Barockmusik mit "modernen" Instrumenten - ein Tabu ?

  • Gardiner ist durchaus radikal HIP, aber nur für das 19. Jahrhundert. Sein Bach ist sehr an dem orientiert, wie Bach im dieser Zeit gespielt und gesungen wurde. Wer das hören möchte, ist hier gut bedient.
    Ansonsten unterliegt die HIP doch genauso wie jede Interpretation der Notwendigkeit zum Experiment und zum Irrtum. Bloß weil sie Hitsorische Instrumente benutzen, müssen sie nicht gleich doppelt so gut und "richtig" sein wie die anderen, die ja nicht "richtig" sein müssen, weil sie ers erst gar nicht versuchen.
    Das Instrumentarium ist ja nur ein Mittel zur Erreichung des von den Interpreten gewünschten Ausdrucks.

  • Zitat

    Original von Glockenton
    ... der zunächst einmal immer nur gedachten Musik ...


    Bist Du Musiker? Hast Du schon einmal versucht zu komponieren? Ich vermute nicht, den eine so abwegige Vorstellung von der Schöpfung von Musik kann sich nur ein Nicht-Musiker ausdenken. Wie soll das den gehen, sich Musik ausdenken ohne Klang? Mit Sinustönen? Nur als mathematische Formel? Was für ein Blödsinn!


    'Tschuldigung, aber das musste sein - ich kann diese absurde Vorstellung, Musik, auch Bachs, könne etwas abstraktes sein, einfach nicht mehr ertragen.Vielleicht hat der unsinnliche Mensch Adorno diesen Unsinn in die Welt gesetzt ...

  • Zitat

    Original von miguel54


    Bist Du Musiker? Hast Du schon einmal versucht zu komponieren? Ich vermute nicht, den eine so abwegige Vorstellung von der Schöpfung von Musik kann sich nur ein Nicht-Musiker ausdenken. Wie soll das den gehen, sich Musik ausdenken ohne Klang? Mit Sinustönen? Nur als mathematische Formel? Was für ein Blödsinn!


    'Tschuldigung, aber das musste sein - ich kann diese absurde Vorstellung, Musik, auch Bachs, könne etwas abstraktes sein, einfach nicht mehr ertragen.Vielleicht hat der unsinnliche Mensch Adorno diesen Unsinn in die Welt gesetzt ...


    Sowohl Glockenton als auch TWA sind/waren Musiker. Daran kann es also nicht liegen. ;)


    (Gardiner empfinde ich auch als häufig ziemlich glatt, sehr gemäßigter Ausdruck, nicht besonders rhetorisch.)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Jetzt wollte ich auch gerade schreiben, dass ich das mit den Beschimpfungen nicht so nett fand.
    Davon abgesehen war Adorno schließlich auch Musiker und Schüler Bergs (?). Ob er eine zu "verkopfte" Herangehensweise an die Musik hatte oder durch sein Interesse an Philosophie, das ja letztlich zu einem großen Gesamtwerk führte, die Musik und sich zu sehr hinterfragte, lässt sich nur schwer beantworten.
    Natürlich ist Musik eine sinnliche erfahrung, der Entstehungsprozess hingegen ist doch Arbeit und nicht nur reines Klangdenken.
    Musik, das kommt in Schostakowitschs Biographie schön heraus, ist ja doch auch ein komplexes Regelwerk, das es anzuwenden und zu erlernen gilt. Vielleicht bekommt ein musikalischer Laie noch Alle meine Entchen hin, wobei man da auch eine großartige Originalität finden kann, aber ein mehrsätziges, vielstimmiges Stück komponiert man nicht nur mit einem Klangdenken allein. Da bedarf es einer ganzen Reihe weiterer Parameter, die man sich anlesen und die man einüben muss. Klang ist ja schon ein wenig definierter Begriff. Wenn man diesen Thread hier liest, zeigt sich ja schon, wie unterschiedlich der Klang bei den selben Noten sein kann.
    Natürlich setzt sich niemand hin und "denkt" sich ein Stück aus. Aber eine Melodie, ein Thema entsteht nunmal im Kopf. Ob das nun der zigfach gehörte "Ohrwurm" ist oder ein völlig neues Stück, ist primär egal. Nur braucht der Komponist das Neue, weil er ja schlecht den 1. Satz von Beethovens 5. einfach mal als sein Original ausgeben kann. Jeder Mensch hat Töne oder Musik im Gehirn. Der eine pfeift eine Melodie, der andere singt unter der Dusche. Schon kleine Kinder singen eigene Lieder, die natürlich meist eher an Dada erinnern. Aber Musik ist selbstverständlich eine Verstandesleistung, ein Transfer von Tönen im Kopf zu Noten auf dem Papier.



    @KSM:
    Siehste, und jetzt komm mal aus der Nummer raus :baeh01:!
    Ich frage die ganze Zeit die HIP-Diktatoren hier, was denn HIP nun eigentlich ist: Eine möglichst exakte Rekonstruktion, lediglich die Verwendung bestimmter Instrumente, kleiner Orchester etc.
    Beantwortet hat das bisher keiner so recht, weil es keiner wirklich benennen will, weil er sonst vielleicht zugeben müsste, dass nicht alles HIP ist, was glänzt.
    Jetzt sage ich, Gardiner hat für HIP bei Bach (Thema ist ja Barockmusik, nicht Klassik des 19. Jhts, wenn ich nochmal darauf hinweisen darf) einen zu großen Chor und ist deshalb nicht exakt HIP. Das stimmt dann deiner Ansicht nach wieder nicht. Was stimmt denn dann? Und komm jetzt nicht wieder mit Beethoven und Bruckner.


    Ich will doch bloß diesen "Wahn" beheben, dass HIP das einzig Wahre ist. Ich sage doch auch nicht, dass man jetzt keine Lautenmusik mehr machen soll, weil das ein "unmodernes" Instrument ist. Ich möchte doch lediglich Respekt vor einer gewissen Pluralität.
    Was ist eigentlich, wenn jemand die Cellosuiten Bachs (nur als ein Bsp) auf einem modernen Cello oder einem aus dem 19. Jht. mit Darmsaiten einspielt? Ist das nun HIP oder nur Semi-HIP?

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Ich frage die ganze Zeit die HIP-Diktatoren hier, was denn HIP nun eigentlich ist: Eine möglichst exakte Rekonstruktion, lediglich die Verwendung bestimmter Instrumente, kleiner Orchester etc.
    Beantwortet hat das bisher keiner so recht, weil es keiner wirklich benennen will, weil er sonst vielleicht zugeben müsste, dass nicht alles HIP ist, was glänzt?


    Ich bin zwar kein HIP-Diktator, aber für mich wird HIP dargestellt durch:


    • authentische Instrumente aus der Zeit der Entstehung des Werks (ggfs. Nachbauten), insbesondere
      - Holzflöten
      - Darmsaiten bei Streichern
      - Vielfalt im Continuo (bei Barockmusik: bis zu drei Cembali, Theorbe, verschiedene Bassinistrumente (Fagotte, Serpente, Celli, Kontrabässe), ggfs. Orgel)


    • Quellenstudium von Autograph (sofern vorhanden) und Erstdrucken sowie zeitgenössischen Berichten
      Umsetzung des Erfahrenen in
      - Besetzungsgröße
      - Phrasierung / Dynamik
      - Vibratoeinsatz (dosiert)
      - Zur Aufführung/Aufzeichnung geeigneter Raum


    • Bei Werken für Tasteninstrumente: Entscheidung über das zu verwendende Instrument
      - Hammerflügel
      - Clavichord
      - Cembalo
      - Tangentenflügel
      - ...


    Sicher unvollständig, aber fürs Erste sicher nicht verkehrt. Außerdem sollte das Thema dann ggfs. an dieser Stelle weiterdiskutiert werden (?):


    "Wie historisch korrekt ist HIP wirklich ?" - Kritische Gedanken über heutige Interpretationspraxis


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Ich frage die ganze Zeit die HIP-Diktatoren hier, was denn HIP nun eigentlich ist: Eine möglichst exakte Rekonstruktion, lediglich die Verwendung bestimmter Instrumente, kleiner Orchester etc.
    Beantwortet hat das bisher keiner so recht, weil es keiner wirklich benennen will, weil er sonst vielleicht zugeben müsste, dass nicht alles HIP ist, was glänzt.


    komisch, dabei wurde das schon merfach beantwortet.



    Ich schließe mich da Ulli auch gerne an.


    an erster Stelle steht das Quellenstudium.
    Eben welche Instrumente verwendet wurde, wie groß war jenes oder dieses Orchester, welche Verzierungen, Gestaltungen waren zu dieser Zeit üblich, welche weiteren Faktoren spielen in der Musik eine Rolle: Rhetorik, Tanz, Architektur des Aufführungsortes usw.
    Und ganz wichtig - eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Zeit.
    d.h. man sollte sich auch in die Malerei, in die Literatur und Geisteshaltung dieser Zeit vertiefen.




    Dann die Instrumente selber.
    Es gibt zweierlei Möglichkeiten - entweder restaurierte Originale oder eben Nachbauten, die aber meist auch wieder völlig individuelle Instrumente sind.
    Darmsaiten hat man bis ins frühe 20. Jh. benutzt - nur weil im 1. WK die Hauptlieferanten für Därme ausfielen wurde umgesattelt.


    Aber auch da muss man vorsichtig sein, es gab auch schon im Barock Metallsaiten. Die Cister z.B. und auch diverse Streichinstrumente.
    Es gab auch Mischformen - das muss man dann eben individuell entscheiden, je nachdem was man für ein Instrument haben möchte.



    und schließlich die eigene Interpretation.
    Was muss neu hinzugeschrieben werden - meist ist ja nur Gesangslinie und Basslinie vorhanden. Da muss häufig die komplette Mittelstimme ergänzt werden.
    Nehme ich originale Instrumentalsätze aus anderen Quellen für eine Opernszene oder komponiere ich selbst ein Ritournell bzw. laß meine Musiker über ein Thema improvisieren.
    Wann wende ich eben jene Verzierungen und Gestaltungsmöglichkeiten an - untermale ich den Tanz mit Schlagwerk - die Liste solcher Überlegungen ist endlos und erlaubt den ausführenden Musikern ein höchstmaß an individueller Gestaltung.



    Zitat

    Jetzt sage ich, Gardiner hat für HIP bei Bach (Thema ist ja Barockmusik, nicht Klassik des 19. Jhts, wenn ich nochmal darauf hinweisen darf) einen zu großen Chor und ist deshalb nicht exakt HIP. Das stimmt dann deiner Ansicht nach wieder nicht. Was stimmt denn dann? Und komm jetzt nicht wieder mit Beethoven und Bruckner.



    Nö wieso ?
    Es geht ja eben nicht darum etwas zu rekonstruieren.
    Diejenigen Musiker die ich kenne, sehen keinen Sinn darin eine venezianische Oper oder eben Bachs Kantaten mit einem Behelfsensemble aufzuführen.
    Nach möglichkeit sucht man stets das Ideal - oder experimentiert mit Bestzungsvarianten.




    Zitat

    Ich will doch bloß diesen "Wahn" beheben, dass HIP das einzig Wahre ist.


    dieser Wahn existiert nur in Deiner Welt :D
    Hip ist kein Dogma, sondern die Tür zu einer Vielzahl von Chancen.


    Zitat

    Ich sage doch auch nicht, dass man jetzt keine Lautenmusik mehr machen soll, weil das ein "unmodernes" Instrument ist. Ich möchte doch lediglich Respekt vor einer gewissen Pluralität.


    genau das hat ja die HIP Bewegung erkämpft - weil eben viele Werke aus dem Barock gleich für mehrere Instrumente gedacht war.
    Daher ist wäre es theoretisch legitim auch moderne Instrumente zu verwenden - nur die Krux ist, dass sie die Musik für Instrumente ihrer Zeit, als Instrumente auf denen die Musik auch entsprechend klingt, geschrieben haben.



    Wwer weiß was wir in 300 Jahren für neue Instrumente haben, dann wird der Steinway warscheinlich als halbgarer Klimberkasten verlacht und man spielt Bach nur noch auf einer Ferengi Orgel :D



    Zitat

    Was ist eigentlich, wenn jemand die Cellosuiten Bachs (nur als ein Bsp) auf einem modernen Cello oder einem aus dem 19. Jht. mit Darmsaiten einspielt? Ist das nun HIP oder nur Semi-HIP?


    das kommt eben darauf an, wie er die Suiten spielt.
    Das ist nämlich das entscheidende nicht unbedingt das Instrument.

  • Zitat

    Original von miguel54


    Bist Du Musiker? Hast Du schon einmal versucht zu komponieren? Ich vermute nicht, den eine so abwegige Vorstellung von der Schöpfung von Musik kann sich nur ein Nicht-Musiker ausdenken. Wie soll das den gehen, sich Musik ausdenken ohne Klang? Mit Sinustönen? Nur als mathematische Formel? Was für ein Blödsinn!


    'Tschuldigung, aber das musste sein - ich kann diese absurde Vorstellung, Musik, auch Bachs, könne etwas abstraktes sein, einfach nicht mehr ertragen.Vielleicht hat der unsinnliche Mensch Adorno diesen Unsinn in die Welt gesetzt ...



    EXKURS - OT:


    Erstens verwahre ich mich gegen diesen schnoddrigen Ton hier.


    Wenn wir so anfangen, dann beginne ich auch irgendwann zu fragen, was ein Percussionist denn z.B. vom vierstimmigen Satz oder von Melodien im Allgemeinen professionell wirklich versteht.



    Zweitens bin ich Musiker und lebe auch davon.


    Drittens habe ich schon einiges komponiert, sehr viel arrangiert und improvisiert, sowohl in alten Stilen der Kirchenmusik, romantisch, als auch Pop/Rock und ein bisschen Jazz, dabei auch bei Produktionen als Arrangeur/Pianist/Keyboarder fungiert.
    Unlängst musste ich für mich anlässlich einer Aufführung aus dem Klavierauszug von grossen Teilen des Paulus-Oratoriums von Mendelssohn eine pianistische Bearbeitung im orchestralen romantischen Klavierstil machen, weil der Klavierauszug so einfach nicht auf dem Flügel klang. Da war viel Erfindungsgabe und Stilbewusstsein gefragt.


    Viertens habe ich viele Titel Jazzrock-Bands notengetreu für eigene Aufführungen mit Midi-Teilplayback transkribiert und im eigenen Studio eingespielt- übrigens auch das, was die Drummer und Percussionisten machen. Etwas hören kann ich also auch schon.


    Fünftens muss ich jeden Sonntag in der Kirche Orgelvorspiele zu irgendwelchen sehr unterschiedlichen Chorälen mehr oder weniger aus dem Stegreif erfinden und tue das auch - manchmal schreibe ich die Sachen auch auf.


    Sechstens sind meine eigenen Qualitätsansprüche bei allem was ich in der Musik tue immer sehr hoch.


    Siebtens bin vor langer Zeit 1. Preisträger des Bundeswettbewerbes "Jugend musiziert" gewesen - und zwar auf dem Cembalo. Dort ging es auch um das die eigene Erfindungsgabe herausfordernde Generalbassspiel.
    Beim Thema "historisches Instrument" etc. wage ich also etwas beitragen zu können.


    Achtens habe ich viel Kammermusik mit alten Instrumenten mit Musik des 17. und 18. Jahrhunderts gemacht ( französische, italienisch und deutsche Musik) und dabei nebenbei die wichtigsten deutschsprachigen Schulwerke zur barocken Aufführungspraxis studiert.


    Neuntes spiele ich nach wie vor viel Kammermusik mit klassischen Musikern und Sängern.


    Zehntens singe ich in zwei Kammerchören mit, einer davon nur aus Gesangsprofis bestehend ( neueste CD kommt im Dezember raus), der andere als erweiterter Kirchenchor.
    Gerade die Erfahrungen aus dem Gesangsbereich helfen mir bei der instrumentalen Arbeit, auch beim Erstellen von Chorsätzen.
    Hier dirigiere ich auch zwischendurch, vor allem das Repertoire der Alten Musik.


    Ich könnte noch weitermachen, aber vielleicht reicht das ja, um diesen unfreundlichen Versuch, mir hier fachliche Inkompetenz nachzusagen, entsprechend abzuwehren.


    EXKURS - OT, Ende


    Zurück zum eigentlichen Thema der Musikerfindung und der Frage der Instrumente/Originalinstrumente:


    Musik - auch Bachs Musik- ist nichts Abstraktes, sondern etwas Universelles, dass sich dem instrumentenmässigen Zuordnungsdiktat oft entzieht.
    Wenn dem so ist, wie wichtig sind dann die vergleichsweise kleinen klanglichen Unterschiede zwischen Barock- und heutigen Instrumenten wirklich? Sie sind schon noch wichtig, aber es kommt viel mehr auf die Musiker an.


    Wenn Musik entsteht, dann sind es zunächst nur Gedanken, die im Kopf entstehen.
    Dem Menschen ist dann seine eigene Stimme ( = Gesang oder Sprache) erst einmal am nächsten. Selbst wenn die musikalischen Gedanken scheinbar unmittelbar beim Improvisieren in die Klaviertasten gehen, so habe ich oft bei Jazzmusikern und auch bei "nachspielenden" klassischen Musikern beobachtet, dass sie beim Spielen mitsingen oder mitsprechen. Wenn ich richtig "drin"bin, dann habe ich es mit leichtem Erstaunen auch bei mir selbst beobachtet.
    Diese gesangliche, mit dem Atem verbundene und universalsprachliche Vorstellung ( Bachs Fugenthema BWV 542 g-moll in Musikersprache wäre: Dap dadldudldap ....) ist also bei der Musikerfindung zunächst immer da.
    Dann kommt auch noch gleichzeitig das Rhythmusgefühl, das man am eigenen Körper spürt und nachvollzieht.


    Ein Komponist könnte sich nun fragen, ob er die Melodie, die ihm vorschwebt, eher einer Flöte, einer Geige oder einer Oboe übertragen will.
    Er hat dabei selbstverständlich den Klang der Instrumente seiner Zeit im inneren Ohr. Zu Michael Preatorius Zeiten war das aber noch nicht so festgelegt, auch nicht bei Schütz. Da konnte eine Chorstimme problemlos von einem Instrument übernommen werden, dh. hier war die Einheit zwischen dem Gesanglichen und dem Instrumentalen noch stärker in der Aufführungspraxis sichtbar. Man hat noch nicht so instrumentenspezifisch komponiert.
    Aber auch in der Romantik gab es Komponisten, wie etwa Brahms, die ein Stück erst am Klavier entwickelten ( z.B. die Haydn-Variationen) und dann die entsprechende Orchesterfassung schrieben, die dann jeweils sehr idiomatisch klingen kann.


    Bei Bach werden die Instrumente zu Sängern und die Sänger zu Instrumentalisten, was mir sehr gefällt.


    Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Musik zunächst aus Themen, Gesten, Harmonien ( und Disharmonien) und Rhythmen besteht.
    Deswegen konnte er das gleiche Grundmaterial sowohl als Lautensuite als auch als Cellosuite verwenden.
    Aus einem Stück für Violine Solo wurde ein Orchesterstück zur Einleitung einer Kantate mit konzertierender Orgel.


    Ich habe es schon erwähnt: Beim WTK ist die Frage, ob es für Cembalo, Orgel, Clavichord geschrieben wurde, nicht eindeutig geklärt, anders als etwa beim Italiänischen Konzert. Vielleicht dachte er bei einem Stück ans Cembalo, beim nächsten an die Orgel; vielleicht hätte er beides gutgefunden. Es ist eben für ein "Clavier", ein Instrument mit Klaviatur geschrieben.


    Bei der Kunst der Fuge ist noch mehr offen.
    Manche meinen, es müsse aufgrund des griffmässigen Umfangs für ein Tasteninstrument geschrieben worden sein, andere haben es sogar als blosse Augenmusik bezeichnet, was ich allerdings nicht so sehe.
    Aber sogar HIP-Musiker wie Goebel spielten die Kdf mit ihrem Ensemble.
    Das bekannte 6-stimmige Ricercare aus dem Musikalischen Opfer hat Koopman unlängst auf Tasten und mit seinem Ensemble aufgenommen.
    Jedesmal entdeckt man dabei eine neue Schönheit.


    Man sieht, dass die Festlegung auf einen bestimmten Instrumentenklang nicht immer so starr war, wie manche es vielleicht in heutiger Zeit gerne hätten.
    Und wenn ein Barockkomponist höchstwahrscheinlich konkret "Oboe" gedacht hat, dann wäre es doch ein Unsinn zu behaupten, dass ein modernes Instrument nicht auch dieselbe klangliche Rolle im entsprechend instrumentierten Orchester übernehmen könnte.
    Sie klingt jedenfalls immer noch mehr nach Oboe, als etwa eine originale Barockvioline oder ein Barockfagott austauschbar nach Oboe klängen...


    Auch ein modernes Klavier kann doch die gedachte Rolle des solistischen Tasteninstrumentes ( das bei Bach noch nicht einmal in jedem Fall bestimmt wurde) grundsätzlich übernehmen.
    Und nur weil Bach den Steinway nicht kannte, kann doch trotzdem ein hervorragender-und hoffentlich auch historisch informierter- Pianist ganz wunderbar den gedachten/gemeinten Chorgesang der E-Dur-Fuge, WTK II auf dem Flügel anstimmen und das polyphone Geflecht singend auf seinem Instrument darstellen?


    Ob das dann schon als Bearbeitung bezeichnet wird ( wie Ulli das m.E. zu Unrecht tut, weil ja noch keine Noten wie etwa durch Herrn Busoni etc. verändert werden) ist mir egal, denn wer interessiert sich für Begriffsdifferenzierungen, wenn man gute Musik hört oder macht?


    Bei den Orchesterinstrumenten sehe ich aus klanglichen Gründen für die Barockmusik die Originalinstrumente gegenüber den heutigen im Vorteil, spieltechnisch sind die heutigen Blechinstrumente mit ihren Ventilen etc. jedoch noch etwas sicherer und beweglicher.
    Trotzdem gibt es auch schon Beispiele für sehr lebendige und historisch informierte Aufführungen auf modernen Instrumenten, die deswegen - siehe Threadtitel- nicht nur kein TABU sein sollten, sondern als legitime Alternative, je nach vorhandenen Ressourcen gelten können.
    Es ist doch gut, wenn die Musik überhaupt gespielt wird!


    Bei der Frage Cembalo oder Flügel finde ich manchmal für Bach den Flügel sogar besser.
    Ragna Schirmer hat ja unlängst vorgemacht, dass man sogar Händel überzeugend auf dem Flügel spielen kann, siehe der entsprechende Thread. Das heisst ja nicht, dass ich jetzt Cembaloaufführungen radikal und arrogant nach dem Motto ablehne, dass wir das nicht mehr wegen des vorhandenen, besseren Flügels bräuchten.
    Aber wie wird von manchen Hardcore-Anhängern der HIPer eigentlich geredet und gedacht...? Wenn es nach der Logik der Extremisten ginge, dann dürfte man mit den heutigen Instrumenten vielleicht nur noch Musik ab 1920 aufwärts machen.


    Das ist es also, was ich meine, nicht so etwas hier:


    Zitat

    Wie soll das den gehen, sich Musik ausdenken ohne Klang? Mit Sinustönen? Nur als mathematische Formel? Was für ein Blödsinn!


    Ja, das ist wirklich ein kompletter Blödsinn, aber nicht ich habe den geschrieben, ansonsten bitte die Stelle im Thread oben zeigen.


    Auf solche Ideen kommt man nur, wenn man entweder nur oberflächlich liest, oder bewusst etwas missverstehen will, denn so oder mit anderen Worten und mit entsprechenden Klangbeispielen versehen steht das ja alles schon weiter oben im Thread öffentlich nachzulesen, und ich meine, man kann es auch mit gutem Willen nachvollziehen, selbst wenn man selbst zu einem anderen Meinungsbild tendiert, bzw. einfach einen anderen Geschmack hat.


    Meine Aussagen sollen nur aufzeigen, dass ein Instrument das sein sollte, was es vom Wortsinn her ist: Ein Instrument, ein Mittel zum höheren Zweck.


    Wenn eine bestimmte Art von Instrumenten für Einige derart an Bedeutung gewonnen hat, dass deren ausschliessliche Anwendung für eine bestimmte Musik zum künstlerischen Diktat wird, dann ist das eine Fehlentwicklung. Das Instrument wird dann zum Fetisch, und das lehne ich als Musiker, der der historisch informierten Aufführungspraxis grundsätzlich durchaus nahe steht, ab.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat


    Original von miguel54
    Gardiner ist durchaus radikal HIP, aber nur für das 19. Jahrhundert. Sein Bach ist sehr an dem orientiert, wie Bach im dieser Zeit gespielt und gesungen wurde. Wer das hören möchte, ist hier gut bedient.


    Wie bitte, Gardiners Bach klingt nach 19. Jahrhundert?
    Auf diesen....pardon, auf diese wiederholt vorgetragende Fehleinschätzung habe ich schon einmal hier geantwortet.


    An dieser Bemerkung sieht man ja, wohin der HIP-Radikalismus führt:
    Wenn ein Bachdirigent nach den Grundsätzen der historischen Aufführungspraxis spielen lässt, alte Instrumente verwendet, sogar Doppelcontinuo ( Orgel + Cembalo) einsetzt aber weder -so wie Rifkin meint-, den Chor solistisch besetzt, sondern mit vielleicht 4 oder 5 Leuten pro Stimme, und dann noch Barockcello statt diesem da spalla-Dingens verwendet, dann wird er schon als jemand hingestellt ( oder soll ich sagen: diffamiert?), der den Bach im selben Stil vorträgt, wie es im 19. Jahrhundert üblich war.


    So eine Charakterisierung passt doch eher für Interpretationen wie diese hier



    nicht aber für Gardiners HI-Musizieren.
    Unverständlich, so eine Äusserung :no:


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Liebe Mitforianer, die kleine Provokation mag man mir nachsehen - ich habe durch sie ein klares Statement bekommen, das mich durchaus befriedigt, und ich wollte gewiß niemandes Kompetenzen in Frage stellen.


    Zu Gardiner: als ich ihn im Konzert gehört habe, benutzte er nur eine finselige Truhenorgel - wenn man von ihr absieht, klang das wie ich mir Bach etc. in Brahms' Chorpraxis vorstelle. Ich finde seine Entscheidungen oft einen für meine Ohren wenig befriedigenden Mischmasch.


    Bei ihm wie bei allen Ensembles, HIP oder nicht, spielen viele Kriterien eine Rolle, und sicher ein gutes Stück persönlicher Geschmack und Pragmatismus, das wurde hier auch schon diskutiert, z.B. anhand von Kuijkens Bach-Kantaten (der war es doch, der das violoncello da spalla benutzte, nicht Gardiner).


    Natürlich spielen die Musiker die größte Rolle, da sind wir uns einig. Und wenn überall alle die Instrumente aus verschiedenen Epochen gleichberechtigt greifbar wären, sähe vielleicht alles ganz anders aus. Durch die Dominanz der modernen Instrumente und die heutige Konzertpraxis bekommt das alles nur so einen exotischen Anstrich, eine esoterische Nische, die mir nicht gefällt. Eine wirkliche Gleichberechtigung spüre ich da nicht, sonst müssten sich die HIP-Anhänger nicht immer so rechtfertigen - diese Polarität dass nur der eine oder der andere recht hat, die sehe ich so gar nicht und vertrete sie auch nicht. Es geht nicht um Recht haben. Ich bin nur der Überzeugung, dass wir mit dem Instrumentarium der Entstehungszeit dem Klang von damals ein kleines Stück näher sind als mit modernen Instrumenten. Vielleicht ist für mich Musik einfach stärker mit dem Klang verbunden. Ich sehe das auch in der Klassik enger als im Jazz - da ist das eigene Arrangement wichtiger, der Freiraum größer (da bin ich dann den Kollegen oft zu nah am "Original", das kommt durch meine Beschäftigung mit der Klassik, wo ich die sog. Werktreue höher einstufe, die Schwelle für eine Bearbeitung niedriger ansetze). Was dem einen zu weit geht, ist dem andern noch werktreu - aber diese Auseinandersetzung ist notwendig.


    Die "historischen" Instrumente alleine reichen selbstverständlich nicht. Ich habe vor kurzem ein Konzert mit zwei Cembali in einer halligen Kirche gehört - die flotten Tempi der beiden Herren waren für diese Akustik eindeutig zu flott, für die Kammer gemacht, aber dann hätten höchstens knapp 100 Leute zuhören können und die Karten wären unbezahlbar gewesen. Es sind immer nur Annäherungen, das ist eben der Prozeß der Interpretation - da sind wir uns einig. Mir gefällt auch vieles nicht, was manche HIP-Leute machen ... darunter viele Aufnahmen der Anfangszeit. Die haben (hoffentlich) auch dazugelernt.


    Ich frage mich immer, wer mit den Dogmatikern unter den HIP-Fans denn gemeint ist - ich fühle mich nicht angesprochen. Ich halte es so: Was mir nicht gefällt, z.B. Bach auf dem Steinway, höre ich mir einfach nicht an. Mich stört nur die selbstverständliche Dominanz dieses Instrumentes auf der Musikszene. Man sollte einfach beides gehört haben und beides sollte in der Ausbildung und dem Konzertbetrieb seinen Platz haben ohne Rechtfertigungszwang.


    Wahrscheinlich läuft es am Ende darauf hinaus, welcher Instrumentenklang einem besser gefällt ...

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  • HIP ist doch keine esoterische Niesche mehr, für die man sich rechtfertigen muss. Im Gegenteil, HIP ist die letzten Jahre zur einflußreichsten Bewegung innerhalb der klassischen Musik geworden und zwar der Art, dass die Musik ganzer Epochen "konventionell" gar nicht mehr wiedergegeben werden kann. D.h. mir ist nicht bekannt, dass die letzten Jahre ein großes Sinfonieorchester beispielsweise die Brandenburgischen Konzerte von Bach in großorchestraler Besetzung eingespielt hätte oder seine Ouvertüren oder seine Violinkonzerte. Wenn da diesbezüglich noch etwas läuft, dann doch nur noch in England mit seiner speziellen Händel-Tradition.
    Selbstverständlich gibt es von diesen Werken auch Aufnahmen bzw. Aufführungen mit neuen Instrumenten, aber sie unterscheiden sich doch in ihrem Interpretationsansatz grundlegendst von solchen, die 50 Jahre und mehr auf dem Buckel haben. Und tun sie es nicht, dann rechtfertigt sich der Interpret zwischenzeitlich so, wie sich vormals die HIP-Interpreten gerechtfertigt haben (Siehe dazu die vom Lullisten weiter oben schon erwähnte Aufnahme von Cavallis "Gli amori d`Apollo e di Dafne" unter der Leitung von Alberto Zedda).


    Natürlich kann die reine, puristische HIP nie die absolute Urklangsituation erreichen, alleine schon deswegen nicht, weil ihr Ansatz letztendlich retroperspektiv ist, derweil das wiederzugebende Werk damals neu und somit noch nicht gehört war und die damaligen Hörer einen anderen soziokulturellen Hintergrund gehabt haben, als die heutigen. Aber sie bemüht sich und wenn dabei auch die ein oder andere Stilblüte produziert wird, so überwiegt doch deutlich die objektive Erkenntnis.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Zitat

    Ragna Schirmer hat ja unlängst vorgemacht, dass man sogar Händel überzeugend auf dem Flügel spielen kann, siehe der entsprechende Thread.


    Wenn ich nur auf Perahia hinweisen dürfte, der ebenfalls eine großartige CD mit Händel und Scarlatti vorgelgt hat.
    Die Aufnahmen Schiffs seien nur am Rande erwähnt, da er vielleicht ein wenig zu romantisierend an die Sache herangeht (s. Bach).


    Trotzdem ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Unterschied zu machen zwischen Ensembles und Einzelinstrumenten.
    Der Ensembleklang vermittelt bei HIP natürlich ein in sich stimmiges Klangbild, auch wenn die historischen Einzelinstrumente für sich genommen klanglich oder technisch den modernen Instrumenten "unterlegen" sein mögen.
    Bei Solostücken fällt natürlich die klangliche Differenz viel stärker auf.
    Das Cembalo klingt nun mal "dünner" als ein Klavier. Das ist keine Wertung, sondern schlicht eine Feststellung, basierend auf der jeweiligen Technik der Klangerzeugung.
    Ich persönlich finde als Hörer das Cembalo anstrengender.
    Ich finde die Kombination Cello/Klavier bzw Violine/Klavier auch gefälliger als Cembalo und Viola da Gamba bzw Violine. Das ist aber Geschmackssache.


    Bei den Orchesterwerken ist es aber durchaus zutreffend, dass man mit historischen Instrumenten einen filigraneren, schwebenderen Klang erzeugen kann, was gerade für Barockmusik mit den häufig tänzerischen Inhalten von Vorteil ist.
    Karajans oder Klemperers Bach rumst einem halt mehr daher als die späteren Einspielungen Gardiners, Suzukis etc. Jedoch gilt auch hier, dass jeder nach seiner Fassong glücklich werden soll. Und wer mit dem Weihnachtsoratorium Richters oder Jochums als Kind (s. den neuen, interessanten Thread) sozialisiert wurde und so das "Klassikvirus" eingeimpft bekam, der soll auch pünktlich zum ersten Schneefall wieder "seine" Einspielung hören.

  • Zitat

    Der Ensembleklang vermittelt bei HIP natürlich ein in sich stimmiges Klangbild, auch wenn die historischen Einzelinstrumente für sich genommen klanglich oder technisch den modernen Instrumenten "unterlegen" sein mögen.


    die Instrumente sind meist etwas schwieriger zu spielen (bestes Beispiel - Blechbläser) haben aber für mein Empfinden einen viel besseren Klang als Instrumente moderner Bauweise.
    Diese Instrumente waren in erster Linie für den Klang konstruiert worden - spätere "Verbesserungen" zielten meist nur auf Lautstärke ab - und der Unterschied ist auch enorm und kann jederzeit im Konzert erlebt werden:
    Von einem Barockorchester würde man niemals einen Tinitus bekommen, dafür hört man aber jede Nuance heraus.
    Wenn aber ein gewöhnliches Symphonieorchester losrauscht, dann ist man halb taub.


    Nicht jeder Fortschritt ist auch ein Gewinn... ich hab es nicht so gerne, wenn meine Ohren klingeln.




    Zitat

    Das Cembalo klingt nun mal "dünner" als ein Klavier.


    das kommt auf das Instrument an, es gibt auch Cembali mit einem wuchtigen vollen und breiten Klang.



    Zitat

    Ich finde die Kombination Cello/Klavier bzw Violine/Klavier auch gefälliger als Cembalo und Viola da Gamba bzw Violine. Das ist aber Geschmackssache.



    Ein Violoncello kann niemals die Gambe ersetzen, das sind zwei völlig verschiedene Instrumente.
    Hubert Le Blanc wäre Dir im 18. Jahrhundert aufs Dach gestiegen :D



    Viele der Instrumente, deren Verwendung Mitte des 18. Jh. entgültig aufhörte, wurden aber meist noch bis ins 19. Jahrhundert benutzt - gerade in Privathaushalten.
    Wärend also Beethoven auf den vielleicht modernsten Instrumenten spielte, hat so mancher Musiker wohl noch seine Sonaten auf dem Cembalo gespielt. :D


    Mittlerweile sind Instrumente der Lautenfamilie, die Gamben oder Cembali auch längst wieder von zeitgenössischen Komponisten entdeckt worden.
    Weil es eben einfach völlig neue Klangfarben sind, die man mit dem normalen Instrumentarium nicht bekommen oder imitieren kann.


    Ich sehe das eher als ein Vergrößerung der Möglichkeiten.

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco... Und wer mit dem Weihnachtsoratorium Richters oder Jochums als Kind sozialisiert wurde und so das "Klassikvirus" eingeimpft bekam, ...


    Ich finde das spricht einen sehr wichtigen Punkt an. Die Hörgewohnheiten, mit bestimmten Aufnahmen und Klängen verbundene Gefühle etc.
    Im Prinzip gibt es tendenziell zwei Grundtypen von Hörern (zumindest habe ich das oft so erlebt):
    Der eine bleibt gerne bei seinem gewohnten Klang
    Der andere sucht neue Hörerfahrungen


    Ich gehöre offenbar zum zweiten Typ, bin auch mit konventionellen Sinfonieeinspielungen aus dem Plattenschrank meiner Mutter aufgewachsen, mochte das irgendwann aber nicht mehr hören. Die HIP hat mich für die Klassik wiedergewonnen, Bach würde ich ohne sie überhaupt nicht mögen!
    -----------------
    Warum gerade das Klavier eine Sonderstellung bekommen soll, kann ich einfach nicht nachvollziehen. Klanglich ist das moderne Klavier nicht näher an Bachs Klangwelten als ein Synthesizer. Ein moderner Musiker, der mit dem modernen Klavier ausgebildet wurde, sieht "Claviermusik" und stellt sich natürlich den Klang und die Möglichkeiten dieses Instrumentes vor. Aber das ist etwas völlig anderes als das Klangbild vor Bachs innerem Ohr. Dazu gehört der Saitenklang durch den verschiedenartigen Anschlag, aber auch die Stimmung. Mir persönlich klingt alles in gleichschwebend temperierter Stimmung mit dem für mein Empfinden zu weichen und gleichförmigen Klang des modernen Klaviers zu monochrom. Das gefällt mir nur bei Jazzpainisten oder Musik des 20. Jahrhunderts, und selbst da bevorzuge ich z.B. 100 Jahre alte Steinways und Bösendorfers vor den neusten Modellen. Viele Jazzpianisten schwärmen, wenn sie mal auf so einem Flügel spielen können. Ein Akkord auf einem Cembalo erzeugt wegen der andersartigen Stimmung und des Obertonreichtums einen ganz anderen Zusammenklang und Wirkung.


    Geschmack und Gewohnheit sind als Determinanten nicht zu unterschätzen, dürfen aber nicht als Qualitätskriterien herhalten - das auseinanderzuhalten, ist nicht immer leicht.

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco... Und wer mit dem Weihnachtsoratorium Richters oder Jochums als Kind sozialisiert wurde und so das "Klassikvirus" eingeimpft bekam, ...


    Das bin ich z.B. auch - eine meiner ersten CDs war der Richter-Messias (deutsch). Und dennoch höre ich heute fast ausschließlich HIP. Man kann also Hörgewohnheiten (intern) auch als eine Art Irrtum auffassen und sich 'verbessern' - das ist natürlich rein subjektiv.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat


    Original von der Lullist
    ...spätere "Verbesserungen" zielten meist nur auf Lautstärke ab


    was ich vor allem für die Streichinstrumente so unterschreiben würde.


    Bei den Bläsern möchte ich noch zur Spielbarkeit ergänzen:


    Bei der Entwicklung der heute im Symphonieorchester üblichen Instrumente ging es nicht nur um Lautstärke, sondern auch sehr um leichtere Spielbarkeit.
    Jedenfalls bekamen die z.B. die Flöte und die Oboe Klappen.
    Die moderne Oboe verfügt über Oktavklappen, wodurch man in höheren Lagen nicht mit anderen, schwereren Griffen arbeiten muss.
    Ausserdem verfügt sie über Trillerklappen. Ein Triller zwischen den Tönen c"-cis" und c"-d" wäre ohne sie nicht sauber zu spielen.
    Ein Pianoeinsatz ist auf ihr auch etwas leichter möglich, als bei der Barockoboe.


    Diese wiederum hat gegenüber der modernen Oboe vielleicht einen noch mehr der menschlichen Stimme ähnlicheren Klang.
    Solche Klangunterschiede in sinnvolle Worte zu fassen, ist jedoch nicht besonders leicht...


    Auf jeden Fall klingt der Barockoboe unregelmässiger und farbiger, wodurch sie dem barocken Vielfaltsideal eher entspricht. Aufgrund ihrer Obertonstruktur mischt sie sich auch mit den Barockstreichern ganz vorzüglich.


    Übrigens habe ich sowohl zwischen Barockoboen als auch zwischen modernen Oboen jeweils grosse Klangunterschiede festgestellt.
    Da gibt es wohl auch verschiedene Schulen und Instrumentenbaurichtungen.


    Auf einer mir vorliegenden Harnoncourt-Aufnahme der Orchestersuite Nr. 1 C-Dur , BWV 1066 aus dem Jahre 1984 ( wieso gibt es bei JPC nur noch die alte längst nicht so frei gespielte 66er-Aufnahme :wacky: :wacky: ) hört man eine originale Paulhahn-Oboe und eine von Paul Hailperin nach Paulhahn nachgebaute Oboe. Die zweite Oboe klingt wirklich wesentlich dunkler und weicher als die erste, was in diesem Fall sehr schön im Stück wirkt.


    Noch dunkler und weicher hört sich für mich der Oboist Marcel Ponseele an, etwa bei seinen Einspielungen der Arie "Gott Du hast es wohl gefüget" aus BWV 63 "Christen ätzet diesen Tag" ( sowohl bei Koopman als auch bei Herreweghe)
    Was für ein Instrument er da spielt, steht leider nicht in den Booklets, aber ich mag diesen weichen Ton sehr.


    Bei den modernen Oboen mag ich auch den weichen, dunkleren Klang der Oboisten Mayer und Leleux gegenüber einem helleren, näselnderen Ton, wie ihn etwa Holliger spielt. Nicht so gerne mag ich den Klang der Wiener Oboe, die in den oberen Lagen mir zu eng-näselnd klingt.


    Bei den ventillosen Barocktrompeten, die man auch als Naturtrompeten bezeichnet, kann man nur die Töne der Naturtonreiche über dem Grundton spielen.
    Die modernen Trompeter haben es gegenüber ihren "barocken" Kollegen also auch um Einiges leichter. Diese müssen u.a., auch die schwierige Technik des Clarino-Spiels beherrschen ( weitere Einzelheiten s. Google...)


    Auch hier ist das Klangbild farbiger und leiser als bei den heutigen Trompeten. Um einen schmetternden Klang zu erreichen, muss man auf ihnen nicht so laut spielen, wie auf den modernen Instrumenten.
    Zudem mischen sie sich gut im orchestralen Zusammenhang.


    Spieltechnisch ist man heutzutage gegenüber den Anfangzeiten besser geworden, was man ebenso über den Bereich der anderen von mir hier genannten Blasinstrumente sagen kann.


    Trotzdem sind auch heute noch die alten Instrumente riskanter zu spielen als die heutigen, so auch die Aussage Gardiners.


    Zitat


    Original von miguel54
    Warum gerade das Klavier eine Sonderstellung bekommen soll, kann ich einfach nicht nachvollziehen.


    Ich weiss nicht, ob man hier von Sonderstellung ( etwa gar im Sinne einer Sondererlaubnis !) sprechen soll, denn die anderen, "modernen" Instrumente haben mit ihren Spielern m.E. auch eine Daseinsberechtigung in unserer barockmusikalischen Landschaft.
    Sie haben doch auch die theoretische und praktische Möglichkeit, in Anwendung einer barocken Vortragsweise historisch informiert zu spielen.
    Nur weil sie ein heutiges Instrument verwenden, müssen sie z.B. ihren Bach doch nicht so spielen, wie man es früher von Richter, Mauersberger oder dem frühen Rilling her kennt.
    Diese Zeiten werden m.E. nie wiederkommen - die einen sind darüber froh ( so wie ich), die anderen bedauern es sehr.


    Für das Klavier gilt aus meiner Sicht genau dasselbe.
    Ein wichtiger Aspekt des klangrednerischen, barocken Vortrags ist die Detaildynamik, die eng mit der Artikulation verwoben ist.
    Auf einem Cembalo kann man nur mit Artikulation, Arpeggio und Agogik die Illusion einer Detaildynamik ( z.B. schwer-leicht) erzeugen, während man auf einem guten Flügel die Dynamik sehr differenziert einsetzen kann.


    Dies kann, so paradox es klingt, ein aus musikalischen, nicht klanglich-rekonstruktiven HIP-Überlegungen gespeister Grund sein, sich für das Klavier zu entscheiden. Man will damit vom Ausdruck her näher an die expressiveren Instrumente wie Holzbläser oder Streicher herankommen. Warum soll man denn als Pianist nicht versuchen dürfen, in seiner linken Hand ähnlich wie ein Barockcello zu spielen und sich von der Interpretation her von Meistern dieser Zunft ( etwa Jaap ter Linden) inspirieren lassen?


    Leichter wird es durch die vielfach grösseren Differenzierungsmöglichkeiten des Flügels jedoch nicht, weil man schnell zu viel macht, gerade durch eine zu überdeutlich gezeigte Artikulation. Mit den "neuen" Möglichkeiten exponieren sich auch die Gefahren.


    Zitat

    Mir persönlich klingt alles in gleichschwebend temperierter Stimmung mit dem für mein Empfinden zu weichen und gleichförmigen Klang des modernen Klaviers zu monochrom.


    Der Hinweis auf den persönlichen Geschmack ist hier sehr berechtigt.
    Früher mochte ich nur den Cembaloklang für die Barockmusik und erst viel später habe ich für mich wieder den Flügelklang als aktzeptabel entdeckt. Heutzutage empfinde ich den Flügelklang sogar häufig als angenehmer als den eher metallischen, manchmal für mich auch ein bisschen anstrengenden Cembaloklang.


    Wenn es um die Fakten geht, kann man in Sachen Monochromie aber auch anders herum argumentieren:
    Eine stufenlose, an die Anschlagsdynamik gekoppelte Klangveränderung ist beim Cembalo nicht möglich.
    Hingegen ein guter Flügel, wie etwa ein grosser Fazioli, klingt im pp sehr weich, während er im ff brilliant-obertonreich und strahlend sein kann.
    So ein Instrument verfügt also über sehr reichhaltige klangliche, grob- und feindynamische Differenzierungsmöglichkeiten, ganz im Gegensatz zum Cembalo, bei dem man entweder Umregistrieren und/oder auf ein anderes Manual gehen muss.


    Vielleicht ist vor diesem Hintergrund wenigstens gedanklich nachvollziehbar, dass es auch Leute gibt, die den Vortrags eines Stücks von Bach auf dem Flügel gerade als farbiger gegenüber dem vergleichsweise eher monochromen Cembaloklang empfinden. Das kommt selbstverständlich enorm auf den Pianisten an.
    Und, wie gesagt, das Hörempfinden ist ja immer individuell...


    Zitat

    Der eine bleibt gerne bei seinem gewohnten Klang
    Der andere sucht neue Hörerfahrungen


    Also ich suche immer neue Hörerfahrungen und bin für alles, was Qualität hat, offen.
    Nach vielen Jahren, in denen ich mir Bach nur auf dem Cembalo angehört habe, sind für mich die neuen Aufnahmen von Pianisten/innen wie Hewitt oder Perahia ( hier z.B. die gerade neu eingespielten Partiten) ein neues und spannendes Erlebnis, auch wenn ich im Details oft andere Vorstellungen habe.
    Doch auch durch das inspirierende Vorbild solcher Leute spiele ich selbst wieder vermehrt Bach auf dem Klavier, was ich als sehr beglückende Erfahrung empfinde.


    Ausserdem fragt sich, ob die meisten von uns nicht beide Eigenschaften in sich vereinen: Man hört gern das Gewohnte und will aber auch etwas Neues kennenlernen.


    Und schliesslich: Habe ich nicht auch schon hier im Forum solche Sätze gelesen wie:


    Zitat

    ...aber ICH will nur noch diesen (HIP) Ansatz ( mit historischen Instrumenten)


    oder


    Zitat

    Die HIP hat mich für die Klassik wiedergewonnen, Bach würde ich ohne sie überhaupt nicht mögen!


    Auch nicht, wenn es Leute gäbe, die den Bach auf ihren heutigen Instrumenten richtig gut spielen würden? Das wäre doch nicht ausgeschlossen? Ich zöge ein gut spielendes Kammerorchester einem schlecht spielenden Barockorchester vor. Wenn beide gleich gut spielen ( theoretisch) würde ich die alten Instrumente für die Barockmusik lieber hören.


    Aber allein schon die gedankliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, heutzutage nach den vielen Erfahrungen mit HIP es ganz neu zu versuchen, die Barockmusik möglichst ebenso lebendig und sprechend auf den neuen Instrumenten zu spielen, stösst bei Einigen meinem Eindruck nach nicht gerade auf begeisterte Zustimmung. Da scheint es eine innere Ausschlussklausel zu geben...ein bisschen schade ist das schon.


    Fehlt es da nicht auch an Offenheit bei manchen HIP-Freunden ( zu denen ich mich- wie gesagt- immer noch zähle) ?
    Wollen die nicht auch unter allen Umständen bei ihrem gewohnten und geliebten Darmsaiten-Klang bleiben und nicht zuletzt bei ihrer festen Meinung?
    So neu ist das historisch orientierte Klangbild ja mittlerweile auch nicht mehr.


    Dann gibt es auch diejenigen, die nur die alte, verblichene Garde von Kna. über Krips bis zu Karajan/Böhm ( für Bach entsprechend Richter) für sich selbst als anhörbar gelten lassen ( soll man die "Staubis" nennen? :D )


    Natürlich hat jeder sein Recht auf seine eigenen Empfindungen und Vorlieben, aber ich finde, dass man sich selbst um interessante und vielleicht auch begeisternde Musikerfahrungen bringt, wenn man da irgendwo innerlich stehenbleibt. Jedenfalls versuche ich, dies für mich zu vermeiden.


    Mir ging und geht es auch als begeisterter HIP-Hörer und Spieler nie um die museale Wiederherstellung eines historischen Klangbildes, sondern darum, die Musik dieser Zeit heute so lebendig und verständlich wie möglich zu hören und zu spielen.
    Wenn das meiner Meinung nach mit einem "originalen" Barockorchester am besten geht, dann ist das gut, wenn ich finde, dass es mit einem heutigen Instrument besser oder ähnlich gut geht, dann ist das auch gut.
    Hauptsache die Musik wird verstanden und geht tief unter die Haut.
    Deswegen sind die Interpreten noch viel wichtiger als die Instrumente.
    Das es da gegenseitige Wechselwirkungen zwischen Interpret und Instrument geben wird, will ich indes nicht verschweigen.


    "Sir, geben sie Gedankenfreiheit !!" bin ich manchmal versucht ausrufen ;)


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Was die Gedankenfreiheit angeht, sind wir uns einig.
    Ich kann schon hören, wenn eine Interpretation auf modernen Instrumenten gut gemacht ist, kaufe sie mir auch, wenn ich keine Alternative habe, aber so "anmachen" wie der Klang der historischen Instrumente konnte mich bisher keine. Da bleibt ein letzter Rest von geschmacklicher Präferenz.
    Wahrscheinlich müsste ich mich des Steinway-Klanges 10 Jahre enthalten, um ihn wieder zu mögen ...


    Bei meinem Instrumentarium gibt es ähnliche Entwicklungen im Instrumentenbau, was z.B. den Klang von Congas oder Schlagzeugfellen oder Becken angeht - auch da gibt es einen Klang von Instrumenten aus den 1950er Jahren, der kaum noch zu bekommen ist, weil sich der allgemeine Geschmack verändert hat und der Instrumentenklang sehr den Bedingungen von Mikrofonabnahme und Verstärkung angepasst wird, auch da bin ich sozusagen HIP :D - da wurde etwas gewonnen und anderes verloren. Ich versuche seit zwanzig Jahren, ein Becken zu finden, das so klingt wie die von cubanischen Timbales-Spielern in den 1950er Jahren benutzten - die schmiedet keine Firma mehr so, die alten sind in festen Händen, und Einzelanfertigungen sind nicht machbar oder unerschwinglich!


    Die von Dir erwähnten "Mängel" des Cembalo sind mir bewußt, stören mich aber nicht - wenn es nur so schön klingende Flügel wie Fazioli oder Bösendorfer gäbe ...


    :hello:

  • Es war 1976, als Alfred Brendel seine Bachaufnahme herausbrachte:



    Ich kann mich gut erinnern, wie ich mir noch in den 80ern und 90ern die CD aus der Bibliothek auslieh, weil ich ja damals schon von Brendels Schubert so glühend begeistert war. Damals sagte es mir nicht viel, weil es einfach nicht das war, was ich hören wollte.
    Kein barocker Originalklang, kein Versuch, die sprechende Artikulation eines Concentus musicus aufs Klavier zu übertragen (ehrlich, wie lange habe ich gebraucht, bis ich endlich kapierte, dass es nicht geht, weil das Klavier das falsche Instrument dafür ist, aber es geht auf der Orgel)
    und dann spielte er nicht so knallig klar wie Gulda ( dessen WTK ich kannte) oder so trocken wie Gould.
    Ja, er benutze sogar das Pedal.


    Heute, aus meiner gereiften Sicht muss ich bekennen: Wenn es um Bachmusik auf Tasteninstrumenten geht, die nicht Orgel sind, ist diese Bach-CD meine liebste. Dürfte ich nur 10 CDs auf die einsame Insel mitnehmen, dann wäre dieses CD auf jeden Fall dabei. Ich bedaure sehr, dass Brendel nicht mehr Bach aufnahm. Ich poste diesen Beitrag, weil ich diese in Jahren gewachsene Erkenntnis damals für vollkommen ausgeschlossen gehalten hätte. So höre ich es nun am liebsten - für mich kommt da kein Piano-Bachspezialist ( wie Gould, Hewitt, Schiff oder Perahia, die ich alle auf ihre Art sehr schätze) an dieses Bach-Musizieren heran.
    Für das Cembalo hat mir diese CD diese Werke gewissermaßen "verdorben", selbst sie es durch hervorragende Cembalisten gespielt werden.


    Brendel versuchte hier gar nicht, irgendwie ein Cembalo oder ein Barockorchester zu imitieren, sondern er spielt tatsächlich Flügel, einen Steinway-Flügel. Ich halte das für überaus legitim, wobei der Einsatz der pianistischen Mittel natürlich derart in die Hose gehen könnte, wenn einer eben nicht so gut spielen kann oder einen so treffsicheren und guten Geschmack wie Meister Brendel hat. Dann kann man etwa mit dem Pedal sehr viel kaputtmachen, mit dem Rubato oder der Dynamik auch.....eigentlich mit allen Mitteln.
    Ihm gelingt es, überaus singend, poetisch, klangschön, tieferkennend, analytisch richtig ( ohne das man es merkt), "anständig" und hochemotional zu spielen, wobei ich hier eine tiefere, gereifte Emotion meine, nicht so ein wildes Sich-Abreagieren.
    Agogische Mittel wie Rubato etc. benutzt er eher selten, und wenn, dann mit anständiger Zurückhaltung und strukturell immer nachvollziehbar.
    Bei ihm wichtigen Akkorden zieht er manchmal den Bass der linken Hand gegenüber dem Rest etwas vor. Diesen Bassvorzieher kenne ich auch von seinem Schubert oder seinem Beethoven, auch von Liszt. Ich liebe den.....wenn er nicht zu oft und an der richtigen Stelle kommt. Bei ihm ist das immer der Fall.


    Schon in den 7oern war sein Stil im Grunde genommen ausgereift. Bei seinem Abschiedskonzerten konnte man ihn wieder mit Bach hören - allzu spät. Bei "Nun komm der Heiden Heiland" (Bach/Busoni) kann man feststellen, dass er für eine Änderung seinen Grundansatzes überhaupt keine Veranlassung sah. Da er eben Brendel war, musste er das eben so und nicht anders spielen.


    Hier ein Youtube-Video, live von den Abschiedskonzerten:



    Es ist in den Doppelschlägen etwas anders, und - wohl aufgrund der Live-Situation- emotional etwas mehr aufgeladen als die CD, bei der man eine vielleicht etwas entspanntere innere Haltung heraushören kann.


    Auch für das Italienische Konzert gilt aus meiner Sicht: so wie Brendel den Satz " wenn schon Klavier, dann richtig" umsetzt, ist einfach unglaublich überzeugend. Ich könnte da viel über Phrasierungen, Artikulationen, Dynamik, dezentem Pedaleinsatz usw. sprechen, aber es ist eh besser, wenn man es selbst hört. Besonders gut finde ich, dass ihn eine poetische Sanglichkeit in allen Stimmen hier auszeichnet, wobei er damit dann schon wieder auf eine Art "historisch richtig" liegt, dann die "cantable Art" des Tastenspielens war in der Zeit nicht nur für Bach ein wesentliches Qualitätskriterium.


    Kann man also als Liebhaber der historischen Aufführungspraxis einen Brendel-Bach lieben?
    O ja, und wie.


    Ich finde grundsätzlich, dass diese HIP-Angelegenheit kein dogmatischer Selbstzweck sein sollte, sondern dann zur Anwendung kommen sollte, wenn es eben besser klingt, bzw. wenn es das Erlebnis und Verständnis der Alten Musik fördert.
    Der These, dass es IMMER am besten ist, wenn man die Instrumente der jeweiligen Entstehungszeit etc. nimmt, "weil ja der Komponist damit rechnete und für ein heutiges Instrument eine andere Musik geschrieben hätte" stimme ich in ihrer dogmatischen Ausschließlichkeit nicht zu.
    Es kann viele Situationen geben, wo es tatsächlich am besten ist, es so zu machen; ja es kann sogar überwiegend zutreffen. Wenn ich mir z.B, die neuen Aufführungen der Bachkantaten mit van Veldhoven ( All of Bach) im Netz anhöre, dann ist es einfach so, dass man sich das nur schwer mit modernen Instrumenten und noch viel viel schwerer mit einer breitstrichig-rechtwinkligen Karl-Richter-Spielweise vorstellen will.


    Dennoch kann es Tasten-Stücke geben, die auch sehr überzeugend auf einem Flügel gespielt werden können.
    Zudem glaube ich, dass Bach nicht so viel geändert hätte, wenn man ihm einen heutigen Steinway ins Zimmer per Zeitmaschine gebeamt hätte.
    Vielleicht hätte er an manchen Stellen die Bässe am Schluss einer Fuge oktavierend gedoppelt und so einen kleinen Kantabile-Legato-Hinweis hineingeschrieben. Nichts Anderes macht Brendel hier.
    Es ist eben auch die Frage, ob man immer so ein klangliches Barock-Flair braucht, oder eben das Musikstück selbst in seiner zeitlosen Dimension erleben will. Brendel spielt aus der Perspektive eines Musikers, der eben Beethoven, Schubert, Liszt und Brahms kennt. Trotzdem klingt es bei ihm immer nach Bach, nicht nach "Brendel plays Bach". Diese Aussage trifft auf so gut wie alle anderen "romantischen" großen Pianisten, die dann auch einmal Bach spielten, nach meinem Dafürhalten nicht zu. Wen ich meine, behalte ich für mich, um niemanden auf die Füße zu treten.. ;)


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Da ich ja beide Seiten kenne als Musiker, nun meine Meinung dazu.


    Ich würde keine der beiden Optionen verteufeln.


    Mir geht es nun einmal so, dass mich die Leichtigkeit und die Deutlichkeit der historischen Aufführungspraxis von meinen ersten Erfahrungen an nie wieder losgelassen hat.


    Beste Grüße

    Gustav Mahler: "Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten."

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