein großes Wunder, vor allem das beseligende Dolce mit den kontrastierende Staccati am Schluss, hin zur Coda. Wer nun glaubt, dass ABM auf dem Weg zur Coda im pp-Sumpf versinkt, der irrt, denn er spürt präzise den dynamischen Kurven nach, u. a. auch dem Rinforzando im Takt 213 auf der Drei und Vier.
    Die Coda ist das nächste Wunder in diesem Satz, denn, indem er auf den Achteln nach dem Fortissimopiano ab Takt 218 auf Drei und Vier ein Decrescendo-Ritartando setzt, versinkt er langsam im drei- bis vierfachen Piano, kaum noch spielbar, aber immer noch hörbar, einfach herausragend. So gleitet er in die vier abschließende Glissandotakte hinein, die in einem moderaten Schlussakkord zum Takt 232, der Kurzkadenz führen, und im Takt 232 arbeitet er wieder mit (geringfügig) anderen Mitteln: er spielt nicht nur schnell, sondern wieder mit Decrescendi. Da es ja eine Kadenz ist, hat er ja diese Freiheit- welch eine Wirkung! Die drei übergroßen Intervalle am Ende dieser Sequenz (Takt 245 bis 247) verkürzt er zweimal- faszinierend, um dann den Satz in einem gesunden Oktavengalopp f/ff ausklingen zu lassen.


    Im Adagio hören wir das Wunder, das Kaiser in der 1941er Aufnahme noch vermisste. Wie kann einer nur an der Hörgrenze entlang spielen und dann so spannungsreich bleiben? Das kann er nur, wenn er Arturo Benedetti Michelangeli heißt. Dann kann es schon passieren, dass ein Takt wie der Takt 10 viermal so laut ist wie der Takt 9 und immer noch leise. Diese moderaten dynamischen Bewegungen machen einen großen Teil der Kunst Michelangelis aus. Auch im Teil b verfährt er so. Er zwingt uns, genau zuzuhören, und so dringen auch wir tiefer in den musikalischen Kern dieses Wunders namens Adagio vor.
    Wenn man derart tief aus dem pp-Keller kommt, wirkt der Takt 26 kolossal kontrastreich, obwohl ich schon wesentlich lautere gehört habe. ABM führt hier eine ungeheuer feine Klinge. Auch verkürzt er den p-ff-Wechsel indem er die Takte 32 und 33 im Prinzip leise spielt, aber moderat crescendiert- auch entgegen der Partitur, aber ungeheuer schlüssig. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mich in dieser Frage vom Saulus zum Paulus wandle. Sei's drum, das gefällt mir halt ungeheuer. Auf diese Weise spielt er auch die den durchführenden Teil b abschließenden beiden Takte 41 und 42 geradezu überirdisch ergreifend und schön.
    Ein weiteres Beispiel: In Takt 49 mit Auftakt spielt er die erste Figur (Achtel(Sechzehntel) pianissimo, die zweit als Echo piano pianissimo- welch ein Einfall. Auch dieser Teil der Partitur ist ad libitum!
    Ich habe eigentlich schon erwartet, dass ABM auch die Takte 53/54 als dynamisches Dach der Sonate begreift, und so ist es, und auch hier offenbart sich wieder ein ungeheurer dynamischer Abstieg nach diesem Doppel-Fortissimo-Takt: zuerst ein moderater Akzent, dann ab Takt 57 ein (beinahe) grenzenloses Decrescendo. Nach der beispiellosen Seufzersequenz weiß ABM noch eins draufzusetzen, nämlich in der kurzen Vorschlagsnotensequenz und in der Coda, in der er auf kürzestem Raum eine Reihe von dynamischen Kontrasten in atemberaubender Weise zusammenfasst!
    Sicherlich das ergreifendste Adagio, das ich bisher gehört habe!


    Das dritte Wunder ist dieses unglaubliche Scherzo, voll mendelssohnscher koboldesker Geisterwelt, dargeboten mit mozartinischer schwebender Leichtigkeit und wiederum frappierender "Leisgkeit", vor allem im Mittelteil des zweiten, längeren Scherzoabschnitts ist das unvergleichlich.
    Auch im Trio, das ABM im gleichen Tempo, aber auch im gleichen wiegenden Rhythmus spielt wie das Scherzo, bleibt er seinem dynamischen Konzept treu. Selbstverständlich schließt er das Scherzo Da Capo an und endet in seiner ganz persönlichen "Geistercoda" in einem, wie ich finde, grandiosen vierfachen Piano- Unvergleichlich!!


    Auch im vierten Wunder, dem Allegro assai, das er auch etwas langsamer nimmt als in seiner früheren Aufnahme, spricht er diese feine leichte musikalische Sprache, die hier pure Spielfreude bedeutet und daran denken lässt, dass Beethoven die Signale aus der Vergangenheit (Haydn, Mozart) intuitiv aufgenommen hat und sie zugleich in die Zukunft gesandt hat. Wie selbstverständlich gleitet ABM im Seitensatz über die sechzehntel und absteigenden Achtel dahin und lässt den musikalischen Fortgang einfach sprudeln. Auch im Übergang zur Rückleitung finden sich in ABM's Interpretation Signale aus der Romantik (Mendelssohn). Gerade diese höchst virtuose Rückleitung spielt ABM mit eine selbstverständlichen Natürlichkeit, die man nicht oft hört. Auch der durchführende Mittelteil mit den variierenden Oktaven und Intervallen drückt dieses Selbstverständnis aus. Auch im leicht mollverhangenen Abschnitt in der zweiten Hälfte bleibt dieser heitere, spielerische Impetus voll und ganz erhalten, und das alles bei "sehr" moderater Lautstärke., die dem Hörer allerdings viel Konzentration abnötigt.
    Da wundert man sich in der Reprise direkt, dass ABM mal wieder das Forte hervorholt, aber da steht es ja auch in der Partitur, und schon sind wir ab Takt 196 in dieser unglaublichen Sechzehntelsequenz wieder im Piano, aber welch ein beseligender Gesang, dem man noch stundenlang zuhören könnte- und welch ein genialer einfall Michelangelis, in Takt 211 und 212 auf der Eins ein hauchzartes Ritartando zu spielen, an das ich mich so überhaupt nicht erinnern kann- das ist einfach überragend. Erneut zieht der Seitensatz in ABM's leichter Art an uns vorüber, bewegen sich die Achtel leichter Hand durch die Oktaven, der wundersamen Coda zu, deren es nicht viele auf der Welt gibt:
    Vor allem der Schluss, nicht so sehr die Triller, die kaum einer besser spielen kann als Arturo Benedetti Michelangeli, sondern die unglaubliche Fermaten-Generalpause in Takt 297 und ein Calando und ein Rallentando, wie ich es noch nie gehört habe- unübertrefflich! Warum spielen es so wenige Pianisten so überragend, wenn Beethoven es doch so komponiert hat?


    Ich freue mich, dass meine 700. Rezension mir so viel Spaß gemacht hat.


    Es gibt nur noch Eines zu sagen:


    Meine neue Referenz!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Sicherlich das ergreifendste Adagio, das ich bisher gehört habe!

    Lieber Willi,


    jetzt weißt Du, warum mich diese Beethoven-Sonate gleich in ihren Bann gezogen hat, weil ich sie durch dieses unglaubliche Arezzo-Konzert überhaupt kennenlernte! Es ist einfach das ergreifendste Adagio schlechthin! Und keiner außer ABM kann im Unspielbar-Leisen noch solche Dinge herausheben - und das auch noch höchst bewußt und kontrolliert gestalten und nicht nur improvisieren! Ich werde mir das alles noch vornehmen und freue mich darauf! Deine Rezension ist jedenfalls begeisternd - und da mich diese Aufnahme vom ersten Moment an begeistert hat, kann ich das nur zu gut in allen Einzelheiten mitvollziehen! :) :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Es hat vielleicht noch dieses einen Hörerlebnisses bedurft, lieber Holger, um die ganze Größes Arturo Benedetti Michelangelis zu ahnen. Gleichzeitig geht mir auf, wie groß der Verlust aller Beethoben-Sonaten ist, die er nicht eingespielt hat. Nur noch drei Pianisten gab es, bei denen es mir ebenso geht, dass sie nicht alle Sonaten eingespielt haben, wovon der eine, Swjatoslaw Richter, dies bewusst getan hat, jedoch die anderen beiden, Emil Gilels und Solomon Cutner, sind von Tod oder Krankheit daran gehindert worden, ihr Werk zu vollenden. Kaiser ist von Solomons Adagio-Interpretation auch sehr angetan. Ich werde sie nachher noch nachhören.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Tamino Beethoven_Moedling Banner