Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • Wenn ich meine Lektüre der letzten Jahre so Revue passieren lasse, komme ich auch zu dem Ergebnis, dass Strauss und Mahler im gegenseitigen Respekt nicht so weit auseinander lagen; weil mit dieser Buchstelle für mich ein neuer Sachverhalt auftauchte, habe ich überhaupt gepostet, wie das heute so schön heißt.

  • Ja, dieser gegenseitige Respekt ist ja auch brieflich gut dokumentiert, - in den Briefen die beide miteinander austauschten. Aber in den Briefen, die Mahler an Alma richtete, zeichnen sich die Probleme ab, die der Mensch Mahler mit dem fundamental wesensverschiedenen Menschen Strauss hatte, - und die er diesen – hochanständig, wie er war- niemals spüren ließ. Ich denke an eine solche Bemerkung wie die von Anfang November 1905: „Bei Strauss war es gestern ganz nett; aber eine gewisse Kühle und Blasiertheit wird man nicht los bei ihm.“


    Ganz typisch für ihn in seinem Verhältnis zu Richard Strauss ist eine briefliche Äußerung an Alma, die abfällige Bemerkungen über Straussens „Salome“ gemacht hatte. Mahler widerspricht ihr, aber bemerkenswert ist dabei, in welcher Weise er das tut:
    „Aber jetzt unterschätzt Du das, trotz alledem sehr bedeutende, und, wie Du richtig herausgefühlt, im schlechten Sinne >virtuose< Werk: Da ist Wagner ein anderer Kerl. Je weiter Du im Leben als Mensch gelangst, desto deutlicher wirst Du den Unterschied zwischen diesen wenigen Großen, Wahren und den bloßen >Virtuosen< empfinden. Ich bin glücklich, wie schnell Du zur Klarheit gelangst. Die Kühle im Wesen Straussens, die nicht im Talent sondern im Menschentum liegt, spürst Du eben und sie stößt Dich ab.“


    Strauss wusste von diesen Problemen nicht, die Mahler mit ihm hatte, - was die menschliche Seite ihrer Beziehung, aber auch die kompositorisch-künstlerische Grundhaltung anbelangt (seine Ablehnung der „Programm-Musik“ zum Beispiel). Mahler verschwieg all das, behielt es für sich, und offenbarte sich allenfalls seiner Frau gegenüber, - was diese dann später leider publizierte. Aber das ist ein anderes Kapitel.
    Strauss jedenfalls hielt an seiner Sympathie für Mahler und der Hochschätzung von dessen kompositorischem Werk unbeirrt fest. Seine Tagebuch-Notiz zu dessen Tod verrät tiefe Erschütterung.

  • Apropos Alma Mahler. Gerade wird mir bewusst, dass hier ja eigentlich die Vorstellung und Besprechung von Mahlers Rückert-Liedern ansteht und das nächste davon, das mit dem Titel "Liebst du um Schönheit", indirekt mit ihr zu tun hat.
    Und nun hoffe ich, dass ich in Bälde, nach dem Abschluss des Rückgriffs auf das Lied "Urlicht", diesen Thread fortsetzen und mich auf dieses Lied einlassen kann. Es ist ein klanglich sehr schönes und faszinierendes Lied, freilich eines, das Mahler ausnahmsweise nicht selbst orchestriert hat.
    Die Gründe dafür dürften Anlass geben, über wesentliche Aspekte seines liedkompositorischen Schaffens nachzudenken.

  • Helmut und Holger, ihr hattet natürlich Recht, dass es den Begriff des "Urlichtes" in der Klassik schon gab. Sehr wichtig ist dabei der Hinweis, dass das Urlicht nichts mit dem Sonnenlicht zu tun hat, sondern sozusagen das Licht schlechthin ist. Die biblische Schöpfungsgeschichte (und zwar die erste, Gn 1) fußt auf dem babylonischen Schöpfungsmythos, allerdings mit einer radikalen Entmythologisierung: die Götter Sonne und Gestirne werden in der Bibel zu einfachen Lampen herabgewürdigt, die dem Menschen scheinen sollen. Die von mir erwähnte moderne Sekte "Urlicht" liegt daher völlig schief, wenn sie das Urlicht mit der Sonne identifiziert.
    Der Begriff des "Urlichts", wie er im Grimmschen Wörterbuch beschrieben wird, ist aber mit der Zeit wieder verschüttet worden, sodass heute auch Gebildete den Begriff nicht mehr kennen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Der Mensch liegt in größter Not, der Mensch liegt in größter Pein
    Dieser Vers scheint eine Banalität zu sein, es ist aber eine brisante Banalität, die jeder Religion das Äußerste an Erklärungen abverlangt. Der Hinduismus sieht einfach viele Leben vor, damit man glücklich wird. Das Judentum ist übel dran, denn das Leid der Welt kollidiert mit dem Glauben, dass Gott die Welt gut gemacht hat. Das Christentum hat zwei raffinierte Auswege gefunden: auf der einen Seite die Erbsünde, was nichts anderes heißt, dass an der Misere der Welt der Mensch selber schuld ist (erzählt im Mythos von Adam und Eva) oder die patente Lösung, dass das Elend der Welt im Jenseits wieder aufgelöst wird. Aber schon der Buddha hat mit gedanklicher Schärfe alle diese Ausflüchte vom Tisch gewischt: entweder können die Götter das Leid nicht beseitigen, dann sind sie keine Götter. Oder sie wollen es nicht; dann sind sie auch keine Götter, sondern Sadisten. Die einfachste Lösung ist diese, dass es keine Götter gibt und der Mensch seine Wünsche aufgeben muss, um das Leid zu ertragen.
    Diese radikalen Gedanken sind erst wieder in der europäischen Aufklärung wirksam geworden, etwa bei Marx und besonders bei Schopenhauer. In der Musik gibt es eine spezifische Schopenhauer-Oper, das ist "Palestrina" von Pfitzner. Dort wird das Leid der Welt im großen Monolog des Palestrina beschworen. Auch eine der Lösungen Schopenhauers, um dieses Leid zu tragen, ist im "Palestrina" verwirklicht: es ist die Musik, in der Oper dargestellt als der Chor der Alten Meister, die ihn beschwören, sich bei ihnen einzureihen. Von hier aus ist übrigens klar, wie sehr der Regisseur Christian Stückl den Sinn dieser Szene verfehlt, wenn er in seiner Münchner (später Hamburger) Inszenierung die Meister als eine Art von Clowns auftreten lässt.
    Die Gnosis nun hat die radikalste Einstellung. In ihrem Mythos wird die von Gott geschaffene Gestalt des Ur-Licht-Menschen von den Dämonen gekapert und zertrümmert, die einzelnen Lichtfunken werden mit Materie umkleidet und auf die Erde geschickt. Die Materie nimmt die Menschen gefangen mit Sex, Lustbarkeiten, Essen, Trinken, Vergnügungen, sodass sie sich ihres himmlischen Ursprungs, ihres Lichtfunkens in sich, ihrer himmlischen Heimat nicht mehr erinnern. Wenn uns diese Ideen bekannt vorkommen, liegt das daran, dass einzelne Grundideen von einer Religion in die andere einsickern. Man darf aber sagen, dass der Dualismus zwischen Körper und Geist am radikalsten in der Gnosis ausgebildet wurde. Übrigens zeitigte dieser Dualismus witzigerweise zwei verschiedene Lebensarten, nämlich die Askese, die durch Enthaltung den Körper abtötet, oder aber den Libertinismus; denn wenn der Körper eh schlecht ist, kann man ihn auch zum Schlechten benutzen, denn nicht er, sondern nur die Seele zählt.
    Je lieber möchte ich im Himmel sein
    Dieser Satz klingt harmlos, ist es aber nicht. Denn derjenige, der ihn spricht, gibt damit zu erkennen, dass bei ihm die Gnosis, also die Erkenntnis, dass er in den Himmel gehört und nicht zum irdischen Leben, schon stattgefunden hat. Diese Erkenntnis garantiert ihm den Weg in den Himmel, auch wenn er ihm streitig gemacht wird.
    Da kam ich auf einen breiten Weg
    Helmut erklärt diesen Vers als Reminiszenz auf Mt 7, 13-14, was ich nicht ganz nachvollziehen kann, weil die Pointe eine andere ist. Die dem irdischen Leben verfallen sind (die Hyliker, wie der Gnostiker sagt), befinden sich auf dem breiten Pfad, der aber nicht in den Himmel führt, sondern der schmale Pfad ist es: das sagt der Matthäus-Text. Hier in der Gnosis ist der breite Pfad der, auf dem die Seele wandert, die schon erkannt hat, dass sie von Gott ist. Eine schlüssige Erklärung habe ich leider nicht gefunden.
    Da kam ein Engelein und wollt mich abweisen
    Das Wort Engelein ist sehr missverständlich hier und vielleicht ein Beispiel dafür, dass die Theorie der Gnosis sich verändert, wenn sie in den Volksglauben herabsinkt. Mit "Engelein" ist ein Dämon gemeint. Vielleicht erinnern wir uns, dass in der Antike sehr häufig der Teufel als gefallener Engel bezeichnet wurde. Der Schlüssel ist das Wort "abweisen". Die Gnosis stellt sich es so vor, dass die Dämonen, die den Lichtmenschen zertrümmert haben, auch sicherstellen wollen, dass er nicht wieder zustande kommt, indem die Lichtfunken sich vereinigen. Sie bewachen in mehreren Zirkeln die Sphäre zwischen Erde und Himmel, um die Gnostiker abzufangen. Wenn die aber das richtige Passwort kennen, müssen sie sie passieren lassen.
    Ich vermute, dass in diesem Punkt die Gnosis eine esoterische Religion war, die vielleicht in Initiationsriten die Passwörter ausgegeben hat. Die christliche Gnosis hat wahrscheinlich Passwörter verwendet, die mit Jesus zusammenhingen.
    Ach nein, ich ließ mich nicht abweisen.
    Dieser Satz sagt, dass bei dieser Seele die Gnosis stattgefunden hat, diese Seele das Passwort kennt und das Engelein (bzw. der "zuständige" Dämon) machtlos ist.
    Ich bin von Gott und will wieder zu Gott
    Dieser Satz sagt, dass die Gnosis funktioniert hat: die Seele ist sich ihrer Heimat bewusst und hat sich nicht durch die Lüste der Welt so weit versklaven lassen, dass sogar die Erinnerung an die himmlische Heimat verloren ging.
    der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben
    Dieser Vers bereitet mir Kopfzerbrechen, denn genau müsste es heißen: der liebe Gott hat mir ein Licht gegeben!
    wird leuchten mir....
    Das ewige Leben besteht darin, dass alle Gnostiker wieder als "Lichtmensch" vereinigt werden.

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  • Ein interessanter Interpretations-Ansatz für dieses Wunderhorn-Gedicht. Vielen Dank dafür, lieber dr. pingel!
    Ich will das jetzt nicht noch weiter vertiefen, weil ich ja die Vorstellung der Rückert-Lieder fortsetzen möchte und dann noch die „Kindertotenlieder“ anstehen. Nur dieses vielleicht:
    Für mich, und ich bitte Dich, mir das nicht zu verübeln, ist dieser Interpretationsansatz für die naive, aus einer Simplifizierung christlicher Glaubensinhalte hervorgehende Weltsicht dieser einfachen Verse ein wenig zu komplex. Und er wirft Probleme auf, auf die Du da selbst gestoßen bist.


    Will dieser Text nicht, so frage ich mich, in ganz naiver Weise gelesen werden?
    Dieses Ich lebt „in großer Not und Pein“. Angesprochen sind hier die existenziellen Nöte, von denen die Wunderhorn-Gedichte immer wieder sprechen: Urerfahrungen des Menschen („Mutter, ach Mutter es hungert mich…“). In dieser existenziellen Not-Situation leuchtet ein „Urlicht“ auf, eine scintilla animae, wie die Mystiker das nennen. Es ist der Glaube: Es gibt eine andere Welt, die himmlische, das Leben in Gott. Das Ich empfindet dieses Bewusstsein wie eine Erlösung aus seiner Not. In einer Vision sieht es sich auf dem Weg dorthin, es ist ein Wunschtraum, eine Flucht aus der unerträglich gewordenen Realität. In dieser Vision meldet sich die Angst, dass dieser Weg versperrt sein könnte. Das ist hier der Engel, der das Ich zurückweisen will. Das lässt sich aber nicht abweisen, weil es ganz und gar von der Gewissheit der Gotteskindschaft getragen und auf seinem Weg beflügelt ist.


    Für Dich sind alle diese Aussagen Resultate einer Gnosis. Der Text gibt das aber aus meiner Sicht nicht her. Dieses Ich glaubt an die Gotteskindschaft und sieht darin einen Weg aus seiner existenziellen Not. Es sieht sich nicht wirklich auf dem Weg hin zum Leben in Gott. Die Verse geben ein imaginäres Ausleben eines Wunschtraums, eines Sehnens, einer Hoffnung wieder. Du sagst, die Aussage „der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben“ betreffend: „Dieser Vers bereitet mir Kopfzerbrechen, denn genau müsste es heißen: der liebe Gott hat mir ein Licht gegeben!“ Nein, eben nicht. Es heißt aus gutem Grund hier „wird geben“. Das Futur ist Ausdruck des Glaubens an Gott und die Hilfe, die für den Menschen von ihm ausgeht.


    Mahler musste sich von diesem Text in seiner eigenen Weltsicht und der dualistischen Grundhaltung zutiefst angesprochen fühlen. Darauf werde ich, ich hatte es ja angekündigt, noch einmal kurz eingehen und dann das nächste Rückert-Lied (Liebst du um Schönheit“) vorstellen.
    Nochmals Dank für diese Deine Beiträge, - und nichts für ungut!


    ( Du hast übrigens recht: Meine Interpretation dieses Bildes vom "breiten Weg" war unsinnig. Der "breite Weg führt ja gerade nicht(!) in den Himmel.)

  • Wir liegen gar nicht so weit auseinander! Denn wir waren uns ja einig, dass dieses Lied aus einer Art zum Volksglauben herabgesunkenen Gnosis stammt. Mir ging es nur darum, die philosophischen Grundlagen auszuleuchten. Der Reiz der Gnosis lag und liegt ja darin, dass jeder Mensch diese Grunderfahrung des Leides gemacht hat und macht. Insofern muss ich zugeben, dass ich den Text ein wenig strapaziert habe. Aber immerhin wollte ich deutlich machen, dass es auch im Christentum wie im Volksglauben massiv gnostische Züge gibt.

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  • Zu Deiner Frage, lieber dr. pingel: „…ob die Solovioline im "Urlicht" die gleiche Funktion hat.“


    Es ist aus meiner Sicht immer ein bisschen problematisch, einem Instrument oder einer Instrumentengruppe eine bestimmte Funktion im Rahmen der musikalischen Gesamt-Aussage zuzusprechen, wenn es der Komponist nicht selbst getan hat.

    Der Wechsel des Tones ist finde ich der entscheidende Hinweis: Mit "Da kam ich auf einen breiten Weg..." wandelt er sich ins Bewegte, Episch-Erzählerische und zugleich Traumhaft-Märchenhafte. Der Ton der Solovioline ist süßlich - das ist Kindersprache, passend zum Märchenhaften die kindliche Naivität. Märchen erzählt man Kindern. Und nach Mahler erzählt ja das naive Kind, wie es mit der Welt "eigentlich gemeint" sei. Und wie ein naives und trotziges Kind so ist, läßt es sich von einem Verbot auch nicht abweisen.


    Da kam ein Engelein und wollt mich abweisen
    Das Wort Engelein ist sehr missverständlich hier und vielleicht ein Beispiel dafür, dass die Theorie der Gnosis sich verändert, wenn sie in den Volksglauben herabsinkt. Mit "Engelein" ist ein Dämon gemeint. Vielleicht erinnern wir uns, dass in der Antike sehr häufig der Teufel als gefallener Engel bezeichnet wurde. Der Schlüssel ist das Wort "abweisen". Die Gnosis stellt sich es so vor, dass die Dämonen, die den Lichtmenschen zertrümmert haben, auch sicherstellen wollen, dass er nicht wieder zustande kommt, indem die Lichtfunken sich vereinigen. Sie bewachen in mehreren Zirkeln die Sphäre zwischen Erde und Himmel, um die Gnostiker abzufangen. Wenn die aber das richtige Passwort kennen, müssen sie sie passieren lassen.
    Ich vermute, dass in diesem Punkt die Gnosis eine esoterische Religion war, die vielleicht in Initiationsriten die Passwörter ausgegeben hat. Die christliche Gnosis hat wahrscheinlich Passwörter verwendet, die mit Jesus zusammenhingen.

    Das finde ich spannend und einleuchtend.


    Will dieser Text nicht, so frage ich mich, in ganz naiver Weise gelesen werden?

    Ja. Da habt Ihr beide Recht. Die gnostischen Motive können ja auch auf existenzielle, naive Weise wirksam werden. Die Aussage ist eine allgemeine "Der Mensch...", die aber persönlich genommen wird.


    Schöne Grüße
    Holger

  • „Wir liegen gar nicht so weit auseinander! "


    Aber ja doch! Ich bin froh, dass Du meinen Kommentar zu Deinem Beitrag so aufgefasst hast, lieber dr. pingel.
    Ich meine im übrigen nicht, dass Du das „Wunderhorn“-Gedicht „strapaziert“ hast. War nur der Auffassung, dass Du – gleichsam retrospektivisch – aus dem Text etwas ausgräbst, was in ihm direkt, also in seiner vorliegenden sprachlichen Gestalt, nicht mehr manifest ist. Denn diese begegnet dem Leser als Ausdruck einer naiven, nicht wirklich reflektierten, vielmehr sich wie kindhaft aus den Glaubensinhalten des Christentums bedienenden Bewältigung der eigenen schwierigen Lebens-Situation. Und Mahler hat das ja, nach Ausweis seiner Liedmusik darauf, wohl auch so gelesen.


    Aber es ist natürlich nicht nur sachlich begründet, sondern auch für einen, der sich mit diesem Lied „Urlicht“ beschäftigt, ein wirklicher Erkenntnis-Gewinn, wenn ihm die Hintergründe einer solchen naiven Weltsicht aufgezeigt werden, die sich dem sachkundigen Hinblick auf die Metaphorik, in der sie sich sprachlich artikuliert, als in den Volksglauben herabgesunkene Gnosis offenbart.

  • Anlässlich des diesen Thread regelrecht belebenden und bereichernden Wieder-Aufgreifens des Liedes „Urlicht“ durch dr.pingel lag es für mich nahe, mich noch einmal mit der Frage zu beschäftigen, welche glaubensmäßige Grundhaltung hinter Mahlers Liedkomposition stehen mag. Schließlich lässt die Liedmusik bei „Urlicht“ in der Emphase, in die sie sich in ihrem Verlauf steigert, eine hochgradige personale Identifikation mit der Aussage und der Metaphorik des Wunderhorn-Gedichts vernehmen.


    Glaubt man Alma Mahler, so war ihr Gatte „christusgläubig und hatte sich keineswegs nur aus Opportunismus taufen lassen, um die Stelle als Hofoperndirektor in Wien zu bekommen.“ Er habe ihr in ihrer Bewertung von Platon, als sie diesen über Christus gestellt habe, brieflich klar widersprochen, und er sei ein großer Verehrer und Liebhaber der katholischen Mystik gewesen.
    Man muss Alma Mahler hier freilich nicht unbedingt glauben, bedenkt man als quellenkritischer Historiker ihre spätere stark ausgeprägte Hinneigung zum Katholizismus.


    Es gibt für diese Frage verlässlichere, weil neutralere Zeugen, die Mahler menschlich nahe gekommen sind. Und das sind vor allem Bruno Walter, der Dirigent Oskar Fried und Alfred Roller. Von Bruno Walter ist die Bemerkung überliefert, dass Mahler „nicht eigentlich gläubig oder fromm gewesen sei“. Und bei Oskar Fried liest man:
    „Er war ein Gottsucher. Mit einem unerhörten Fanatismus, mit einer beispiellosen Hingabe, mit einer unerschütterlichen Liebe war er stets auf der Suche im Menschen, in einem Jeden, nach dem Göttlichen.“
    Und Alfred Roller berichtet:
    „Er war tief religiös. Sein Glaube war der eines Kindes. Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott. Diese Idee kehrte in seinem Gespräch tausendfältig immer wieder. Ich fragte ihn einst, warum er eigentlich keine Messe schreibe. Er schien betroffen. >Glauben Sie, daß ich das vermöchte?< Und er begann das Credo lateinisch herzusagen. >Nein, das vermag ich doch nicht<. Aber nach einer Probe der Achten in München rief er mir in Erinnerung an dieses Gespräch fröhlich zu: >Sehen Sie, das ist meine Messe<.


    Das ist eine durchaus aufschlussreiche Äußerung Mahlers. Mahlers Glaube beinhaltete durchaus einen Gott im Sinne eines allmächtigen Schöpfers. Aber das Credo bezieht ja „Jesum Christum, „Spiritum Sanctum“ und „Sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam“ ein. Und das war wohl nicht Inhalt von Mahlers Glauben. Deshalb konnte er wohl das Credo nicht vertonen. Mahlers Glaube war – nach all dem, was an Quellenzeugnissen dazu vorliegt – kein christlicher im Sinne der katholischen Dogmatik, sondern eher ein allgemein mystischer. Ernst Decsey berichtet, dass Mahler ihm gegenüber (im Jahre 1909) geäußert habe, sein Glaube gründe letztendlich in einer Abwehrhaltung und einer Kontraposition zum Zeitgeist, der von einem weltanschaulich zutiefst unzulänglichen, ja verhängnisvollen Materialismus geprägt sei.


    Mahlers Weltbild weist einen tiefgreifenden Dualismus auf. Die reale Welt, wie er sie in seiner eigenen Lebenswelt erfuhr, war für ihn in radikaler Weise negativ besetzt. Sie war „Weltgetümmel“, in dem der Mensch wie in einem Spinnennetz gefangen zappelt. Reale Welt war für ihn, wie Adorno das formuliert hat „das Immergleiche“, „der Weltlauf“, „das Schreckbild blinden Funktionierens“. In seinen Briefen findet man solche Formulierungen wie „Lärm und Wirrwarr des Alltags“ „der brutale Lebensstrudel“, „Jammerleben und Gekreisch“, „Ich bin so zerrissen, mir blutet mein Herz“, „Ich bin nun ganz irre an mir und der Welt“…“. Mahler kann es in dieser Welt nur aushalten, weil er ihr den Glauben an eine „andere Welt“ (wie er das nannte) gegenüberstellt. Ein Abglanz davon findet sich für ihn in der unberührten Natur. „Wenn wir längere Zeit allein sind“, so seine Worte, so gelangen wir zu einer Einheit mit uns und der Natur( …) und von uns zu Gott ist nur ein Schritt.“ Innerlichkeit, wie sie sich im menschlichen Gemüt ereignet, ist für ihn der einzige Weg, Zugang zu dieser „anderen Welt zu finden. Für ihn gilt, „daß die einzige wahre Realität auf Erden unser Gemüt ist – daß alle Wirklichkeit für den, der dies erfaßt hat, nur ein Schema, ein nichtiger Schatten ist.


    Von dieser Weltanschauung ist nicht nur sein Verständnis von Kunst und Musik geprägt, auch sein kompositorisches Werk ist es in vielfältiger Weise. Das 1878-1880 entstandene, im Text von ihm selbst verfasste Werk „Das klagende Lied“ ist der erste kompositorische Niederschlag seiner dualistischen Weltsicht. Sein ganzes frühes Werk kann man als Ausdruck eines Sich-Zurücksehnens nach dem verlorenen Paradies verstehen, und sein Spätwerk als Auseinandersetzung mit dem Tod als der Heimkehr ins „gelobte Land“. Wie eine Art Motto für sein kompositorisches Schaffen kann man seine Äußerung aufnehmen: „Alle Musik muß ein Sehnen enthalten – ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.“ Kunst, insbesondere Musik, vermag für ihn beide Welten anzusprechen, und daraus leitet er auch seinen „Auftrag“ als Komponist her. „Mein Bedürfnis“, so äußert er sich dazu, „mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in die >andere Welt< hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen.“


    Vermutlich ist in Mahlers sehr früh sich ausbildenden dualistischen Weltsicht auch die Ursache für die starke Anziehung zu suchen, die für ihn von den Schriften Gustav Theodor Fechners ausging, insbesondere von dem 1851 erschienenen Buch „Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung.“ Fechner entwickelt darin seine Lehre von den drei Stadien des Lebens. Nach dieser durchläuft jeder Mensch gleichsam drei Stadien: Das Dunkel des vorgeburtlichen Lebens, das der Geselligkeit im irdischen Licht und das der Gemeinschaft mit dem höchsten, dem göttlichen Geist. Mahlers Glaube und Weltanschauung erfuhren durch Fechner eine sehr starke Prägung. Jahre später, nämlich 1903, teilte er Alma gleichsam im Rückblick brieflich mit: „Dazwischen lese ich nun mit höchster Teilnahme Zend-Avesta, was mir Altbekanntes, Selbstgeschautes und Erlebtes wie ein teueres, vertrautes Gesicht vor die Seele bringt.“


    Von daher muss das „Wunderhorn“-Gedicht „Urlicht“ mit seinem zentralen Bekenntnis „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott“ in der Liedsprache, mit der Mahler es in Musik gesetzt hat, wohl nicht als Ausdruck eines vom Christentum maßgeblich geprägten Glaubens gehört und verstanden werden. Mahler hat wohl diese „Wunderhorn“-Gedicht in Musik gesetzt, weil es ihn in seiner aus seiner, sich gegen den materialistischen Zeitgeist zur Wehr setzenden Glaubens-Überzeugung ganz unmittelbar ansprach, dass der Mensch, ganz im Sinne der Lehre Fechners, letztendlich zur Einheit mit dem Göttlichen bestimmt sei, von dem er herkommt und die vorangehenden zwei Stadien seines Lebens erst einmal durchlaufen muss, um zum letzten zu gelangen.


    Es ist also kein Gott im Sinne der christlichen Dogmatik, von dem hier liedmusikalisch die Rede ist, - auch wenn ein „Englein“ darin auftritt und dem Ganzen der Gedanke der Gotteskindschaft zugrunde liegt. Das sind nun einmal Bestandteile des „Wunderhorn“-Textes, die Mahler vorfand, als er sich zur Vertonung desselben entschloss. Sie sind in ihrer liedmusikalischen Umsetzung aber nicht zwingend als Indizien einer im eigentlichen Sinne christlichen Gläubigkeit zu rezipieren und zu interpretieren.
    Die Einflüsse Fechners auf Mahler lassen sich übrigens auch bei den „Kindertotenliedern“ sehr deutlich aufzeigen. Darauf wird – sobald der Thread wieder zur Musik Mahlers zurückkehren kann – noch einzugehen sein.

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  • Ich danke dir sehr, lieber Helmut, dass du meine "Urlicht-Kommentare" aufgegriffen hast und einmal die ganze Weltanschauung Mahlers im Zusammenhang darstellst. Was du darstellst, ist absolut überzeugend. Es beweist ja, dass man gnostisch denken kann ohne Gnostiker zu sein, dass man christlich denken kann ohne Christ im strengen Sinn zu sein.
    Es gibt ja eine Vielzahl von Genies, die sicher eine eigene Religion hatten, wie etwa Goethe oder Janacek.

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  • "Es gibt ja eine Vielzahl von Genies, die sicher eine eigene Religion hatten, wie etwa Goethe oder Janacek“"
    Da hast Du wahrlich recht, lieber dr. pingel. Und Mahler ist diesbezüglich ein Großer unter den Genies.


    Aber etwas wollte ich noch anmerken, bevor ich dann morgen tatsächlich zur Vorstellung des nächsten Rückert-Liedes übergehe. Das, was ich da zu Mahlers Weltanschauung und seinem Glauben ausgeführt habe, ist ganz auf die von Dir im Zusammenhang mit dem Lied „Urlicht“ aufgeworfenen und in diesen Thread eingebrachten und ihn darin bereichernden Fragen zugeschnitten. Es wird in seinem Umfang und seiner Substanz dem grundsätzlichen Thema also nicht wirklich gerecht, denn dieses ist viel komplexer.
    Mahler ist unter diesem Aspekt eine der interessantesten und faszinierendsten künstlerischen Persönlichkeiten. Sein Satz „Die Musik muß immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus“ stellt so etwas wie der General-Schlüssel zum Verstehen seiner Musik und der dahinter stehenden kompositorischen Intention dar. Man könnte das aufzeigen, indem man sich auf die Symphonien einlässt, in denen explizit religiöse Themen aufgegriffen und in Gestalt der Einbeziehung entsprechender Texte musikalisch ausgeführt wurden. Aber das wäre Sache eines eigenen Threads, - den ich allerdings für höchst wünschenswert halte.


    In Mahlers Musik gibt es ein Phänomen, das einem als permanente Steigerung der Expressivität im Sinne der Realisation eines Höhepunkts begegnet. Dahinter steht der eminent religiöse Antrieb seines kompositorischen Schaffens. Adorno hat dies mit dem Begriff „Durchbruch“ versehen und in diesem Zusammenhang von einer religiösen Überforderung von Mahlers Musik gesprochen. Denn der „Durchbruch“, der sich auf die Hoffnung eines „Entgegenkommens“ auf dieses „Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus“ gründet, könne (so meint Adorno) nicht gelingen, - „weil er in der Welt ausblieb wie der Messias“. „Ihn musikalisch zu realisieren“, heiße, „ zugleich, sein reales Mißlingen zu bezeugen.“
    Ich höre Mahler diesbezüglich zwar anders, teile die Meinung von Adorno also nicht, weil ich denke, dass es Mahler eben gerade darauf ankam, weil es seine fundamentale Intention war, eben dieses „Misslingen“ zum Gegenstand seiner Komposition zu machen. Aber das ist, wie gesagt, ein anderes Feld, das in diesem Thread hier nicht zu beackern ist.

  • Liebst du um Schönheit,
    O nicht mich liebe!
    Liebe die Sonne,
    Sie trägt ein gold'nes Haar!


    Liebst du um Jugend,
    O nicht mich liebe!
    Liebe den Frühling,
    Der jung ist jedes Jahr!


    Liebst du um Schätze,
    O nicht mich liebe!
    Liebe die Meerfrau,
    Sie hat viel Perlen klar!


    Liebst du um Liebe,
    O ja, mich liebe!
    Liebe mich immer,
    Dich lieb' ich immerdar.



    „Con tenerezza“ soll das Lied vorgetragen werden. Es steht in Es-Dur als Grundtonart. Die melodische Linie bringt von ihrer Struktur her alle Voraussetzungen dazu mit, in ihrem Vortrag klangliche Zartheit zum Ausdruck zu bringen. Sie ist auf die fließende, von keinem Bruch in ihrer Linie gestörte Bewegung von Achteln hin angelegt, und das Klavier begnügt sich im wesentlichen damit, der Singstimme in ihren Bewegungen zu folgen, und dies auch noch mit Sexten oder terzbetonten Akkorden, so dass sich tatsächlich der Eindruck einer völlig ungestört sich entfaltenden, von keinen Brüchen im Satz, keinen Dissonanzen und keiner Chromatik gestörten klanglichen Harmonie einstellt. Selbst die vorübergehende Rückung der Harmonik nach es-Moll bei den Worten „Liebst du um Jugend“ vermag diesen Eindruck nicht zu trüben. Sie hält nur zwei Takte vor und wird unmittelbar darauf von einer Rückung nach Ges- und Ces-Dur gleichsam aufgefangen, die man, eben weil sie in den unteren Bereich des Quintenzirkels erfolgt, wie ein klangliches Auftrumpfen des Tongeschlechts „Dur empfindet, - zugleich auch als Akzentuierung der lyrischen Aussage „Liebe den Frühling“.


    Noch ein weiterer struktureller Faktor ist dafür verantwortlich, dass dieses Lied einen solch hohen Grad an klanglich emphatischer Eindringlichkeit aufweist. Die melodische Linie folgt in ihrer Bewegung einem Grundmuster, das zwar variiert wird, in seiner Struktur aber erhalten bleibt. Es der entweder direkte oder über eine Bogenlinie erfolgende Anstieg in höhere Lage, der am Ende in einen Sekundfall mündet, der zumeist aus einer Kombination aus einem im Wert einer halben Note gedehnten Ton und einem nachfolgenden Achtel besteht. Diese ohnehin schon klanglich eindringliche Figur wird dann in ihrer Wirkung noch dadurch gesteigert, dass das nachfolgende Achtel zu einer halben Note gemacht wird oder, dort wo das Lied den Höhepunkt seiner Expressivität erreicht, die erste halbe Note eine Punktierung erhält. Schließlich dürfte im Hinblick auf die Eingängigkeit dieser Liedkomposition auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass Mahler partiell das Strophenlied-Prinzip genutzt hat, - bei der Wiederholung der melodischen Linie der ersten Gedichtstrophe in der dritten.


    Durchweg erfolgen Taktwechsel. So setzt das Lied mit einem Vorspiel im Dreivierteltakt ein, bei der nachfolgenden melodischen Linie auf den Versen der ersten Gedichtstrophe wechseln dann aber ein Zweiviertel-, ein Vierviertel- und ein Dreivierteltakt permanent miteinander ab. Keineswegs wollte Mahler damit rhythmische Unruhe erzeugen, vielmehr dient der Taktwechsel ganz offensichtlich der Akzentuierung einzelnen deklamatorischer Schrittkombinationen. So ereignet sich zum Beispiel bei den Worten „O nicht mich liebe“ gleichsam ein Anlauf in silbengetreuen aufwärts gerichteten Sekundschritten im Viervierteltakt. Der nachfolgende Sekundfall in hoher Lage auf dem Wort „liebe“ steht jedoch im Zweiviertalt, wirkt dadurch melodisch gedehnt und verleiht damit diesem Wort einen starken Akzent. Die melodische Fallbewegung auf den Worten „sie trägt ein gold´nes Haar“ erhält durch den Dreivierteltakt eine innere Beschwingtheit.


    Ganz deutlich ausgeprägt ist dieser von Mahler angestrebte Effekt bei den Worten „liebe den Frühling“. Wieder ereignet sich ein melodischer Anlauf in Sekundschritten, der im Viervierteltakt erfolgt. Das Wort „Frühling“ wird dann piano(!) auf einem im ersten Schritt gedehnten Sekundfall in hoher Lage im Dreivierteltakt deklamiert. Der Dehnungseffekt wird dabei durch die Verlangsamung der Deklamation gesteigert, und das Klavier unterstützt die damit verbundene Akzentuierung des Wortes „Frühling“ mit einem lang gehaltenen arpeggierten Ces-Dur-Akkord. Die nachfolgende Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Der jung ist jedes Jahr“ wird vom Klavier in Gestalt von dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzogen.


    Zwischen der ersten und der zweiten Liedstrophe erklingt ein zweitaktiges Zwischenspiel, in dem noch einmal Moll-Harmonik auftaucht. Die Akkordfolge, die das Klavier hier anschlägt, wirkt aber in keiner Weise klanglich schmerzlich, eher mutet sie wehmütig an, was wohl daran liegt, dass die Akkorde sich vorwiegend aus Sexten und Terzen zusammensetzen und eine zwar zunächst fallende, dann aber am Ende wieder steigende und in die Grundtonart Es-Dur mündende Bewegung vollziehen. Diese zweite Strophe setzt zwar mit der Melodik des Liedanfangs ein, aber schon der ein wenig lebhaftere Klaviersatz deutet an, dass es in der Folge zu einer Steigerung der Expressivität kommen wird. Und so ist es dann auch. Bei den Worten „Liebst du um Liebe“ beschreibt die melodische Linie „allargando“ und mit einem Crescendo versehen wieder eine Anstiegsbewegung in Sekunden, der zunächst ein Sekundfall in mittlerer Lage bei dem Wort „liebe“ nachfolgt. Das ereignet sich dann aber gleich noch einmal bei den Worten „O ja mich liebe“. Nun aber geschieht der Sekundfall wieder in der höchsten Lage des Liedes (wie zuvor bei „Frühling“).


    Hier erreicht das Lied den Höhepunkt seiner Expressivität, denn dieser Sekundfall ist nicht nur in beiden Schritten gedehnt und steht wieder im Dreivierteltakt, in der Harmonik erfolgt auch eine – geradezu überraschende – Rückung nach C-Dur. Wieder wird das von einem lang gehaltenen arpeggierten Akkord begleitet. Bei den nachfolgenden Worten „Liebe mich immer“ beschreibt die melodische Linie eine mit Portati versehene Fallbewegung, die in ihren Schritten auch deshalb so gewichtig wirkt, weil diese im Dreivierteltakt erfolgen. Der nachfolgende gedehnte Sekundfall setzt die Abwärtsbewegung fort, und die Liedmusik verleiht der lyrischen Aussage aus diesem Grund hier die Anmutung einer eindringlichen Beschwörung.


    „Dolce“, so lautet die Anweisung für den Vortrag der letzten Melodiezeile. Die Vokallinie steigt erneut in Sekunden an, macht dann aber einen Quartsprung wieder zu dem hohen „A“, von dem aus zuletzt der so expressive Sekundfall bei dem Wort „Liebe“ erfolgte. Nun aber beschreibt die melodische Linie eine überaus lieblich wirkende melismatische Fallbewegung in Gestalt von Achteln, die zweimal erfolgt, beim zweiten Mal um eine Terz tiefer ansetzend, denn Mahler lässt das Wort „immerdar“, abweichend von Rückert, wiederholen, um ihm noch mehr Gewicht zu verleihen. Diese melodische Schlussfigur wirkt wie eine klangliche Krönung des Liedes. Das auch deshalb, weil der melodische Anlauf dazu über die Subdominante erfolgt. Wie in diesem Lied üblich, vollzieht das Klavier im Diskant die melodische Bewegung mit.


    Im viertaktigen Nachspiel lässt es seine wehmütig klingende terzen- und sextenbetonte Akkordfolge in b-Moll-Harmonik erklingen, die am Ende aber wieder in einen fünfstimmigen Es-Dur-Akkord mündet.

  • Auch dieses Lied gehört zu meinen Favoriten, allerdings in der Orchesterfassung Es hat zwar einen Dichter zum Verfasser (Friedrich Rückert), aber im Grunde ist es doch im "Volkston" gehalten

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zit.: "... allerdings in der Orchesterfassung". ...


    ... die aber nicht von Mahler stammt, lieber dr. pingel.
    Ursprünglich hatte ich vor, gleich auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, habe das dann aber in die Nachbetrachtung zu diesem Lied hineingenommen.

  • Dieses Lied ist im Grunde eine Gelegenheitskomposition. Es ist ein Geburtstagsgeschenk Mahlers für seine ihm gerade erst vor wenigen Monaten angetraute Gattin Alma. Er bezeichnete es selbst als „Privatissimum“ und fügte hinzu, dass es „das erste Liebeslied“ sei, das er „geschrieben“ habe, - so der Bericht von Alma Mahler. Instrumentiert wurde es von ihm selbst nicht, – als einziges dieser Rückert-Liedergruppe. Die vorliegende Orchesterfassung wurde auf Wunsch des Verlages C.F. Kahnt nach Mahlers Tod von dem Leipziger Komponisten und Kritiker Max Puttmann angefertigt. Man darf wohl davon ausgehen, dass Mahler, eben weil dieses Lied für ihn eine wesenhaft private, intime Komposition darstellte, eine Orchestrierung für unangebracht, ja für nicht angemessen und vertretbar hielt.


    Natürlich legt dieser Sachverhalt nahe, nach biographischen Bezügen in diesem Lied zu suchen und seinem Charakter als individuelle, höchst persönliche musikalische Aussage nachzuspüren. Und diesbezüglich gibt es einiges, was durchaus zum Nachdenken über derlei Fragen anregt: Etwa der hochgradig emphatische Ton, in den es am Ende mündet, und der in einem auffälligen Kontrast zur Rückung in das Tongeschlecht Moll an der Stelle steht, an der Rückerts lyrischer Text die „Jugend“ anspricht. Immerhin war die Beziehung zwischen Mahler und seiner – wesentlich jüngeren! – Frau damals noch nicht so gefestigt, dass er sich ihrer einigermaßen sicher sein konnte. In ihren Worten hört sich das unter Bezugnahme auf ihre gemeinsamen Sommerferien in Maiernigg 1902 so an:
    „Er zweifelt nun an meiner Liebe (…). Und wie oft habe ich selbst daran gezweifelt (…). Jetzt vergehe ich vor Liebe – und im nächsten Moment empfinde ich nichts.“


    Kann dieses Lied in seiner emphatischen Aufgipfelung am Ende mit der Kumulation des Begriffs „Liebe“ in Gestalt von Substantiv und Verb als Beschwörung dieser Liebe auf dem Hintergrund aller Zweifel daran verstanden werden? Und wenn ja, - erschöpft es sich in diesem seinem biographischen Kontext?
    Die zweite Frage lässt sich mit einem klaren Nein beantworten. Etwas anderes ist im Grunde ja auch gar nicht zu erwarten, geht man von dem künstlerisch-kompositorischen Selbstverständnis Mahlers aus. Schließlich ist dieses Lied – es entstand vermutlich im Sommer 1902 und wurde am 29. Januar 1905 uraufgeführt - Bestandteil der im Jahre 1905 von ihm publizierten „Sieben Lieder aus letzter Zeit“. Und ein Gustav Mahler veröffentlicht kein musikalisches Werk, wenn es nicht eine relevante künstlerische Aussage und die sie in adäquater Weise zum Ausdruck bringende kompositorische Faktur aufweist.


    Was die erste Frage anbelangt, so kann man sie ganz gewiss bejahen, - mit einer wichtigen Einschränkung freilich. Das Lied begegnet seinem Hörer tatsächlich als höchst beeindruckende Beschwörung der Liebe, - einer Liebe, die sich nicht aus vordergründig-sekundären, weil vergänglichen Aspekten wie „Schönheit“, „Jugend“ und „Schätzen“ generiert, sondern aus sich selbst, der Liebe eben. Und das tut es, weil ihm eine behutsam anwachsende Expressivität eigen ist, die auf ihrem Höhepunkt zunächst in Sekundschritten, dann aber mit einem Sextsprung unter harmonischer Rückung nach C-Dur bei den Worten „O ja, mich liebe“ in ein überraschendes Piano umschlägt. Überraschend ist dieses Piano, weil man hier eigentlich eine mit einem Crescendo einhergehende emphatische Aufgipfelung der Liedmusik erwarten würde.


    Dieses Crescendo gibt es auch, es ist aber eines, das sich Bereich eine ausdrücklich hier vorgeschriebenen Pianos ereignet, und überdies geht es noch mit dem melodischen Sekundfall auf dem Wort „liebe“ in ein Decrescendo über. Und Mahler macht noch ein Weiteres an liedmusikalischem Understatement: Er gestattet an dieser Stelle dem Klavier nur einen einzigen, beide Takte ausfüllenden und pianissimo(!) zu realisierenden vierstimmigen Arpeggio-Akkord in C-Dur.


    Im Gedicht Rückerts ist das der lyrische Höhepunkt. Mahler nimmt die Liedmusik aber mit einem Sekundfall in den Bereich eines Pianos zurück. Und darin ereignet sich die über das Persönliche hinausgehende und die Ebene der allgemeinen Relevanz erreichende musikalisch-künstlerische Aussage. Das lyrische Ich wird sich bewusst, dass die Worte „O ja, mich liebe“ eine Bitte, ein Wunsch, ein Begehren ist, das eigentlich nicht hätte ausgesprochen werden dürfen, - weil Liebe als Geliebt-Werden ihrem Wesen nach ein Geschenk ist.

  • Obgleich die Orchesterfassung dieses Liedes nicht von Mahler stammt, sondern nach seinem Tod von Max Puttmann im Auftrag des Verlags C.F. Kahnt) angefertigt wurde, habe ich sie – wie üblich – der Nachbetrachtung zugrundegelegt, - freilich ohne dieses Mal über die Partitur zu verfügen.
    Ich hörte mir die Aufnahme mit Thomas Hampson und den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein an, - und war enttäuscht. Nicht der Interpretation wegen – Hampson gestaltet das Lied sängerisch großartig und von Bernsteins Mahler bin ich seit eh und je begeistert -, vielmehr aus Gründen der Instrumentation. Hier wird klanglich viel zu dick aufgetragen. Das Lied fällt in dieser Orchesterfassung völlig aus dem Rahmen der im Grunde kammermusikalisch angelegten Liedmusik von Mahlers Rückert-Liedern. Es gerät – für mich - dadurch hart in die Nähe von musikalischer Süßlichkeit. Dies vor allem am Ende, wenn die Streicher die zunächst ansteigenden und dann langsam in Kaskaden fallende melodische Linie auf den Worten „Dich lieb´ ich immer, immerdar“ begleiten und die Hörner das Nachspiel dazu intonieren. Der melodischen Aussage wird oft ein zu starker klanglicher Akzent verliehen, vor allem bei den lyrischen Schlüsselwörtern „Schönheit“, „Jugend“, „Schätze“ und „Liebe“. Das singuläre Ereignis in diesem Lied, der dynamisch hoch differenzierte Sekundfall „A>G“ bei („ja mich“) „liebe“, bei dem in der Klavierliedfassung ja eine Viertelpause in die melodische Linie tritt und auch der arpeggierte Akkord im Klaviersatz ausklingt, wirkt hier in der Orchesterfassung durch das zweimalige Auftreten der Harfe und das Hinzutreten der Streicher klanglich so überladen, dass das, was Mahler musikalisch damit zum Ausdruck bringen wollte – siehe vorangehenden Beitrag - , nicht mehr recht vernehmlich ist.


    Nun weiß ich natürlich nicht, da ich die Original-Partitur nicht kenne, ob bei dieser Aufnahme gegen deren Vorgaben Puttmanns in der Orchester-Besetzung verstoßen und dabei zahlenmäßig übertrieben wurde. Aber alle anderen Aufnahmen, durch die ich mich, in Ermangelung weiterer eigenen, bei YouTube durchhörte ( Marilyn Horne, Magdalena Kozena, Susan Graham, Maureen Forrester, Jessye Norman), klangen, was den Umfang der Orchesterstimmen angelangt, diesbezüglich ähnlich, so dass davon auszugehen ist, dass die Orchesterfassung im Original diese kompositorische Faktur aufweist. .
    Und da bleibt für mich nur festzustellen: Die Fassung für Singstimme und Klavier bringt den Geist der Liedkomposition weitaus besser zum Ausdruck.
    Für mein Empfinden, muss ich hinzufügen. Denn dass man diese Orchesterfassung auch anders hören kann, hat gerade dr. pingel zum Ausdruck gebracht..

  • Um noch einmal auf den biographischen Aspekt dieses Liedes zurückzukommen. Für Alma Mahler war es „ein lieber Scherz“. Ob man es als ersten Hinweis auf die problematische Beziehung zwischen Mahler und ihr hören und verstehen kann, sei dahingestellt, - ich neige aus den oben dargestellten Verständnis des Liedes nicht dazu. Aber etwas anderes regt mich noch einmal zu Gedanken über dieses Lied an. Kurz vor der Verlobung mit Alma, die Mahler der Generalintendanz am 28.Dezember 1901 mitteilte, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden. Mahler hatte ihr tatsächlich das Komponieren „verboten“. Sie erklärte sich bereit dazu, allerdings widerwillig und unter Tränen. Viel später, lange nach Mahlers Tod, kommentierte sie das mit den Worten: „Ich habe damals meinen Traum begraben. Vielleicht ist besser so gewesen (…) Irgendwo aber brannte eine Wunde in mir, die niemals ganz verheilt ist.“


    Warum lasse ich mich hier darauf ein? Weil diese Alma Schindler selbst Lieder komponiert hat. Insgesamt vierzehn sind es, die erst viel später publiziert wurden. Texte von Rilke, Heine, Bierbaum, Dehmel, Hartleben und Falke liegen ihnen zugrunde. Mahler dürfte einige davon gekannt haben. Und ich frage mich: Was mag der Grund für dieses „Verbot“ des Komponierens gewesen sein? Es könnte ja durchaus einen ganz simplen Grund haben, einer der sich aus dem damaligen Rollenverständnis von Frau und Mann in der Ehe ergab: Dass nämlich die Frau eines Komponisten, Dirigenten und Hofoperndirektors gefälligst nicht selbst zu komponieren hat. Ich schätze Mahler aber viel zu sehr als hoch sensiblen und rücksichtsvollen Menschen ein, als dass ich ihm dieses primitive Motiv unterstellen möchte. Ich sehe den Grund eher in der Liedmusik Almas, die Mahler im Grunde für verwerflich halten musste.


    Hört man sich diese Lieder an, etwa in repräsentativer Weise das – darunter herausragende! – Lied „Die stille Stadt“ auf einen lyrischen Text von Richard Dehmel, dann wird rasch klar: Alma Schindlers Liedmusik ist in ihrer ausgeprägten Chromatik stark von Richard Wagner beeinflusst und steht darin einem konträren Verhältnis zur wesenshaft diatonischen Liedmusik Mahlers. Gerade dieses Lied „Liebst du um Schönheit“ ist ja geradezu die ideale Verkörperung dieses diatonischen Grundansatzes, auf dem Mahlers Liedmusik basiert und der darin eine Art Leitlinien-Funktion hat.


    Das Lied „Die stille Stadt“ (das ich für eine beachtliche und beeindruckende Komposition halte) generiert seine musikalische Aussage aus der chromatisch fallenden melodischen Linie, der eine in Dur harmonisierte und mit Aufwärtstendenz und Sprüngen versehene Linie entgegentritt. Darin greift das Lied – und das ist wirklich kompositorisch gekonnt ausgeführt – die Polarität der lyrischen Bilder auf, mit denen Dehmel diese „stille Stadt“ charakterisiert: Nebel drücken auf sie, kein Laut dringt aus dem Rauch, da plötzlich geht ein Lichtlein auf, und ein Lobgesang aus Kindermund setzt ein. Die auf einem hohen „D“ einsetzende, chromatisch fallende, in d-Moll harmonisierte und am Ende, nach einem Verharren auf einem tiefen „F“, auf einem tiefen „H“ endende melodische Linie auf den Worten „Liegt eine Stadt im Tale, / Ein blasser Tag vergeht“ fängt, zusammen mit den Achtel-Figuren des Klaviersatzes das lyrische Bild in adäquater Weise musikalisch ein und ist darin höchst einprägsam. Wie kompositorisch gekonnt Alma Mahler verfährt, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass sie bei den Worten „Von allen Bergen drücken“ die melodische Linie des Liedanfangs wiederholt, sie dann aber anders fortsetzt, weil die Worte „drücken Nebel auf die Stadt“ dies erfordern. Sie lässt sie in silbengetreuer Weise auf der tonalen Ebene eines tiefen „D“ deklamieren.


    Es würde sich lohnen, dieses Lied in seiner Faktur einer noch genaueren Betrachtung zu unterziehen. Aber das ist hier natürlich nicht der Ort dafür. Deutlich gemacht werden sollte nur: Das ist eine andere, sich an den Vorbildern Hugo Wolf und Richard Wagner orientierende Liedsprache. Mahler konnte sie nicht gutheißen, und das ist durchaus verständlich. Nicht zu verstehen und zu gutzuheißen ist freilich das Verbot, das daraus hervorging. Diese Alma Schindler war ganz offensichtlich eine begabte Liedkomponistin. Der Musikwissenschaftler W.S Smith, der zu diesen Liedern Alma Mahlers 1950 eine Untersuchung vorlegte, hat schon recht, wenn er meint, sie verdienten es nicht, nahezu vergessen zu sein. Sie würden allerdings, so fügt er hinzu „vom Sänger, vom Pianisten und vom Hörer viel verlangen.“

  • Ich muss mich korrigieren, den vorangehenden beitrag betreffend, und nutze die Gelegenheit, noch einiges zu ergänzen.
    Alma Mahler (oder welchen Familiennamen man ihr auch immer geben soll) hat nicht nur 14 Lieder komponiert, sondern etwas mehr als hundert. Überliefert sind allerdings nur tatsächlich 14, und später tauchten noch einmal drei auf. Wenn Mahler Almas Liedkompositionen kannte (wovon man wohl ausgehen darf), dann können es von den überlieferten nur diejenigen sein, die zwischen 1899 und 1901 entstanden, also
    "Die stille Stadt", Text von Richard Dehmel
    "In meines Vaters Garten", Text von Otto Erich Hartleben, sein Gedicht
    "Französisches Wiegenlied", ebenfalls von Hartleben
    "Laue Sommernacht", Text von Otto Julius Bierbaum
    "Bei dir ist es traut", Text von Rainer Maria Rilke
    "Ich wandle unter Blumen", Text von Heinrich Heine.


    Was das Motiv für das Komponierverbot anbelangt, so gibt ein Brief Aufschluss, den Mahler am 19. Dezember 1901 aus Dresden an Alma richtete. Dort heißt es dazu:
    „Wie stellst du dir so ein componierendes Ehepaar vor? Hast du eine Ahnung, wie lächerlich und später herabziehend vor uns selbst, so ein eigenthümliches Rivalitätsverhältnis werden muß? Wie ist es, wenn du gerade in ‚Stimmung‘ bist, und aber für mich das Haus, oder was ich gerade brauche, besorgen, wenn Du mir, wie Du schreibst, die Kleinigkeiten des Lebens abnehmen sollst? … Aber dass Du so werden mußt, wie ich es brauche, wenn wir glücklich werden sollen, mein Eheweib und nicht mein College – das ist sicher! Bedeutet dies für Dich einen Abbruch Deines Lebens und glaubst Du auf einen Dir unentbehrlichen Höhpunkt des Seins verzichten zu müssen, wenn Du Deine Musik ganz aufgibst, um die Meine zu besitzen, und auch zu sein?“
    Es ist also doch wohl ein wenig anders gewesen, als ich mir das in meinem Bild von dem Menschen Gustav Mahler so vorgestellt hatte.


    Der österreichische Musikwissenschaftler und Komponist Robert Schollum, der sich ausführlich mit Alma Mahlers kompositorischem Schaffen auseinandergesetzt hat ("Die Lieder von Alma Schindler-Mahler". In: Österreichische Musikzeitschrift. Wien 1979), spricht ihr eine hochgradige melodische Begabung zu. Und diesen Eindruck gewann ich auch, als ich mich im Zusammenhang mit diesem Thread ein wenig in ihre Lieder einhörte.

  • Mahler dürfte einige davon gekannt haben.


    Auch anderswo hatte ich das schon einmal gelesen ... und wenn man dann solche Stellen in dicken Büchern sucht, ist das aufwändig. Nun habe ich aber eine CD mit Liedern von Alma Mahler heraus gekramt und im Booklet diesen Text gefunden:


    »Erst 1910, während einer Ehekrise, veränderte sich seine Gesinnung. Er redigierte selbst fünf ihrer Lieder und ließ sie drucken. Während der kurzen restlichen Zeit seines Lebens setzte er sich weiterhin für ihr Schaffen ein.«


    Rückblick:
    Lob und Dank möchte ich noch für den Beitrag bezüglich Mahlers Religiosität abstatten, das war sehr informativ, man müsste sonst wohl einige Bücher lesen, um auf diesen Wissensstand zu kommen.

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  • Schrecklich, geradezu grausam, Mahlers Frauenbild! Die Frau als Sklave des Mannes. Für Alma eine Katastrophe. Ich traf mal - das war eine überraschende und sehr nette Begegnung und ein angenehmes Gespräch - Isabel Lippitz in einem Zugabteil, die Almas Lieder aufgenommen hat (ihr Mann ist übrigens der bekannte Pädagoge Lippitz).



    Schöne Grüße
    Holger

  • Vielen Dank für diese Information, lieber hart. Sie ist auch für mich von Belang, weil mein Mahler-Bild ein wenig in Schieflage geraten war, als ich auf den Brief vom 19.12.1901 stieß, aus dem ich oben zitierte.

  • Ich bin der Welt abhanden gekommen,
    Mit der ich sonst viele Zeit verdorben;
    Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
    Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.


    Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
    Ob sie mich für gestorben hält;
    Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
    Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.


    Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
    Und ruh' in einem stillen Gebiet.
    Ich leb' allein in meinem Himmel,
    In meinem Lieben, in meinem Lied.



    Nach Natalie Bauer-Lechner soll Mahler dieses Lied mit den Worten kommentiert haben: „Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt! Und: das bin ich selbst.“
    In der Tat ist Mahler ja mit seinem der Tradition verhafteten Lebensgefühl und seinen sich an Klassik und Romantik orientierenden Auffassungen von Kunst – und musikalischer im Besonderen – in Widerspruch zum Zeitgeist seiner Lebenswelt geraten und kam sich als eben dieser Zeit „abhanden gekommen“ vor. Der Griff zu diesem Rückert-Gedicht dürfte also einem hochgradig-persönlichen Motiv entsprungen sein. Und so vernimmt man auch seine Liedmusik darauf. Sie weist in ihrer Genese aus einem einzigen melodischen Motiv, das in seiner Struktur den Geist der Mahler-Melodik atmet, und in dem permanenten Umkreisen desselben, deutlichen Bekenntnis-Charakter auf.


    Wie zögerlich setzt das recht lange, nämlich elftaktige Vorspiel ein. Es mutet an, als käme die Musik tatsächlich aus der Einsamkeit des der Welt Abhandengekommen-Seins. Erst ein Sekundschritt im Diskant, im nächsten Takt ein Dreischritt mit einer Terz am Ende, dann kommt im dritten Takt über ein weiteres Terzintervall erstmals ein Ton hinzu, der die bis dahin herrschende Pentatonik überschreitet, und daraus entwickelt sich nun eine Wellenbewegung von Achteln, die in einen lang gehaltenen C-Dur-Akkord mündet, aus dem dann eine in tiefer Basslage ansetzende triolische Aufstiegsbewegung von Achteln über mehr als zwei Oktaven hervorgeht. Die Einbettung dieser Bewegung von Vierteln und Achteln im Diskant in Akkorde im Bass, die permanent in Moll-Harmonik modulieren, dann aber sich mit einem Mal in einem Dur-Akkord aufhellen (C-Dur, F-Dur), um danach wieder ins Moll zurückzufallen, wirkt, als würde die Musik atmen. Und das in der Stille, denn alles spielt sich im Pianissimo ab. Auf klanglich beeindruckende Weise führt dieses Vorspiel zu dem hin, was sich mit dem Einsatz der melodischen Linie ereignet: Das Sprechen des lyrischen Ichs aus der Stille der Einsamkeit.


    Und in der Tat: Die Melodiezeile auf den Worten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ wirkt im genuinen Sinne sprachgeboren, - und sie ist in ihrer Struktur darin eine typische Mahler-Schöpfung. Es ist eine Wiederbegegnung, die sich für den Hörer hier ereignet: Die Achtelbewegungen zu Beginn des Vorspiels erklingen wieder, nur dieses Mal nicht zögerlich, sondern in einem ruhigen Anstieg aus tiefer Lage über das Intervall einer Sexte (wie im dritten Takt des Vorspiels) zu einem „A“ in mittlerer Lage. Das trägt eine lange Dehnung bei dem Wort „Welt“, die dann, wie man das ebenfalls schon aus dem Vorspiel kennt, in eine Wellenbewegung von Achteln übergeht, die am Ende, bei der zweiten und dritten Silbe von „gekommen“ in einen gedehnten Terzfall mündet. Hier rückt die Harmonik vom anfänglichen F-Dur nach C-Dur. Dies aber nur für einen Augenblick. Die wie im fünften Takt des Vorspiels aus tiefer Basslage nach oben steigenden Achtel bringen eine Modulation nach d-Moll mit sich.


    Was man an dieser Melodiezeile, die sich als Keimzelle der gesamten Melodik des Liedes entpuppt, als so typische Mahler-Musik empfindet, das ist, dass sie anmutet, als ereigne sich in ihr ein Einatmen, Atem-Anhalten und Ausatmen. Die letzte Melodiezeile, die auf den Worten „in meinem Lied“, empfindet man in ihrer Struktur und ihrem klanglichen Charakter wie eine Ergänzung dieser ersten, - im Sinne einer Vollendung und eines Abschlusses. Es ist der große Sekundschritt aufwärts und der abwärts, die beide den maßgeblichen klanglichen Akzent setzen. Und darin erweist sich diese Liedmusik tatsächlich als Mahler-typisch. Dieser Sekundschritt auf- und abwärts gehört ganz offensichtlich zu dem, was man die „Vokabeln“ seiner Musik genannt hat (Eggebrecht). Man begegnet ihm in seiner melodisch konstitutiven Form im Lied „Abschied“ („Lied von der Erde“), im „Adagietto“ der Fünften und im ersten Satz der Neunten Symphonie. Th. W. Adorno meint zu dem Sekundschritt nach unten bei Mahler: „Er ist der sich senkenden Stimme abgehorcht, melancholisch wie der Sprechende, der Endungen fallen läßt.“


    Die beiden nächsten Melodiezeilen (Verse zwei und drei) sind in Moll harmonisiert (d-Moll. g-Moll): Im Rückblick auf das ehemalige Leben „in der Welt“ spricht das lyrische Ich von „verdorbener Zeit“ und bekennt, dass „die Welt“ von ihm lange nichts mehr vernommen habe. Beide melodische Linien sind von Sekundschritten geprägt, und eine Anmutung von Wehmut mit einem leicht schmerzlichen Unterton ist ihnen eigen. Die erste steigt zwar mit einem Quart- und zwei Sekundsprüngen in hohe Lage auf, beschreibt aber danach eine lang gestreckte ruhige Fallbewegung in regelmäßigen Sekundschritten über das Intervall einer Septe. Die zweite besteht aus einem ebenfalls ruhigen Auf und Ab von Achteln und Vierteln in mittlerer Lage. In beiden Fällen ereignet sich am Ende eine harmonische Rückung: Bei der ersten Zeile ist es eine nach C-Dur, bei der zweiten eine von g-Moll nach e-Moll. Dieses lyrische Ich klagt nicht über den Verlust des Lebens „in der Welt“. Es scheint einverstanden zu sein mit seiner Situation der Abgeschiedenheit und blickt mit leiser, aber in keiner Wese schmerzlicher, vielmehr von Gelassenheit geprägter Wehmut zurück.


    So meint man auch das viertaktige Zwischenspiel zu vernehmen, das diese melodische Aussage im Nachklang kommentiert. Eine Kette von Achteln, in die zweimal zwei Sechzehntel eingelagert sind, bewegt sich wellenartig aus hoher Lage über eine None in tiefe. In mehrfacher Modulation bewegt sie sich dabei in Moll- und verminderter Harmonik. Diese Fallbewegung erfolgt ruhig, nur im ersten und im dritten Schlag des Viervierteltakts von einem bitonalen Akkord im Bass akzentuiert. Jegliche schmerzliche Expressivität geht ihr ab, leise Wehmut kann man aus ihr heraushören.


    Wenn das lyrische Ich über sich und sein Verhältnis zur „Welt“ spricht, wie das in den Versen vier bis sieben geschieht, so lassen die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung recht deutlich vernehmen, dass der Abschied ein endgültiger ist, eine radikale Trennung von der Welt, die einem Gestorben-Sein gleichkommt, und vom lyrischen Ich nicht beklagt, sondern akzeptiert wird. Immer dann, wenn es dies zum Ausdruck bringt und auf seine gegenwärtige Situation Bezug nimmt, wechselt das Tongeschlecht von Moll nach Dur. Zwar ist der in hohe Lage ausgreifende melodische Bogen auf den Worten „ich sei gestorben“ in Moll harmonisiert (a-Moll), aber die Melodiezeile auf diesem Vers setzt in F-Dur ein. Bemerkenswert ist, dass die melodische Linie auf diesen Worten in ihrer bogenförmigen Anlage derjenigen ähnelt, die auf den Worten „mit der ich sonst viele Zeit verdorben“ liegt, - nur dass sie nun nicht in d-Moll, sondern in C- und F-Dur steht und auf ihrem Höhepunkt bei dem Wort „gar nichts“ eine dieses akzentuierende Dehnung trägt. Auch die wiederum in hohe Lage aufsteigende, dann aber nicht mehr in mittlere abfallende, sondern auf einem gedehnten kleinen Sekundfall endende Melodiezeile auf den Worten „Ob sie mich für gestorben hält“ steht in Dur (B-Dur, C-Dur). Das kurze Zwischenspiel davor erklingt freilich in f-Moll. Auch wenn das lyrische Ich seine Identifikation mit seiner augenblicklichen existenziellen Situation mit Dur-Harmonik und strukturell ähnlichen, immer bogenförmig nach oben ausgreifenden melodischen Linien – wie auch noch einmal bei den Worten „ich kann auch gar nichts sagen dagegen“ – zum Ausdruck bringt, der leicht elegische, wehmütige Unterton, der sich mit dem Rückblick einstellt, lässt sich nicht ganz verdrängen. Im Klaviersatz meldet er sich immer wieder einmal, genauso aber auch der aufwärts gerichtete Schritt der großen Sekunde. Aber auch die in Dur harmonisierten Melodiezeilen modulieren partiell nach Moll.
    (Fortsetzung folgt)

  • Vielen Dank für diese Information, lieber hart. Sie ist auch für mich von Belang, weil mein Mahler-Bild ein wenig in Schieflage geraten war, als ich auf den Brief vom 19.12.1901 stieß, aus dem ich oben zitierte.


    Lieber Helmut, so ging es mir auch, als ich in einer Mahler-Biographie mit diesem Brief konfontiert wurde. Man ist geneigt, sich einen Komponisten, dessen Werke man über alles schätzt und in dessen Musik man eine Seelenverwandtschaft zu erkennen glaubt, auch sonst als Lichtgestalt zu denken. Aber so sehr Mahler auch in mancher Hinsicht außerhalb des Geistes seiner Zeit gestanden haben mag: im Hinblick auf sein Rollenverständnis von Mann und Frau war er offenbar ganz ein Kind seiner Zeit und weit von einem emanzipierten Frauenbild entfernt, wie wir es heute haben. Auch sonst war er natürlich ein Mensch mit Ecken und Kanten, mit positiven wie auch negativen Charaktermerkmalen.


    Die Ehekrise, die auf Almas Affäre mit Walter Gropius folgte (und Mahler zu einer Analyse durch Sigmund Freud veranlasste), hat dann sicher einiges ins Wanken gebracht und die Beziehung der beiden auf eine neue Grundlage gestellt..

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Noch viel schlimmer als Mahler war Janacek, der seine Frau betrog und schikanierte, so oft er konnte. Allerdings hatten beide den Tod ihrer beiden Kinder zu verkraften, was das aber nicht entschuldigt. Im Alter kam dann seine Muse, Kamilla Stösslova dazu, immerhin eine verheiratete Frau; diese Beziehung war aber wohl rein platonisch. Janaceks Hund hieß "Cert", was Teufel bedeutet. Ich glaube, dass es in dieser Familie zwei certs gegeben hat. Übrigens war Janacek auch fanatischer Nationalist für die tschechische Seite, da zählte es nicht, dass seine Frau Deutsche war und sein deutscher Schwiegervater so manchen Taler zu ihm hat hinüberrollen lassen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zit.: „…im Hinblick auf sein Rollenverständnis von Mann und Frau war er offenbar ganz ein Kind seiner Zeit und weit von einem emanzipierten Frauenbild entfernt, wie wir es heute haben.“
    Ja, gewiss, lieber Bertarido, so sehe ich das auch und hüte mich deshalb, diesbezüglich ein moralisierendes Urteil über ihn zu fällen.


    Ich bin ja auf dieses Thema allererst im Zusammenhang mit dem Lied „Liebst du um Schönheit“ gekommen, das – nach dem Zeugnis von Alma Mahler – ihr gewidmet ist und von dem Mahler angeblich gesagt haben soll, es sei ein „Privatissimum“ und „das erste Liebeslied“ sei, das er „geschrieben“ habe. Das wiederum brachte mich auf die Vermutung, dass, hinter Mahlers Kompositionsverbot für Alma möglicherweise sein Urteil über deren Liedkomposition stehen könnte, und so ließ ich mich auf eine kurze vergleichende Betrachtung und einige spekulative Gedanken diesbezüglich ein.


    Es interessiert mich hier also in erster Linie – ja ausschließlich – Mahlers Liedmusik. Freilich ist es eines meiner Grundprinzipien, immer, wenn ich mich dem Liedschaffen eines Komponisten in Gestalt eines Threads hier widme, mich auch in dessen Biographie gründlich zu vertiefen. Gerade Liedkomposition ist ja – allerdings von Komponist zu Komponist in unterschiedlichem Grad – musikalischer Ausdruck personalen Denkens und Fühlens. Und so lasse ich denn, wenn dies sachlich angezeigt ist, auch biographische Aspekte in meine Liedbetrachtungen einfließen. Aber eben nur dann!


    Gerade das eben anstehende Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, dessen Besprechung ich morgen fortsetzen werde, ist ja bei Mahler – nach seinem eigenen Geständnis - in hohem Maße Ausdruck eigener „Empfindung bis in die Lippen hinauf“. Alma berichtet übrigens, er habe dabei an die Grabmäler von hohen Geistlichen in Italien gedacht und sie ruhig mit gefalteten Händen auf ihren Grabplatten abgebildet liegen sehen.

  • Melodisch und harmonisch herausgehoben wirkt das Bekenntnis „Denn wirklich bin ich gestorben, gestorben der Welt“. Harmonisch, weil hier eine Rückung nach A-Dur erfolgt. Melodisch, weil Mahler die Worte „denn wirklich“ durch eine Achtelpause vom Rest der Melodiezeile absetzt, das Wort „wirklich“ auf einem Quartfall deklamieren lässt und es auf diese Weise mit einem starken Akzent versieht. Danach bewegt sich die melodische Linie in mittlerer Lage, beschreibt aber am Ende bei dem Wort „Welt“ einen Sekundsprung, der wiederum einen Akzent setzt, weil er mit einer Rückung nach D-Dur verbunden ist. Ein fünftaktiges Zwischenspiel folgt nach, das zur dritten Liedstrophe überleitet. Zunächst erklingt eine wieder in Moll stehende Fallbewegung von Achtel-Vierergruppen, aber vom dritten Takt an geht das Klavier zur Artikulation der zögerlich in Sekunden ansteigenden Achtelfiguren über, mit denen das Vorspiel einsetzt. Sie gehen aber im letzten Takt in eine erst fallende, dann in eine mit einem arpeggierten Akkord eingeleitete ansteigende Folge von Achteln über, die in C-Dur-Harmonik steht und in ihrer dominantischen Funktion zum Einsatz der melodischen Linie überleitet, die nun in F-Dur einsetzt.


    Das lyrische Bild am Anfang der letzten Strophe ist geprägt von den Worten „ich ruh´“ und „stillen Gebiet“, und die melodische Linie wirkt mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz in ihrer Struktur und ihrer Klanglichkeit ganz und gar darauf ausgerichtet. Das Klavier lässt über tiefen Oktaven im Bass lang gehaltene Akkorde im Diskant erklingen. Die Singstimme deklamiert in ruhigen Schritten eine ebenfalls in tiefer Lage ansetzende und sich erst bei dem Wort „Weltgetümmel“ in Sekunden über eine Quinte in mittlere Lage erhebende melodische Linie. Bei den Worten „und ruh´ in einem stillen Gebiet“ beschreibt sie dann allerdings zwei Fallbewegungen, die erst auf einem „B“ in mittlerer Lage, danach aber um eine Terz höher ansetzen und auf diese Weise dem Bild einen starken Nachdruck verleihen, - dies auch deshalb, weil der gedehnte Sekundfall bei dem Wort „Gebiet“ am Ende mit einer Rückung aus vorübergehend verminderter Harmonik nach d-Moll verbunden ist. In Moll setzen auch die Terzenfiguren ein, die im Diskant das kurze Zwischenspiel füllen. Im Bass werden sie von triolisch aus tiefer in hohe Lage aufsteigenden und wieder fallenden Achteln begleitet.


    Bei den beiden letzten Versen führt die Tatsache, dass das lyrische Ich bekenntnishaft von sich selbst und seiner Daseinsbefindlichkeit spricht, dazu, dass die melodische Linie in einzelne kleine Zeilen untergliedert wird, die dadurch eine hohe musikalische Expressivität entfalten, dass die Singstimme sich in ausgeprägt ruhiger Deklamation langen melodischen Dehnungen überlässt, die meist am Ende der Zeile stehen und in Gestalt von Sekundschritten abwärts auftreten. Nur einmal, bei der Wiederholung des Worten „Lieben“, beschreibt die melodische Linie einen gedehnten Quartfallt, der, auch weil er mit einer Rückung nach F-Dur verbunden ist, diesem Wort großen Nachdruck verleiht. Überhaupt spielen die harmonischen Rückungen und Modulationen hier – wie aber generell im ganzen Lied - eine große Rolle bei der Genese der musikalischen Aussage. Der Mahlersche Sekundfall ist eben allemal einer, der nicht nur als ein melodischer, sondern auch als ein harmonischer auftritt, - im Sinne einer Auflösung des Vorhalts. In der kleinen Melodiezeile auf den Worten „ich leb allein“ wird das Wort „allein“ mittels eines gedehnten Sekundfalls mit einem Akzent versehen. Die Tonart ist hier C-Dur, aber das gedehnte „F“ auf der ersten Silbe nimmt man als in F-Dur harmonisiert wahr.


    Bei dem gedehnten Sekundfall in oberer Mittellage auf dem Wort „Himmel“ ereignet sich eine Rückung nach g-Moll, und bei der ersten Deklamation des Wortes „Lieben“ mutet der gedehnte Sekundfall ähnlich an wie bei „Himmel“. Er ist in F-Dur harmonisiert. Mahler wiederholt die Worte „in meinem Lieben“, um diese lyrische Aussage mit einem Akzent zu versehen. Das Mittel dazu ist eine Steigerung der Expressivität der melodischen Linie durch eine höher ansetzende und in ihren Intervallen erweiterte Fallbewegung. Ein arpeggierter Akkord geht ihr voraus, und im gedehnten Quartfall bei „Lieben“ ereignet sich wieder eine Rückung von der Subdominante zur Tonika.


    Im Pianissimo werden die letzten lyrisch-musikalischen Bekenntnisse abgelegt. Das gilt auch für die letzte kleine Melodiezeile auf den Worten „in meinem Lied“. Die melodische Linie beschreibt eine Fallbewegung in mittlerer Lage über eine Terz und zwei Sekunden, wobei auf der ersten Silbe von „meinem“ eine leichte Dehnung liegt. Und der Sekundfall ist wieder einer, der als Auflösung eines Vorhalts vernommen und erfahren wird. Die Harmonik rückt von C- nach F-Dur. Die Melodik des Liedes endet wie ein großes Ausatmen.


    Im Nachspiel lässt das Klavier sie noch einmal nach- und ausklingen, indem es im Diskant über einem klanglichen Bett aus lang gehaltenen und z.T. arpeggierten Akkorden die einzelnen Melodiezeilen der letzten beiden Verse nachzeichnet.
    Ein Ausklingen ist dieses Nachspiel, und doch ist es zugleich mehr. Immer wieder vernimmt man den abwärts gerichteten Sekundschritt, zwölf Mal insgesamt. Auch der letzte Schritt, vollzogen in einem lang gehaltenen arpeggierten Akkord, ist ein solcher. Man hat in diesem Nachspiel gerade das ganze Lied noch einmal vernommen, - in all seinen so überaus eindringlichen, gleichsam aus tiefer Seele kommenden lyrisch-musikalischen Aussagen.

  • Dieses Lied ist auch in gleichsam äußerlicher Einsamkeit entstanden. Ernst Decsey merkt dazu an: „Ich bin der Welt abhanden gekommen, dieses einsame Stück war, wie er (Mahler) sagte, tatsächlich in der tiefsten Einsamkeit (…) oben im Wald von Meierling entstanden.“ Es müsste freilich korrekt heißen: „im Wald von Meiernigg“, denn Mahler hat das Lied in seinen Sommerferien im Jahre 1901 dort komponiert. Aber man darf vermuten, dass er diese äußerliche Einsamkeit dort als Gleichnis für seine innere erfahren hat, - und eben deshalb zur Komposition dieses Liedes regelrecht gedrängt wurde.
    Es entstand wohl, nach dem Bericht von Natalie Bauer-Lechner, im August 1901. Bei ihr liest man dazu:
    „Nachdem Mahler schon seine heutige Ferienarbeit (…) abgeschlossen hatte, um die letzten paar Tage der Erholung zu widmen, ergriff ihn noch die Komposition des letzten, gleich anfangs geplanten, aber zu Gunsten der (Fünften) Symphonie liegen gelassenen Rückertschen Gedichts >Ich bin der Welt abhanden gekommen<“.
    Das liest sich, als sei dieses Lied eine gleichsam nebenbei, nach Abschluss der eigentlichen, der sinfonischen Hauptarbeit entstandene Komposition. Und das mutet erst einmal wunderlich an, vernimmt man sie doch tatsächlich als ein tief eigenes Selbstbekenntnis. Und das ist sie ja auch. Viele Quellenzeugnisse belegen das. An Alma schrieb er im Mai 1905:
    „Ich genieße es ordentlich, daß Du so >der Welt abhanden gekommen bist<. Da kommt doch immer der echte Mensch heraus (Natürlich, wenn ein solcher drin stak).“
    Und im August 1910 sandte er an sie die Verse:
    „O liebe mich! – Du meines Sturms Gewinn!
    Heil mir – ich starb der Welt – ich bin im Hafen.“
    Aber „nebenbei entstanden“ ist dieses Lied natürlich in gar keiner Weise. Einmal abgesehen davon, dass der Begriff „Ferienarbeit“ bei Mahler eigentlich unangebracht ist, denn „Ferien“ von seiner Sendung als Komponist gab es für ihn gar nicht, - dieses Lied steht in seiner musikalischen Aussage und seiner kompositorischen Substanz in unmittelbarer Nähe zur – gerade abgeschlossenen – Arbeit an der Fünften Symphonie. Ihr „Adagietto“ stellt eine instrumentale Ausarbeitung seiner melodischen Substanz dar. So dass man eigentlich sagen könnte: Mahler hat in ihm seine Arbeit an der „Fünften“ fortgesetzt.


    Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Mahler dieses „der Welt Abhanden-gekommen-Sein“, mit dem ja das „Leben im meinem Lied“ einhergeht, weil dieses nur unter dieser Voraussetzung möglich ist, als Wesensmerkmal seiner künstlerischen Existenz verstanden und auch gelebt hat. Das Bekenntnishafte dieses Liedes schlägt sich in seiner ganz spezifischen Eigenart nieder: Es wirkt wie aus einem einzigen Motiv gezeugt, aus dem es, in Gestalt einer über Variationen und Modifikationen erfolgenden Ausarbeitung seiner melodischen und harmonischen Substanz seine musikalische Aussage generiert und seine innere Einheit gewinnt. Es ist die melodische Figur, die auf den anfänglichen Worten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ liegt. Bei ihr handelt es sich um eine genuin Mahlersche Schöpfung. Fast könnte man von einem musikalischen Markenzeichen sprechen, so oft begegnet man ihr in seinem Werk.


    Ihr klangliches Wesensmerkmal ist die Binnenspannung von steigender und fallender großer Sekunde. Hier, in diesem Lied, erweist sich der große Sekundschritt auf den Worten „Ich bin“ als die eigentliche klangliche Substanz des Liedes, die am Ende - in dem Sekundfall der melodischen Linie auf den Schlussworten „meinem Lied“ und der gedehnten fallenden Sekunde, in die das Nachspiel mündet – so etwas wie ihre Erfüllung zu finden scheint. Ihre klangliche Relevanz beziehen die steigende und die fallende große Sekunde bei Mahler auch – wie man es in diesem Lied ja vernehmen und erleben kann – von daher, dass sich dabei auch um ein harmonisches Ereignis handelt, - dies im Sinne einer harmonischen Vorhalt-Funktion. H.H. Eggebrecht hatte also guten Grund, den Ganzton abwärts unter die „Vokabeln“ einzureihen, aus denen sich für ihn die Musik Mahlers wesenhaft konstituiert.


    Faszinierend – und zweifellos ein strukturelles Merkmal seiner liedkompositorischen Größe – ist, dass man das Wachstum seiner melodischen Keimzelle im Vorspiel miterleben kann. Und hier nun – aber nicht nur hier – erweist sich die Orchesterfassung der für Singstimme und Klavier deutlich überlegen. Nachdem die Harfe ein tiefes „C“ hat erklingen lassen, setzt das Englisch-Horn mit der Pianissimo-Artikulation des Sekundschritts „G>A“ ein. In der nachfolgenden Viertelpause lassen die Violen eine lang gehaltene Terz erklingen, und dann setzt das Englisch-Horn erneut mit diesem Sekundschritt ein, nun ihn allerdings um einen Terzschritt fortführend und erweiternd. Die zwei Fagotte leiten dabei eine melodische Fallbewegung ein, die sie weiterführen, während das Englisch-Horn erneut, also zum dritten Mal, mit seinem Sekundschritt einsetzt und nun dem ersten Terzschritt einen weiteren hinzufügt, der in eine Dehnung mündet. Inzwischen hat auch das F-Horn mit einem aufsteigenden Terz- und Quartschritt eingesetzt, und während nun das Englisch-Horn zur Artikulation einer fallenden und wieder steigenden Achtel-Bewegung übergeht, lassen die Fagotte und das F-Horn ihrerseits einen gedehnten Sekundschritt erklingen. Und bevor in Takt elf die Singstimme mit ihrem Sekundschritt auf den Worten „Ich bin“ einsetzt, lassen die ersten Violinen genau dieses schrittweise Anwachsen einer melodischen Linie aus der großen Sekunde heraus, wie es anfangs das Englisch-Horn vernehmlich werden ließ, noch einmal erklingen. Das ist, weil es sich in kammermusikalischer Intimität vollzieht, ein zweifellos unmittelbar ansprechendes und darin in Bann schlagendes musikalisches Ereignis.


    Und es wiederholt sich ja noch einmal, im Nachspiel nämlich, - und wie einer Art ausklingender Umkehrung des Anfangs. Nachdem die Singstimme die in einer Terz und zwei Sekunden fallende und in eine Dehnung mündende melodische Linie auf den Worten „in meinem Lied“ vorgetragen hat, lässt das Englisch-Horn den Anfang der sekundenbetonten melodischen Linie auf den Worten „ich bin gestorben dem Weltgetümmel“ erklingen. Die ersten Violinen übernehmen die Fortsetzung derselben und gehen dann, im Zusammenspiel mit den zweiten Violinen, den Violen und den Celli in eine gedehnte weil in ganzen und halben Noten sich über drei Takte erstreckende Fallbewegung über. In den Ausklang dieser Bewegung auf einem lang gedehnten „A“ der ersten Violinen fällt das Englisch-Horn mit einem pianissimo artikulierten, aber deutlich vernehmlichen gedehnten Sekundfall „A>G“ ein, - der Umkehrung des Sekundschritts, mit dem es das Lied eingeleitet hat. Er tritt hier auf als Vorhalt des Schluss-Akkords und wirkt darin wie eine Hinführung des Lieds zu seinem wirklichen Ende.
    Und als Hörer dieses Liedschlusses meint man, gerade dem Adagietto der Fünften Symphonie gelauscht zu haben und von den Sekund-Senkungen, an denen es so überreich ist, noch ganz und gar in Bann geschlagen zu sein.

  • Der existenzielle Bezug, den dieses Lied nach Mahlers eigenem Bekenntnis („Das bin ich selbst“) aufweist, lässt es für den Hörer zu einer tief beeindruckenden unmittelbaren Begegnung mit ihm selbst als Menschen werden. Aber es erschließt noch ein Weiteres: Einen tiefen Einblick in das Wesen seiner Liedmusik, - ja seiner Musik überhaupt, schließlich ist die Nähe dieses Liedes zum Adagietto der „Fünften“ nicht nur unüberhörbar, sondern auch in Gestalt der Dominanz des exponierten Sekundschritts in der Faktur konkret nachzuweisen.


    Paul Bekker spricht beim Adagietto von einem „Traum der Einsamkeit, der Weltvergessenheit, des Sichverlierens im eigenen Wesen“. Sein Schluss führe „wie in eine warme, beruhigende Dunkelheit“ hinein. „Wunsch- und schmerzlose Stille“ sei eingetreten, „die Seele hat ihr Heim gefunden, sie ist zu sich selbst gelangt. Der Wille schweigt.“
    Damit ist das Gefühl, sind die Empfindungen, die sich beim Hörer einstellen, gewiss höchst treffend beschrieben und die Wesenszüge dieser Musik erfasst. Aber ich denke: Das gilt für das Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ und insbesondere für sein Nachspiel mindestens ebenso, wenn nicht in noch höherem Maße.


    Was ereignet sich hier? Das wurde im vorangehenden Beitrag ja bereits in der analytischen Betrachtung der Partitur in detaillierter Weise dargestellt. Was dabei aber zu kurz kam, und deshalb einer nachträglichen Reflexion bedarf, das ist die musikalische Aussage dieses Nachspiels. Hans Heinrich Eggebrecht hat sich in intensiver Weise darauf eingelassen, und davon profitieren auch die Gedanken, die von meiner Seite an dieser Stelle in den Thread eingebracht werden.


    Dass im dritten Takt des Nachspiels die Violinen das Englisch-Horn bei der Rekapitulation der melodischen Linie auf die Worte „Ich bin gestorben dem Weltgetümmel / Und ruh´ in einem stillen Gebiet“ ablösen, wurde oben ja bereits dargestellt. Was dabei außer Betracht blieb, war einerseits der klangliche Aspekt, andererseits aber auch die textliche Stelle, an der das geschieht. Zunächst zum klanglichen Aspekt. Violinen lösen das Englisch-Horn ab. Und das heißt: Ein Instrument, dem ein Ton von elegisch-schöner Traurigkeit innewohnt, wird von einem abgelöst, das einen beseligenden Ton zu generieren vermag. Mahler selbst sprach von den „beruhigenden und beseligenden Violinen“, und Hector Berlioz spricht in seiner Instrumentationslehre im Hinblick auf das Englisch-Horn davon, dass sein Klang geeignet sei, „die Gefühle der Abwesenheit, der Vergessenheit, der schmerzlichen Vereinsamung“ zu erwecken. Und zur textlichen Stelle ist anzumerken: Die Violinen übernehmen an der melodischen Stelle, an der die Singstimme das Wort „ruh“ deklamiert.


    Hans Heinrich Eggebrecht bezeichnet das Nachspiel als den „unverzichtbaren Höhepunkt des Liedes“. Darin möchte ich ihm zwar nicht folgen, aber dieses erscheint mir an diesem so kurzen Ende des Liedes doch bemerkenswert:
    Das Nachspiel begegnet dem Hörer als eine gleichsam komprimierte, auf den wesentlichen Kern gebrachte Wiedergabe des musikalischen Gehalts des vorangehenden Liedes auf rein instrumentaler Ebene: Versinken in die traurig-schöne Aura der Abgeschiedenheit (Englisch-Horn) und beseligter Lobpreis des Lebens im Lied (Violine). Und darin enthüllt sich das Wesen von Mahlers Liedmusik in ihrem gleichsam dialektischen Verhältnis zu seiner sinfonischen Musik. Ein Lied ist für Mahler ein Umsetzen von lyrischem Text in Musik mit der Intention, das kognitive und emotionale Potential, das er aufweist, mit eben deren Mitteln zu erfassen und in diesem Zusammenhang den Text in seiner semantischen Tiefe zu erschließen.


    Dieser Prozess der Musikalisierung von lyrischem Text erreicht bei ihm eine klangliche Dichte, Intensität und Tiefe, dass sich die Musik vom lyrischen Text zu emanzipieren vermag, ohne dabei ihren Bezug zu dessen sprachlicher Struktur und seiner Semantik zu verlieren. Sie kann unter Preisgabe des zugrunde liegenden Textes in sinfonische Musik eingehen oder diese generieren, und gleichwohl bleibt der Textbezug, die Genese aus dem lyrischen Wort also, in jedem Augenblick präsent und vernehmlich.

  • Um Mitternacht
    Hab ' ich gewacht
    Und aufgeblickt zum Himmel;
    Kein Stern vom Sterngewimmel
    Hat mir gelacht
    Um Mitternacht.


    Um Mitternacht
    Hab ' ich gedacht
    Hinaus in dunkle Schranken.
    Es hat kein Lichtgedanken
    Mir Trost gebracht
    Um Mitternacht.


    Um Mitternacht
    Nahm ich in Acht
    Die Schläge meines Herzens;
    Ein einz'ger Puls des Schmerzens
    War angefacht
    Um Mitternacht.


    Um Mitternacht
    Kämpft´ ich die Schlacht,
    O Menschheit, deiner Leiden;
    Nicht konnt´ ich sie entscheiden
    Mit meiner Macht
    Um Mitternacht.


    Um Mitternacht
    Hab´ ich die Macht
    In deine Hand gegeben!
    Herr! Über Tod und Leben
    Du hältst die Wacht
    Um Mitternacht!



    Das ist – wie auch „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ und „Urlicht“ – ein Lied, das als hochgradiges künstlerisches Bekenntnis Mahlers aufzunehmen und zu versehen ist. Und vielleicht erklärt dies auch seinen spezifischen Charakter, mit dem es aus der Gruppe der „Rückert-Lieder“ herausragt. Sind diese in der Orchesterfassung eigentlich kammermusikalisch angelegt, so setzt dieses zwar auch so ein, in geradezu unvermittelter Art bricht es aber in einen großen, ja gewaltigen klanglichen Gestus aus, der eher opernhaft als liedhaft anmutet. Es mag sein, dass in diese Komposition die Erfahrung einer lebensbedrohlichen Krankheit eingegangen ist, die Mahler im Februar 1901 machte, stärker aber dürfte ihn zum Griff nach diesem Wunderhorn-Text das Sich-Wiederfinden darin in seiner Haltung und Stellung als Künstler und Mensch in seiner Lebenswelt motiviert haben. Dem Wunderhorn-Gedicht liegt der literarische Topos „Mitternachtsstunde“ zugrunde, den Mahler ganz sicher von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und Goethes „Faust“ her kannte. Die künstlerische Auseinandersetzung damit dürfte letztendlich für die aus der Gruppe der anderen herausragende Faktur dieses Liedes verantwortlich sein.


    So eingängig und beeindruckend die Liedmusik vom ersten Takt an wirkt, in Melodik und Klavier- bzw. Orchestersatz ist sie strukturell einfach angelegt. Bestimmte Motive kehren immer wieder, und dazwischen beschreibt die melodische Linie ruhige, größere Sprünge oder Abstürze meidende Bewegungen, und das Klavier beschränkt sich auf die Artikulation von Einzeltönen, Oktaven und Akkordfolgen, denen ebenfalls große Ruhe innewohnt. Es ist die Ruhe und Stille der mitternächtlichen Situation, die die Liedmusik hier klanglich evoziert, und umso beeindruckender, ja betroffen machender ist dann der Ausbruch der Liedmusik in geradezu extreme Expressivität, wie sie sich unvermittelt in der letzten Gedichtstrophe ereignet.


    Im dreitaktigen Vorspiel klingt pianissimo eines der Motive auf, die das Lied klanglich strukturieren und ihm seinen spezifischen Charakter verleihen. Es ist die rhythmisierte, weil aus einem Wechsel von einem punktiertem Viertel und einem Achtel bestehende Aufeinanderfolge von bitonalem Sext- und Terzakkord. Da diese aber im Tongeschlecht Moll (h-Moll) stehen, mutet dieses klangliche Motiv an wie ein leiser wehmütiger Ruf aus der Ferne in die mitternächtliche Stille, in der das lyrische Ich alsbald in den monologischen Ausdruck seiner Gedanken und seelischen Regungen eintreten wird. Auf diese Figur folgt ein dreistimmiger h-Moll-Akkord, aus dem sich eine Kette von Vierteln im Bass löst, die langsam in die Tiefe sinkt. Es ist die klangliche Evokation der mitternächtlichen Situation, in der das lyrische Ich sich befindet, - und in das es eingebunden ist, wie die melodische Figur zeigt, mit der die Singstimme einsetzt. Sie ist in ähnlicher Weise rhythmisiert wie die des Vorspiels, und sie erweist sich ebenfalls als strukturierender Faktor des Liedes im Bereich der Melodik.


    Mit Ausnahme der zweiten Strophe werden die alle Strophen einleitenden Worte „Um Mitternacht“ auf dieser Figur deklamiert: Eine Folge von Tönen auf nur einer tonalen Ebene, von der sich nur der dritte Ton um eine Sekunde nach oben erhebt. Die Rhythmisierung ergibt sich aus den jeweiligen Notenwerten: Ein Viertel, eine punktierte ganze Note, wieder ein Viertel und erneut eine ganze Note folgen aufeinander. Diese melodische Figur entfaltet ebenfalls eine große evokative Kraft: Man vernimmt in ihr leises, verhaltenes, in sich zurückgenommenes monologisches Sprechen. Es ist ein Sprechen in der Stille der Nacht, in der es kein Gegenüber gibt, - daher das ruhige Verbleiben der melodischen Linie auf nur einer tonalen Ebene mit einem nur kurzen und kleinen Ausbrechen daraus. An der Art und Weise, wie sie von dieser Grundstruktur, mit der sie einsetzt, im folgenden abweicht, wird sich vernehmen lassen, wie stark das lyrische Ich von seinen Gedanken und Emotionen innerlich bewegt und ergriffen ist, so dass es sich melodisch in die Expression gedrängt sieht.


    In der ersten Strophe ereignet sich das noch nicht. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie in ruhigen Schritten eine bogenförmige Bewegung: Die erste weit gespannt und mit einer Dehnung auf dem Wort „Himmel“ aufgipfelnd, die zweite kürzer phrasiert und in eine Kombination aus Sekund- und Quartfall bei dem Wort „Mitternacht“ mündend. Durchweg liegt Moll-Harmonisierung vor (mit Modulationen von h-, über e-, fis-, und zurück nach h-Moll). Das lyrische Ich spricht die Tatsache, dass es so allein und einsam ist, dass ihm nicht einmal ein Stern vom Himmel zugelacht hat, im Ton stiller ruhiger Klage aus. Das sechstaktige Zwischenspiel setzt wieder mit dem Sexten-Terzen-Ruf des Vorspiels ein, dem dann auch die Fallbewegung von Vierteln folgt – nur dieses Mal weiter gespannt und in tiefere Lage führend.


    In der zweiten Strophe beginnt das lyrische Ich, über die Beschreibung seiner Situation hinausgehend, von sich selbst und seinen existenziellen Problemen zu sprechen. Die Folge ist, dass die melodische Linie sich etwas lebhafter bewegt, größere tonale Räume durchschreitet und am Ende gar in eine expressive, in hoher Lage ansetzende chromatische Fallbewegung übergeht (bei „kein Lichtgedanken mir Trost gebracht“). Das lyrische Ich erfährt sich in seinem in die Ausweglosigkeit führenden „hinausdenken in dunkle Schranken“ als eminent trostbedürftig. Dieser Trost wird ihm jedoch nicht zuteil, und die Liedmusik reflektiert dies mit einem Übergang von dem ruhig-deskriptiven Ton der ersten Strophe zu einem eher Schmerzlichkeit zum Ausdruck bringenden der zweiten. Selbst die Worte „um Mitternacht“ erfahren eine stärkere Akzentuierung, auch dadurch, dass Mahler sie zwischen den dritten und vierten Vers einschiebt und sie auf einer gedehnt in Sekunden fallenden Melodiezeile zu deklamieren sind, die von zwei sie exponierenden langen Pausen gerahmt ist.


    Beim einleitenden „um Mitternacht“ steigt die melodische Linie hingegen in gewichtigen (halbe Noten!) Schritten an, - hinweisend auf die Bedeutsamkeit dessen, was sich in dieser mitternächtlichen Situation ereignet. Bemerkenswert ist, dass die melodische Linie auch hier zunächst in h-Moll einsetzt, die Harmonik aber schon am Ende der Aufstiegsbewegung nach H-Dur rückt und dann auch beim Emporsteigen in hohe Lage und beim bogenförmigen Fall (bei „hinaus in dunkle Schranken“) die Dur-Harmonik erhalten bleibt (H-Dur, Fis-Dur, A-Dur). Dieses „Hinausdenken“ ist für das lyrische Ich ein aktiver Akt der Orientierung in seiner Welt. Erst mit der Erfahrung des Scheiterns dabei tritt wieder das Tongeschlecht Moll in die Harmonik der melodischen Linie. Beim „um Mitternacht“ am Ende dieser Strophe deklamiert die Singstimme wieder müde auf nur einer tonalen Ebene mit dem vereinzelten Sekundschritt nach oben, - und das in h-Moll.


    Die dritte Strophe setzt mit der melodischen Figur, die – mit einer Ausnahme – durchweg auf den anfänglichen Worten „Um Mitternacht“ liegt. Und hier, wie auch in den beiden noch folgenden Strophen, kann man an der Art und Weise, wie sich die melodische Linie von der Bindung an die tonale Ebene eines tiefen „Fis“ löst, vernehmen, was sich seelisch im lyrischen Ich in dieser mitternächtlichen Situation ereignet. Bei dem Vers, in dem es um die „Schläge des Herzens“ geht, steigt sie in ruhigen Schritten, die teils gedehnt, teils Doppelschritte sind, über das Intervall einer Septe in hohe Lage empor und beschreibt am Ende einen gedehnten Sekundfall. Das ist ein eher konstatierender Gestus, und dementsprechend herrscht auch Dur-Harmonik vor (A-Dur. E-Dur). Ganz anders bewegt sich die Vokallinie, wenn das lyrische Ich von dem „Puls des Schmerzens“ spricht, der um Mitternacht „angefacht“ wurde. Wieder ist es die bogenförmig in Sekunden steigende, wieder fallende und am Ende in den gedehnten Sekundschritt der Figur „Um Mitternacht“ mündende Bewegung, die die Vokallinie nun beschreibt. Das „Um Mitternacht“ erklingt dieses Mal um eine ganze Quarte tiefer und in der cis-Moll-Harmonisierung klanglich so bedrückend-dunkel, dass man es als Ausdruck der seelischen Finsternis empfindet, in der das lyrische Ich sich gefangen sieht.
    (Fortsetzung folgt)

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