Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • Die Zeit der „Humoresken“ ist um. In Mahlers Liedmusik ist die es wahren Lebens, oder, wie Adorno das so treffend nannte, die des „schlechten Weltlaufs“ ist angebrochen. Und der, der sich hier darin versucht, ihre Gestalt zu beschreiben und ihr Wesen zu erfassen, muss erstmals eingestehen, - und er müsste das (was explizit nicht der Fall sein wird) nachfolgend noch mehrfach tun : Es war ein Fehler, sich ihr über die Klavierlied-Fassung zu nähern. Konnte man bei den vorangehenden Liedern noch von einem Plus an musikalischer Expressivität sprechen, die mit der Orchesterfassung in die Liedmusik kommt, so ist das bei diesem Lied erstmals – und in eindeutiger und beeindruckender Weise – nicht der Fall. Die Orchesterfassung ist, was ihre musikalische Aussage anbelangt, der für Singstimme und Klavier nicht nur überlegen, man ist sich sicher, wenn man beide hintereinander hört: Das Lied kommt in dem, was es zu sagen hat, allererst in der Orchesterfassung zu sich selbst.


    Damit soll nicht gesagt sein, dass man diese liedmusikalische Aussage in der Klavierfassung nicht vernimmt. Die obige Vorstellung und Kommentierung beruht ja darauf. Man vermag das, was Mahler mit diesem Lied musikalisch sagen wollte, auch der Fassung für Singstimme und Klavier zu entnehmen, das Orchester erschließt aber mit seinen klanglichen Möglichkeiten Dimensionen, die dem Klavier von seinem klanglichen Ausdruckmöglichkeiten her verschlossen bleiben müssen. Mahler hat sich ja selbst zu dem geäußert, was das Lied zum Ausdruck bringen will. Er maß ihm als musikalisches Kunstwerk große Bedeutung zu und hatte ursprünglich vor, es als zweiten Satz in seine Vierte Symphonie einzubringen, gleichsam als Kontrapunkt zu deren Finale, dem „Himmlischen Leben“. Daraus wurde dann zwar nichts, dass er aber dieses Lied aber ganz eindeutig als Parabel des menschlichen Lebens in seiner existenziellen Wesenhaftigkeit verstand, ist diesen seinen Worten zu entnehmen:
    „Das Nötigste, dessen Geist und Leben zum Wachstum bedürfen“ werde immer wieder hinausgeschoben, „bis es – wie bei dem toten Kind – zu spät ist. Und ich glaube, dass das in den unheimlichen, wie im Sturm dahinsausenden Tönen der Begleitung, dem qualvollen Angstruf des Kindes und der langsamen, eintönigen Erwiderung der Mutter – des Geschickes, das sich mit der Erfüllung unseres Schreies nach Brot ja nicht zu beeilen braucht – charakteristisch und furchtbar zum Ausdruck kommt.“


    Mahler hat in diesem Kommentar das Stichwort dafür geliefert, warum dieses Lied, auch wenn es zunächst als Klavierlied konzipiert wurde, von vornherein als Orchesterlied gedacht und kompositorisch konzipiert war. Diese „unheimlichen, wie im Sturm dahinsausenden Töne der Begleitung“, die ja ein die liedmusikalische Aussage wesenhaft konstituierender Faktor sind, insofern sie die Schicksalhaftigkeit des Geschehens, das existenziell Relevante daran, klanglich imaginieren, vermag nur das Orchester in dem bei diesem Lied so überaus kontrastreichen Zusammenspiel seiner Instrumentengruppen zu generieren.


    Nun soll – und kann – aber nicht das ganze Lied unter diesem Aspekt noch einmal in Augenschein genommen werden. Ein kurzer exemplarischer Zugriff auf einzelne Passagen sollte genügen. Das so eigentümliche klanglich irisierende Leiern, mit dem das Lied im Vorspiel einsetzt und in dem sich eben dieses unabwendbare Ausgeliefert-Sein des menschlichen Lebens an übergeordnete Mächte musikalisch ausdrückt, gewinnt seine so überaus große Eindringlichkeit allererst im Zusammenspiel von Holzbläsern und Streichern, die in permanentem Wechsel Fallbewegungen, Sekundanstiege und bitonale Intervalle artikulieren. Diese wie mechanisch anmutende Abfolge von klanglichen Einzelfiguren gewinnt erst dadurch ihre geradezu bedrückende Wirkung, dass sie in den verschiedenen Gruppen des Orchesters in dialogischer Weise zum Ausdruck gebracht wird.


    Die chromatische Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten des Kindes („Mutter, ach Mutter…“) wird vom Englisch-Horn und dem Fagott mitvollzogen und gewinnt auf diese Weise in ihrem bittenden Klageton hohe Eindringlichkeit. Die Violinen setzten derweilen weiter die Artikulation ihrer Sechzehntel-Figuren fort, erzeugen damit eine untergründige Unruhe und gehen dann, wenn das Kind zu seinem „gib mir Brot“ übergeht, mit einem Mal zu ihren nach oben schießenden und wieder fallenden Sechzehntel-Ketten über, die der Bitte des Kindes Nachdruck verleihen. Auch die zweiten Violinen, die Violen, die Fagotte und die Hörner fallen an dieser Stelle in die Liedmusik ein, und mit ihren nach oben gerichteten klanglichen Figuren wird der melodische Oktavsprung mit nachfolgender kleiner Sekunde und Dehnung auf den Worten „sonst sterbe ich“ allererst zu einem wirklich Schrei um Hilfe. Die nachfolgenden, fallenden und zu der melodischen Linie auf den Worten der Mutter überleitenden Figuren der Oboen und Klarinetten muten an wie eine in ein Weinen übergehendes Fortsetzen der Bitte und eine Hinführung zu dem wie ritualisiert wirkenden Ton, den die Mutter nun anschlägt.


    Dass man es in den dreizehn Takten, die sich an den über die melodische Linie des Kinder-Hilferufs aufgreifenden Fortissimo-Ausbruch der melodischen Linie bei dem Wort „Totenbahr´“ mit einer geradezu kühnen, alle traditionellen Formen sprengenden Liedmusik zu tun hat, wird allererst in der Orchesterlied-Fassung voll und ganz sinnfällig. Von der Trompete eingeleitet und von den Hörnern mit in die Verminderung fallenden Doppelterzen getragen, brechen die Holzbläser und die Streicher in einen wahrlich turbulenten klanglichen Sturm aus, der danach dann aber in einer geradezu erschreckenden Weise langsam klanglich erstirbt, bis am Ende nur noch ein mit dem Schwammschlegel erzeugtes Pianissimo-Geräusch des Beckens übrig bleibt.
    Ein Kind ist Hungers gestorben. Die Liedmusik lässt in ihrem Kommentar dazu nach- und mitvollziehen, was sich da gerade Schreckliches ereignet hat. Und das kann sie nur mit all den Orchester-Instrumenten, die ihr in der entsprechenden kompositorischen Fassung dafür zur Verfügung stehen.

  • Antonius zur Predigt
    Die Kirche find´t ledig!
    Er geht zu den Flüssen
    und predigt den Fischen!
    Sie schlag´n mit den Schwänzen,
    Im Sonnenschein glänzen, sie glänzen.


    Die Karpfen mit Rogen
    Sind all´ hierher zogen,
    Hab´n d'Mäuler aufrissen,
    Sich Zuhör´ns beflissen.
    Kein Predigt niemalen
    Den Fischen so g'fallen!


    Spitzgoschete Hechte,
    Die immerzu fechten,
    Sind eilends herschwommen,
    Zu hören den Frommen.


    Auch jene Phantasten,
    Die immerzu fasten:
    Die Stockfisch ich meine,
    Zur Predigt erscheinen!
    Kein Predigt niemalen
    Den Stockfisch so g'fallen.


    Gut Aale und Hausen,
    Die vornehme schmausen,
    Die selbst sich bequemen,
    Die Predigt vernehmen!


    Auch Krebse, Schildkroten,
    Sonst langsame Boten,
    Steigen eilig vom Grund,
    Zu hören diesen Mund!
    Kein Predigt niemalen
    Den Krebsen so g'fallen


    Fisch´ große, Fisch´ kleine,
    Vornehm´ und gemeine,
    Erheben die Köpfe
    Wie verständ´ge Geschöpfe!
    Auf Gottes Begehren
    Die Predigt anhören!


    Die Predigt geendet,
    Ein jeder sich wendet!
    Die Hechte bleiben Diebe,
    Die Aale viel lieben.
    Die Predigt hat g'fallen.
    Sie bleiben wie Allen!


    Die Krebs geh´n zurücke,
    Die Stockfisch bleiben dicke,
    Die Karpfen viel fressen,
    die Predigt vergessen!


    Die Predigt hat g'fallen,
    Sie bleiben wie Allen!
    Die Predigt hat g´fallen, hat g´fallen!



    Aus den neun Strophen des Wunderhorn-Gedichts hat Mahler ein Lied gemacht, das aus vier in sich noch einmal gegliederten Großstrophen besteht, wobei die dritte davon drei Gedichtstrophen umfasst. Das Lied steht in d-Moll als Grundtonart, ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Behäbig, mit Humor“. Humorvoll ist diese Komposition, ihre Aussage läuft freilich hinaus auf eine recht giftige Satire über das Verhalten der menschlichen Gesellschaft allen Versuchen gegenüber, sie mittels Predigt, Sprache und Rede also, in ihrem Verhalten unter dem Aspekt der Moralität beeinflussen zu wollen. In einer regelrecht sarkastischen Weise lässt Mahler das Lied in der dreifachen Versicherung ausklingen, dass die Predigt „gefallen“ habe, - alle jene, die sie gehört haben, aber geblieben sind, der sie vorher waren. Thema Mahlers ist also wieder, wie im vorangehenden Lied, der schicksalhafte Weltlauf, und aus diesem Grund liegt der melodischen Linie auch hier eine fortlaufende Sechzehntel-Figur im Klavierdiskant zugrunde, die allerdings nun eine stärkere Binnendifferenzierung aufweist. Sie hat aber dieselbe Funktion wie dort: Die klangliche Suggestion des schicksalhaft-unabänderlichen und den Menschen gewaltsam in sich einbeziehenden Laufs der Welt.


    Stockend, wie in einer Art Anlauf setzt der Fluss der Sechzehntel ein: In die Achtelpause, die zwischen den staccato angeschlagenen Folgen eines „D“ auf ein tiefes „A“ im Klavierbass liegen, lagern sich vom vierten Takt des Vorspiels an Achtelfolgen im Diskant an, die z.T. mit einem Vorschlag versehen sind. Die melodische Linie der Singstimme setzt, in d-Moll harmonisiert, in tiefer Lage ein (auf einem tiefen „A“) und kehrt, nach einem Anstieg in ruhigen Schritten, erst einmal dorthin wieder zurück, bevor sie dann bei den Versen drei und vier mit etwas lebhafteren Bewegungen in höhere Lage aufsteigt. Dabei moduliert die Harmonik vorübergehend nach C-Dur und B-Dur, hellt sich also ein wenig auf. Am Ende, bei dem Wort „Fischen“, ist sie aber wieder bei ihrem d-Moll angelangt.


    Die Melodik weist hier einen deskriptiv-erzählenden Gestus auf, der, weil der Schwerpunkt der Deklamation immer auf dem Taktanfang liegt, die Imagination des zur Tat schreitenden Heiligen auslöst. Die Sechzehntel-Figuren folgen der Bewegung der melodischen Linie und verstärken damit ihr imaginatives Potential. In das Bild von den Fischen, die im Sonnenschein glänzen und mit den Schwänzen schlagen, scheint sich die Liedmusik regelrecht zu verlieben. Die Zielstrebigkeit, die ihr bei den ersten Versen innewohnte, gibt es nicht mehr: Sie geht in den Gestus der Wiederholung einzelner Bewegungen über. Zunächst ist es eine aufwärts gerichtete bogenförmige Figur (bei „schlag´n mit den Schwänzen“), die, nun höher aufsteigend, wiederholt wird, und danach geht sie bei den permanenten Wiederholungen des Wortes „glänzen“ in einen gleichsam taumelnden Abstieg über, der in Gestalt einer langsam sinkenden Figur aus zweischrittigem Terzanstieg besteht. Auch hier folgen die Sechzehntel im Diskant der melodischen Linie, wobei sie das anfänglich, um dem hellen Sonnenschein-Bild gerecht zu werden, als Terzen tun. Die Harmonik moduliert auch hier wieder zwischen A-Dur und d-Moll, die taumelnde Fallbewegung der Melodik erhält aber eine starke Akzentuierung durch eine von „G“ über „F“ nach „Es“ sich absenkende Harmonik.


    Bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe wiederholen sich Melodik und Klaviersatz des Liedanfangs. In dem Augenblick aber, wo es um das Bild von den ihre Mäuler aufreißenden Karpfen geht, nimmt die melodische Linie eine neue Struktur an. Um diesem Bild gerecht werden zu können und auch das vom „Zuhören“ zu berücksichtigen, beschreibt sie zweimal eine Aufstiegsbewegung aus einer Kombination von Terz und Quarte. Die Harmonik pendelt dabei zwischen C-Dur und F-Dur hin und her, und das verleiht dem Innehalten der melodischen Linie bei dem Wort „beflissen“ die Anmutung einer Erwartung, was nun passieren würde. Das Klavier nutz die fünftaktige Pause, die nun für die Singstimme eintritt, um erst einmal seine Sechzehntel-Figuren aus hoher Lage langsam in tiefere absinken zu lassen, sie aber am Ende dann in eine aufwärtsgerichtete Sechzehntel-Figur überzuleiten, die gleichsam den Auftakt bildet zu dem, was die Singstimme nun vorzutragen hat.


    Das ist eine seltsam wehleidig leiernde Melodei, die da bei den Worten „Kein´ Predigt niemalen den Fischen so g´fallen“ erklingt, - von einer fast zweitaktigen Pause unterbrochen. Nach Mahlers eigenen Worten ist das ein Niederschlag böhmischer Tanzmusik. Er meinte: „In viele meiner Sachen ist die böhmische Musik meiner Kindheitsheimat mit eingegangen. In der >Fischpredig< ist mir´s besonders aufgefallen. Das nationale Moment, welches darin steckt, läßt sich in seinen rohesten Grundzügen aus dem Gedudel der böhmischen Musikanten heraushören.“ Im Anschluss an die Feststellung, dass die Predigt den Fischen wie keine andere je gefallen habe, ergeht sich das Klavier in einem fünfzehntaktigen Kommentar dazu, bei dem nun die Sechzehntel-Figuren aus großer Höhe in stark chromatischer Verfremdung langsam in die Tiefe sinken, dann das Ganze, nun in Gestalt von Terzen, nun noch einmal vollziehen, um dann am Ende in die wie eine Sich-im-Kreise-Drehen wirkende Wiederholung der gleichen Figur überzugehen. Das Klavier veralbert, so meint man zu vernehmen, was die Singstimme grade feststellte. Es lässt ein höhnisches
    Gelächter erklingen.


    Das alles wiederholt sich bei der zweiten Strophe, in der es nun um die Hechte und die Stockfische geht, in ähnlicher Weise. Die melodische Linie setzt wieder wie am Liedanfang ein, reflektiert aber dann in ihren Bewegungen die Aussage des lyrischen Textes und die zugrundeliegenden Bilder. Bei den Worten „Auch jene Phantasten, die immerzu fasten“ beschreibt sie zum Beispiel zwei in hoher Lage ansetzende Fallbewegungen, die zweite um eine Terz höher gelagert, und geht dann bei dem Wort „Stockfisch´“ in ein stocksteifes Auf und Ab über. Die Harmonik moduliert in dieser Liedstrophe zwischen d-Moll, F-, B- und C-Dur und mündet bei dem Wort „erscheinen“ in ein A-Dur, das wieder wie eine klangliche Öffnung zu dem wirkt, was nachfolgt. Es ist die schon bekannte böhmische Tanzmusik-Melodie, und ihr folgt wieder der Kommentar des Klaviers. Er wirkt dieses Mal noch höhnischer, denn die chromatische Fallbewegung der Sechzehntel-Terzen senkt sich nun fortissimo in klanglich sehr schroff wirkende Tiefe ab.
    (Fortsetzung folgt)

  • Nun aber ereignet sich Überraschendes: Das Klavier geht unvermittelt zu einer pianissimo artikulierten Folge von Sechzehnteln über, aus der sich eine langsam ansteigende und in G-Dur harmonisierte Melodie herausschält. Sie leitet über zu der dritten Strophe, in der ein neuer Ton in das Lied kommt. Die melodische Linie wirkt nun ein wenig lieblicher im Klang, weniger stark deklamatorisch akzentuiert und infolgedessen mehr fließend. Das Klavier begleitet sie zwar wieder mit seinen Sechzehntel-Figuren, die entfalten sich aber nun ihrerseits ebenfalls in fließender Bewegung und folgen der melodischen Linie nicht, sondern umspielen sie gleichsam im Durchmessen großer tonaler Räume. Auch die Harmonik trägt zu diesem neuen Ton bei. Das Moll ist verschwunden, es taucht nur einmal kurz auf (bei „Krebse“ und „Schildkroten“), ansonsten moduliert die Harmonik geradezu bieder zwischen der Tonika G-Dur und der Dominante und Subdominante dazu. Die jeweils zentralen Figuren werden mittels einer in großen Sprüngen sich auf und ab bewegenden melodischen Linie besonders hervorgehoben: Die „Aale und Hausen“ und die „Krebse, Schildkroten“. Wenn letztere langsam „vom Grunde steigen“, steigt die melodische Linie „cantabile“ aus tiefer Lage langsam nach oben, um dann zu dem Wort „Grund“ hin wieder in eine Fallbewegung überzugehen.


    Auch die böhmische Melodei, die auf den Worten „Kein Predigt niemalen…“ liegt, wirkt nun ein wenig ernsthafter, weniger leer leiernd. Und bei den nachfolgenden Versen der siebten Strophe („Fisch´ große, Fisch´ kleine…“) geht von der melodischen Linie die Anmutung einer gewichtigen Ernsthaftigkeit aus. Ihre Bewegung ist geprägt von einem Auf und Ab über große Intervalle (vorwiegend Quinten) und geht dann bei den Worten „wie verständ´ ge Geschöpfe“ in ein ruhiges Sich-Absenken über, wobei das Es-Dur, das damit am Ende erreicht wird, wieder die klangliche Öffnung zu der nachfolgenden böhmischen Melodei auf den Worten „Auf Gottes Begehren…“ mit sich bringt. Eine dreitaktige Pause liegt wieder zwischen den beiden Melodiezeilen, und das Klavier begleitet hier zunächst mit klanglich geradezu süß wirkenden Folgen von Sexten, dann mit Terzen. Der Kommentar des Klaviers fällt dieses Mal etwas kürzer aus (nur 10 Takte), besteht aber wieder aus chromatisch fallenden Sechzehntel-Figuren, die dann in Terzen übergehen. Er soll „mit Humor“ vorgetragen werden, - ein Humor, der freilich recht sarkastisch anmutet.


    Sarkasmus ist auch der Geist, von dem die Schlussstrophe des Liedes zehrt, in der es um Bilanz geht. Die Predigt hat nichts gebracht, und die Liedmusik drückt das in einem gleichsam konstatierenden Gestus aus, dem jeglicher Beigeschmack von Betrübnis oder gar Klage abgeht. Was die Melodik anbelangt, so wirkt sie z.T. wie eine Montage aus Figuren, die in den vorangehenden Strophen Bestandteile der melodischen Linie waren. Und das macht auch letzten Endes diesen trockenen, leicht sarkastisch angehauchten Ton der Liedmusik aus. Die Worte „die Predigt geendet“ werden wieder auf der melodischen Figur deklamiert, mit der das Lied einsetzt, und sie ist auch wieder in d-Moll harmonisiert. Nach den Worten „ein jeder sich wendet“ tritt eine etwas mehr als dreitaktige Pause in die melodische Linie, um eine gewisse Erwartungshaltung sich aufbauen zu lassen.


    Die Worte „die Hechte bleiben Diebe“ werden dann auf der melodischen Figur deklamiert, die auch auf den Worten „ein jeder sich wendet“ liegt. Und bei „Die Aale viel lieben“ kehrt sie sogar noch einmal in höherer Lage zurück, - will heißen: Nichts hat sich geändert. Und das sagt die Liedmusik auch im folgenden. Unablässig wiederholen sich bestimmte melodische Bewegungen, sie wechseln dabei nur die tonale Ebene, meist in fallender Linie. Die Fallbewegung auf den Worten „hat g´fallen“, die man ja schon zur Genüge kennt, kehrt nun immerzu wieder, wobei der aus einer Sechzehntel-Bewegung hervorgehende Terzfall sich immer mehr erweitert, bis er am Ende, beim doppelten „hat g´fallen“ gar zu einem Sextfall wird, der auf das Sechzehntel-Vorspiel verzichtet und deshalb in seiner Lakonie umso sarkastischer wirkt.


    Es gibt noch andere kompositorische Details, die den untergründigen Humor verraten, den Mahler hier zum Ausdruck bringt. Bei der Feststellung „die Predigt hat g´fallen, sie bleiben wie allen“ ist die melodische Linie vorübergehend in Dur (G-Dur, F-Dur) harmonisiert, und es wird forte deklamiert. Dann aber, wenn von den Krebsen, den Stockfisch und den Karpfen im einzelnen berichtet wird, ist die immer wieder erneut in hoher Lage ansetzende und dann fallende melodische Linie in Moll gebettet (d-Moll, a-Moll, g-Moll), und die Singstimme deklamiert im Piano-Bereich.


    Die mit den Worten „Die Predigt hat g´fallen“ eingeleitete Schlusspassage, die aus einer melodischen Fallbewegung besteht und darin die ganze Schicksalhaftigkeit des Geschehens zum Ausdruck bringt, ist nun wieder in Moll harmonisiert und wird fortissimo vorgetragen. Die das Faktum bestätigen wollende Wiederholung der Feststellung wirkt in dem sich mehrfach ereignen den Auf und Ab der melodischen Linie wie der Versuch, den Sachverhalt mit Nachdruck zu versichern und zu bestätigen, - und darin in hohem Maße komisch. Mahler hat das in Moll gebettet und lässt es pianissimo vortragen.

  • Dieses Lied hat in instrumentaler Form Eingang in Mahlers Zweite Symphonie gefunden, und zwar als deren dritter Satz. Ein Blick auf den zeitlichen Ablauf des kompositorischen Schaffensprozesses lässt die Bedeutung erkennen, die Liedkomposition für Mahler hatte, und überdies erschließt er auch noch die Zusammenhänge zwischen dieser und seiner Sinfonik. Die Komposition des dritten Satzes war am 16. Juli 1893 abgeschlossen, die des Liedes in der Orchesterfassung am ersten August. Die Fassung für Singstimme und Klavier lag aber bereits am achten Juli desselben Jahres fertig vor. Der dritte Satz entstand also zwischen der Klavier- und der Orchesterfassung des Liedes. Mahler hat sich demnach gleichzeitig mit dem Lied und dem dritten Satz der Sinfonie kompositorisch befasst, und das zeigt, wie eng beides, die Musik des Liedes und die sinfonische, zusammenhängt, sozusagen eine Einheit der künstlerisch-musikalischen Aussage bildet. Und darin gründet letzten Endes der spezifische Charakter seiner sinfonischen Musik, das, was man ihre „Sprachähnlichkeit“ (Adorno) genannt hat, ihr auf „Klangrede“ ausgerichteter Grundgestus also.
    Die Liedmusik fand im übrigen voll und ganz Eingang in die der Sinfonie, bereichert allerdings – und dadurch umfangreicher geworden – durch einen Mittellteil, den man als eine Art Trio verstehen kann. Die melodische Linie der Singstimme erscheint nur gleichsam indirekt in Gestalt einzelner Partikel, die im Orchestersatz aufklingen.


    Bemerkenswert – und höchst aufschlussreich – sind die Kommentare, die Mahler zu beidem gegeben hat, - zum Lied und zum sinfonischen Satz. Und dies, weil sie, obwohl doch die musikalische Substanz in beiden Fällen im wesentlichen identisch ist, auf eine – ja nicht nur intendierte, sondern auch realisierte - deutlich voneinander abweichende musikalische Aussage hinauslaufen.
    Zum Lied meinte Mahler:
    „Der heilige Antonius predigt den Fischen, und seine Worte verwandeln sich sofort in ihre Sprache, die ganz besoffen, taumelig (in der Klarinette) erklingt, und alles kommt daher geschwommen. Ist das ein schillerndes Gewimmel: die Aale und Karpfen und die spitzgoschete Hechte, deren dumme Gesichter, wie sie an den steifen, unbeweglichen Hälsen im Wasser zu Antonius hinaufschauen, ich bei meinen Tönen wahrhaftig zu sehen glaubte, dass ich laut lachen mußte. Und wie die Versammlung dann, da die Predigt aus ist, nach allen Seiten davon schwimmt.“
    „In der Fischpredigt (…) herrscht – wie im >Himmlischen Leben< - ein etwas süßsaurer Humor (…) Die Satire auf das Menschenvolk darin werden mir aber die wenigsten verstehen.“
    Ganz anders die Charakterisierung der Musik des Sinfoniesatzes in dem Brief an Max Marschalk (26.3.1896):
    „Wenn sie aus diesem wehmütigen Traum (gemeint ist der zweite Satz der Sinfonie) aufwachen, und in das wirre Leben zurück müssen, so kann es ihnen leicht geschehen, daß Ihnen dieses unaufhörlich bewegte, nie ruhende, nie verständliche Getriebe des Lebens grauenhaft wird, wie das Gewoge tanzender Gestalten in einem hell erleuchteten Ballsaal, in den sie in dunkler Nacht hineinblicken – aus so weiter Entfernung, daß Sie die Musik hierzu nicht mehr hören! Sinnlos wird Ihnen da das Leben, und ein grauenhafter Spuk, aus dem Sie vielleicht mit einem Schrei des Ekels auffahren! – Das ist der 3. Satz.“

    Auf die Funktion des dritten Satzes im sinfonischen Kontext und die sich daraus ergebende musikalische Aussage desselben kann hier nicht eingegangen werden. Nur ein Aspekt ist dabei aus der liedkompositorischen Perspektive von Belang. Ganz offensichtlich nimmt die Liedmusik in dem Augenblick, wo sie sich von der Ebene der Semantik des lyrischen Textes ablöst und auf diese Weise eine klangliche Autonomie gewinnt, einen anderen Charakter an. Ihre Anreicherung durch zusätzliche klangliche Elemente, der „Choralton“ und die „Trompetenmusik“, wie das Analytiker dieser Sinfonie genannt haben, ist dabei – wie ich denke – von sekundärer Relevanz. Entscheidend ist, dass, weil die semantische Determination durch den lyrischen Text fehlt, die für das Lied und seine Aussage so maßgeblichen Sechzehntel-Ketten ein Eigensein gewinnen, und damit zu dem werden, was sie in der Sinfonie letzten Endes sind: Eine ins Groteske gesteigerte Walzer-Travestie, die entfernt an den zweiten Satz der „Symphonie fantastique“ von Berlioz erinnert.
    So wird verständlich, warum Mahler hier – im Unterschied zu seinem Lied – gar nicht mehr von „Humor“ spricht und davon, dass er „laut lachen“ musste, stattdessen aber von einem „Blick in das Gewoge“ eines „Ballsaals“ und in diesem Zusammenhang gar die Worte „grauenhafter Spuk“ und „Schrei des Ekels“ in den Mund nimmt.
    Klangliches „Gewoge“ und „Gewimmel“ prägen auch den Charakter des Liedes in maßgeblicher Weise, - durch die Sechzehntel-Ketten, die eine so dominante Rolle in ihm einnehmen. Der deklamatorische Grund-Gestus der melodischen Linie, wie er sich gleich am Anfang mit dem von nur kurzen Sechzehntel-Läufen unterbrochenen gleichsam stapfenden Auf und Ab von Achteln präsentiert – „Antonius zur Predigt die Kirche find´t ledig…“ – lässt aber die Assoziation einer Walzer-Travestie nicht zu, wie sie sich dann in der Sinfonie rein und ungehemmt entfalten kann.


    Man kann, wie das in der Mahler-Literatur zu finden ist, in diesem Zusammenhang durchaus davon sprechen, dass „die Sinnhaftigkeit der Musik im Lied …in die Sinnlosigkeit der gleichen musikalischen Figur in der Sinfonie umgedeutet“ werde (Michael Walter). Ich würde hier nur nicht von „Sinnlosigkeit“ sprechen, sondern das, was sich in der Sinfonie mit der Musik des Liedes ereignet, eher als Entzug von Sinnhaftigkeit durch Eliminierung des lyrisch-semantischen Kontextes bezeichnen, - darin musikalischer Ausdruck der Sinnlosigkeit des „schlechten Weltlaufs“. Weil ich denke, dass Mahler das so verstanden wissen wollte.
    Dazu wäre noch mehr zu sagen. Das hier kann aber nicht der Ort dafür sein.

  • Bei der sich wie in einem Wirbel drehenden Sechzehntel-Figur, die in diesem Lied eine so zentrale Rolle spielt, fühlte sich die Mahler-Kennerin Monika Tibbe, die sich in einer 1970 publizierten Untersuchung mit den Liedern und Liedelementen in Mahlers Sinfonie-Sätzen befasste, an das Lied „Das ist ein Flöten und Geigen“ in Schumanns „Dichterliebe“ erinnert. Und in der Tat: Auch dort lässt das Klavier im Diskant eine permanent sich um sich selbst drehende Bewegung von Sechzehnteln erklingen. Und auch der gleichsam dahinter stehende lyrische Sachverhalt ist ein ähnlicher: Das lyrische Ich sieht sich aus der betrachtenden und erlebenden Distanz einem Geschehen gegenüber, von dem es betroffen ist, das aber wie ein Prozess abläuft, auf den es aber keinerlei Einfluss hat und der darin ein fast naturgesetzlich anmutendes Eigensein aufweist, dem er sich hilflos ausgeliefert fühlt. Aber bei aller Vergleichbarkeit: Was diese musikalische Figur bei Schumann klanglich imaginiert, ist dort „nur“ ein Ereignis, in dem die „Herzallerliebste“ ihren „Hochzeitsreigen“ tanzt. Bei Mahler hat sie ein ungleich größeres imaginatives Gewicht: Sie suggeriert mit ihren klanglichen Mitteln die Unabänderlichkeit eines „schlechten Weltlaufs“ der schicksalhaft über den Menschen in seiner individuellen Existenz hinweggeht, diesen in all seinen Bemühungen um Verwirklichung seiner ideellen Entwürfe nicht nur ignoriert, sondern radikal scheitern lässt.


    Mahler hat dies in seinem Lied mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht, die sich der vordergründigen Rezeption als humorvoll präsentieren, denjenigen aber, der genauer hinhört, durchaus ein wenig frösteln lassen können. Hinter der humorvollen Fassade tritt eine sarkastische Satire über das Wesen des Menschen zutage. Die Klavierlied-Fassung macht dies dem Hörer durchaus schon voll und ganz zugänglich, die für Singstimme und Orchester konfrontiert ihn damit aber allererst in all seiner Drastik und verleiht damit der musikalischen Aussage höhere Eindringlichkeit, die stärkere emotionale und kognitive Betroffenheit auslöst


    Das beginnt ja schon mit dem Vorspiel.
    Intensiver und differenzierter als das Klavier vermag das Orchester das langsame Sich-Aufbauen der Szenerie und der sie dann dominierenden Sechzehntel-Figur klanglich zu imaginieren. Da sind zunächst die stapfenden Quarten des Kontrabasses zu vernehmen. Mit der dritten Quarte tritt das zweite Fagott ebenfalls mit Quarte hinzu, das erste mit fallenden Sekunden. Mit der vierten Quarte fallen dann die zweiten Klarinetten mit einer Vorschlagsfigur ein, mit der fünften melden sich die Celli mit fallenden Sekunden, und mit der sechsten treten die Pauken in Aktion, die Triangel meldet sich, und die Klarinetten lassen eine alternierende Sechzehntel-Figur erklingen.
    Jetzt erst, nachdem die Szene klanglich eröffnet ist, und dies in der Form, dass man die Schritte zu vernehmen meint, mit denen Antonius zu den „Flüssen“ schreitet, kann die melodische Linie der Singstimme einsetzen, - und mit ihr der leierende Fluss der Sechzehntel in den ersten Violinen. Und wenn die Singstimme dann die melodische Linie auf den Worten „Sie schlag´n mit den Schwänzen…“ deklamiert setzen die ersten und zweiten Klarinetten mit ihren fließenden Terzen diese klangliche Imagination einer Einbindung des Geschehens in eine übergeordnete Szenerie, wie sie mit der Einleitung aufgebaut wurde, fort.


    Die böhmisch inspirierte Liedmusik auf den Worten „Kein Predigt niemalen…“ entfaltet den ihr so eigenen lakonisch-banalen Charakter, und damit ihre sarkastisch-kritische Funktion im Rahmen des Liedes, allererst in der Orchester-Fassung voll und ganz. Dies deshalb, weil die melodische Linie in ihrer Bewegung durch die ersten und zweiten Violinen begleitet und ihr volksliedhaft-betulicher Gestus damit akzentuiert wird. Umso stärker kann sich dann der humorvoll-höhnische Kommentar dazu entfalten, wie er mit den Sechzehntel-Figuren der ersten Klarinette eingeleitet, dann von den Oboen fortgeführt wird und schließlich, mit den Flöten zusammen, in eine Fallbewegung von Mollterzen übergeht.


    Was die Liedmusik in ihrer orchestralen Fassung hinsichtlich der Aussage des Liedes über die Klavierfassung hinaus zu leisten vermag, wird bei der Schluss-Strophe noch einmal in besonderer Weise sinnfällig. Hier ereignet sich in der melodischen Linie („die Predigt geendet…“) ja eine Wiederkehr des Liedanfangs, - dies jedoch im Zeichen des Zerfalls und der Destruktion. Die gleichsam zerstückte Wiederkehr von Elementen der vorangehenden Melodik gewinnt in ihrem sarkastisch-konstatierenden Gestus besondere Eindringlichkeit dadurch, dass die Bewegungen der melodischen Linie von den verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters in einerseits akzentuierender, andererseits aber auch wie in nachäffender Weise aufgegriffen werden. So begleiten die Klarinetten Singstimme bei den Worten „Die Hechte bleiben Diebe, die Aale viel lieben“ mit einer strukturell ähnlichen melodischen Figur, und die ersten und die zweiten Violinen lassen die Fallbewegung, die ihr innewohnt, im Nachhinein in gleichsam verdichteter Weise erklingen. Und dies alles auf dem Untergrund der immer gleichen klanglichen Figuren, wie sie die Violen, die Celli und die Kontrabässe artikulieren und damit auf ihre Weise die Unabänderlichkeit des Weltenlaufs musikalisch insinuieren.


    Wenn die Singstimme am Ende mit der sich wiederholenden Sprung- und Fallbewegung die Worte deklamiert „Die Predigt hat g´fallen“, dann begleiten sie dabei die ersten und zweite Flöten und die ersten Violinen mit der permanent sich wiederholenden Figur aus Quartsprung und Oktavfall. Und in eben dieser Figur verklingt dann auch das Lied, indem sie, sich langsam in die Tiefe senkend und dabei das Fall-Intervall verkleinernd, ihren musikalischen Geist aufgibt. Zurück bleiben ein einsamer Ton des Horns, des Kontrabasses und der Piano-Schwammschlegel-Schlag des Beckens.
    Im Grunde ein klangliches Nichts also.

  • Bald gras´ ich am Neckar, bald gras ich am Rhein,
    Bald hab´ ich ein Schätzel, bald bin ich allein!
    Was hilft mir das Grasen, wenn d 'Sichel nicht schneid't,
    Was hilft mir ein Schätzel, wenn´s bei mir nicht bleibt!


    So soll ich denn grasen am Neckar, am Rhein,
    So werf´ ich mein goldenes Ringlein hinein!
    Es fließet im Neckar und fließet im Rhein,
    Soll schwimmen hinunter ins Meer tief hinein!


    Und schwimmt es, das Ringlein, so frißt es ein Fisch!
    Das Fischlein soll kommen auf´s Königs sein Tisch!
    Der König tät fragen, wem´s Ringlein sollt sein?
    Da tät mein Schatz sagen: „Das Ringlein g'hört mein.“


    Mein Schätzlein tät springen bergauf und bergein,
    Tät mir wied´rum bringen das Goldringlein fein!
    Kannst grasen am Neckar, kannst grasen am Rhein!
    Wirf du mir nur immer dein Ringlein hinein!



    Diesen Titel hat Mahler dem Lied gegeben. Im Wunderhorn trägt das Gedicht den Titel „Rheinischer Bundesring“. Seine Gliederung in acht vierzeilige Strophen hat Mahler nicht übernommen. Vielmehr fasst er die beiden ersten Strophen zu einer Liedstrophe zusammen, die dritte und vierte Liedstrophe entsprechen den jeweiligen Gedichtstrophen, die fünfte Liedstrophe setzt sich aus der fünften des Gedichts und der Hälfte der sechsten zusammen, und die beiden letzten Liedstrophen enthalten das die restlichen Strophen des Gedichts.


    Zur Entstehung des Liedes findet sich in einem Brief Mahlers die Bemerkung: „Heute (…) hatte ich ein Thema im Sinne und blätterte im Buch herum und da waren die passenden Verse eines reizenden Liedes zu meinem Rhythmus bald gefunden. >Tanzreime< nenne ich´s“
    Bemerkenswert ist sie, weil sie etwas über die spezifische Eigenart von Mahlers Liedkomposition aussagt. Der Kristallisationskern der Liedmusik, das, was er „Rhythmus“ nennt, war offensichtlich schon da, bevor er auf das Wunderhorn-Gedicht stieß, das ihm in seiner sprachlichen Gestalt und Rhythmik so sehr entsprach, dass es gleichsam als Substrat für die Entstehung und Entfaltung der Liedmusik dienen konnte. Das kennt man auch von anderen Liedkomponisten, die dieser historischen Phase der Entwicklung des Liedes zugehören, - Schönberg etwa. Bei Mahler ist es ein Indiz dafür, wie sehr er bei der Liedkomposition primär von der Musik her kompositorisch denkt und gestaltet, - und nicht vom lyrischen Text. Dass die meisten Klavierlieder im Geist des Orchesterliedes komponiert und dann alsbald auch in solche umgewandelt wurden, ist nur gleichsam die logische Konsequenz daraus.


    Dieses Lied ist eines von den wenigen auf Texte aus „Des Knaben Wunderhorn“, die klanglich sozusagen eindimensional sind, insofern ihnen die auf einen Problem-Untergrund verweisende Gebrochenheit in der Faktur abgeht. Da ist nichts an Untergründigkeit zu vernehmen. Die Liedmusik ergeht sich in einer vom Dreiachteltakt getragenen und beförderten selig-beschwingten Melodik, die so sehr alles durchdringt, dass sogar der Klaviersatz von ihr erfasst wird und sich seinerseits in melodischen Figuren entfaltet, die man gar nicht mehr los wird, wenn man sie einmal vernommen hat, - so eingängig sind sie. Schon das sechzehntaktige Vorspiel, in das sich am Ende die Singstimme auftaktig eingliedert, ist in seinem klanglichen Wesen eminent melodiös. Wobei überaus reizvoll ist, dass sich die melodische Linie darin zögerlich entfaltet: Aus einem tiefen „E“ im Diskant heraus formiert sich in einem Ritardando erst eine Terz, dann eine Quarte, und im dritten Takt entfaltet sich dann in wunderbarerer Langsamkeit der Fluss einer melodischen Linie, die in eine Abfolge von in hohe Lage aufsteigenden Sechzehnteln übergeht, die ihrerseits ein neues melodisches Motiv bilden, das sich langsam zum Einsatz der melodischen Linie der Singstimme absenkt.


    Hiermit sind bereits zwei melodische Motive erklungen, die Grundbausteine der Melodik des ganzen Liedes sind. Deren so überaus große Eingängigkeit gründet darin, dass sie zwar motivisch vielfältig ist, in ihrer musikalischen Substanz aber sehr einheitlich und geschlossen wirkt, insofern melodische Motive sich nach dem Prinzip des variierten Strophenliedes wiederholen, die melodische Linie auf fließendes Sich-Entfalten angelegt ist und ihre Harmonisierung weit ausgreifende und schroffe Modulationen meidet. Wenn Mahler befürchtete, die Hörer des Liedes könnten die Harmonik als „gesucht“ empfinden und „sich nicht hineinfinden“, so stand dahinter vermutlich die Angst, die modulatorische Vielfalt könnte den „kindlich-schalkhaften“ und „innigen“ Ton des Liedes stören. Das ist aber in gar keiner Weise der Fall. Die harmonischen Rückungen wirken durchweg stimmig.


    Was die Melodik des Liedes so eingängig macht und ihr die Anmutung von Heiterkeit, Frohsinn und Innigkeit zugleich verleiht, das ist gleich am Anfang zu vernehmen. Die melodische Linie, die auf der ersten Gedichtstrophe liegt, besteht aus zwei Zeilen, denen die gleiche Struktur zugrundeliegt. Die zweite wirkt wie die Fortsetzung der ersten, insofern sie auch mit einer Sprungbewegung einsetzt, die dann in das Auf und Ab von Sechzehnteln übergeht, nur dass der Quartsprung, er auf den Worten „Bald gras´ ich“ liegt, nun zu einem Sextsprung wird (bei „Bald hab´ ich“) und sich die nachfolgende Sechzehntel-Figur in höherer Lage entfaltet. Auch bei der Melodik der zweiten Gedichtstrophe ereignet sich diese Wiederholung bestimmter melodischer Bewegungen. Drei Mal (bei „hilft mir“ und „d´Sichel“) beschreibt die melodische Linie eine Kombination aus Sextsprung und –fall, und auch die melodische Figur auf dem Wort „Schätzel“ wiederholt sich unmittelbar darauf bei den Worten „bei mir“, bevor die melodische Linie über einen Sextfall mit Sekundanstieg zum ersten Ruhepunkt auf einem tiefen „E“ findet. Die Harmonik pendelt bei all dem in höchst schlichter Weise zwischen A-Dur und E-Dur hin und her.


    Die Figuren, die die Melodik am Anfang und am Ende der ersten Liedstrophe prägen, kehren in leicht modifizierter Form in der dritten und der fünften Liedstrophe wieder. Es sind die aus einem Quartsprung hervorgehenden melodischen Schritte auf den Worten „Bald gras´ ich“ und die Sechzehntel-Achtel-Fallbewegung auf „Schätzel wenn´s“. Da beide Liedstrophen ja – im Unterschied zu ersten – nur aus einer Gedichtstrophe bestehen, stellen sie gleichsam eine melodische Verdichtung dessen dar, was sich in der doppelt so großen ersten Strophe melodisch ereignet, - unter Ausklammerung des Mittelteils nämlich. Dies bei gleicher Harmonisierung (A-Dur, E-Dur), aber jeweils anders strukturiertem Klaviersatz. Dieser sich am Modell des variierten Strophenliedes orientierende Aufbau ist einer der Faktoren, die den so überaus eingängigen klanglichen Charakter des Liedes bedingen.


    Ein anderer, sehr wesentlicher Faktor sind im Bereich der Melodik die vielen Korrespondenzen in den Figuren, die sich aus der Bewegung der melodischen Linie ergeben. Dabei geht es nicht um strukturelle Identität, sondern eher um so etwas wie Anklänge. Und darin zeigt sich die hohe Kunstfertigkeit der Komposition, die – wie so ganz typisch für Mahler – gerade auf diesem Weg Volksliedhaftigkeit zu generieren vermag. So korrespondiert die melodische Linie mit ihren Sext- und Septsprüngen am Anfang der zweiten Liedstrophe mit jener in der zweiten Hälfte der ersten. Lyrisches Stichwort ist dabei das Wort „Grasen“. Die dort darauf und auf den folgenden zentralen lyrischen Worten liegenden Sextsprünge greift die melodische Linie hier (bei den Worten „So soll ich denn grasen“) wieder auf und steigert sie im Intervall, um am Ende, bei den Worten „Ringlein hinein“, zu jener Sechzehntel-Fallbewegung überzugehen, die man vom Ende der ersten Liedstrophe her kennt, - nur dass sie dieses Mal nicht auf dem Grundton endet, sondern auf der Quinte (von E-Dur) und damit dem Klavier die Möglichkeit bietet, mittels der Figur aus fallenden Sechzehnteln, die Teil des Vorspiels ist, zur dritten, nun in A-Dur einsetzenden Liedstrophe überzuleiten.


    Eine stark ausgeprägte Eigenständigkeit weist die Melodik der vierten Liedstrophe auf („und schwimmt es, das Ringlein…“). Schon in der Harmonisierung hebt sie sich von der der anderen Strophen ab: Sie setzt in a-Moll ein, das dann allerdings schon am Ende des zweiten Verses dieser Gedichtstrophe zu modulieren beginnt. Ein langes Zwischenspiel geht dem Einsatz der Singstimme voraus: Es greift die Motive des Vorspiels auf. Einen gewissen Anklang an vorausgehende Melodiezeilen kann man vielleicht darin vernehmen, da die Vokallinie wieder mit einem Sextsprung einsetzt. Sie beschreibt allerdings dann in ruhigen deklamatorischen Schritten eine Bogenbewegung und geht danach in ein etwas lebhafteres Auf und Ab über. Auf melodisch reizvolle Weise werden die zentralen Worte des lyrischen Bildes hervorgehoben. Immer wieder macht die melodischen Linie Aufstiegsbewegungen, so dass die Worte „Fischlein“, „kommen“, „Königs“ und „Tisch“ einen Akzent erhalten.


    Bei den Worten „Wem´s Ringlein sollt´ sein“ hält sie nach einer Fallbewegung auf einem tiefen „E“ inne, um Raum zu lassen für Vermutungen, was wohl auf die Frage des Königs hin wohl geschehen würde. Das Klavier füllt die fünf Take mit Sechzehntel-Figuren aus dem Fundus, mit dem es alle Zwischenspiele bestreitet. Und dann deklamiert die Singstimme „molto rit.“ Die melodische Linie auf den Worten „Da tät mein Schatz sagen: Das Ringlein g´hört mein!“. Sie wirkt bedeutungsschwer, nicht nur, weil nun A-Dur an die Stelle des vorausgehenden Molls tritt, sondern vor allem deshalb, weil sie drei Mal die gleiche dreischrittige Fallbewegung in mittlerer Lage beschreibt, die dann beim dritten Mal nach zwei Schritten abbricht, wobei sich eine Rückung in die Subdominante ereignet.


    Munter und beschwingt kommt die Melodik der letzten Liedstrophe daher. Sie besteht aus zwei Zeilen, in denen sie sich in Gestalt von vielen Sechzehntel-Figuren fast ausschließlich im tonen Raum eines hohen „E“ bewegt, dann aber in eine Fallbewegung übergeht. Bei den Worten „am Rhein“ erfolgt die Absenkung um das Intervall einer Quarte. Am Ende der zweiten Reihe, die ja den Schluss der Liedmelodik bildet, beschreibt die Vokallinie bei den Worten „Ringlein hinein“ eine eindrucksvolle, einen wirklichen Schlusspunkt setzende Fallbewegung über eine Septe, die über einen Sekundanstieg dann in den Grundton mündet. Es ist ein „A“ in mittlerer Lage, der Grundtonart A-Dur entsprechend, zu der das Lied nun, nach dem modulatorischen Durchlaufen von E-Dur und H-Dur, in dieser letzten Strophe zurückgefunden hat.

  • Dieses Lied generiert sich in seiner so faszinierend arglosen musikalischen Aussage und der klanglichen Beschwingtheit, mit der sie daherkommt, ganz und gar aus der Rhythmik seines Dreiachteltakts. Und wie beim Wiener Walzer ist diese in ihrem Wesen nur mit den Klängen der Streicher adäquat zu realisieren. Das Klavier vermag dies zwar auch, ihm geht aber die weiche Klanglichkeit ab, so dass sich der Walzer-Takt in fast grober Weise auf seinen rhythmischen Kern reduziert und die Beschwingtheit ihres einschmeichelnden Charakters verlustig geht.


    Auch dieses Lied kommt, so sehr die Klavierfassung durchaus seine musikalische Aussage in ihrem substanziellen Kern zu erschließen vermag, erst in seiner Orchester-Fassung wirklich zu sich selbst. Und in dieser entfaltet es einen so unmittelbar ansprechenden volksliedhaft beschwingten Charme, dass es als einziges Lied bei einem Konzert in Hamburg (27.10.1893), in dessen Rahmen es uraufgeführt wurde, wiederholt werden musste. Mahler hat, eben weil es ihm hier um gleichsam ungebrochene, stark an die Tradition des romantischen Liedes anknüpfende Klanglichkeit ging, nicht nur ein kleines Orchester gewählt (Flöte, Oboe, Klarinette in A, Fagott, Horn in F, Streicher), sondern hat dieses in der Instrumentierung auch stark auf die Streicher ausgerichtet. Blechbläser fehlen, mit Ausnahme des Horns, und die übrigen Bläser agieren zumeist als Einzelstimmen.


    Das Vorspiel wird, wie Mahler es gestaltet hat, zu einer wahren Eröffnung des klanglichen Raums, in dem sich die nachfolgende Liedmusik entfaltet. Und das ist in dieser Form nur mit dem Instrumentarium des Orchesters zu realisieren. Zuerst ertönt ein lang gehaltenes „H“ des Horns, als wolle es auf die ländliche Szenerie des nachfolgenden lyrischen Geschehens verweisen, auf dieses „Bald gras´ ich am Neckar, bald gras´ ich am Rhein…“. Und dann baut sich langsam, wie zögerlich und dabei den Hörer in sich hinein ziehender Weise, die Walzer-Rhythmik des Liedes auf. In einem dreifachen Sekundanstieg setzen die ersten Violinen ein, danach stimmen die Violen und die Celli mit Pizzicati den Grundrhythmus an und die zweiten Violinen lassen die wiegende Achtel-Sechzehntel-Figur erklingen, mit der sie von nun an die melodischen Figuren der ersten Violinen begleiten und ihnen den Walzer-Geist einhauchen. Wunderbar dann, wie erst die Flöten eine Art Ruf erklingen lassen, der wiederum die Ländlichkeit der Szenerie suggeriert, und wie sie dann im Einklang mit den ersten Violinen, die das im Auf und An tun, eine melodische Fallbewegung artikulieren, die zum Einsatz der melodischen Linie der Singstimme hinführt.


    Diese wird, in klanglich geradezu schmeichlerischer Weise, von den ersten Violinen mit Sechzehntel-Figuren umspielt, so dass ihr volkliedhaft lieblicher Charakter noch deutlicher hervortritt. Die Oboen und die Klarinetten tragen Ländlichkeit suggerierende Dreier-Figuren dazu bei, bei den Worten „bald bin ich allein“ akzentuieren die Hörner die Aussage der melodischen Linie, und die Celli markieren mit ihren sich aufwärts bewegenden Pizzicato-Achteln den tänzerischen Rhythmus. Dann, wenn die erste Liedstrophe mit den Worten „wenn´s bei mir nicht bleibt“ zu Ende ist, lassen die Flöten, die Oboen, die Klarinetten und die Streicher ein Zwischenspiel erklingen, das mit seinen nach oben springenden und sich darin steigernden Sechzehntel-Figuren bei den ersten Violinen und den Flöten, die am Ende in eine tänzerisch-rhythmisierte Fallbewegung übergehen, eine fast jubelhafte klangliche Lieblichkeit entfaltet, wie sie das Klavier mit seinen begrenzten klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten natürlich nicht zustande zu bringen vermag.


    Das alles ist kompositorisch überaus kunstvolle, zugleich aber sich als solche gar nicht zu erkennen gebende, vielmehr als volksliedhaft schlicht daher kommende orchestrale Liedmusik, was man da vernimmt. Der große Sinfoniker Mahler meldet sich hier liedmusikalisch zu Wort.

  • Der Gefangene:
    Die Gedanken sind frei,
    Wer kann sie erraten?
    Sie rauschen vorbei
    Wie nächtliche Schatten.
    Kein Mensch kann sie wissen,
    Kein Jäger sie schießen;
    Es bleibet dabei:
    Die Gedanken sind frei!


    Das Mädchen:
    Im Sommer ist gut lustig sein
    Auf hohen wilden Haiden.
    Dort findet man grün´ Plätzelein,
    Mein herzverliebtes Schätzelein,
    Von dir, von dir mag ich nicht scheiden!


    Der Gefangene:
    Und sperrt man mich ein
    In finstere Kerker,
    Dies alles sind nur, dies alles sind nur
    Vergebliche Werke;
    Denn meine Gedanken
    Zerreißen die Schranken
    Und Mauern entzwei:
    Die Gedanken sind frei!


    Das Mädchen:
    Im Sommer ist gut lustig sein
    Auf Hohen wilden Bergen.
    Man ist da ewig ganz allein,
    auf hohen, wilden Bergen,
    Man hört da gar kein Kindergeschrei, kein Kindergeschrei!
    Die Luft mag einem da werden.


    Der Gefangene:
    So sei´s , wie es will!
    Und wenn es sich schicket,
    Nur alles, alles sei in der Stille,
    Nur all´s in der Still´, all´s in der Still`!
    Mein Wunsch und Begehren
    Niemand kann´s wehren;
    Es bleibt dabei:
    Die Gedanken sind frei!


    Das Mädchen:
    Mein Schatz, du singst so fröhlich hier
    Wie´s Vögelein im Grase;
    Ich steh´ so traurig bei Kerkertür,
    Wär´ ich doch tot, wär´ ich bei dir,
    Ach, muß, ach muß ich immer denn klagen?


    Der Gefangene:
    Und weil du so klagst,
    Der Lieb´ ich entsage!
    Und ist es gewagt, und ist es gewagt,
    So kann mich nichts plagen!
    So kann ich im Herzen
    Stets lachen und scherzen;
    Es bleibet dabei:
    Die Gedanken sind frei!



    Die strophische Gliederung des Liedes nach dem Schema „A-B-A-B-A-B-A“ bietet Mahler die Möglichkeit, die Konfrontation zweier individueller Lebenswelten, die sich in dieser dialogischen Situation ereignet, als Prozess eines kontinuierlich sich steigernden Aneinander-Vorbeiredens darzustellen. Er setzt dazu eine Fülle von klanglichen Mitteln in der Melodik und im Klaviersatz ein. Gewiss ist es so – wie bei vielen anderen seiner Wunderhorn-Lieder auch - , dass die Orchestrierung eine Steigerung der klanglichen Expressivität dieser Mittel mit sich bringt, aber den Kern und das Wesen dieser Expressivität vermag das Klavier sehr wohl und ohne fundamentale Abstriche zum Ausdruck zu bringen.


    Mit einem rasanten Terzanstieg über eine ganze Oktave, der wie das Schmettern einer Trompete wirkt, setzt das Lied bei den Worten „Die Gedanken sind frei“ ein. Auf dem Wort „frei“ liegt eine Dehnung in hoher Lage, der eine Viertelpause folgt, bevor die Singstimme die Deklamation der melodischen Linie fortsetzt. Das heißt: Sie setzt eigentlich erst jetzt wirklich ein. Was davor erklang, das war kein Singen. Es war die in Gestalt einer These stimmlich-proklamatorisch vorgebrachte innere Überzeugung dieses Gefangenen, die er noch mehrmals vernehmen lassen wird. Erstaunlich nur, dass dies in Moll-Harmonik geschieht, - d-Moll nämlich. Alles, was der Gefangene in dieser ersten Strophe noch zu singen und zu sagen hat, ist im wesentlichen in d- und in g-Moll harmonisiert. Und Moll bleibt auch das Tongeschlecht, in dem er sich in den anderen Strophen seines Auftritts melodisch artikuliert. Nur einmal, in der fünften Liedstrophe, seinem dritten Auftritt also, steht die melodische Linie anfänglich in C-Dur und moduliert nach G-Dur hinüber. Aber auch hier bricht immer wieder einmal ein g-Moll in die Harmonik der melodischen Linie ein.


    Ist sich der Gefangene in all dem, was er da in energisch-deklamatorischem Ton forte (beim dritten Auftritt gar fortissimo) vorbringt, so ganz seiner sicher? Ist es nicht eher eine dem besseren Wissen oder der geheimen Ahnung abgerungene trotzige Selbstbehauptung, die sich hier in der dialogischen Situation artikuliert? Oder ist die Dominanz des Tongeschlechts Moll in den Gefangenen-Strophen nur Reflex der üblen Lage, in der sich dieser Mensch gegenüber dem physisch freien Mädchen vor seiner Zellentür befindet? Denn deren Tongeschlecht ist durchweg das Dur (G-Dur, B-Dur, F-Dur). Vielleicht bringt ein näheres Hinhören auf das, was sich die beiden zu sagen haben, ja eine Antwort auf derlei Fragen.


    Schon die erste Strophe ist in ihrer Liedmusik diesbezüglich recht aufschlussreich. In der Melodik stehen sich zwei Tendenzen gegenüber: Eine nach oben gerichtete energische Aufstiegsbewegung (bei „Die Gedanken sind frei“ und „Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen“) und eine sich gegen sie richtende Neigung der melodischen Linie, sich einer durch Moll-Harmonik chromatisch eingetrübten fallenden Linie zu überlassen. Im Grunde ist dies ein Reflex der Aussage des lyrischen Textes. Die Gedanken sind zwar „frei“, aber man kann sie nicht „erraten“ und die „rauschen vorbei wie nächtliche Schatten“, sind also flüchtig und vergänglich. An genau diesen Stellen beschreibt die melodische Linie drei Mal eine stark von kleinen Sekunden geprägte strukturell ähnliche Fallbewegung. Als wolle es die Aussage der melodischen Linie an dieser Stelle akzentuieren, lässt das Klavier, das sich zuvor in einem triolischen Trommelwirbel erging, in der Pause der melodischen Linie nach dem Wort „Schatten“ eine in die Tiefe rauschende Kette von Sechzehnteln erklingen.


    Mit dem neuerlichen energischen Terzanstieg der melodischen Linie bei den Worten „Kein Mensch kann sie wissen“, der wieder bis zu einem hohen „D“ führt, geht es wieder zu seiner Abfolge von triolischen Achtelfiguren im Sekundintervall über. Nachdem die Singstimme noch einmal den schmetternden Terzanstieg zu den Worten „Die Gedanken sind frei“ deklamiert hat, lässt das Klavier erneut eine, dieses Mal in sehr hoher Diskantlage ansetzende und in die Tiefe des Basses führende Fallbewegung von Sechzehnteln erklingen, die in ihrer Moll-Chromatik eigentlich so wirken, als würden sie das Pathos dieser melodischen Proklamation in Frage stellen.


    „Verzagt, schmeichlerisch“ soll die melodische Linie des „Mädchens“ vorgetragen werden. Sie steht in starkem klanglichen Kontrast zu der des Gefangenen, - nicht nur weil sie in einem nach D-Dur modulierenden G-Dur harmonisiert ist. Im Unterschied zu der deklamatorisch harten Fügung der einzelnen Schritte in der Melodik der ersten Strophe ist die der ersten Mädchenstrophe von einer starken inneren Bindung der Schritte geprägt und wirkt dadurch sehr weich, mit einem Anflug von Lieblichkeit. Immer wieder werden einzelne Worte mittels Dehnungen, einem Aufstieg in hohe Lage oder kleinen Melismen in besonderer Weise akzentuiert. Dem Gefangenen soll auf diese Weise die Schönheit der Welt draußen und die innige Zuneigung des Mädchens suggeriert werden. So tragen die Worte „Sommer“ und „lustig“ in der langsam sich vollziehenden Fallbewegung auf dem ersten Vers eine lange Dehnung, bei dem Bild von den „hohen, wilden Hallen“ geht die melodische Linie zu Achtel-Sprungbewegungen über, und bei den Worten „herzverliebtes Schätzelein“ überlässt sich die melodische Linie einer aus einem Nonensprung hervorgehenden melismatischen Bewegung. Das Klavier begleitet dies alles mit Achtel- und Sechzehntelfiguren, die im Zusammenspiel von Bass und Diskant in ausgeprägter Weise den Klang von Terzen und Sexten generieren.


    Dieses kontrastive Aufeinandertreffen zweier liedmusikalisch wesensverschiedener Welten ereignet sich noch zwei weitere Mal. Sie bleiben zwar unvereinbar, aber da und dort meint man zu vernehmen, dass die eine auf die andere einen gewissen Einfluss hat. Dies vor allem in der Struktur und der Harmonisierung der melodischen Linie. Beim zweiten Auftritt des Gefangenen wirkt die nun in g-Moll einsetzende melodische Linie deklamatorisch noch akzentuierter und klanglich energischer. Dies dadurch, dass zu den erneut sich ereignenden Dehnungen in hoher Lage bei der Wiederholung der Worte „dies alles sind nur“ eine dreifache, dabei sich absenkende Folge von Figuren aus in kleinen Sekunden fallenden Achteln deklamiert wird. Durchweg dominiert wieder Moll-Harmonik, wobei das g-Moll mehrmals eine ausdrucksstarke Rückung nach dis-Moll vollzieht. Bemerkenswert ist, dass dieses Mal das neuerliche Bekunden der Freiheit der Gedanken am Ende des Auftritts nicht in schmetterndem Trompetenton von aufsteigenden Terzen erfolgt, sondern In Gestalt einer aus einem Quartsprung hervorgehenden chromatischen Sekundfall-Bewegung in tiefer Lage.


    Beim zweiten Auftritt des Mädchens (vierte Liedstrophe) ist die Melodik ganz und gar geprägt vom dem ersten Vers, der von dem Wort „lustig“ beherrscht wird. Zweimal beschreibt die melodische Linie, dieses Mal in B-Dur harmonisiert, auf den Worten „gut lustig sein“ die gleiche in hoher Lage ansetzende Fallbewegung, die sich bei den nachfolgenden Worten „hohen wilden“ in ähnlicher Form weitere zwei Mal wiederholt. Das Wort „Bergen“ erhält einen starken melodischen Akzent durch eine sehr lange Dehnung in Gestalt einer Kantilene aus fallenden Achtelfiguren. Bei dem Bild von den „hohen wilden Bergen“ vollzieht die melodische Linie gleich drei Mal einen im Intervall extremen Sechzehntel-Oktavsprung, und bei den Worten „kein Kindergeschrei“, die wiederholt werden, geht sie zu einer wieder eine ganz Oktave umfassenden Fallbewegung in kleinen Sekunden über. Das Klavier vollzieht sie in Terzen mit. Zwei Mal kommt nun erstmalig Moll-Harmonik in die Melodik der Mädchenstrophe: Hier, an dieser Stelle (c-Moll), und vorangehend bei den Worten „Man ist da ewig ganz allein“ (g-Moll). Wird sich das Mädchen der Tatsache bewusst, dass es von einer für den Gefangenen unerreichbaren Welt schwärmt?


    Die Reaktion des Gefangenen scheint dafür zu sprechen. Das fortissimo deklamierte „sei´s, wie es sei“, das, weil melodisch aus einer Kombination von Terz- und Quartsprung bestehend, wie ein Fanfarenstoß wirkt, erklingt nun überraschend in C-Dur. Auch der trompetenhafte Terzanstieg steht noch in Dur (G-Dur), aber der nun nachfolgende sehr lange Fall der melodischen Linie auf den nächsten beiden Versen („Nur alles, alles sei in der Stille…“), der sich über zwei Oktaven erstreckt, ist schon wieder in Moll harmonisiert, und die fallenden Terzen, die das Klavier im Zwischenspiel erklingen lässt, stehen ebenfalls in Moll. Bei den Worten „mein Wunsch und Begehren, niemand kann´s wehren“ stehen die trotzig wirkenden Sprungbewegungen noch einmal in C- und G-Dur, und das ist nun auch bei der neuerlichen Fallbewegung auf den letzten Versen der Strophe der Fall. Sie setzt auf einem hohen „F“ an und endet auf einem tiefen „C“ (13 Tonstufen). Das darauf folgende Zwischenspiel moduliert freilich von C-Dur über mehrere Moll und verminderte Tonarten nach F-Dur, der Tonart, in der die melodische Linie des letzten Mädchen-Auftritts einsetzt (sechste Liedstrophe).


    Hier geht die Melodik wieder zu der weitphrasierten und gebundenen Bewegung über und beschreibt bei dem Wort „Grase“ eine sich über mehr als drei Takte erstreckende Kantilene aus über das Intervall einer Sexte fallenden Achteln. Ketten von in Terzen aufsteigenden und wieder fallenden Sechzehnteln verstärken im Nachspiel die klangliche Lieblichkeit der Liedmusik an dieser Stelle. Fallende triolische Sechzehntel-Achtel-Figuren leiten zu einem Klageton über, den die melodische Linie bei dem Bild vom Stehen vor der Kerkertür annimmt. Mehrmals folgen in unterschiedlicher tonaler Lage vierschrittige Fallbewegungen aufeinander, wobei auf den Worten „muss“ und „klagen“ eine Dehnung liegt, die letztere auch wieder in Gestalt eines Sekundfalls. Aber die Harmonik bleibt hier, trotz einiger punktueller Eintrübungen durch Verminderung, im Dur-Bereich. Die Klage des Mädchens ist keine tief schmerzliche.


    Der Gefangene scheint das vernommen und gespürt zu haben. Die triolischen Figuren im Diskant und die Sechzehntel im Bass, mit denen das Klavier seinen letzten Auftritt einleitet, modulieren nach f-Moll hinüber. In dieser Tonart setzt die melodische Linie bei der letzten Liedstrophe ein. Es ist der trotzige Ton, den man schon kennt, in der der Gefangene sich nun wieder artikuliert. Und er tut es mit den für ihn schon zum Erkennungsmerkmal gewordenen melodischen Figuren: Dem auf einem hohen „D“ in einer Dehnung aufgipfelnden Terzanstieg und der in eine Dehnung mündenden Fallbewegung in Sekunden, der, wenn sie sich in absteigender Linie zweimal hintereinander ereignet, das Klavier durch eine in tiefe Lage absinkende Sechzehntel-Kette nachträglich noch einen zusätzlichen klanglichen Akzent verleiht, - wie nach der langen Dehnung auf dem Wort „plagen (ein „D“ in tiefer Lage).


    Und um seinem Denken und seiner Haltung noch einmal den gehörigen Ausdruck zu verleihen, erklingt der schmetternde Terzanstieg am Ende des Liedes gleich zwei Mal. Er wird fortissimo deklamiert, steht aber wieder in d-Moll. Und auch die vor der letzten Proklamation aus hoher in tiefe Lage rauschende Kette von Sechzehntel-Sextolen steht ganz und gar in Moll.

  • Dieses Lied bezieht sein musikalisches Leben aus einer Situation, die Mahler immer wieder angezogen und zur kompositorischen Gestaltung herausgefordert hat, ganz offensichtlich deshalb, weil es sich um ein Existenzial handelt, eine Urform menschlichen Seins und Handelns: Der Dialog. Die Situation dialogischer Kommunikation bietet ihm die Möglichkeit, mit seinen Mitteln, denen der Musik also, etwas Fundamentales über den Menschen auszusagen: Die Möglichkeit existenzieller Einsamkeit, des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst im Scheitern der Kommunikation, der Selbstbehauptung darin, aber auch der letztendlichen Verlorenheit.
    In diesem Lied, dem ein Dialog zwischen einem „Gefangenen“ und einem „Mädchen“ vor der Gefängnistür zugrundeliegt, ereignet sich etwas höchst Bemerkenswertes: Im Scheitern des Dialogs erweist sich der Gefangene als der wahrlich Freie. Die Liedmusik lässt in dem in seiner klanglichen Schroffheit sich permanent steigernden Aufeinanderprallen zweier Lebenswelten die Geburt der Erkenntnis, dass Freiheit wesenhaft die des Denkens und der Gedanken, nicht die der Physis ist, auf beeindruckende Weise sinnlich miterlebbar werden.


    Diese Möglichkeit des Mit-Erlebens ist, was ihre klangliche Basis anbelangt, bei der Orchester-Fassung natürlich größer und in ihrem evokativen klanglichen Potential reichhaltiger als in der für Singstimme und Klavier, obgleich diese den liedmusikalischen Aussage-Kern voll und ganz enthält und in der Rezeption erfassbar werden lässt. Gleichwohl ist dieses Aufeinander-Prallen zweier Welten, bei denen es sich ja doch im Grunde nur um zwei Seiten der existenziellen Daseins-Befindlichkeit eines Menschen in Gefangenschaft handelt, im Orchesterlied ungleich intensiver klanglich erfahrbar als in der Fassung mit Klavierbegleitung. Und überdies erschließt sich nur hier in seiner vollen konkreten Sinnlichkeit ein Wesensmerkmal der Musik Mahlers: Dass sie ihre künstlerische Aussage in fundamentaler Weise aus ihrer Einbeziehung von „Vokabeln“ – wie H. H. Eggebrecht dies genannt hat – in ihre kompositorische Gestalt generiert.


    Auf diese „Vokabeln“ stößt man hier in vielerlei Formen. In ihnen erschöpft sich das Lied natürlich nicht, sie tragen aber wesentlich zu seiner musikalischen Aussage bei. Man begegnet ihnen sowohl auf der Seite des „Mädchens“, wie auf der des „Gefangenen“, dort aber in klanglich wesentlich signifikanterer Weise. In den Mädchen-Passagen des Liedes treten vokabelhafte klangliche Elemente in Gestalt von ländliche Idylle suggerierenden Figuren auf, wie etwa die terzenbetonten Flötenrufe, wie sie im Anschluss an die Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Im Sommer ist gut lustig sein“ zu vernehmen sind, oder die Sechzehntel-Achtel-Sprungfiguren, wie sie die Flöten und die Oboen nach den Worten „von dir mag ich nicht scheiden“ erklingen lassen. Klanglich ungleich massiver treten diese Vokabeln in den Gefangenen-Passagen in den Vordergrund: Als schmetternde Trompeten-Signale, Horn-Rufe,Trommelwirbel und Paukenschläge.


    Das Aufeinander-Prallen der beiden Welten ereignet sich wohl in der am meisten beeindruckenden, weil den Kontrast klanglich geradezu extrem akzentuierenden Weise in der zweiten Mädchen-Strophe („Im Sommer ist gut lustig sein“) und der Reaktion des Gefangenen darauf. Die ersten Violinen umspielen die melodische Linie des Mädchens „singend“, wie die Anweisung lautet, die Flöten lassen einen Sekundwirbel dazu erklingen, und die zweiten Violinen tragen eine wiegende Sechzehntel-Figur bei. Das melodische Auf und Ab bei dem Bild von den „hohen wilden Bergen“ wird von den Flöten und den Klarinetten mitvollzogen, und das geschieht auch, im Einklang mit den ersten und zweiten Violinen, bei der Fallbewegung der melodischen Linie, wenn es um das „Kindergeschrei“ geht. Ein lieblicher Schalmeienwirbel bei den Flöten und den Oboen folgt als kurzes kommentierendes Zwischenspiel nach. Und wenn dann die melodische Linie bei den Worten „Die Luft mag einem da werden“ ins Schweben gerät, dann beflügeln sie die „singenden“ (Anweisung) ersten Violinen darin, und die Oboen lassen im Nachhinein wieder ein schalmeienhaftes, ländliche Idylle suggerierendes Auf und Ab von Sechzehnteln und Achteln erklingen.


    Der geradezu trompetenhaft schmetternde Ton, auf dem der Gefangene danach mit den Worten „So sei´s wie es sei“ einsetzt, stellt an sich schon einen deutlichen klanglichen Kontrast zur vorangehenden klanglichen Szenerie dar. Er wird aber ins geradezu Harte und Schroffe durch seine orchestrale Begleitung gesteigert, - ein klanglicher Effekt, den das Klavier nur anzudeuten, aber nicht wirklich zustande zu bringen vermag. Die Streicher lassen mit Akkord-Folgen einen Marschrhythmus erklingen, die Trompeten schmettern forte mit Signalrufen drein, und Pauken wirbeln ebenfalls forte. Wenn die Singstimme die melodische Linie auf den Worten „und wenn es sich schicket“ deklamiert hat, setzen die Trompeten und die Hörner die Artikulation der schmetternden Sechzehntel-Achtel-Figuren fort. Und auch die Fallbewegung der melodischen Linie auf dem dreifachen „All´s in der Still`“, in der sich der Gefangene ja in seine seelische Innenwelt zurückzieht, ereignet sich nicht ohne die Begleitung durch die Violinen und die Hörner, bei Aufrechterhaltung des Marschrhythmus´ durch die Violen und die Celli.

  • Ein wenig nachdenklich stimmt die Notiz, die sich bei Natalie Bauer-Lechner zum 19. Juli 1898 findet. Sie lautet:
    „Mahler sprach mir von den drei Liedern, die er hier komponiert hatte. Das beste sei jenes, welches den heftigsten Ausdruck von Wut und Ärger entfalte – mit Orchesterbegleitung -, >Wie das heuer, aus einer Menge von Gründen, meine fortwährende Stimmung ist!< rief er zornig.“
    Gemeint sein können damit eigentlich nur, neben diesem Lied (das im Juli 1898 entstand): „Wo die schönen Trompeten blasen“ (ebenfalls Juli 1898) und das zwei Jahre zuvor entstandene, mit dem Titel „Lob des hohen Verstandes“.
    Nun ist letzteres, was seine liedkompositorische Qualität anbelangt, gewiss dem zur Rede stehenden gleichrangig zur Seite zu stellen, und bei dem anderen scheint mir die qualitative Rangordnung die Mahler da vornimmt, erst recht ganz und gar unangebracht. (Diese beiden Lieder stehen als nächste zur Besprechung an.)
    Was mag Mahler zu diesem Urteil bewogen haben?


    Nun kann man ohne Zweifel bei diesem Lied von einem „heftigen Ausdruck“ sprechen. Das harte kontrastive Aufeinanderprallen der beiden liedmusikalischen Welten, wie es insbesondere in der Orchesterfassung zum Ausdruck kommt, berechtigt ganz gewiss dazu. Das wurde ja gerade vorangehend am Beispiel der zweiten Mädchen-Strophe und der darauf folgenden Reaktion des „Gefangenen“ aufgezeigt. Aber auch die dritte Mädchen-Strophe steht in einem geradezu provozierend anmutenden klanglichen Gegensatz zu dem Schluss der vorangehenden Liedmusik auf die Worte des Gefangenen. Wenn der die melodische Linie bei den wiederholten Worten „die Gedanken sind frei“ in die Tiefe absinken lässt, lassen die Flöten, die Oboen, die Fagotte und die Hörner einen klanglichen Fortissimo-Wirbel erklingen, der unter Führung der Trompeten in einen lärmenden Absturz mündet und in einem dumpfen Paukenwirbel endet.
    Und als wäre da nichts gewesen, setzt das Mädchen mit den Worten „Mein Schatz, du singst so fröhlich hier“ ein, und das auf einer geradezu lieblich davon tanzenden melodischen Linie, die von den Flöten und den Oboen mit zärtlichen triolischen Figuren umspielt und von den Klarinetten mit lang gehaltenen Vorschlag-Tönen getragen wird.


    Das ist gewiss ein klanglich harter Kontrast. Aber in diesem Zusammenhang von „Wut und Ärger“ zu sprechen, wie das Mahler tat, ist nun wirklich unangebracht. Die Mahler-Expertin Renate Hilmar-Voit vermutet deshalb, dass Mahler seine damalige Grundstimmung in die Liedkomposition hat einfließen lassen. Daran mag etwas sein, - wenn man die Details von Mahlers Biographie des Jahres 1898 bedenkt. Darauf näher einzugehen, ist aber hier nicht der Ort.

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  • „Wer ist denn draußen und wer klopfet an,
    der mich so leise, so leise wecken kann?“
    „Das ist der Herzallerliebste dein,
    steh auf und laß mich zu dir ein!


    Was soll ich hier nun länger steh´n?
    Ich seh die Morgenröt´ aufgeh´n,
    die Morgenröt´, zwei helle Stern´.
    Bei meinem Schatz, da wär´ ich gern,
    bei meinem Herzallerlieble!“


    Das Mädchen stand auf und ließ ihn ein,
    sie heißt ihn auch willkommen sein.
    „Willkommen, lieber Knabe mein!
    So lang hast du gestanden!“


    Sie reicht´ ihm auch die schneeweiße Hand.
    Von ferne sang die Nachtigall,
    das Mädchen fing zu weinen ein.


    „Ach weine nicht, du Liebste mein,
    auf´s Jahr sollst du mein Eigen sein.
    Mein Eigen sollst du werden gewiß,
    wie´s Keine sonst auf Erden ist!
    O Lieb´ auf grüner Erden!


    Ich zieh´ in Krieg auf grüner Heid´,
    die grüne Heide, die ist so weit!
    Allwo dort die schönen Trompeten blasen,
    da ist mein Haus, mein Haus von grünem Rasen!“



    Das ist ein Lied, das in seiner wunderbaren klanglichen Zartheit und in der Innigkeit seiner Melodik, die schon fast schwelgerische Emphase entfaltet, zutiefst anzurühren vermag. Es ist wieder ein Dialog-Lied, also eines jener Gattung, die Mahler so liebt, weil sie ihm die Möglichkeit bietet, Personen mit musikalischen Mitteln in ihrem Fühlen und Denken auszuloten, dabei Situationsschilderung zu betreiben – durch die Hinzuziehung eines Erzählers nämlich - , und auf diese Weise ein für ein Lied ungewöhnlich großes kompositorisches Potential zu Verfügung zu haben, seiner Neigung zur großen, in ihrem Wesen orchestralen Liedform nachzukommen. Und obgleich hier die Fassung für Klavier der Besprechung zugrundeliegt, - es ist alles da, einschließlich des im Grunde orchestralen Gestus der Liedmusik. Und ohnehin erfolgt die Nachbetrachtung – wie üblich – auf der Grundlage der Orchesterfassung.


    Der zugrundeliegende Text stellt eine Montage dar, bei der Mahler sich in großer Eigenmächtigkeit einschließlich eigener Wortschöpfungen zweier Wunderhorn-Gedichte bedient hat. Die Vermutung des Mahler-Freundes Siegfried Lipiner, dass es hier um die Begegnung eines Mädchens mit dem Geist eines Soldaten gehe, dürfte abwegig sein. Mahler hat ihr – wie Natalie Bauer- Lechner berichtet – zu Recht widersprochen. Die Liedmusik lässt in der Art und Weise, wie sie den beiden Personen zugeordnet ist und die Begegnung der beiden in Gestalt motivischer Verflechtung reflektiert, recht eindeutig – und auf beeindruckende Weise – vernehmen, dass hier ein „Herzallerliebster“ bei einem Mädchen Einlass findet, um sich danach als in den Krieg ziehender Soldat in der Ahnung, dass er dort den Tod finden wird, zu verabschieden.


    Das ist typische Mahler-Thematik, die in ihrer Auseinandersetzung mit den menschlichen Urerfahrungen „Krieg“, Abschied“ und „Tod“ grundsätzlich kompositorisch realistisch angegangen und ausgeführt wird. Mahler wollte in seiner Musik Klarheit, was existenzielle Grundfragen anbelangt. Das Thema „Krieg“ war ihm zu seiner Zeit viel zu gewichtig, als dass er sich diesbezüglich irgendwelchen kompositorischen Phantasiegebilden hingegeben hätte.


    Mit pianissimo angeschlagenen, wie von weither kommende Hornrufe anmutenden Quinten, die über Terzen wieder in Quinten münden. Setzt das Lied im Vorspiel ein. Trommelwirbel in Gestalt eines Auf und Abs von Zweiunddreißigsteln gesellen sich später dazu. Moll und verminderte Harmonik herrschen vor, über mehrere Modulationen geht das anfängliche a-Moll in das d-Moll über, in dem die melodische Linie einsetzt. Das, was sich in den ersten beiden Versen melodisch ereignet, wirkt auf dem Hintergrund der Melodik der nachfolgenden Mannesstrophe wie ein Vorspiel. Die Singstimme bringt die melodische Linie auf den Mädchenworten pianissimo und „etwas zurückhaltend“ (Anweisung) vor. D-Moll ist die Tonart, die ihr hier zugewiesen ist, und Moll wird auch im weiteren Verlauf des Liedes das Tongeschlecht sein, in dem die melodische Linie dort, wo es um das Mädchen geht, harmonisiert ist. Mit einer sehr wesentlichen Ausnahme: Dem Ges-Dur, mit dem es den „Knaben“ willkommen heißt. Ansonsten ist dieses Wesen vom Moll des stillen Leidens umgeben, das aus der Ahnung vom Verlust des Geliebten kommt.


    Weil die Frage des Mädchens zweimal mit einem „wer“ eingeleitet wird, beschreibt die melodische Linie auch zweimal die gleiche Figur aus Quintsprung und –fall, bevor sie in eine langsame Aufwärtsbewegung übergeht, die in einer überaus zärtlich anmutenden, weil mit einer Rückung von d-Moll nach A-Dur verbundenen Aufgipfelung auf einem gedehnten hohen „E“ bei dem Wort „kann“ endet. Wieder erklingen im zehntaktigen Zwischenspiel von fern kommende Hornrufe: Ein hohes „E“ mit Doppelvorschlag, begleitet von Quintentriolen im Bass, zwei bogenförmig-triolische Achtel-Figuren dazwischen, und am Ende wieder ein lang gedehnte leere Quinte. Die Szene öffnet sich für den Auftritt des „Allerliebsten“, den zwar die Aura der Ferne umgibt, die nun aber, freilich nur für einen kurzen Augenblick, zu Nähe werden kann.


    Die Melodik der nachfolgenden Mannes-Strophe („Das ist der Herzallerliebste dein…“) ist von einer klanglichen Innigkeit und entfaltet einen Zauber, wie man das von einem, der nun in den Krieg ziehen will, gar nicht erwartet. Wollte Mahler damit die Schicksalhaftigkeit des Geschehens zum Ausdruck bringen, - dass da einer in eine Welt geworfen wird, der er wesensmäßig gar nicht zugehört? Die melodische Linie dieser Strophe, die zunächst nur in A-Dur und D-Dur harmonisiert ist, weist eine wunderbar weite Phrasierung auf, entfaltet sich in ruhigen, eng aneinander gebundenen Schritten, in die nur da und dort einmal eine Dehnung tritt, durch die ein wichtiger Teil der Aussage mit einem Akzent versehen wird, ohne dass dabei aber in den gleichmäßigen Fluss dieser Melodik eine rhythmische Störung käme.


    Und noch etwas bedingt den klanglichen Zauber: Es sind die Sexten, mit denen das Klavier im Diskant den Bewegungen der melodischen Linie folgt. Zunächst sind es allerdings nur Terzen, erst mit den Worten „steh auf“ gehen diese in Sexten über. Aber das ist ja gerade das Großartige an dieser Melodik: Sie wirkt, als würde sie aus den Schritten des ersten Verses, der ja auftaktig mit einem in eine Dehnung mündenden Sextsprung einsetzt, regelrecht erwachsen und dann aufblühen. Das tut sie zu einem Höhepunkt hin. Vorübergehend, bei der Erwähnung der drohenden „Morgenröte“, kommt eine Moll-Trübung in die melodische Linie (h-Moll), dann aber, mit den Worten „Bei meinem Schatz, da wär ich gern“, ereignet sich die harmonische Rückung, die dazu führt, dass die melodische Linie einen strahlenden Glanz entfaltet. Es ist de relativ kühne Rückung von h-Moll nach G-Dur, und sie ist mit einem Crescendo versehen, das ein wenig aus dem Pianissimo herausführt, das bislang die Liedmusik dieser Strophe beherrschte.


    Ihren Höhepunkt erreicht die melodische Linie bei den letzten Worten der Strophe: „Bei meinem Herzallerlieble“. Hier bewegt sie sich, nun wieder pianissimo, fast ausschließlich in hoher Lage, und das in Gestalt von den ganzen Takt ausfüllenden Notenwerten. Lang gehaltene Akkorde begleiten sie nun. Und wieder ist es eine überraschende harmonische Rückung, die diese klangliche Expressivität bewirkt: Von G-Dur rückt die Harmonik bei dem Wort „meinem“ nach Fis-Dur und moduliert von dort – nach einer kurzen Rückung in die Dominante – zur Grundtonart der Strophe zurück: D-Dur.


    Es gibt noch eine dritte Person in diesem Lied: Den Erzähler. Was er zu sagen und zu berichten hat, bildet den Rahmen für die Worte des Willkommens, die das Mädchen an seinen Liebsten richtet und die das Zentrum der nächsten Strophe bilden. Die melodische Linie, die mit den Worten einsetzt „das Mädchen stand auf“, steht in d-Moll, bewegt sich in ruhigen Schritten aufwärts, erfährt aber am Ende, bei den Worten „willkommen sein“, eine ausdrucksstarke Rückung über Es-Dur nach As-Dur, - womit der harmonische Boden für die Melodik der Mädchen-Worte bereitet ist. Das tiefe „Des“, mit dem die melodische Linie, harmonisiert in Ges-Dur“, hier einsetzt, empfindet man als Ausdruck inniger Zuwendung, und diese Anmutung weist die melodische Linie auch in ihrer weiteren Entfaltung bis hin zu dem melismatischen Bogen bei den Worten „hast du gestanden“ auf.


    Man kann diese harmonische Rückung in die fernab liegende Tonart „Ges“ und das Tongeschlecht Dur durchaus als dezenten Hinweis Mahlers darauf verstehen, dass sich die Beiden sehr nahe gekommen sind. Und das deutet ja auch der Kommentar des Erzählers in seiner Melodik und deren Harmonisierung an, überdies auch das, was das Klavier dazu beizutragen hat. Die melodische Linie ist durchgehend geprägt von bogenförmiger Bindung zwischen tonal kleinen Schritten, das Klavier ergeht sich in einem Zwischenspiel in aus hoher Lage fallenden Sexten, die am Ende in Terzen übergehen, und die Harmonik moduliert im Bereich von Ges- und Des-Dur. Am Ende aber ereignet sich wieder Überraschendes, - und das ist textbedingt. Bei den Worten „das Mädchen fing zu weinen an“ beginnt die melodische Linie auf einem Ton, einem hohen „Cis“, zu verharren und geht danach in triolische Auf- und Abwärtsbewegungen über. Und auch das ist wieder mit einer unerwarteten harmonischen Rückung von fis- über cis- und zurück nach fis-Moll verbunden. Ferne Pianissimo-Hornrufe folgen nach. Die Reaktion des Mannes auf die Tränen des Mädchens kündigt sich an.


    Und wieder erklingt die so überaus einschmeichelnd zarte, weit ausgreifend phrasierte Melodik, die man von diesem Mann und seinem Auftreten dem Mädchen gegenüber kennt. Wieder ist sie zunächst ganz und gar in D-Dur und die Dominante dazu gebettet, und das Klavier begleitet mit seinen Sext-Parallelen. Bei den Worten „Mein eigen sollst du werden gewiß“ kommt eine h-Moll-Trübung in die melodische Linie, die in einem auffälligen Widerspruch zu diesem „gewiß“ steht. Der Soldat ahnt in seinem tiefsten Innern, dass es diese Gewissheit nicht gibt. Aber wie in trotziger Auflehnung dagegen setzt die melodische Linie bei den Worten „wie´s keine sonst auf Erden ist“ in hoher Lage – und nun in G-Dur harmonisiert – ihre Bewegung fort du steigert sich am Ende wieder in die Emphase einer Dehnung in hoher Lage, vom Klavier mit G-Dur, A-Dur und D-Dur-Akkorden begleitet.


    Der Melodik, mit der der Liebste von seinem Mädchen Abschied nimmt, wohnt ein rhetorisch-deklamatorischer Ton inne, der nach all dem, was er zuvor melodisch vorgebracht hat, geradezu hart und schroff wirkt, weil er nun in einen sachlich-konstatierenden Gestus verfällt. Der Sextsprung, mit dem die melodische Linie bei den Worten „Ich zieh in Krieg“ einsetzt, wirkt schroff, weil er in d-Moll harmonisiert ist. Ein wenig klingt freilich die Melodik noch nach, mit der er dem Lied seinen so großen klanglichen Zauber gab, - in dem Augenblick, wo er das Bild von der „grünen Heide“ beschwört. Aber da sie „so weit“ ist, wohnt diesem Aufschwung der melodischen Linie in hohe Lage, den das Klavier nun bezeichnenderweise mit Quinten mitvollzieht, ein leicht elegischer Ton inne.


    Seine letzten Worte, jene, in denen die „schönen Trompeten“ und das „Haus von grünem Rasen“ imaginativ beschworen sind, werden zu einem Abgesang, der in dem melodisch energisch wirkenden und darin zur hohen Dehnung auf dem Wort „Trompeten“ geradezu hinstrebenden Ton befremdlich anmutet, zumal das alles in Dur-Harmonik („A“, „G“, „D“) gebettet ist und vom Klavier mit lebhaften triolischen Terzen-Figuren begleitet wird. Bei den Worten „mein Haus“ kommt aber mit einem Mal ein Bruch in diesen energischen Ton, der sich damit als ein autosuggestiv falscher enthüllt. Das Sforzato, in dem das Klavier das forte deklamierte Wort „Haus“ mit einem D-Dur-Akkord begleitet, geht schlagartig in ein d-Moll-Pianissimo über. Wenn die Singstimme diese Worte „das Haus“ ihrerseits pianissimo wiederholt.


    Und dann erstirbt die melodische Linie auf einem „A“ in mittlerer Lage, das sie nur noch zwei Mal mit einem kleinen Sekundschritt aufwärts verlässt Das Klavier geht in seiner Begleitung von D-Dur nach d-Moll über und verklingt in tonal repetierendem Gestus darin. In ihrer Rhythmisierung wohnt dem befremdlicher Weise der Gestus eines fernen Trompetenrufs inne.

  • Eigentlich sollte heute eine Nachbetrachtung zu diesem Lied hier eingestellt werden. Was mich davon abhielt, war ein kurzer Kommentar von Ulrich Schreiber zu dem (oben, in den Beiträgen 113/14 bereits vorgestellten) Lied „Wer hat dies Liedlein erdacht?“. Er lautet:
    "Bei dem … Lied wird die unklassische Haltung (er meint damit diejenige, die dem Lied „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ zugrundeliegt) fast unabhängig vom Text in die kompositorische Verfahrensweise hineingenommen, indem das klassisch dreiteilige Schema bei näherem Betrachten als ein Reihenkalkül sich entpuppt, eine teils krebsgängige, teils seitenverkehrte Formation, die nichts anderes meint als die Vernichtung niedlicher Naivität.“

    Ich stutzte, als ich das – im Booklet zu der von EMI produzierten Aufnahme der Wunderhorn-Lieder mit Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf und dem London Symphony-Orchestra unter George Szell – zufällig las.
    Das hatte ich nicht erkannt! Und nun denke ich, - und halte mir vor: Die kompositorische Faktur vermag ich ja vielleicht in durchaus adäquater Weise deskriptiv in die Vorstellung der Mahler-Lieder einzubringen, - bei der Interpretation derselben kommen mir diesbezüglich aber Zweifel. Es ist nicht nur gut möglich, es ist sogar – wie mir in diesem Fall bewusst wurde – ziemlich sicher, dass ich ihnen interpretatorisch nicht immer voll gerecht zu werden vermag.

  • Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es sich die dem Text, der diesem Lied zugrunde liegt, um eine Montage handelt, bei der sich Mahler aus zwei „Wunderhorn“-Gedichten bedient und sie mir eigenem Text angereichert hat. An sich ist das ja nichts Ungewöhnliches, eher sogar der Regelfall bei seinen Liedern auf Texte aus dieser Sammlung. Es lohnt sich aber, in diesem Fall noch einmal etwas genauer hinzuschauen, wie Mahler dabei vorgegangen ist, denn man gewinnt dabei einen interessanten und aufschlussreichen Einblick in die Intentionen und das Wesen seiner Liedkomposition. Der Text, der Mahler zu diesem Lied inspiriert hat, lautet im Original so:


    „Wer ist denn draußen und klopfet an,
    Der mich so leise wecken kann?“-
    „Das ist der Herzallerliebste dein,
    Steh auf und laß mich zu dir ein.“


    Das Mädchen stand auf und ließ ihn ein
    Mit seinem schneeweißen Hemdelein,
    Mit seinen schneeweißen Beinen,
    Das Mädchen fing an zu weinen.


    „Ach weine nicht, du Liebste mein,
    Aufs Jahr sollt du mein eigen sein;
    Mein eigen sollt du werden,
    O Liebe auf grüner Erden.


    Ich wollt´, daß alle Felder wären Papier,
    Und alle Studenten schrieben hier,
    Sie schrieben ja hier die liebe lange Nacht,
    Sie schrieben uns beiden die Liebe doch nicht ab.“


    Das Bild von der nächtlichen Begegnung zwischen einem Mädchen und einem jungen Mann, der dieses, weil es in Tränen ausbricht, mit dem Versprechen tröstet, dass sie „aufs Jahr“ ein Paar sein würden, wurde ganz offensichtlich zum Auslöser für den liedkompositorischen Akt, indem es Mahler musikalische Phantasie beflügelte. Aber in deren Entfaltung wurde aus dem „Wunderhorn“-Text etwas völlig Anderes. Die kleine, im Grunde nichtssagende nächtliche Idylle wird von ihm auf die Ebene allgemeiner existenzieller Relevanz gehoben, indem das Motiv des Abschieds, wie er durch Krieg erzwungen werden kann, der lyrischen Ausgangssituation hinzugefügt wird. Und diese Relevanz erfährt sogar noch eine Potenzierung dadurch, dass zusätzlich unterschwellig, aber doch in markanter metaphorischer Andeutung das Motiv des Todes einfließt. Die letzte Strophe, die in dieses liedkompositorische Konzept in gar keiner Weise passt, wird selbstverständlich eliminiert. Eliminiert werden aber auch – und das ist typisch für Mahler – die Verse, die von der Sinnlichkeit und Körperlichkeit der nächtlichen Begegnung sprechen, - die Bilder vom „schneeweißen Hemdelein“ und den ebenso schneeweißen Beinen des Mädchens. Bei Mahler darf nur die von ihm in den Text eingebrachte „Nachtigall“ in dezenter Weise die nächtliche Liebesvereinigung andeuten. Und in der Liedmusik spielt die Verschmelzung von den Beiden zugehörigen melodischen Motiven in ebenso dezenter Weise darauf an.


    Mahlers Thema in nahezu allen seinen Kompositionen, also auch den Liedern, sind die menschlich elementare Lebenssituation und die Grundfragen der menschlichen Existenz, die sie aufwirft. Selbst in einem sich so harmlos-idyllisch gebenden Lied wie dem gerade vorgestellten „Rheinlegendchen“ ist gleichsam unterschwellig das „Prinzip Hoffnung“ angesprochen. Hier nun sind es die in die liebeerfüllte menschliche Zweisamkeit destruktiv hineinragenden Existenziale „Abschied“ und „Tod“. Und die Liedmusik lässt das, in der Orchesterfassung deutlich stärker als in der für Klavier auf höchst eindrucksvolle und emotional anrührende Weise vernehmen. Das beginnt schon mit dem Vorspiel. Mit Dämpfer, und aus diesem Grund eigenartig wesenlos aus der Ferne kommend, lassen die Hörner eine rufartige Folge von Quarten und Terzen erklingen. Die Klarinetten machen dann daraus pianissimo artikulierte Quinten und Terzen, in die die Oboen mit einer sich aus einem Quart- und einem Terzfall herausschälenden Melodie einfallen, in deren d-Moll-Harmonik die Flöten und die Klarinetten einfallen. Dann melden sich die Hörner mit ihren Quint- und Terzrufen wieder, die Trompeten stimmen, mit Dämpfern versehen, in dieses Rufen ein, und die Celli lassen schließlich, ebenfalls gedämpft, mit den Violen zusammen ein aus tiefer Lage aufsteigendes Grummeln von Sechzehntel-Figuren erklingen.


    Das Orchester, und nur dieses ist mit seinen Mitteln dazu in der Lage, evoziert einen klanglichen Raum, der nächtliche Stille suggeriert, in die leise, und gerade deshalb bedrohlich wirkend, die militärische Außenwelt eindringt. Vielsagend ist dabei, dass die melodische Linie, mit der das Mädchen einsetzt, mit ihren Sprungbewegungen Motive des Vorspiels aufgreift. Und dabei bleibt es ja nicht. Diesem ersten Auftritt des Mädchens folgt ein Nach- und Zwischenspiel, das ihn in diese untergründige klangliche Welt des Vorspiels einbettet, weil klangliche Motive daraus wiederkehren: Die triolischen Motive der Oboen, über denen die Flöten eine in hohe Lage aufsteigende und wieder fallende erklingen lassen, die Trompeten-Signale und schließlich der Ruf der Hörner.


    Es wird vernehmlich: Dieses Mädchen ist in all seinen liebevollen Erwartungen, die das nächtliche Anklopfen an ihre Tür auslöst, ein Wesen in einer Welt, in der ein Leben in friedvoller und liebeerfüllter Zweisamkeit in elementarer Weise gefährdet ist. Die Liedmusik, mit der der „Herzallerliebste“ dann auftritt, gewinnt allererst in der Orchesterfassung den klanglichen Kontrast, der für die Aussage des Liedes so bedeutsam ist. Liebevoll-zärtliche Hinwendung zum „Mädchen“ suggeriert sie, und die sich wie beseligt aufschwingende melodische Linie, die dies zum Ausdruck bringt, wird darin noch akzentuiert dadurch, dass sie nicht nur in Streicherklang eingebettet ist, der ihr ihn ihren Bewegungen folgt, sondern darüber hinaus noch von den Flöten begleitet wird, die das in Gestalt von Sexten-Parallelen tun. Das klangliche Potential, das dem Orchester zur Verfügung steht, vermag im Vergleich zum Klavier in ungleich stärkerer, intensiverer und den Hörer anrührender Weise diesen Kontrast, wie er sich situativ in dieser nächtlichen Begegnung ereignet, klanglich zum Ausdruck bringen.

  • Einstmals in einem tiefen Tal
    Kuckuck und Nachtigall
    Täten ein´ Wett´ anschlagen:
    Zu singen um das Meisterstück,
    Gewinn´ es Kunst, gewinn' es Glück,
    Dank soll er davon tragen.


    Der Kuckuck sprach: "So dir´s gefällt,
    Hab´ ich den Richter wählt“,
    Und tät gleich den Esel ernennen.
    "Denn weil er hat zwei Ohren groß,
    So kann er hören desto bos
    Und, was recht ist, kennen! "


    Sie flogen vor den Richter bald.
    Wie dem die Sache ward erzählt,
    Schuf er, sie sollten singen.
    Die Nachtigall sang lieblich aus!
    Der Esel sprach: "Du machst mir´s kraus!
    Ija! Ija! Ich kann´s in Kopf nicht bringen! "


    Der Kuckuck drauf fing an geschwind
    Sein Sang durch Terz und Quart und Quint.
    Dem Esel g'fiel´s, er sprach nur
    "Wart! Wart! Wart! Dein Urteil will ich sprechen, ja sprechen.


    Wohl sungen hast du, Nachtigall!
    Aber Kuckuck, singst gut Choral!
    Und hältst den Takt fein innen!
    Das sprech´ ich nach mein' hoh'n Verstand!
    Und kost´ es gleich ein ganzes Land,
    S laß ich´s dich zu gewinnen!
    Kuckuck! Kuckuck! Ija!“



    Diese glänzende, für Mahler in der Direktheit ihrer Aussage eigentlich ungewöhnliche musikalische Parodie ist eigentlich, von ihrer Entstehung her, eine Verlegenheitskomposition. Als Mahler im Juni 1896 zum Urlauben in Steinbach am Attersee eingetroffen war, stellte er fest, dass er die Entwürfe seiner „Dritten Symphonie“, an der er damals arbeitete, zu Hause hatte liegen lassen. Er konnte also, was er eigentlich vorhatte, daran nicht weiterarbeiten und entschloss sich stattdessen zur Komposition dieses Liedes.


    Hierausgekommen dabei ist allerdings weit mehr als eine musikalische Wiedergabe einer fabelhaft-situativen Begebenheit. Mahler „interpretiert“ in diesem Lied mit seiner Musik den lyrischen Text, indem er hörbar werden lässt: Ein „Esel“ kann nur mit den Ohren eines Esels hören; für ihn klingt alle Musik, möge sie auch, weil von einem „Kuckuck“ oder einer „Nachtigall“ kommend, noch so wesensverschieden sein, gleich, - so, wie seine Ohren sie ihm zu präsentieren vermögen. Und das ist natürlich eine bemerkenswerte Aussage über die Kritiker seiner Musik, die der Komponist Gustav Mahler hier macht. So eindimensional harmlos, sich in schlichter Komik erschöpfend, ist die Parodie nicht, die die inhaltliche Substanz dieses Liedes ausmacht.


    Es steht in D-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und soll „keck“ vorgetragen werden. Das zehntaktige Vorspiel deutet klanglich an, worum es hier gehen wird: Um den Wettgesang von „Kuckuck“ und „Nachtigall“. Wobei allerdings ein wenig kurios anmutet, dass beide hier munter durcheinander singen. Im Diskant und im Bass erklingt eine Folge von Figuren aus Achteln, Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln, in die sich immer wieder Fallbewegungen von Achteln über ein sich permanent verringerndes Intervall hineindrängen, - wie wenn der Kuckuck in den Nachtigallen-Gesang hineinruft. Am Ende sind zwei solcher Rufe in Gestalt eines staccato und portato angeschlagenen Terzfalls zu vernehmen.


    Das Lied weist eine strophische Gliederung auf. Diese ist aber komplexer, als sie sich anfänglich darbietet. Bei den beiden ersten Strophen herrscht weitgehende Identität in der Struktur der melodischen Linie. Man meint also ein Strophenlied vor sich zu haben, insbesondere auch deshalb, weil Melodik und Klaviersatz in ihrer Einfachheit ein wenig den Geist des Volksliedes atmen. Bei den drei nachfolgenden Strophen bietet sich ein anderes klangliches Bild. Sie sind nicht nur von unterschiedlicher Länge, sondern auch in ihrem inneren Aufbau verschieden und vor allem komplexer. Ganz wesentlich hat das mit dem Klaviersatz zu tun, der klangmalerische Funktionen übernimmt und darin so viel Raum beansprucht, dass er die Singstimme zu längeren Pausen zwingt.


    Aber auch die melodische Linie wirkt im Aufgreifen der Aussage des lyrischen Textes komplexer. Sie muss das gebundene Fließen, dem sie sich in den beiden ersten Strophen überlassen kann, zugunsten eines mehr rhetorisch-deklamatorischen Gestus aufgeben, - bis hin zu lautimitatorischem Auftreten. Von für Mahler geradezu ungewöhnlicher Schlichtheit ist die Harmonik des Liedes. Sie pendelt bis auf wenige Ausnahmen im wesentlichen zwischen der Tonika D-Dur und der Dominate „A“ hin und her. Die Modulationen, die sich dabei ereignen, haben kein großes klangliches Gewicht. Die beiden Rückungen nach d-Moll und g-Moll bei den ersten drei Versen der dritten Strophe und den beiden ersten der vierten Strophe muten wie ein harmonisch ungewöhnliches Ereignis an.


    Mit Schwung, nämlich einem Anstieg in Sekundschritten über eine None, setzt die melodische Linie bei den Worten „Einstmals in einem tiefen Tal“ ein. Die Melodik der ersten und der zweiten Strophe weist bei all ihrer einfach anmutenden Klanglichkeit doch einen recht raffinierten Aufbau auf. Es ist die Aufeinanderfolge von Anspannung und Entspannung, in der ihr hohes Potential an Eingängigkeit gründet. Nach einem relativ kurzschrittigen Anlauf folgt in der melodischen Linie immer wieder eine Phase der Entspannung in Gestalt eines bogenförmig gedehnten Ausschwingens in hoher Lage, - so bei den Worten „Kuckuck“, „anschlagen“ und „davon tragen“. Die Tatsache, dass Mahler den Anstieg der melodischen Linie über eine ganze Oktave bei den Worten „und, was recht ist, kennen“ am Ende in ein Tremolo münden lässt, ist das erste Indiz dafür, dass er den Esel zu einer komischen Figur werden lassen will. Das Klavier stützt in seiner Begleitung der Singstimme diesen Aufbau der melodischen Linie. Die deklamatorischen Schritte vollzieht es mit – oder nach -, und bei den melodischen Dehnungen lässt es nach oben laufende Sechzehntel-Ketten erklingen. Die Pause zwischen der ersten und der zweiten Strophe füllt es mit Motiven aus dem Vorspiel.


    Spaßig mutet an, dass auf den Worten „Sie flogen vor den Richter bald“, mit denen die zweite Strophe einsetzt, zwar noch einmal die Melodik liegt, mit denen das Lied einsetzt, - nun aber in d-Moll harmonisiert. Auch die aus hoher Lage langsam fallende melodische Linie auf den beiden nächsten Versen ist in Moll gebettet und mündet in g-Moll. Mahler wollte damit wohl die Komik der Situation zum Ausdruck bringen, dass ein veritabler „Richter“ eingeschaltet wird. Über sechzehn Takte lang lässt nun das Klavier eine lieblich, aus Sexten und Terzen gebildete Melodie erklingen, in die im zehnten Takt die Singstimme mit den Worten einfällt: „Die Nachtigall sang lieblich aus“. Am Ende, im fünfzehnten Takt, stapft der Esel „barsch“ (Anweisung) in sie hinein, - mit einem in tiefer Lage ansetzenden Oktavsprung und einer wie um sich selbst sich drehenden doppelt bogenförmigen Bewegung aus zwei Sechzehnteln und einem Achtel bei den Worten „Du Machst mir´s kraus“. Und um diesem kuriosen Auftritt die Krone aufzusetzen, deklamiert die Singstimme in Fistel-Lage ein doppeltes „I-ja“ in Gestalt eines melodischen Falls über das Intervall von 16 Tonstufen, den das Klavier im Diskant mitvollzieht. Während es darin weiter fortfährt, bekennt der Esel in einer melodischen Fallbewegung über das Intervall einer Sexte: „Ich kann´s im Kopf nicht bringen“. Und diese komische Figur soll nun Richter in einer ernsten Sache werden.


    Prompt unterbricht er den Gesang des Kuckucks durch „Terz, Quart und Quint“, von dem die Singstimme in fallenden Dreierfiguren aus Sechzehnteln und Achteln spricht und den das Klavier mit Sexten im Diskant und Quinten im Bass begleitet, mit einem groben „Wart! Wart!“, das auf nur je einem, von Pausen begrenzten und über eine Terz abgestuften Ton deklamiert wird. Dass er sein Urteil sprechen will, betonter mit einem zweimaligen Sekundfall in der Wiederholung des Wortes „sprechen“. Bemerkenswert ist an der Faktur dieser Strophe, dass in dem zweitaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier den Gesang des Kuckucks erklingen lässt, dieselben klanglichen Figuren von Sexten zu vernehmen sind, wie auch bei der klanglichen Suggestion des Nachtigallen-Gesangs zuvor. Für den Esel ist da offensichtlich kein Unterschied zu hören.


    Noch einmal erklingt bei diesem Spruch am Anfang die Aufstiegsbewegung der melodischen Linie über eine None, die man vom Anfang der ersten und der zweiten Strophe her kennt, und die auch – in Moll harmonisiert – die dritte einleitet. Nun aber fehlt die leichte Rhythmisierung durch die Punktierung des zweiten deklamatorischen Schrittes, und das will die Gewichtigkeit dessen, was der Esel zu sagen hat, hörbar werden lassen. Dass der Esel den Kuckuck gewinnen lässt, weil der angeblich „gut Choral“ zu singen vermag, betont er zwei Mal mit der gleichen melodischen Figur eines aus einem punktierten Achtel hervorgehenden Sekundfalls, und den Worten „fein innen“ verleiht er einen starken Akzent in Gestalt eines lang gedehnten Sekundsprungs und –falls in hoher Lage. Das Klavier begleitet das mit bedeutungsschweren Akkorden im Diskant und Oktav-Folgen im Bass. Noch zwei Mal setzt Mahler das Prinzip der Wiederholung einzelner Worte auf der gleichen oder einer ähnlichen melodischen Figur ein, um den Esel vollends zu einer lächerlichen Figur werden zu lassen: Bei „hoh´n Verstand“ und „gewinnen“. Zu dem Wort „gewinnen“ nimmt die melodische Linie gleichsam einen Anlauf in Gestalt einer kleinen Sechzehntel-Kette, die das Klavier im Diskant mitvollzieht. Es ergeht sich danach in Wiederholungen von Motiven aus dem Vorspiel und verleiht damit dem Lied innere Geschlossenheit.


    Es endet darin aber nicht. Drei Mal lässt Mahler den „Gewinner“ und den, der ihn dazu gemacht hat, noch lautlich in Erscheinung treten: Den Kuckuck mit einem zweifachen staccato artikulierten Terzfall in absteigender Linie, den das Klavier mitvollzieht, und den Esel mit einem in eine Dehnung mündenden Oktavfall. Der wird auf komische Weise mit Gewicht versehen, weil das Klavier zu dem tiefen „D“, das der Sänger im Wert einer halben Note halten muss, in Bass und Diskant mit einem doppelten Terzfall hinführt und das tiefe „D“ dann ebenfalls erklingen lässt.

  • Dieses Lied ist – für mich - ein höchst bemerkenswerter Beleg für die tiefe Ernsthaftigkeit der Liedkomposition Mahlers und die auf eine hochgradig bedeutsame musikalische Aussage ausgerichtete künstlerische Intention, die hinter ihr steht. Es stellt ja eigentlich ein musikalisches Werk dar, das nicht aus einer ihm längere Zeit vorausgehenden kompositorischen Intention hervorging, sondern ist - von den äußeren Umständen seiner Genese her - tatsächlich so etwas wie ein Verlegenheitsprodukt, entsprungen dem Ungeschick, dass die Unterlagen für die eigentliche, den Urlaub in Steinbach im Juni 1896 begleiten sollende kompositorische Arbeit, die an der Dritten Symphonie nämlich, versehentlich zu Hause liegen geblieben waren.


    Nun würde man eigentlich erwarten, dass aus dieser situativen Gegebenheit ein heiteres, gefälliges und in seiner künstlerischen Aussage nicht allzu bedeutsames Lied hervorgegangen wäre. Und liest man, was Mahler an die ihm in tiefer Freundschaft – vielleicht gar Liebe – verbundene Sängerin Anna von Mildenburg schrieb, dann könnte man fast glauben, dass er in diesem Lied tatsächlich eine letztlich arglose, harmlose, wenig gewichtige Komposition sah. Er schrieb in sprachlich lockerem Urlaubs-Stil:
    „Ein sehr lustiges Liedel hab ich doch gemacht – es gefällt eigentlich blos des Textes wegen, der aus >des Knaben Wunderhorn< ist und dem ich den Titel >Lob der Kritik< geben werde. Es hat zum Inhalt einen Wettstreit zwischen einer Nachtigall und einem alten Kukuk, welchen der Esel als Richter entscheiden soll. Natürlich erkennt er mit gewichtiger Miene den Preis dem Kukuk zu. Du wirst lachen, wenn du´s hörst.“


    Zwei Stellen sind bemerkenswert an dieser brieflichen Äußerung. Die Bemerkung „es gefällt eigentlich blos des Textes wegen“ ist verwunderlich. Man fragt sich, weil das ja nun absolut unzutreffend ist: Liegt da ein Fall von Understatement vor? Die Antwort auf diese Frage liefert eine kleine sprachliche Partikel: Das Wörtchen „natürlich“ (erkennt er den Preis dem Kuckuck zu). Im Zusammenhang mit dem eigentlich vorgesehenen Titel „Lob der Kritik“ , der ja nun blanke Ironie ist, enthüllt es indirekt die zentrale Aussage, die Mahler in die Liedmusik gelegt hat: Ein geradezu vernichtendes Urteil über die intellektuelle Fähigkeit und die Urteilskompetenz der Musik-Kritiker seiner Zeit.


    Und die ist ja nun in ihrem satirisch scharfen, weil in einem amüsant und geradezu belustigend daherkommenden Ton nicht zu überhören. Und dies in vollem Umfang und Gehalt allererst in der Orchesterfassung, weil die einzelnen Instrumentengruppen hier in ihrem Kommentar zur melodischen Linie der Singstimme ihr klangliches Potential einbringen können. Das beginnt ja schon mit dem Vorspiel. Dadurch, dass die drei melodischen Motive, die hier erklingen, auf verschiedene Instrumente gelegt werden (Klarinette, Horn, Flöte und Streicher) und sich alle dann im Kuckuck-Terzfall-Motiv mit dem Fagott zusammen vereinigen und die Vorlage zum Einsatz der melodischen Linie der Singstimme liefern, gewinnt die musikalische Szene, in der sich das nachfolgende Lied entfaltet, erst die sinnlich-klangliche Konkretheit, aus der sich dann die musikalische Aussage in ihrer satirischen Derbheit generieren kann.


    Wo man hinhört, stößt man auf diese kompositorisch höchst kunstvolle und die musikalische Aussage zu einem wesentlichen Teil allererst generierende Kommentar-Funktion des Orchestersatzes. Wenn die Singstimme die melodische Linie auf den Worten „Kukuk und Nachtigall täten ein´ Wett anschlagen“ deklamiert, kommentieren das die Klarinetten mit in hohe Lage aufsteigenden Sechzehntel-Terzen, die sich vorübergehend dort zu Achtel-Oktaven erweitern, danach aber wieder al Terzen in einen Fall übergehen. Das ist eine klanglich-sinnliche Imagination des spektakulären Ereignisses, das sich nun anbahnen wird. Und die nachfolgende melodische Linie auf den Worten „zu singen um das Meisterstück“ wird von den ersten und zweiten Violinen, einschließlich der Violen, mitvollzogen und danach vom Fagott mit einem Zitat aus dem Vorspiel (der aufsteigenden Sechzehntel-Figur der Klarinetten) kommentiert, was dem Spektakel vorausweisend das ihm gemäße Gewicht verleiht.


    Es sind oft klanglich drastische Mittel, zu denen Mahler greift, um seine kompositorische Intention zu realisieren, - hier also die bitterbös-sarkastische Bloßstellung der Musik-Kritik seiner Zeit. Und dieses Nicht-Zurückschrecken vor klanglicher Drastik ist nicht nur ein typisches Merkmal seiner Liedkomposition, sondern seines kompositorischen Schaffens ganz allgemein.
    Auch das begegnet einem in diesem Lied in immer wieder neuen Varianten. Wenn die Singstimme die aufsteigende melodische Linie auf den Worten „Dank soll er davon tragen“ deklamiert, wird sie dabei in schmetterndem Ton von der B-Trompete begleitet, und danach lassen die Flöten, die Oboen und die Klarinetten den Kuckucks-Sextfallruf erklingen, der danach von den ersten Violinen wie ironisch mit einer in Zweiunddreißigsteln fallenden Figur kommentiert wird. Und wie der Gipfel dieser ironischen Drastik mutet an, dass, nachdem die Singstimme die Worte „und was recht ist, kennen“ auf einer in Terzen und einer Quart aufsteigenden und in albernen Triller mündenden melodischen Linie deklamiert hat, eine viertaktige Generalpause in die Liedmusik tritt, die die Pauke dazu nutzt, sich mit vier mächtigen Schlägen zu Wort zu melden.

  • Mahler hat in das „Rondo-Finale“ seiner „Fünften Symphonie“ ein Zitat aus diesem Lied eingearbeitet. Es handelt sich um das in Sekunden ansteigende Sechzehntel-Motiv, mit dem die Klarinetten im Vorspiel einsetzen, und das dann von den Hörnern in einem dreifachen Sekundfall fortgeführt wird. Ihm kommt ja eine zentrale Rolle im Lied zu, und insofern verkörpert es sozusagen seinen liedmusikalischen Geist. Gleich am Anfang, der aus einer Art Dialog von vier Stimmen besteht, wird es vom Fagott erstmals artikuliert und später dann noch mehrfach in der Entwicklung des sinfonischen Satzes aufgegriffen.


    Es ist hier nicht möglich, auf die Motive einzugehen, die Mahler zu diesem Zitat bewogen haben könnten. Das erforderte ein detailliertes Eingehen, auf die Funktion, die es im Rahmen dieses Finales hat, das sich ja in höchst subtiler Weise in Zitaten aus den vorangehenden Sätzen ergeht. Was wiederum bedeutet: Man müsste sich auf die ganze Symphonie einlassen und die Funktion, die das Finale darin hat.


    Anzumerken ist hier – neben dem neuerlichen Hinweis auf die enge Verknüpfung von liedkompositorischem und sinfonischem Schaffen bei Mahler – im Grunde nur dieses: Das Zitat aus diesem Lied erfüllt im Finale der „Fünften“ wohl die Funktion einer ironischen Distanzierung und Relativierung, - was ja ganz offensichtlich der zentrale musikalische Gehalt dieses letzten Satzes ist. Der als musikalischer Kritiker und Richter absolut inkompetente Esel stellt in diesem Lied lauthals fest: „Aber Kuckuck singt gut Choral“. Und ein Choral spielt in dieser Symphonie eine wesentliche Rolle. Hört man genau hin, dann vernimmt man schon im sechsten Takt andeutungsweise den Schluss des Chorals, die Oboe zitiert danach dann seinen Anfang, und de Klarinette fügt dann am Ende beides zusammen.


    Es ist wohl so, dass Mahler sich von der Feierlichkeit des Chorals distanzieren wollte, weil er im Grunde allem Feierlich-Bekenntnishaften zutiefst misstraut. Und da fiel ihm sein sarkastisch-kritisches Lied ein, und einem Zitat daraus konnte er nicht widerstehen. Mit dieser kompositorischen Intention hat das Finale der „Fünften Symphonie“ schon so manchen Hörer und kritischen Betrachter zutiefst verstört. Das geht so weit, dass der Mahler-Biograph Frank Berger zu dem Urteil kam, hier handele es sich um nicht mehr als ein „in höchstem Maße geistvolles, gekonntes Spiel“, eine „souveräne Zurschaustellung des erreichten Könnens“.
    Und er fügt – wohl ein wenig verbittert – an: „Wohl nie hat sich Mahler weiter von sich selbst entfernt als hier.“
    Dieser Meinung bin ich in gar keiner Weise. Aber ich bin kein Mahler-Experte, und im übrigen gehört das ja auch nicht hierher!

  • Des Morgens zwischen drei´n und vieren,
    Da müssen wir Soldaten marschieren
    Das Gässlein auf und ab;
    Tralali, tralalei, tralalera,
    Mein Schätzel sieht herab.


    "Ach, Bruder, jetzt bin ich geschossen,
    Die Kugel hat mich schwere, schwer getroffen,
    Trag´ mich in mein Quartier!
    Tralali, tralalei, tralalera,
    Es ist nicht weit von hier. "


    "Ach,Bruder, ach, ich kann dich nicht tragen,
    Die Feinde haben uns geschlagen,
    Helf, dir der liebe Gott!“
    Tralali, tralalei, tralalera,
    Ich muß marschieren bis in Tod!"


    "Ach, Brüder, ach, Brüder, ihr geht ja mir vorüber,
    Als wär´s mit mir vorbei,
    Als wär´s mit mir vorbei!
    Tralali, tralalei, tralalera,
    Ihr tretet mir zu nah!


    Ich muß wohl meine Trommel rühren.
    Ich muß wohl meine Trommel rühren,
    Tralali, tralalei, tralali,
    Sonst werd´ ich mich verlieren,
    Tralali, tralalei, tralala!
    Die Brüder dick gesät,
    Die Brüder dick gesät,
    Sie liegen wie gemäht. "


    Er schlägt die Trommel auf und nieder,
    Er wecket seine stillen Brüder.
    Tralali, tralaei, tralali, tralalei!
    Sie schlagen ihren Feind, Feind, Feind,
    Tralali, tralalei, tralaleralala,
    Ein Schrecken schlägt den Feind,
    Ein Schrecken schlägt den Feind!


    Er schlägt dieTrommel auf und nieder,
    Da sind sie vor dem Nachtquartier schon wieder,
    Tralali, tralalei, tralali, tralalei!
    Ins Gässlein hell hinaus, hell hinaus,
    Sie zieh´n vor Schätzleins Haus.
    Tralali, tralalei, tralali, tralalei, tralalera,
    Sie zieh´n vor Schätzleins Haus, tralali!


    Des Morgens stehen da die Gebeine
    In Reih´ und Glied, sie steh´n wie Leichensteine,
    In Reih´, in Reih´und Glied.
    Die Trommel steht voran, die Trommel steht voran,
    Daß sie ihn sehen kann.
    Tralali, tralalei, tralali, tralalei, tralalera,
    Daß sie ihn sehen kann!


    Mehr als alle anderen Wunderhorn-Lieder transzendiert diese Komposition die gattungsspezifischen Formelemente des Liedes, so dass man sich eigentlich scheut, es so zu nennen. Die melodische Linie der Singstimme ist eigentlich Bestandteil eines wesenhaft orchestralen Satzes, - wie sogar die Klavierlied-Fassung erkennen lässt. Obwohl es die ungewöhnlich hohe Expressivität dieser Komposition – bis hin zum Übergang der Singstimme ins Schreien – nahelegt, zur Orchesterfassung zu greifen, soll die für Singstimme und Klavier – wie in allen anderen Fällen auch – der Besprechung zugrundegelegt werden. Sie lässt alle wesentlichen, für die musikalische Aussage konstitutiven Strukturelemente sehr klar erfassen. Der Nachbetrachtung erfolgt dann auf der Grundlage der Orchesterfassung.


    „Tempi di marcia“ steht fett gedruckt über dem Notentext. Und das ist mehr als eine Vortragsanweisung für das Lied: Es ist Ausdruck seines klanglichen Wesens. Die Marschmusik, die in ihrer klanglichen Prägung durch Tremoli und Doppelvorschläge und in ihrer Rhythmisierung durch Sechzehntel-Achtel-Quartolen gleich in den ersten beiden Takten des Vorspiels aufklingt, entwickelt eine solche Dynamik, dass sie alles mitreißt, der melodischen Linie der Singstimme keinen Raum zur eigenständigen Entfaltung lässt und über die strophische Gliederung, die der lyrische Text eigentlich mit sich bringt, regelrecht hinweg schwappt. Der Marschrhythmus ist ein wesentlicher Inspirator und Motor der Musik Mahlers, aber in einer solchen, alles dominierenden und mit sich reißenden Dominanz begegnet man ihm sonst nicht wieder.


    Acht Strophen weist das Lied auf, man nimmt sie aber als solche gar nicht wahr, weil immer dann, wenn die Singstimme sich zu Wort meldet, das so wirkt, als würde sie sich in den permanent im Marschrhythmus voranstürmenden und darin nicht die geringste Pause machenden Klavier-, bzw. Orchestersatz mühsam hineindrängen, um sich an dem, was dieser musikalisch aufführt und zum Ausdruck bringt, mit ihren geradezu dürftig anmutenden Mitteln zu beteiligen, - bis ihr nach all dem sforzato vorgebrachten „Tralali“ des Refrains gar nichts anderes mehr zu bleiben scheint, als „con tutta forza“ ins Schreien zu verfallen.


    Wie sehr die melodische Linie der Singstimme in die Zwänge des Marschrhythmus, wie ihn der Klaviersatz entfaltet, eingebunden ist, das lassen die ersten beiden Liedstrophen auf beeindruckende Weise vernehmen. Erst mit der dritten Strophe kommt ein etwas weicherer, von Kantabilität angehauchter Gestus in sie, - dem lyrischen Text mit dem kläglichen Geständnis geschuldet: „Ach Bruder, ich kann dich nicht tragen“. Die beiden ersten Strophen weisen, was die Struktur der melodischen Linie anbelangt, eine ähnliche Anlage auf. Auf den ersten drei Versen liegt je eine kleine Melodiezeile, in der sich der Marschrhythmus in der Weise niederschlägt, dass die Folge von deklamatorischen Schritten in Gestalt von Achteln in der Mitte eine kleine Dehnung aufweist und am Ende in eine lange mündet. Zusammen mit der bogenförmigen Anlage der melodischen Linie und ihrer Harmonisierung in d-Moll und g-Moll bewirkt das, dass die Liedmusik den Ausdruck von Bedrängtheit und schmerzlicher Klage aufweist. Und das ist ha auch genau das, was der lyrische Text sagt: Da spricht und klagt einer, der schwer verwundet ist.


    Der Tralali-Refrain, der sich in konstanter Weise an alle Aussagen der drei Personen des Liedes anheftet – denn es ist ja auch wieder ein dialogisches mit einem Erzähler – wirkt dabei wie ein Verfolger, der den Kern dieser Aussagen, den grausam-unmenschlichen Aberwitz des Krieges, in seiner musikalischen Expressivität erst wirklich zur Geltung bringt. In vielen Varianten tritt er auf, aber man kann einige Grundformen darin ausmachen: Die in hoher Lage ansetzende und darin kläglich wirkende Fallbewegung in Sekunden und die, eine gewisse Willensenergie ausstrahlende aufwärts gerichtete Bewegung in kleinen Sprüngen. Das sind aber zumeist auch nur solche in Sekunden, viel Energie steckt also nicht in ihnen, und vor allem: Am Ende steht bei dieser Variante auch wieder der Niedergang der melodischen Linie in Sekunden und die Moll-Harmonisierung. Aber die geradezu aufdringliche Wiederkehr dieses Refrains liefert, neben dem ihn gleichfalls aufgreifenden und gleichsam fortsetzenden Zwischenspiel des Klaviers, den entscheidenden klanglichen Beitrag zur tief erschreckenden, weil dem Hörer in Gestalt eines surrealen Totentanzes begegnenden musikalischen Aussage des Liedes.


    Die aus einem in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg bestehende Variante des Tralali-Refrains erklingt erstmals in der dritten Strophe, jener, in der ein Kamerad bedauert, dass er den Verwundeten nicht tragen könne. Die melodische Linie bringt dieses Bedauern auf beeindruckende Weise zum Ausdruck. Sie entfaltet sich nun in deutlich stärker gebundener Weise, als dies in den beiden vorangehenden Strophen der Fall war, und sie ist in B-Dur harmonisiert, das vorübergehend nach F-Dur moduliert. Auf dem zweimaligen „Ach Bruder“ liegt ein ausdrucksstarker Sextsprung, die melodische Linie steigt immer wieder in höhere Lage auf und geht bei dieser Bewegung in Dehnungen über. Bei den Worten „Helf dir der liebe Gott“ beschreibt sie zunächst eine Fallbewegung, die bei dem Wort „Gott“ in eine Dehnung mündet, bei der Wiederholung dieser Worte geht sie aber dann in eine über eine ganze Oktave sich erstreckende Bogenbewegung über, die, weil mit einem Diminuendo versehen, die Hilflosigkeit und das Bedauern dieses Kameraden klanglich sehr intensiv vernehmen lässt.


    Bei seinem „Tralali“ verfällt die melodische Linie in ihrem Sekundanstieg auch prompt in das Tongeschlecht Moll (von g- nach c-Moll), und beim „Tralalera“ am Ende beschreibt sie einen ausdrucksstarken gedehnten Sextsprung, aus dem die überaus resignativ wirkende Fallbewegung auf den Worten „Ich muss marschieren bis in den Tod“ hervorgeht. Auf einem gedehnten tiefen „G“ wird dieses Wort „Tod“ deklamiert und erhält in seiner g-Moll-Harmonisierung dadurch ein starkes Gewicht. Gesteigert wird es durch das lange, nämlich zehntaktige Nachspiel, in dem das Klavier in wie endlos wirkender Weise immer wieder im Marschrhythmus angeschlagene und von einem Tremolo eingeleitete, also Trommelwirbel suggerierende Quinten und dreistimmige Akkorde erklingen lässt, - bezeichnenderweise in Dur harmonisiert. Was wohl heißen soll: Ich marschiere frohgemut, wie das von mir verlangt wird, und ergebe mich dem Schicksal.


    Der Verwundete, der sich in der vierten Strophe wieder zu Wort meldet und nun, neben dem Erzähler, im Mittelpunkt der nachfolgenden Strophen steht, greift in seinem doppelten „Ach Brüder“, mit dem die Strophe eingeleitet wird, die melodischen Sprungbewegungen auf, die auch sein Kamerad in der Ansprache an ihn benutzt hat. Aber dieser Versuch der Kommunikation scheitert auf schreckliche Weise: Die „Brüder“ gehen an ihm vorüber. Merkwürdigerweise weist die melodische Linie hier keinerlei klagenden oder gar verzweifelten Ton auf. Sie wirkt in der Art ihrer anfänglich von Achtelfiguren geprägten Bewegung fast schon munter, - und sie ist in G-Dur harmonisiert. Der Sextsprung, der auf der zweiten Silbe des Worten „vorbei“ liegt, steht gar in C-Dur, und die nachfolgende Fallbewegung der melodischen Linie auf der Wiederholung der Worte „als wär´s mit mir vorbei“ wirkt in ihrer G-Dur-Harmonik und in ihrem Ende auf dem Grundton auf eigenartige Weise volksliedhaft arglos, - so als spreche da einer, dem gar nicht bewusst ist, oder der nicht wahrhaben will, dass er da zum Tode liegt.


    Und vielleicht bringt der zugehörige Tralali-Refrain die Erklärung dafür, was in dem Verwunderten in diesem Augenblick vor sich geht. Es ist wieder jener mit dem anfänglich kleinen und in Moll harmonisierten Sekundanstieg der melodischen Linie, die dann bei den wiederholten Worten „ihr tretet mir zu nah“ in eine zweifache Fallbewegung in Sekundschritten übergeht, wobei das Wort „nah“ am Ende eine Dehnung trägt. Ein leicht schmerzlicher Klageton wohnt ihr inne, er ist aber gepaart mit einer Andeutung von Selbstbehauptungswillen. Immerhin ist das tiefe „D“, auf dem das Wort „nah“ deklamiert wird, in D-Dur harmonisiert.


    Diese Tonart D-Dur ist im wesentlichen auch diejenige, in die die melodische Linie fast der ganzen fünften Strophe gebettet ist. Erst beim letzten Vers („Die Brüder dich gesät“) ereignet sich eine Rückung nach g-Moll, das über a-Moll nach d-Moll moduliert. Das lyrische Bild bewirkt sie, und die melodische Linie bringt dieses mit einem gleichsam konstatierenden Gestus von Tonrepetitionen zum Ausdruck, die am Ende in eine über sein großes Intervall sich erstreckende Fallbewegung übergeht. Die fortissimo deklamierte melodische Linie der vorangehenden Verse dieser Strophe ist ganz von dem energischen „Ich muss“ geprägt, mit dem der erste Vers einsetzt. Die Sekundfall-Bewegung, die auf diesen beiden Worten liegt, mündet in eine Dehnung, die das „muss“ besonders akzentuiert. Der melodische Bogen, auf den Worten „wohl meine Trommel rühren“ unterstützt die Anmutung von energischer Entschlossenheit, die von der Melodik dieser Strophe ausgeht. Und das gilt auch für das „Tralali-Tralalei“, das dieses Mal durch viele Sprungbewegungen und Tonrepetitionen eine melodische Sonderform aufweist, - natürlich in Dur harmonisiert.
    (Fortsetzung folgt)

  • Im nachfolgenden siebentaktigen Zwischenspiel entfaltet das Klavier einen geradezu irrwitzig anmutenden klanglichen Marschmusik-Wirbel: Mit Dreifach-Vorschlägen versehene, sich über Bass und Diskant erstreckende und fortissimo angeschlagene Oktaven, aufrauschende Sechzehntel-Ketten, die in dreistimmige Akkorde münden, derweilen es im Bass weiter mit Vorschlagsoktaven wirbelt, gebettet das alles in permanent modulierende Moll- und verminderte Harmonik und am Ende mündend in Sforzato-Tremoli im Diskant und nach unten rauschende Sechzehntel-Ketten im Bass. Das ist die Überleitung zum Höhepunkt des Liedes: Dem Totentanz im Marschrhythmus.


    Die melodische Linie der sechsten Strophe, die fortissimo vorgetragen wird und in es-Moll einsetzt, ist deklamatorisch in markanter Weise vom Marschrhythmus geprägt. Der Erzähler spricht weder, und er tut das, bevor er seinerseits in das „Tralali“ verfällt, in Gestalt von zwei rhythmisiert fallenden und in einer Dehnung in tiefer Lege endenden melodischen Linien. Das Klavier folgt ihnen mit Oktaven im Diskant und mit Dreifach-Vorschlag artikulierten Einzeltönen im Bass. Das „Tralali“ erklingt zunächst in zwei sforzato deklamierten, nach unten gerichteten melodischen Bogenbewegungen, ihm folgt ein geradezu bohrend deklamiertes, weil als Wiederholung der melodischen Bogenbewegung deklamiertes „Und sie schlagen und sie schlagen ihren Feind, Feind, Feind“ .Penetrant leiernd wirkt das nächste „Tralali“, und dann verfällt die Singstimme wieder in bohrende Deklamation: In Gestalt von Repetitionen des immer gleichen Tons (eines tiefen „E“) bei der Wiederholung der Worte „Ein Schrecken schlägt den Feind“.


    In der siebten Strophe behält die melodische Linie diesen hochgradig expressiven, vom Marschrhythmus total beherrschten und dabei eng wortgebundenen deklamatorischen Gestus bei, und auch das Klavier bleibt bei einen fortissimo artikulierten Trommelschlägen im Bass und den oktavischen Bewegungen im Diskant. Moll-Harmonik (vorwiegend es-Moll) beherrscht das Ganze. Erst mit den Worten „ins Gäßlein hell hinaus“ kommt wieder ein wenig Ruhe in diesen vom Marschrhythmus vorangepeitschten, klanglich hochgradig expressiven und darin unheimlich anmutenden Totentanz-Wirbel. In Sekundschritten senkt sich die Vokallinie langsam aus hoher in mittlere Lage ab und geht dann, nach einer kurzen Pause, bei den Worten „Sie zieh´n vor Schätzleins Haus“, wie zur Ruhe kommend, in eine wellenartige Sekundschritt-Bewegung in eben dieser tonalen Mittellage über. Das Klavier lässt nun, ebenfalls zur Ruhe gekommen, vier arpeggierte Akkorde erklingen. Der „Tralali“-Refrain erklingt nun in klanglich fast strahlend wirkender, aber mit einem leicht schmerzlichen Unterton versehener Ruhe, weil sich die melodische Linie in einem tonal engen Raum entfaltet und erst am Ende mit einem Sprung und einem Fall in eine Dehnung übergeht. Das letzte „Tralali“ dieser Strophe wird „con tutta forza“ auf einem in eine lange Dehnung mündenden Quartsprung in hoher Lage deklamiert. Er ist in fis-Moll harmonisiert.


    Ein gewaltiges, siebenundzwanzig Takte umfassendes Zwischenspiel folgt, bevor die letzte Strophe des Liedes erklingt. Das Klavier vollzieht mit akkordischen Marschklängen die melodischen Bewegungen der vorangegangenen Strophe noch einmal nach, geht dann zu eigenartig irrlichternd wirkenden Trillerbewegungen in hoher Lage über, die in Gestalt von Achtel-Figuren in tiefere Lage absinken, wobei immer mehr Ruhe in die Bewegungen kommt, bis es dann wieder zur Artikulation von Marschrhythmus in Gestalt der bekannten rhythmisierten Akkordfolgen übergeht. Eingelagert sind darin bedeutungsschwer wirkende, eine melodische Linie zeichnende Bewegungen von Oktaven im Bass. Sie wirken, als deuteten sie ein bevorstehendes Ereignis an. Am Ende leiten aus hoher Lage fallende Terzentriller zur letzten Strophe über.


    Auf gespenstische Weise schließt das Lied. Die melodische Linie des Liedanfangs erklingt, eingeleitet wie dort mit den Worten „Des Morgens“. Nur dass diesen nun das erschreckende Bild von den Gefallenen folgt, die wie „Leichensteine“ „in Reih und Glied“ vor des Liebchens Haus stehen. Der Erzähler spricht noch einmal, und er benutzt dabei die melodische Linie, mit der der Soldat anfangs verkündete, dass Soldaten eben marschieren müssen, weil das ihr Leben und ihr Auftrag ist. Und nun steht er als Totengerippe vor der Tür seines Liebchens. Mahler hat, um diesem Bild in seiner Schrecken erregenden Expressivität gerecht zu werden, nicht den Klaviersatz übernommen, der der melodischen Linie am Liedanfang zugeordnet ist. Zwar erklingt im Bass auch wieder der in d-Moll harmonisierte und akkordisch realisierte Marschrhythmus, darüber aber erheben sich in hohe Lage des Diskants aufsteigende und dort in Triller mündende Sechzehntel-Figuren, die dann, bei den Worten „in Reih und Glied“ in wellenartig sich auf und ab bewegende Terzen übergehen. Die klangliche Lieblichkeit, die hier vom Klavier in wie aufgesetzt wirkender Weise in den grundlegenden Marschrhythmus eingebracht wird, steht in einem erschreckenden Kontrast zu dem, was die Singstimme zu sagen hat.


    Auch die Liedmusik, die auf den Worten „Die Trommel steht voran“ liegt, kennt man schon: In ihren Tonrepetitionen, die in eine fortissimo deklamierte Fallbewegung der melodischen Linie über eine Duodezime münden. Und auch das letzte „Tralali“, das dem folgt, ist eine Wiederkehr, - wie so alles in dieser Strophe. Es setzt melodisch so ein wie jenes, das nach den Worten „Sie steh´n vor Schätzleins Haus“ erklingt. Dann aber, beim „Tralalera“, beschreibt die melodische Linie nun keine Fallbewegung, sondern geht – überraschenderweise – in einen mit einer Rückung von g-Moll nach D-Dur verbundenen Sextsprung über. Und auch die nachfolgende, das Lied beschließende Fallbewegung der Vokallinie auf den Worten „daß sie ihn sehen kann“ erklingt in Dur Harmonisierung (A-Dur). Der Trommler steht voran, auf dass das Schätzlein ihn sehen kann. Grund genug, dass die melodische Linie hier im Tongeschlecht Dur steht.


    Aber es ist eine Leiche, die sie erblickt. Und darum ist der letzte Ton, in den die melodische Linie beim letzten Wort „kann“ mündet, zwar die Terz zum Grundton, aber nicht ein „Fis“, wie das eigentlich von der D-Dur Harmonik her sein sollte, sondern ein „F“. Das d-Moll ist wieder da. Mit ihm setzte das Lied ein, und den letzten Ton seiner Melodik hat es sich wieder ergriffen.


    Dieses Lied, das in grauslichen Bildern von Krieg und Tod erzählt und sich darin bis in einen surrealistischen Totentanz steigert, kann in seiner exzessiven klanglichen Chromatik ein tongeschlechtliches Dur nicht dulden. Dort, wo es für kurze Augenblicke auftauchte, ist es Ausdruck einer Fiktion von heiler Welt, die alsbald vom Schrecken der realen eingeholt und weggefegt wird.

  • Dieses Lied ist – ebenso wie der „Tamboursg´sell“ etwas später entstanden als die übrigen Wunderhorn-Lieder dieser Gruppe. Die äußeren Umstände sind bei Natalie Bauer-Lechner gut dokumentiert. Demnach trug Mahler schon lange den Plan zu Komposition mit sich herum, dann aber kam es in relativ kurzer Zeit zur Umsetzung. Anfang Juli 1899 war das Lied vollendet, und zwar „instrumentiert und bis aufs Tüpfelchen ausgeführt“. Dass es sich nicht nur von seiner kompositorischen Faktur her, sondern auch für Mahler selbst um mehr als ein „Lied“ im herkömmlichen Sinn handelte, zeigt seine von Natalie Bauer-Lechner bezeugte Bemerkung, der 1986 entstandene erste Satz der Dritten Symphonie stelle gleichsam eine vorausgehende „rhythmische Studie“ zu „Revelge“ dar. Diese Äußerung mutet zunächst einmal verwunderlich an, wird doch hier ein sinfonischer Satz, der in der Realisation deutlich mehr als eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, mit einem musikalischen Werk im Sinne einer Vorstudie im Beziehung gesetzt, das dafür gerade mal sieben Minuten benötigt.


    Sie ist aber nicht wirklich verwunderlich. Mahler hat in diesem „Wunderhorn“-Lied zum ersten Mal den Marsch als substanziellen Kern eines musikalischen Werkes eingesetzt, und dies mit einer Radikalität in seinen Konsequenzen kompositorisch ausgeführt, wie das zuvor nicht geschehen war. Insofern verkörpert es tatsächlich so etwas wie die Initialzündung zu seinem nachfolgenden sinfonischen Werk. Und man kann sehr wohl, wie das in musikwissenschaftlichen Analysen zu lesen ist, die Auffassung vertreten, beim Kopf- und der Finalsatz der Sechsten Symphonie handele es sich um so etwas die ins Überdimensionale ausgeweitete Neufassung von „Revelge“. Aber auch von diesem Mahler-spezifischen Aspekt einmal abgesehen: In der Art und Weise, wie die melodische Linie der Singstimme zum funktionell integralen Bestandteil eines dominanten, auf expressive Klanglichkeit hin ausgerichteten Orchestersatzes wird und dabei, weil von seiner rigiden Marsch-Rhythmik mitgerissen, ihr Eigensein preisgeben muss, stellt dieses Lied ganz sicher eine Komposition dar, bei der die Zuordnung zur Gattung „Lied“ – auch der Sparte „Orchesterlied – im Grunde nicht mehr angebracht ist.


    Was den Marsch-Rhythmus anbelangt, den Mahler diesem „Lied“ zugrunde gelegt hat und ihn sich in geradezu exzessiver Weise entfalten lässt, so ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass er dabei von Hector Berlioz inspiriert wurde. Man kann in „Revelge“ durchaus Anklänge an den „Marche au Supplice“ der „Symphonie fantastique“ vernehmen. Mahler hatte sie am 20. November 1898, also zur Zeit der Entstehung dieses „Lieds“, zum ersten Mal dirigiert und war tief von ihr beeindruckt.


    Die Fassung für Singstimme und Klavier vermag – so sehr sich in ihr die Grundstruktur des Werkes durchaus erschließt – diesen Sachverhalt nicht wirklich in adäquater Weise sinnlich erfahrbar zu machen. Aus diesem Grund soll auch hier – und da ist es nun in besonderer Weise angebracht – wieder, wie das ja nun Praxis geworden ist, die Nachbetrachtung auf der Grundlage der Orchesterfassung erfolgen.

  • Dass dieses Lied im Grunde ein sinfonisch-orchestrales Werk darstellt, zeigt nicht nur seine spezifische kompositorische Faktur im Hinblick auf das Verhältnis von melodischer Linie der Singstimme und Orchestersatz, man kann es auch an seiner inneren Anlage, seiner kompositorischen Binnengliederung in der Abfolge der einzelnen Strophen erkennen. Hier zeichnet sich in durchaus ausgeprägter Weise eine Art Exposition, eine Durchführung und ein Finale im Sinne einer Reprise ab.
    Mit der Liedmusik auf den Strophen eins bis vier wird das Werk gleichsam eröffnet, wobei sich darin eine klanglich deutlich ausgeprägte Untergliederung in die Strophengruppen eins und zwei einerseits und drei und vier andererseits abzeichnet. In den Strophen fünf bis sieben entfaltet die Liedmusik dann ihre volle Expressivität als klangliche Imagination eines Totentanzes.
    Man könnte fast meinen, Mahler habe sich dabei an die Worte des von ihm hoch geschätzten Jean Paul erinnert und sei von ihnen inspiriert worden:
    „Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft.“


    Die Liedmusik der achten Strophe, die sich ja im Wieder-Aufgreifen der melodischen Linie des Liedanfangs tatsächlich als „Reprise“ präsentiert, wird dann zum klanglich gespenstischen Finale des Totentanzes im Sinne seines Erstarrens zur schieren Konfiguration von Totengebein. Das imaginative Potential von Mahlers Liedmusik kann sich allererst in der Orchesterlied-Fassung voll entfalten, die für Singstimme und Klavier vermittelt nur gleichsam eine Ahnung davon. Schon das fünfundzwanzig Takte umfassende Zwischenspiel (Takt 128 bis 153) lässt das deutlich vernehmen. Zunächst klingt noch das „Tralali“ in den Holzbläsern, den Hörnern und den Streichern mit einem mächtigen Wirbel nach, den das Becken und die große Trimmel mit schweren Marsch-Akzenten versehen.


    Dann aber, mit den aufsteigenden Triller-Terzen der Flöten verstummen Hörner und Schlagwerk, und eine gespenstische Stille baut sich auf. Zwar melden sich die Trompeten mit marschmäßig rhythmisierten Stößen, aber sie tragen Dämpfer. Und das gilt auch für die Streicher. Immer wieder nehmen sie eine Art wirbelnden Anlauf zur Artikulation eines Marschrhythmus´, den die Trompeten dann aufgreifen und fortführen, wobei nun auch das Becken, dieses freilich mit Schwammschlägel, und die kleine Trommel sich beteiligen. Klanglich ereignet sich hier ein wirklich gespenstisch anmutendes immer wieder erneutes, wie aus einem Wirbel hervorgehendes Sich-Erheben und wieder Zusammensinken der Liedmusik, dem ein wie aus der Ferne kommendes gedämpftes Trompetensignal nachfolgt. Und bevor dann die Singstimme mit den Worten „Des Morgens stehen da die Gebeine“ einsetzt, lassen die Flöten und die Klarinetten wieder ihre geisterhaft anmutenden Terzen-Triller erklingen, die auch des weiteren zur Begleitung der melodischen Linie der Singstimme werden.


    Diese wiederholt ja ihre Bewegungen, mit denen sie das Lied eröffnete. Nun aber tut sie das „piano“, und der klangliche Raum, in dem sie sich nun entfaltet, ist einer, in dem der Marschrhythmus zwar noch präsent ist, aber wie gebrochen wirkt. Nur die Pauke und das Becken geben ihn dumpf vor, und die ersten und zweien Violinen lassen ihre sich in der Kombination von Akkord-Repetitionen von Sechzehntel und Achtel rhythmisierten Figuren erklingen. Aber die klanglich irrlichternden Triolen der Flöten und Klarinetten fahren immer wieder verstörend dazwischen. Wenn sich dann die Singstimme bei den Worten „dass sie“ („ihn hören kann“) zu einem fortissimo trompetenhaft schmetternden Ton aufschwingt, begleiten sie die Oboen, die Klarinetten und die Streicher dabei und verleihen ihm Nachdruck.


    Und das, was dann nachfolgt, die letzte Version des „Tralili-Tralala“ gewinnt durch die Einbettung der melodischen Linie der Singstimme in die im Marschrhythmus permanent nach oben rauschenden Zweiunddreißigstel-Ketten der Streicher, die vier Schläge der Pauke pro Takt und die in extremer Höge darüber erklingenden Flötentöne eine wahrlich gespenstische klangliche Aura.
    Das dreitaktige Nachspiel wirkt mit seinen Trillern in den Flöten, Oboen und Klarinetten, dem gedämpften Schmettern der Trompeten, den dumpfen Paukenwirbeln und dem Triangel-Klirren wie ein im Pianissimo versinkender bitterer Kommentar dazu.

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  • Goethe hob in seinem – überaus treffenden - Kommentar zu der „Wunderhorn“-Sammlung u.a. diese Erfahrung hervor, die der Leser bei dem intensiven Sich-Einlassen auf den Inhalt derselben machen kann:
    „Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten, doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Raume die ganze Welt zu sehen glauben.“
    Ganz unmittelbar stellen sich hier Mahlers Worte zu den grundsätzlichen Zielen seines kompositorischen Schaffens ein: Er wolle nämlich in seinen Sinfonien „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine neue Welt aufbauen“.
    Die „neue Welt“, - das ist für ihn einerseits ein künstlerische Gegen-Entwurf zu der als höchst unzulänglich und defizitär erfahrenen eigenen Lebenswelt, es ist aber auch – und das gilt vor allem für seine Lieder, die ja im Grunde eine Einheit mit dem sinfonischen Schaffen bilden – die musikalisch-klangliche Evokation vergangener Lebenswelten, in denen Wesensmerkmale der menschlichen Existenz in exemplarischer Weise in Erscheinung treten und darin aufzuzeigen vermögen, woran sich Entwürfe einer „neuen Welt“ in ihrem utopischen Potential auszurichten haben.
    Das Lied „Revelge“ lässt das – wie ich finde - in ganz besonders beeindruckender, ja regelrecht betroffen machender Weise sinnlich erfahrbar werden.


    Sein musikalisch-klanglicher Wesenskern, seine zentrale kompositorisch-künstlerische Aussage ist für mich die Pervertierung des Marsches als Menetekel der elementaren Gefährdung menschlicher Existenz in ihrem Geworfensein in Militarismus, Krieg und Tod. Darauf ist das ganze Lied ausgerichtet, und das in einer in seiner klanglichen Expressivität sich permanent steigernden Weise. Die Anweisung „Marschierend, in einem fort“, die Mahler oben drüber gesetzt hat, hebt direkt darauf ab. Und schon das Vorspiel setzt die für das ganze Lied wie klangliche Leitlinien maßgeblichen Akzente. Die klanglichen Figuren, die im folgenden ein geradezu exzessives Eigenleben entfalten und die melodische Linie der Singstimme in einer sie regelrecht vergewaltigenden Weise für sich vereinnahmen werden, erklingen zum ersten Mal: Die aus der Tiefe aufbrausende Tremolo-Figur der Streicher, der die große Trommel an ihrem Ende einen schweren dumpfen Akzent versetzt; das schmetternde, aus zwei Sechzehnteln und drei Achteln bestehende Signal der Trompete – eine Figur, die die Streicher dann immer wieder einmal übernehmen werden - ; und die wie leiernd aus der Höhe fallende, mit verminderten Quarten chromatisch getrübte Achtel-Zweiunddreißigstel-Figur der Flöten. Oboen und Klarinetten.


    Die Liedmusik der beiden ersten Strophen wird ganz und gar von diesem militärischen Klangarsenal geprägt. Die B-Trompete führt hier das klangliche Wort, darin unterstützt von dem Gerassel der kleinen Trommel, den dumpfen Paukenschlägen und dem dunkel-drohenden Schlag der großen Trommel. Und wenn die Singstimme in ihr „Tralali-Tralalei“ ausbricht, fallen die Holzbläser mit ihren leiernden Zweiunddreißigstel-Figuren ein. Im zweiten Teil der Exposition, der mit der vierten Strophe einsetzt („Ach Bruder, ich kann dich nicht tragen…“), ist zwar der militärische Trompeten-Ton aus der Liedmusik herausgenommen, das Horn tritt an seine Stelle, und die melodische Linie, die zuvor noch in einem fast trompetenhaft anmutenden Gestus auftrat, gibt sich nun ein wenig kantabel-gebundener und wird darin von den ersten Violinen begleitet. Aber der Marschrhythmus bleibt untergründig zugegen: Die zweiten Violinen, die Violen und die Celli halten ihn aufrecht. Und nachdem die Singstimme das Bekenntnis abgelegt hat „Ich muss marschieren bis in den Tod“, sind sie alle wieder da: Die Trompeten mit ihrem militärisch rhythmisierten Schmetterton, die kleine Trommel mit ihren Wirbeln, die große mit ihren dumpfen Schlägen, und das Becken gesellt sich nun auch noch dazu.


    Nachdem die Singstimme die hochexpressive, mit einem Sechzehntel-Terzanstieg einsetzende und dann in eine über eine Duodezime sich erstreckende Fallbewegung übergehende melodische Linie auf den Worten „sie liegen wie gemäht“ deklamiert hat, ereignet sich im Zwischenspiel der Takte 89 bis 96 eine wahrer klanglicher Furor, in dem der Marschrhythmus in eine Art exzessiven, alles an sich reißen wollenden Wildwuchs ausbricht, wobei Harmonik von D-Dur nach es-Moll moduliert. Alle, das Lied von Anfang an dominierenden Instrumenten-Gruppen sind nun mit ihren klanglichen Figuren da und lassen sie sich erst „fff“ und dann „sempre ff“ in geradezu ungehemmter Weise austoben: Alle Streicher mit der aufsteigenden, den Marschrhythmus exzessiv akzentuierenden Zweiunddreißigstel-Folge, in die die kleine Trommel mit ihrem Gerassel einstimmt; dann – wie den Vorgang in seiner extremen Expressivität weiter steigernd - die Holz- und die Blechbläser mit in Terzen und Quarten in hohe Lage aufsteigenden Tönen, die, weil sie dort verminderte Terzen münden, klanglich geradezu irrlichternd anmuten, und schließlich Becken und große Trommel mit fürchterlichen Schlägen im Einklang, in die die Flöten, die Oboen und die Klarinetten mit lang anhaltenden, klanglich irrenTrillern einfallen.


    Das ist die Ouvertüre zu der nachfolgenden melodischen Linie auf den Worten „Er schlägt die Trommel auf und nieder“. Sie erhält damit den für die musikalische Aussage des Liedes maßgeblichen Akzent: Den zum Irrsinn gesteigerten und pervertierten Marschrhythmus, der den Menschen verschlingt und schließlich als Totengerippe zu ihm antanzen lässt.

  • Ich armer Tamboursg´sell,
    Man führt mich aus dem G´wölb.
    Wär ich ein Tambour blieben,
    Dürft´ ich nicht gefangen liegen!


    O Galgen, du hohes Haus,
    Du siehst so furchtbar aus!
    Ich schau´ dich nicht mehr an,
    Weil i´ weiß, daß i´ g´hör dran!


    Wenn Soldaten vorbeimarschier´n,
    Bei mir nit einquartier´n.
    Wenn sie fragen, wer i´g´wesen bin:
    Tambour von der Leibkompanie1


    Gute Nacht, ihr Marmelstein´,
    Ihr Berg´ und Hügelein!
    Gute Nacht, ihr Offizier,
    Korporal und Musketier!


    Gute Nacht!,Gute Nacht! ihr Offizier ',
    Korporal und Grenadier!
    Ich schrei´ mit heller Stimm´,
    Von euch ich Urlaub nimm!
    Gute Nacht! Gute Nacht!



    Auch dieses Lied ist eines, das unter den Wunderhorn-Vertonungen Mahlers eine herausragende Stellung einnimmt. Es ist freilich eine andere als die von „Revelge“. Hier wie dort geht es um Krieg und Tod, aber im Gegensatz zu „Revelge“ begegnet einem dieses Lied als ein auffällig stilles Werk. Damit ist nicht nur seine Dynamik gemeint. Zwar weist die melodische Linie auch Forte-Passagen auf, einmal gar einen Vorstoß ins Fortissimo, gleichwohl ist ihr eigentlicher dynamischer Ort das Piano, und die Forte-Passagen wirken wie expressive Ausbrüche daraus, auf die alsbald die Rückkehr ins Piano folgt. Ganz bezeichnend und typisch für das Lied ist das, was sich dynamisch im zweitletzten „Gute Nacht“ abspielt: Noch innerhalb der langen Dehnung, die darauf liegt, fällt die melodische Linie vom Fortissimo ins Pianissimo zurück.


    Aber noch ein Zweites macht dieses Lied zu einem stillen. Im Unterschied zu „Revelge“ wird hier im Klaviersatz (und auch im Orchestersatz) auf die Evokation militärischer Welt mittels klangmalerischer Effekte verzichtet. Außer der „Nachahmung einer Militärtrommel“ (Anweisung), mit der das Vorspiel einsetzt und in Gestalt von Tremoli die melodische Linie durchgehend begleitet, finden sich in diesem Lied keine weiteren militärischen Signaltöne. Auch das Klavier verhält sich wie die Singstimme: Seine Ausbrüche ins Forte sind vorübergehende, der Klaviersatz ist in auffälliger Weise tonal ausgedünnt.


    Alle diese den klanglichen Charakter des Liedes so stark prägenden Eigenschaften wurzeln in seinem eigentlichen Wesen: Es ist musikalischer Ausdruck eines inneren Monologes. Und das macht es zu einem herausragenden, auf eine neue Phase der Liedkomposition Mahlers verweisenden und zu ihr hinführenden Lied. Es sind die „Kindertotenlieder“ und die andere Gruppe von Rückert-Liedern, deren Liedsprache man hier wie in einem Vorklang vernehmen kann.


    Mit einem pianissimo im Klavierbass angeschlagenen Tremolo auf einem zweigestrichenen „H“ setzt das Lied ein. Zweimal erklingt es, eingeleitet von einem „H“ mit Doppelvorschlag. Es geht dann über in einen klanglich dumpfen und finster wirkenden e-Moll-Akkord. Damit ist die Atmosphäre geschaffen, in der die Singstimme mit ihrem inneren Monolog einsetzt. Für sie gilt die Anweisung „narrante semplicemente, senza sentimentalità. Die erste Melodiezeile, der ja eine klägliche Selbstansprache des Tamboursgesellen zugrundeliegt, erhebt sich in regelrecht schweren, weil z.T. mit Dehnungen versehenen Schritten um gerade mal eine Terz von einem tiefen „E“ aus nach oben, um alsbald wieder auf diesen tonalen Ausgangspunkt zurückzusinken. Begleitet wird sie darin von tremolierenden e-Moll-Akkorden. Dieser lastend und müde wirkende Gestus der Deklamation, der in der ersten Melodiezeile, der eine lange Pause folgt, aufklingt, ist typisch für das ganze Lied.


    Schon bei den nächsten Versen setzt er sich fort. Bei den Worten „Man führt mich aus dem G´wölb“ verharrt die melodische Linie in silbengetreuer Staccato-Deklamation auf einem tiefen „Fis“, das den Wert einer halben Note trägt und deshalb höchst gewichtig wirkt. Bei dem Wort „G´wölb“ wird daraus eine den Takt ausfüllende ganze Note. Hier, bei dieser Melodiezeile wechselt die Harmonik von dem anfänglichen und später auch weiter das Lied dominierenden e-Moll zum Tongeschlecht Dur über (G-, D-, H-Dur). Diese Rückung der Harmonik in den Dur-Bereich ereignet sich im weiteren Verlauf noch mehrmals, und zwar immer dann, wenn das lyrische Ich seine Sprechhaltung ändert, - von der introvertierten Klage über die eigene Situation in einen narrativen, das Geschehen beschreibenden Gestus übergeht.


    Der erste von den erwähnten Ausbrüchen aus dem Piano-Bereich ereignet sich bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe („Wär´ ich ein Tambour blieben…“). Die melodische Linie steigt von dem tiefen „Fis“, auf dem sie so lange verharrte, langsam in obere Mittellage empor, gipfelt dann bei dem Wort „blieben“ auf einem eine lange Dehnung tragenden hohen „C“ auf und geht danach mit einem Sekundsprung in eine Fallbewegung übe, die sich bei den Worten des letzten Verses in einer Art Taumelbewegung zu einem tiefen „H“ absenkt. Die Aufgipfelung der melodischen Linie ist mit einem ins Forte übergehenden Crescendo verbunden, und das Klavier begleitet das mit einem lang anhaltenden akkordischen a-Moll-Tremolo. Auch bei den Sprungbewegungen auf dem Wort „gefangen“ kommt noch einmal ein Sforzato in die Deklamation der melodischen Linie. Dann aber zieht sie sich wieder in das ihr wesenhaft eigene Piano zurück, - im lang gedehnten Quartfall bei dem Wort „liegen“.


    Am Anfang der zweiten Strophe setzt die Singstimme mit der gleichen Melodie ein wie am Liedanfang. Das ist höchst aufschlussreich, denn das lyrische Ich spricht hier ja nicht sich selbst, sondern den „Galgen“ an. Der aber ist die Quelle der Klage, die Inhalt der ersten Strophe ist. Der Klaviersatz weist nun aber deutlich mehr klangliche Expressivität auf, ganz dem lyrischen Bild entsprechend. Nun besteht er nicht aus einem lang gehaltenen akkordischen e-Moll-Tremolo, sondern aus einem Staccato-Akkord, der über fallende Achtel und Viertel in ein sich tonal ausweitendes e-Moll-Tremolo übergeht. Zwar bleibt die melodische Linie in dieser Strophe auch bei ihrer Neigung, sich ruhig auf der tonalen Ebene zu bewegen, die sie am Anfang jeder Zeile eingenommen hat, aber immer wieder einmal kommt es zu kleinen Ausbrüchen daraus. Der Grund dafür liegt in den Emotionen, die der Anblick des Galgens im zum Tode verurteilten Tamboursgesellen auslöst.


    Bei dem Wort „furchtbar“ ereignet sich ein melodisches Sich-Aufbäumen, das in einen Quartfall mündet. Die Worte „Ich schau dich nicht mehr an“ werden wiederholt, und das jedes Mal in einer überaus eindringlich wirkenden Portato-Deklamation eines einzigen Tones, - erst eine „H“, dann eines „A“, das zuletzt den Raum eines ganzen Taktes einnimmt. Beim Wiederholen des letzten Verses dieser Strophe gerät die melodische Linie wieder in diese eigentümliche Taumelbewegung, zunächst aufsteigend, dann fallend. Das lyrische Ich weiß, dass es an diesem Galgen alsbald hängen wird, und dieser Gedanke bringt sein Inneres in solche Erregung, dass es aus dem ruhigen Gestus der Deklamation ausbricht und zu fast schon lebhaft anmutenden, z.T. mit Sprüngen versehenen melodischen Bewegungen übergeht. Aber auch wenn das anfänglich in Dur Harmonisierung erfolgt und die Dynamik sich kurz ins Forte steigert, am Ende, beim zweiten „I´ weiß, daß i´ gehör´ dran“ nimmt sich die Melodik wieder ins Piano eines a-Molls zurück.


    Auch in der dritten Strophe setzt die Singstimme mit der Melodiezeile der ersten und der zweiten ein. Sie gewinnt auf diese Weise eine herausragende Funktion, die musikalische Aussage des ganzen Liedes betreffend. Beim nächsten Vers verbleibt sie, aus der narrativen Haltung des lyrischen Ichs heraus („Bei mir nit einquartier´n“), auf der am Anfang eingenommenen tonalen Ebene. Erst bei den Worten „Wer i´ g´wesen bin“ (3. Vers) kommt es zu einer bogenförmigen Aufgipfelung mit Dehnung am Ende. Das lyrische Ich richtet in seinem inneren Monolog den Blick auf die eigene Existenz, deren Ende bevorsteht. Die tiefe seelische Erregung, die damit einhergeht und sich schon mit diesem melodischen Bogen am Ende des dritten Verses andeutet, führt beim vierten zu einer für dieses Lied ungewöhnlichen Steigerung der Expressivität der Melodik.


    Die Aussage „Tambour von der Leibkompanie“ ist Feststellung personaler Identität und Wille zu ihrer Behauptung zugleich, und deshalb wird sie auch wiederholt. Das geschieht „con tutta forza“, nachdem die melodische Linie beim ersten Mal „ff colla voce molto alzata“ deklamiert wurde. Sie steigt, begleitet von Akkorden im Diskant und Tremoli und Achtelbewegungen im Bass, an einem „A“ in mittlerer Lage ansetzend über eine ganze Oktave in hohe Lage auf, die sie mit der letzten Silbe des Wortes „Leibkompanie“ erreicht. Dann aber, und die Modulation von A-Dur nach einem verminderten E-Akkord deutet das an dieser Stelle an, beginnt sie zu brechen und in eine Abwärtsbewegung überzugehen. Die gipfelt zwar in mittlerer Lage in Gestalt eines Bogens bei der Wiederholung des Wortes „Leibkompanie“ noch einmal auf, das aber ist nun in a-Moll harmonisiert, und auf einem gedehnten „A“ in mittlerer Lage endet diese Fallbewegung der melodischen Linie auch. Dies im Piano. Das Wissen um das Ende ist in diesen nur kurz währenden Akt der Selbstbehauptung eingedrungen.
    (Fortsetzung folgt)

  • Aber es hat sich viel ereignet im Innern dieses todgeweihten Tamboursgesellen. Ein sehr langes, zweiunddreißig Takte umfassendes Zwischenspiel reflektiert dies alles noch einmal. Zunächst erklingt eine Folge von langsam in die Tiefe sinkenden und von Tremoli im Bass begleiteten Moll-Akkorden. Diese erlöschen im Pianissimo, und große Stille kommt auf,- nur tiefe und sehr leise Tremoli sind aus der Ferne zu vernehmen. Daraus erheben sich dann im Bass mit zwei Achteln eingeleitete und lang gehaltene fünfstimmig tremolierende Akkorde, aus denen sich wie zögerlich eine melodische Linie herausschält. Es ist die der Strophenanfänge, und sie enthüllt sich hier endgültig in ihrem leitmotivischen Charakter. Was ihr nachfolgt, entpuppt sich beim Wiedereinsatz der Singstimme als die melodische Linie, die der vierten Strophe zugrundeliegt.


    In ihr – und der nachfolgenden letzten Strophe – ereignet sich der innermonologische Abschied des Tambours von der Welt, die bislang die seinige war, - die von „Offizier, Korporal und Musketier“. Es ist der Abschied vom Leben, und er wirkt so erschütternd, weil er melodisch in einem überaus ruhig deklamierten, wie aus müder Schicksalsergebenheit kommenden „Gute Nacht“ kommt. Die melodische Linie verbleibt bei den ersten beiden Versen durchweg in tiefer Lage, als habe sie nicht mehr die Kraft, sich von dort aus aufzuschwingen. Bei „Gute Nacht“ ist es gerade mal ein aufwärtsgerichteter Sekundschritt von einem tiefen „D“ zu einem „E“, und dem folgt eine lange Dehnung. Überhaupt weist die melodische Linie hier auffällig viele Dehnungen auf, - bei „Marmelstein“ eine kleine, bei „Berg“ und „Hügelein“ je eine in Gestalt eines Sekundanstiegs oder –falls, dies auch bei den Worten „Offizier“ und „Musketier“.


    Und hier, wenn der Tambour sich die Welt, aus der er kommt, im Abschied-Nehmen davon direkt vergegenwärtigt, bringen die Emotionen, die damit verbunden sind, die melodische Linie wieder dazu, in höhere Lage aufzusteigen. Innerhalb des Wortes „Offizier“ beschreibt sie einen höchst ausdrucksstarken Septsprung, fällt danach in kleinen Schritten ab, um sich aber bei dem Wort „Musketier“ noch einmal zu einem kleinen Sprung (über eine Quarte“ aufzuraffen. Aber der Fluss der Melodik bleibt schleppend, wirkt müde, und dieser Eindruck verstärkt sich noch bei der neuerlich wiederholten Deklamation der Worte „Gute Nacht“ in tiefer Lage, wobei die Dehnung auf dem Wort „Nacht“ erst aus einem kleinen Sekundsprung, dann aber aus dem über eine Terz besteht, - als wolle das lyrische Ich diesem Abschied noch einmal Nachdruck verleihen.


    Und tatsächlich kehren die Sprungbewegungen bei den Worten „Offizier, Korporal und Grenadier“ am Ende noch einmal wieder, - allerdings mit nur noch drei kleinen Dehnungen am Ende der Worte, und diese in tiefer Lage. Moll-Harmonik beherrscht diese Strophe (e-Moll, nach d-Moll rückend). Aber der Eindruck, dass dieser Tambour nicht in seinem Abschiedsschmerz versinken, sondern den letzten Worten an seine Welt Nachdruck verleihen möchte, verstärkt sich dadurch, dass beim letzten „Gute Nacht“ die Harmonik mit einem Mal von a-Moll nach D-Dur rückt. Im Dur-Bereich bleibt sie freilich nur kurze Zeit. Bei den letzten Worten („Korporal und Grenadier“), die mit dem Absinken der melodischen Sprungbewegungen und einem ins Piano mündenden Decrescendo verbunden sind, kehrt das d-Moll wieder zurück, und das Klavier lässt im Nachhinein lange dumpfe Tremoli in sehr tiefer Basslage erklingen.


    Die letzte Strophe mutet in der Entschiedenheit, mit der die melodische Linie deklamiert wird, in der Dynamik, in der dies erfolgt, einem Forte nämlich, das sich am Ende in ein Fortissimo steigert, und in der anfänglichen Dominanz von Dur-Harmonik an, als bekenne sich das lyrische Ich zu seinem Schicksal, sei einverstanden damit und gerate auf diese Weise zu einer Befreiung von Schmerz und Leid. Mit zwei langen Dehnungen auf einem Ton setzt die melodische Linie bei den Worten „Ich schrei mit heller Stimm´“ ein, bevor sie sich in Forte-Deklamation langsam zum Grundton „D“ hin absenkt, der wiederum eine lange Dehnung trägt. Zu dem Wort „Urlaub“ hin ereignet sich ein klanglich geradezu munter anmutender Sextsprung, der allerdings dann in eine Fallbewegung übergeht. Zwar kommt es zu dem Wort „nimm“ hin noch einmal zu einem kleinen Sprung (über eine verminderte Quarte), aber die gedehnte Fallbewegung danach ist in verminderte Harmonik gebettet. Der Tod meldet sich doch wieder. Und die Wiederholung der Worte „Von euch ich Urlaub nimm´“ wirkt in den sich verkleinernden Sprungbewegungen, der fallenden Linie, die sie beschreiben, und der Harmonisierung in d-Moll noch doch wieder wie von Schmerz und Klage durchsetzt.


    Tief anrührend wirkt der Schluss des Liedes. Wie ein von hellem Dur in tristes Moll rückender Fanfarenruf mutet die Folge von drei Akkord-Paaren an. Der erste Akkord wird dabei forte angeschlagen und geht gebunden in das Piano des Molls über. Das erste „Gute Nacht“ erklingt in geradezu endloser, sich über fast fünf Takte erstreckender Dehnung des hohen „D“, auf dem es Fortissimo deklamiert wird. Das Klavier begleitet das mit silbengetreu angeschlagenen und dann ebenfalls lang gehaltenen d-Moll-Akkorden. Als würde die Linie langsam zerbrechen und verklingen, senkt sich danach eine Folge von Einzeltönen im Diskant über einem lang gehaltenen bitonalen Moll-Akkord im Bass ab. Und dann folgt das letzte „Gute Nacht“, deklamiert „mit brechender Stimme“ auf einer sehr langsam, weil in gedehnter und gebundener Weise sich von einem tiefen „F“ über ein „E“ und ein „Es“ zu einem tiefen „D“ absenkenden melodischen Linie.


    Das Klavier lässt ein sich über sechs Takte erstreckendes tiefes akkordisches d-Moll Tremolo nachklingen, das in seinem dreifachen Piano wie ein in weiter Ferne angeschlagener dumpfer Trommelwirbel anmutet.

  • Dem Orchesterlied ging zwar auch dieses Mal die Fassung für Singstimme und Klavier voraus, aber auch hier ist – mehr noch als bei den vorausgehenden „Wunderhorn“-Liedern – festzustellen: Die Liedkomposition kommt, was die intendierte musikalische Aussage anbelangt, erst in der Orchesterfassung wirklich zu sich selbst. Es handelt sich beim „Tamboursg´sell“ von der kompositorischen Intention her um ein ursprünglich genuines Orchesterlied. Und überdies ist es eines, in dem sich in der kammermusikalischen Polyphonie des Satzes Mahlers künftige Liedsprache abzeichnet. Es wirkt darin wie ein liedmusikalischer Vorgriff auf die Rückert-Vertonungen und insbesondere die „Kindertotenlieder“. Zweifellos ist das textbedingt, - stellt doch der Abschieds-Monolog eines dem Tod entgegen sehenden lyrischen Ichs den liedmusikalischen Kern dar.


    Die kammermusikalische Intention, die dem Lied zugrundeliegt, zeigt sich schon in der Zusammensetzung des Orchesters. Die Streicher sind auf die Celli und die Kontrabässe reduziert. Es dominieren Bläser und Schlagwerk. Aber während letzteres geradezu umfassend vertreten ist – Pauke, kleine und große Trommel, Becken und Tamtam – fehlt bei den Bläsern das Blech in voller Stärke. Nur in den vier F-Hörnern und der Tuba ist es vertreten, ansonsten aber das ganze Holz: Zwei Oboen (auch Englischhörner), zwei Klarinetten in B, Bassklarinette in B, zwei Fagotte, Kontrafagott.
    Bemerkenswert aber: In der Regel agieren die einzelnen Instrumentenruppen gleichsam solistisch und artikulieren sich nur dort, wo es um die große klangliche Akzentuierung und Kommentierung der Aussage der melodischen Linie geht, als geschlossenes Ensemble. Die spezifische Eigenart dieser fortentwickelten Liedsprache Mahlers besteht – wie dieses Lied erstmals in prägnanter Weise vernehmen lässt – im Zusammenspiel einer strukturell und dynamisch hochgradig differenzierten (Anweisungen: „steigernd“, „mit Grausen“, „mit sehr erhobener Stimme“, „schreiend“, „kläglich“, „mit gebrochener Stimme“) melodischen Linie der Singstimme mit einem klanglich ebenso differenziert agierenden, weil die einzelnen Instrumentengruppen in ihrem klanglichen Potential gezielt einsetzenden Orchester.


    Wie in programmatischer Weise ist das schon im achttaktigen Vorspiel zu vernehmen, in dem, während das ganze Orchester im letzten Augenblick – bemerkenswerterweise – ins Schweigen verfällt, die Singstimme „mit naivem Vortrag, ohne Sentimentalität“ (Anweisung) auftaktig einsetzt. Wie aus weiter Ferne beginnt in geradezu gespenstisch anmutender Weise die kleine Trommel mit ihrem „gedämpften“ hohlen rhythmischen Gerappel. Die Klarinetten und die F-Hörner treten auftaktig hinzu. In ihre nachfolgende, ganz in Moll-Harmonik gebettete melodische Fallbewegung stimmen die Bassklarinette und die Fagotte ein. Das Tamtam setzt einen ersten harten klanglichen Akzent, den die Celli, die Kontrabässe und das Kontrafagott noch in ein weiches Tremolo zu betten versuchen, - bis dann in den Takten sechs und acht die Pauke mit zwei harten und dumpfen Schlägen auftritt, die sagen wollen, worum es in diesen Lied gehen wird: Um den Tod am Galgen nämlich.


    Es ist einer, der als realer Vorgang allererst bevorsteht. Hier im Lied ereignet er sich antizipatorisch in monologisch imaginativer Vergegenwärtigung im lyrischen Ich. Und Mahlers Liedmusik vermag dies in ihrer ganz spezifischen – und darin großartigen – Synthese von melodisch lyrischen und epischen Elementen einerseits, orchestral dramatischen und sinfonisch narrativen Elementen anderseits in vollkommen adäquater Weise musikalisch zu vermitteln. Erst in der Orchesterfassung wird dies in seiner ganzen klanglichen Fülle und Tiefe vernehmlich. In der für diese neue Liedsprache typischen Weise ereignet sich die klangliche Akzentuierung und Kommentierung der melodischen Linie in Gestalt von Beiträgen einzelner Instrumentengruppen, die sich dann im Nach- und Zwischenspiel zu einem alles gleichsam noch einmal zusammenfassenden Kommentar vereinigen. Das kann hier nicht in einer neuerlichen Betrachtung des ganzen Liedes aufgezeigt werden. Ein Blick auf die Liedmusik der ersten Strophe sollte genügen.


    Zur im konstatierend klagenden Gestus auftretenden melodischen Linie auf den Worten „Ich armer Tamboursg´sell“ tragen die Fagotte ihr chromatisches Fallmotiv aus dem Vorspiel bei, während die kleine Trommel weiter bei ihrem rhythmisiert-hohlen Gerappel bleibt und Celli und Kontrabässe ihre untergründigen Tremoli fortsetzen. In der nachfolgenden kurzen Pause für die Singstimme vereinigen sich alle Klarinetten mit den Fagotten zur neuerlichen Artikulation des Fallmotivs, in das die Hörner mit einem lang gehaltenen tiefen „C“ und das Tamtam mit einem harten Schlag einstimmen. Der Klageton im Ausruf des lyrischen Ichs erfährt auf diese Weise eine Konkretion, die das Bedrohliche seiner Lage klanglich-evokativ vernehmlich werden lässt.


    Was das Orchester in klanglich akzentuierender Weise zu bewirken vermag, wird im Folgenden auf eindrucksvolle Weise deutlich. Die Worte „man führt mich“ reflektiert die melodische Linie mit einem repetierenden Verharren auf der tonalen Ebene eine tiefen „F“. Die Hörner folgen ihr darin. Aber sowohl die Fagotte, wie auch die zweiten Hörner, die Celli und die Kontrabässe lassen eine fallende melodische Linie erklingen und machen auf diese Weise gleichsam hintergründig deutlich, dass dieser Weg aus dem „G´wölb“, den das lyrische Ich so schwerfüßig beschreitet, einer in den Tod ist. Die in einer bogenförmigen Bewegung ansteigende, wieder fallende und dabei auf ihrem Höhepunkt sich ins Fortissimo steigernde melodische Linie auf den Worten „Wär ich ein Tambour blieben…“ begleiten die Klarinetten und die Fagotte mit chromatisch verminderten Akkorden, um die Schmerzlichkeit zu akzentuieren, die der Aussage der melodischen Linie hier eigen ist, und die Bassklarinette lässt zusammen mit dem Kontrafagott und den Kontrabässen ein Tremolo erklingen, um erneut die lebensbedrohliche Situation zu vergegenwärtigen, in der dieser arme Geselle sich befindet.


    Den in das sehr tiefe „A“ mündenden Quartfall, den die melodische Linie in gedehnter Weise am Ende bei den Worten „gefangen liegen“ beschreibt, begleitet dann fast das ganze Orchester und verleiht ihm in Gestalt eines partiellen Mitvollzugs dieser kläglich-schmerzlichen Fallbewegung durch die Fagotte und die Hörner, durch die Tremoli der Klarinetten, der Celli und der Kontrabässe und durch die Paukenwirbel und die Schläge der kleinen Trommel und des Tamtams einen überaus markanten Ausdruck, der die Bedrohlichkeit der existenziellen Situation des Tambours auf geradezu massive Weise klanglich evoziert.

  • Abschied ist das zentrale Thema dieses Liedes. Die dritte Strophe setzt mit den Worten „Gute Nacht“ ein, und der Tambour wird sie noch fünf Mal wiederholen, - mal in aufsteigender melodischer Linie, dann nämlich, wenn sie mit einer an seine Außenwelt gerichteten Ansprache verbunden sind, mal in fallender, wenn er in die Einsamkeit seiner monologischen Situation zurückfällt. Und am Ende in einem aus einem langen Verharren auf nur einer tonalen Ebene hervorgehenden, und aus diesem Grund geradezu abgrundtief müde und resignativ wirkenden melodisch gedehnten kleinen Sekundfall in tiefer Lage.


    Es ist ein Abschied vom Leben, den die Liedmusik hier klanglich imaginiert. Und die melodische Linie der Singstimme bringt das zum Ausdruck, indem sie sich wie in einem letzten Aufbäumen von Leben und Leben-Wollen mehrfach aus ihrem im Grunde fallenden und in tiefer Lage verharrenden Gestus aufbäumt und in eine Aufstiegsbewegung übergeht, die freilich nicht anhalten kann und alsbald wieder in sich zusammenfällt. Das Orchester bettet sie in Moll-Harmonik. Aber es tut noch mehr, um diesem Abschied ein Gewicht und eine Bedeutung zu verleihen, die über die Dimension des Individuellen, wie sie sich hier in der Situation des Tambours konkretisiert, hinausweist in die der allgemeinen menschlich-existenziellen Relevanz: Es imaginiert mit seinen klanglichen Mitteln selbst Trauer, Klage und Abschied.


    Die Klarinetten und die Celli folgen der melodischen Linie in ihren Bewegungen bei ihrem ersten „Gute Nacht“, die Kontrabässe setzen dazu aber einen permanenten dumpfen Quartfall-Akzent. Bei dem Ausruf „ihr Offizier, Korporal und Musketier“ sind es die Englisch-Hörner, die die melodische Linie in ihren immer erneuten, in immer tiefere Lage absinkenden Fallbewegungen begleiten, zu denen nun die Pauke dumpfe Wirbel und die Tuba anfänglich extrem dunkles Blech beizutragen haben Und bei der Wiederholung dieser Gute-Nacht-Ansprache an die Gesellen seiner militärischen Lebenswelt, die er nun verlassen muss, stimmen die Hörner mit weichen Moll-Terzen in die melodische Linie ein, während die Tuba den Quartfall-Figuren der Kontrabässe nun eine massive Schwere verleiht. Und bei den Worten „ihr Offizier“ folgen die Fagotte und die Hörner mit verminderten Terzen, Sexten und Quinten der bogenförmig sich aufbäumenden melodischen Linie und verstärken auf diese Weise den ihr eigenen Ausdruck von tief schmerzlichem Abschied.


    Und die Liedmusik stirbt am Ende mit der melodischen Linie zusammen. Während diese bei ihrem vorletzten „Gute Nacht“ zwar fortissimo einsetzend, aber dann „verklingend“ (Anweisung) wie auf der tonalen Ebene eines „C“ in mittlerer Lage arretiert wirkt, bevor sie dann beim letzen, das „mit gebrochener Stimme“ zu deklamieren ist, zu dem gedehnten und teilweise verminderten Sekundfall übergeht, tritt auch in das anfängliche Fortissimo der Orchesterstimmen erst ein hartnäckiges Diminuendo, - und dann ein „Morendo“.


    Und sie verstummen Schritt für Schritt. Die Pauken und die Celli begleiten das Erstarren der Singstimme noch einmal mit drei Fortissimo-Quinten und treten dann ab. Die Fagotte und die Klarinetten lassen – sogar anfänglich forte-fortissimo – eine fallende melodische Linie erklingen, bevor sie zu dem übergehen, was die Hörner, einschließlich der Englischen, schon angestimmt haben: Einen langsam ersterbenden und dabei auf einer Ebene verbleibenden Ton. Übrig bleibt die kleine Trommel mit dem hohlen Gerappel, mit dem sie das Lied einleitete. Und wie es da aus der Ferne zu kommen schien, so verliert es sich nun wieder dort.


    Ist es, so fragt man sich, ein Zufall, dass die melodische Linie auf den Worten „Gute Nacht! Ihr Marmelstein! Ihr Berg´ und Hügelein“ entfernt an die erinnert, die auf den Worten „Wohin ich geh´? – Ich geh´, ich wandre in die Berge“ im Schlussteil des Liedes „Abschied“ liegt, dem letzten im „Lied von der Erde“? Bei so manch anderem Komponisten könnte das vielleicht Zufall sein, bei Mahler mit Sicherheit nicht. Dieses von der Gattung Lied zwar inspirierte, aber in seinem musikalischen Geist und seiner Faktur wesenhaft sinfonische Werk hat das Thema „Zeit und Vergänglichkeit“ in der für Mahler so typischen existenziellen Dimension zum Gegenstand. Mahler hat im letzten Lied ausnahmsweise zwei Gedichte („In Erwartung des Freundes“ von Mong-Kao-Jen und „Der Abschied des Freundes“ von Wang-Wei) miteinander kombiniert. Und das Lied lässt auf höchst bedrückende Weise vernehmen: Erwartung und Abschied sind eins, - sind Wesensmerkmale der menschlichen Existenz, deren Kern die Vergänglichkeit ist.
    Das ist ein Generalthema des Menschen und Komponisten Gustav Mahler. Kein Wunder also, dass er sieben Jahre später, bei der Komposition des „Liedes von der Erde“, auf den „Tamboursg´sell“ zurückgegriffen hat.

  • O Röschen rot!


    Der Mensch liegt in größter Not!
    Der Mensch liegt in größter Pein!
    Je lieber möcht´ ich im Himmel sein!


    Da kam ich auf einen breiten Weg,
    da kam ein Engelein (orig. „Englein“) und wollt´ mich abweisen.
    Ach nein, ich ließ mich nicht abweisen!
    Ich bin von Gott und will (orig. „ich will“) wieder zu Gott!
    Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
    wird leuchten mir bis an das ewig selig´ Leben!


    Vorangestellt ist, wie eine Art lyrische Eröffnung, die Anrufung der Rose, die seit dem 11. Jahrhundert Symbol der himmlischen Liebe und Attribut Marias als „Rosa mystica“ ist. Angesichts der existenziellen Not und der Pein, in die sich das lyrische Ich gestellt sieht, wächst in ihm eine Sehnsucht nach dem „ewig selig´ Leben“ im Himmel heran. Das Bild vom „breiten Weg“ könnte aus dem siebten Kapitel des Matthäus-Evangeliums (Vers 13f.)) genommen sein. Deshalb fühlt sich das lyrische Ich auf seinem Weg zu Gott von einem Engel zurückgewiesen. Aber sein Glaube ist stärker: Es weiß, dass Gott ihm ein „Lichtchen“ als Wegweiser geben wird, weil es ja sein Geschöpf ist.


    „Sehr feierlich, aber schlicht“ soll es vorgetragen werden, wobei Mahler ausdrücklich darauf hinweist, dass ein „Schleppen“ dabei vermieden werden soll. Es besteht in der Tat die Gefahr, dass das Lied in seiner ihm eigenen Klanglichkeit bei allzu geringem Tempo in der Realisierung seiner inneren Konturen verlustig geht und in die klangliche Süßlichkeit abrutscht. Mahler besteht auch auf einer inneren Differenzierung, was das Tempo anbelangt. Neben den Anweisungen zu kleineren Passagen in Gestalt von Fermaten und „Ritenuto“-, bzw. „a tempo“-Angaben soll der Mittelteil des Liedes (mit den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ einsetzend) „etwas bewegter vorgetragen werden.


    Der Einstieg ist von einer geradezu überwältigenden Feierlichkeit. Nach dem langsam, weil aus einem Achtel-Auftakt, nachfolgend zwei fermatierten halben Noten und einer ganzen bestehenden Sekundanstieg der melodischen Linie auf den Worten „O Röschen rot“, der in tiefer Lage ansetzt und von den Violinen, den Violen und den Celli begleitet wird, bei die Harmonik von b-Mol nach Des Dur rückt, gehen die Bläser (Fagott, Horn, Trompete) zur Intonation einer choralähnlich anmutenden Liedmusik über. Diese steigt dabei in überaus ruhigen Schritten aus tiefer Lage in mittlere auf und senkt sich danach wieder ab. Weil sich dabei eine permanente harmonische Modulation von „Des“ über „As“, Ges“ b-Moll“ und wieder über „Ges“ und „As“ zurück nach „Des“ ereignet, in die auch das Tongeschlecht einbezogen ist, erweckt die Musik den Eindruck einer Öffnung in die Helligkeit, die danach wieder zurückgenommen wird. Denn die melodische Linie setzt danach in des-Moll-Harmonisierung ein.


    Zunächst bewegt sie sich in ruhiger Form in mittlerer Lage, und das auch in einem engen tonalen Raum. Darin reflektiert sie die lyrische Aussage, die ja zunächst in ihrem sprachlichen Gestus die einer Feststellung ist. Aber schon hier ereignet sich das – in noch verhaltener Weise -, was ihr klangliches Wesen ausmacht. Indem sie dem lyrischen Text in seiner Semantik folgt, geht sie mehr und mehr zu größerer Expressivität über. Denn das lyrische Ich lässt in die einzelnen Verse ja zunehmend seine subjektive Befindlichkeit, seine Wünsche und seine Sehnsucht nach Erlösung einfließen. Dieser wachsende Anteil an affektiven Komponenten führt dazu, dass sich die melodische Linie zusammen mit der Orchesterbegleitung erst nur phasenweise, dann aber, gegen Ende des Liedes, in den Gestus seliger Verzücktheit steigert, der man sich als Hörer nur schwer entziehen kann.


    Hier, in den ersten beiden Melodiezeilen nach dem Einstieg, deutet sich dieser Steigerungseffekt bereits an. Die zweite setzt zwar ebenfalls auf einem „Gis“ in mittlerer Lage ein, weist nun eine Dehnung auf dem Wort „Mensch“ auf und akzentuiert die Worte „in größter Pein“ am Ende mit eine gedehnten Sprung- und Fallbewegung, die höher nach oben ausgreift, als dies in der ersten Zeile der Fall ist. Vor allem aber: Die zweite Zeile ist anders harmonisiert. Während die erste in des-Mol steht, erklingt die zweite in B-Dur. Die ersten und die zweiten Violinen folgen dieses Bewegungen der melodischen Linie, Violen und Celli lassen lang gehaltene Einzeltöne erklingen, die Bläser schweigen. Aber nur bis zum Ende der zweiten Zeile. Dann nämlich wiederholen die ersten und zweiten Trompeten in Gestalt von Terzparallelen die letzten Schritte der melodischen Linie in tonal angehobener Form und verleihen damit dieser von leichtem Klageton begleiteten Aussage des lyrischen Ichs über die Lage des Menschen noch stärkeres Gewicht.


    Der dritte Vers der ersten Strophe bringt mit seinem konjunktivischen „möcht´ ich“ einen innigen Wunsch des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Mahler bringt diesen Aspekt seelenvoller Innigkeit mit höherer Expressivität der melodischen Linie zum Ausdruck, und er steigert ihn noch in seinem musikalischen Gewicht, indem er – wie er das ja oft tut – zum Mittel der Textwiederholung greift. Überdies tragen auch das Orchester und die Harmonik das Ihre zu dieser so ausdrucksstarken Innigkeit der Liedmusik bei. Die melodische Linie senkt sich zunächst langsam in Sekundschritten in tiefer Lage ab. Das aber macht den Oktavsprung, der sich dann inmitten des Wortes „Himmel“ ereignet nur noch expressiver. Und dann, bei der Wiederholung dieses „je lieber möcht´ ich geht die melodische Linie in eine ruhige, weil z.T. in Doppelschritten erfolgende Aufstiegsbewegung über, die in eine neuerliche Aufgipfelung bei dem Wort Himmel mündet, - nun in Gestalt einer Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes, der dann ein zweifacher Sekundfall folgt.


    Die Oboen steigern dies alles noch in seiner Expressivität, indem sie den Bewegungen der melodischen Linie folgen. Die ersten und die zweiten Violinen artikulieren gegenläufige melodische Bewegungen, und nachdem die Singstimme geendet hat, setzen die Oboen die melodische Linie in ihrer zur Aufgipfelung neigenden Tendenz fort, steigern sich dabei, inzwischen von den Streichern begleitet, in immer höhere Lage und gehen dann am Ende in eine lang gedehnte Fallbewegung über. Hierbei folgen ihnen die Streicher mit Sextenparallelen. Zum ersten Mal ist der musikalische Gestus klanglicher Verzückung erreicht, der dieses Lied in seinem Charakter so sehr prägt und zu einem singulären Hörerlebnis werden lässt. Aufgipfelungen der melodischen Linie und Terzen- und Sextenparallelen im Orchestersatz spielen dabei eine maßgebliche Rolle


    Ein neuer Ton kommt mit dem zweitaktigen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe in das Lied. Über lang gehaltenen Sexten der Hörner lassen die Klarinetten triolische Achtelfiguren erklingen, die in ein gedehntes „C“ münden. Und das in b-Moll-Harmonik. Das lyrische Ich geht zu narrativer Sprachlichkeit über, und die Musik reflektiert dies. Diese triolischen Figuren begleiten die melodische Linie auch bei den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“. Mit feinen Einzeltönen tut das auch das Glockenspiel, - bei Mahler immer eine Art musikalische Vokabel für das Hereinragen der Transzendenz in das irdische Geschehen. In ihrer Struktur ist die Vokallinie hier einfach angelegt, dem narrativen Charakter des lyrischen Textes entsprechend: Sie verbleibt weitgehend in tiefer Lage, mach dort nur zweimal eine Sprungbewegung zur Akzentuierung der Worte „ich“ und „breiten“.


    Bedeutsam aber dann das viertaktige Solo der Violine, das sich anschließt und die Pause der Singstimme ausfüllt. Die bogenförmigen Achtel-und Sechzehntel-Figuren, immer noch in b-Moll stehend und ohne Dämpfer ausgeführt, muten an, als würden sie die melodische Linie der Singstimme fortsetzen, nun aber mit mehr Leben erfüllt, - denn das lyrische Ich bewegt sich ja auf dem „breiten Weg“ zum Himmelreich hin. Mit dem Auftritt des „Engeleins“ hellt sich die Liedmusik klanglich deutlich auf: Die Harmonik moduliert nun zwischen A-Dur und D-Dur. Auch die melodische Linie geht zu lebhafteren Bewegungen über, wobei sie, auf einem tiefen „C“ ansetzend, zunächst über eine Oktave aufsteigt, um mit einer Dehnung auf einem hohen „C“ das Wort Engelein“ zu akzentuieren. Nach einem Fall bis hinunter zu einem tiefen „E“ steigt sie erneut auf, wieder um eine Oktave, und hebt nun mittels eines gedehnten Sprungs bis zu einem hohen „E“ das Wort „abweisen“ in markanter Weise hervor. Hier ereignet sich, der Bedeutung des Vorgangs entsprechend, eine Rückung nach a-Moll. Und eben weil sich hier Bedeutsames ereignet, ist das ganze Orchester an der Begleitung der Singstimme beteiligt: Solo-Violine und Flöte vollziehen die Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Wort „abweisen“ mit, die Violinen und die Violen artikulieren fortwährend triolisch fallende Achtelfiguren, die Celli hingegen aufsteigende, und beide Harfen begleiten mit dem Auf und Ab von Einzeltönen, bzw. arpeggierten Akkorden.
    (Fortsetzung folgt)

  • In der zweitaktigen Pause der Singstimme lassen die Flöte und die Solo-Violine wieder diese aus einem Sprung und Fall bestehende Achtel-Sechzehntel-Figur erklingen. In die Melodik auf den Worten „Ach nein! Ich ließ mich nicht abweisen“ hat Mahler insistierende Beharrlichkeit gelegt. Er lässt die Worte wiederholen, und die melodische Linie soll „leidenschaftlich“ vorgetragen werden. Sie ist nun in Cis-Dur harmonisiert und bewegt sich zwei Mal in ähnlicher Weise mit silbengetreuer Deklamation in Sekunden auf einer tonalen Ebene auf und ab, wobei ein Steigerungseffekt dadurch zustande kommt, dass diese beim zweiten Mal um eine Terz angehoben ist. Am Ende erfolgt jeweils eine gedehnte Kombination aus Sekundsprung und –fall, um das Wort „abweisen“ wieder mit einem Akzent zu versehen. Das Orchester setzt seinerseits Akzente durch einen das Wort „nein“ begleitenden, von den Celli, den Violen und der Harfe akzentuierten Akkord, Tremoli in den zweiten Violinen und die Bewegung der melodischen Linie begleitenden Terzen der Oboen. Bei dem Wort „abweisen“ erklingen Tremoli in den ersten und zweiten Violinen, und die Oben artikulieren danach eine klanglich schmerzlich anmutende Figur aus in hohe Lage aufsteigenden Terzen.


    Mit den Worten „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott“ kommt ein „zart drängender“ (Anweisung) Ton in as Lied. Nun herrscht, nach der Kreuz-Harmonik des Mittelteils, wieder B-Harmonik vor. Sie moduliert bis zum Ende des Liedes zwischen Des-, Es-, Ges- und As-Dur. Wieder baut sich, nun aber weiter gespannt, eine Steigerung der Expressivität auf. Bei der melodischen Linie geschieht dies erneut durch Textwiederholungen und die Anhebung der tonalen Ebene von Melodiezeile zu Melodiezeile, verbunden jeweils mit einer harmonischen Rückung, durch die Begleitung der melodischen Linie durch die zweite Solo-Violine, durch von den Celli und den Bässen pizzicato artikulierte Einzeltöne und permanent erklingende Tremoli in den zweiten Violinen und den Violen. Die Fagotte und Hörner lassen lang gehalten Einzeltöne, bzw. Terzen erklingen. Bei der Wiederholung der Worte „der liebe Gott“ hat dieser Prozess der Steigerung der Expressivität seinen Höhepunkt erreicht. Die melodische Figur, die hier auf diesen Worten liegt, ein Terzfall mit nachfolgendem Doppel-Sekundanstieg in hoher Lage, wird von den Solo-Violinen, den ersten Violinen, den Flöten und den Oboen mitvollzogen, während die Hörner, die Posaunen und die Violen Akkorde erklingen lassen. Man empfindet das so, als würde die Liedmusik hier die Luft anhalten, um danach in ein großes Ausatmen überzugehen, dies auch deshalb, weil diese Aufgipfelung mit einer Rückung in die Dominante Es-Dur verbunden ist.


    Und tatsächlich: Die Fallbewegung in Sekunden, die die melodische Linie bei den Worten „wird mir ein Lichtchen geben“ vollzieht und bei der jeder Schritt mit einem Portato-Zeichen versehen ist und von den Flöten und dem Englisch-Horn mitvollzogen wird, während die zweiten Violinen und die Violen Tremoli erklingen lassen, ereignet sich in As-Dur und begegnet dem Hörer wie ein Ausatmen der Musik, wie eine große Entspannung, eine Erlösung von der Angst des lyrischen Ichs, der Zugang zum himmlischen Reich könne ihm verwehrt werden. Es glaubt fest an dieses „Lichtchen“, und die Musik drückt das auf klanglich faszinierende Weise aus. Dies auch deshalb, weil die melodische Linie auf dem Wort „geben“ am Ende einen gedehnten Sekundfall in tiefer Lage vollzieht, der mit einer weiteren Rückung, nach Des-Dur nämlich, verbunden ist.


    Was nachfolgt, ist musikalisch beseligte Verzückung, - und darin wahrlich überwältigend. Von dem tiefen „Des“ aus, auf dem das Ausatmen der melodischen Linie endete, steigt sie bei dem Wort „leuchten“ mit einem veritablen, aber im Pianissimo vollzogenen Oktavsprung zu einem hohen „Des“ auf und senkt sich dann, bei den Worten „wird leuchten mir bis in das ewig“, in silbengetreuen Sekundschritten, und dabei nun in Ges-Dur harmonisiert, langsam bis zu einem tiefen „Es“ ab, um bei dem Wort „ewig“ am Ende einen in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg zu vollziehen. Alle Violinen, einschließlich der Solisten, folgen dieser Bewegung der melodischen Linie und verleihen ihr auf diese Weise einen starken Ausdruck. Die Violen tun das mit Tremoli, und die Celli lassen dazu lang gehaltene Akkorde erklingen.


    Bei der Deklamation des Wortes „ewig“ verstummen alle Streicher überraschend. Die Harfe lässt ein großes Arpeggio erklingen, und die Klarinetten fügen aufsteigende Terzen hinzu. Das ereignet sich während der langen Dehnung der melodischen Linie auf der zweiten Silbe des Wortes „ewig“ und verleiht diesem Wort das musikalische Gewicht, das ihm von der Aussage des lyrischen Textes her zukommt. Auf dem gedehnten „As“ setzt die Singstimme dann auch ohne Pause zur Deklamation der melodischen Linie auf den Schlussworten „selig Leben“ an. Es ist klanglich rauschhaft, was sich hier musikalisch ereignet. Die melodische Linie beschreibt einen in zwei Sekundschritten ansteigenden und dann weit gespannten, auf einem durch Punktierung lang gedehnten hohen „Es“ aufgipfelnden Bogen, der sich dann auf der zweiten Silbe des Wortes „Leben“ um eine Sekunde absenkt und auf einem hohen „Des“ zur Ruhe kommt. Das lyrische Wort „Leben“ wirkt hier wie in eine Aura strahlenden Glanzes gehüllt.


    Das Orchester hat das Seine dazu beigetragen, indem alle Violinen und die Violen nach einem lang gehaltenen Triller in hoher Lage diesen weit gespannten melodischen Bogen mittvollziehen, die Klarinetten aufsteigende Sexten erklingen lassen und die Celli gehaltene Sexten hinzufügen. Danach gehen die Streicher, nur noch begleitet von einem Arpeggio der Harfe, in ein mit einem Ritardando versehenes Ausklingen in Gestalt einer fallenden und in einen lang gehaltenen As-Dur Akkord mündenden melodischen Linie über. „Gänzlich ersterbend“ lautet hier Mahlers Anweisung.

  • Gustav Mahler musste sich von diesem Wunderhorn-Text zutiefst innerlich angesprochen fühlen. Nicht nur er selbst als Persönlichkeit und Mensch war geprägt von einem gleichsam elementaren Dualismus, sein ganzes Werk ist es. Er sah sich hineingeworfen in eine als „schal und lügenhaft“ empfundene und durch und durch verdorbene Welt und sehnte sich nach Erlösung daraus. Zugleich aber haben viele, die ihm näherkamen, bei ihm eine, wie sie es ausdrückten, fast kindlich anmutende „Unschuld des Fühlens“ ein „inniges Einssein mit der ganzen Schöpfung“ konstatiert, so dass die Biographen bei ihm von einer polaren, innerlich gespaltenen Persönlichkeit sprechen. Im Hintergrund seines Frühwerkes steht die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, beim Spätwerk stehen die Themen „Tod“ und Heimkehr ins „gelobte Land“ im Zentrum. Von ihm ist der Satz überliefert: „Alle Musik muß ein Sehnen enthalten – ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.“ Insofern könnte das, was dieses lyrische Ich des „Wunderhorn“-Textes über den Menschen zum Ausdruck bringt, in eben dieser Formulierung von Mahler selbst stammen.


    Die Komposition bildet den vierten Satz der „Zweiten Symphonie“, deren erster Satz am 10. September 1888 vollendet vorlag. Auf dem Titelblatt steht „Todtenfeier“. Das Werk blieb dann liegen bis zum Sommer 1893. Zu dieser Zeit machte sich Mahler an die Komposition des zweiten und des dritten Satzes, und parallel dazu entstanden auch die beiden Lieder, die Eingang in diese Symphonie gefunden haben: „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ (dritter Satz) und „Urlicht“. Im Jahr darauf wurde die Symphonie vollendet und dann 1897 in Leipzig publiziert. Auf die inneren Zusammenhänge des vierten Satzes mit dem Gesamtwerk kann hier nicht in detaillierter und die kompositorische Architektur einbeziehender Weise eingegangen werden. Da dieses Lied aber – im Unterschied zur „Fischpredigt“ – nicht nur in der Substanz seines Orchestersatzes, sondern - obwohl das allerdings bei seiner Komposition so nicht geplant war - in seiner Gänze zu einem eigenständigen Satz der „Zweiten Symphonie“ wurde, muss man wohl, um seine musikalische Aussage voll erfassen zu können, kurz auf den kompositorischen Kontext eingehen, in dem es steht und seine musikalische Funktion zu erfüllen hat.


    Zum „Programm“ seiner „Zweiten Symphonie“ hat sich Mahler mehrfach ausführlich geäußert. Das Wort Programm steht hier in Anführungsstrichen, weil Mahler die „Programm-Sinfonie“ als kompositorisches Konzept entschieden abgelehnt hat. Es liegt der „Zweiten“ ja auch kein „Programm“ im genuinen Sinn zugrunde, vielmehr stehen – wie das so typisch für Mahler ist – existenzielle Grundfragen in ihrem Zentrum: Die Fragen nach Sterben, Tod und Auferstehung. Insofern ist die zweite Sinfonie Mahlers im Grunde eine Fortsetzung seiner ersten, - und so hat er das auch ausdrücklich verstanden wissen wollen:
    „Ich habe den ersten Satz >Totenfeier< genannt, und wenn sie es wissen wollen, so ist es der Held meiner D-Dur-Symphonie, den ich da zu Grabe trage, und dessen Leben ich, von einer höheren Warte aus, in einem reinen Spiegel auffange.“


    Der erste Satz setzt ein unmittelbar nach dem Tod des, wie Mahler ihn nennt, „Helden“. Er kommentiert diesen Satz so: „Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Mal, an unserem geistigen Auge vorüber..“ Die Partitur verlangt danach „eine Pause von mindestens fünf Minuten.“ Sie dient der Vorbereitung auf die Erinnerung an einen „seligen Augenblick aus dem Leben dieses teueren Toten“, wie sie der zweite Satz („Andante moderato“) musikalisch zum Ausdruck bringt. Der dritte Satz, dem die orchestrale Substanz des Liedes „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ zugrunde liegt, zeigt den „Helden“ als verstrickt in die Wirrnis des Lebens und darin den Halt verlierend. Er drückt, in Mahles Worten, den „Geist des Unglaubens“ aus. „Die Welt und das Leben“ werden „zu wirrem Spuk“.


    Und aus der funktionalen Einbindung in diesen programmatischen Kontext ergibt sich nun die spezifische musikalische Aussage nachfolgenden vierten Satzes, die von „Urlicht“ also. Natalie Bauer-Lechner gegenüber sprach Mahler davon, dass das Lied „das Fragen und Ringen der Seele um Gott und ihre eigene ewige Existenz“ zum Inhalt habe. Und im Kontext der Sinfonie würde das dann also heißen: Der „Held“ überlässt sich, vertraut sich ganz und gar der Botschaft des Glaubens an, der ihm sagt, dass die Seele nicht wirklich verloren gehen könne, weil sie von Gott ist und dieser ihr den Weg zum ewigen Leben weisen werde.
    „Urlicht“ ist, in Mahlers Worten, die musikalische Artikulation der „rührenden Stimme naiven Glaubens“. Und in der Architektur der Sinfonie kann man diesen Satz in seinem Charakter als Orchesterlied als „Erlösung“ in doppeltem Sinn verstehen: Erlösung des „Helden“ im Glauben und Erlösung der Musik aus ihrer vorangehenden Sprachlosigkeit.


    Es ist freilich noch eine wesenhaft naive. Der letzte Satz der Sinfonie kehrt dann zum musikalischen Geist des ersten Satzes zurück. Das Jüngste Gericht kündigt sich an. In Mahlers Worten: „Das Ende alles Lebendigen ist gekommen (…) die Erde bebt, die Gräber springen auf, die Toten erheben sich und schreiten in endlosem Zug daher.“ (…) Aber „leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: >Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst Du. Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis ans Herz – alles ist still und selig! (…) Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein.“


    Am Ende ist das die musikalische Einlösung dessen, was das Lied „Urlicht“ in seiner geradezu naiv-kindlichen, und darin freilich überwältigenden Sprachlichkeit sagen wollte. Dazu ist allerdings, was das kompositorische Schaffen Mahlers anbelangt, anzumerken:
    Hier, in der „Zweiten Symphonie“, in der es Mahler erstmals wagte, mit sinfonischer Musik eine „Welt“ zu erbauen, vermag die „rührende Stimme naiven Glaubens“ noch zu helfen, über die Abgründe der menschlichen Existenz hinweg zu kommen. In den mittleren Sinfonien Mahlers wird das nicht mehr der Fall sein. Die Stimme des Kindes wird verstummen. Diese existenziellen Abgründe werden sich erneut auftun, und sie werden sich nicht mehr schließen lassen, weil das Nichts daraus hervor starrt.

  • Oben, in einem der Beträge, mit denen dr. pingel anfänglich diesen Thread begleitete (eine Begleitung, die inzwischen sehr vermisse, ohne eine Ahnung von den Gründen ihrer Abwesenheit zu haben), ist zu lesen:
    „Ich habe nur eine große Bitte, dass du die Lieder aus den Sinfonien doch dazu nimmst, auch das von dir nicht erwähnte "Urlicht". Hierzu würde ich gerne wissen, wie ein solcher gnostischer Text in die Wunderhornlieder kommt und inwieweit Mahler die Gnosis kannte.“ (Beitrag 2)

    Diese Bitte habe ich, was „Urlicht“ anbelangt, ja nun erfüllt und werde ihr mit der nachfolgenden Besprechung der zwei übrigen Orchesterlieder mit sinfonischem Bezug auch weiter nachkommen. Aber auf die Frage, die dr. pingel aufgeworfen hat, vermag ich, so sehr ich mich bemühte, keine befriedigende Antwort zu geben. Ich würde ohnehin infrage stellen, dass bei dem „Wunderhorn“-Gedicht „Urlicht“ eine Inspiration durch genuines Gedankengut der christlichen Gnosis vorliegt. Der Gedanke der „Gotteskindschaft“ spielt sowohl im Alten wie im Neuen Testament eine zentrale Rolle und Paulus setzt ihn gar in einen Bezug zum römischen Recht (Röm.8, 14-17). Dass in dem Bild vom „breiten Weg“ eine direkte Bezugnahme auf Matthäus 7, 13-14 („Gehet hinein durch die enge Pforte…“) vorliegen könnte, wurde bei der Vorstellung des Liedes bereits erwähnt.


    Ich konnte keinerlei Belege dafür finden, dass Mahler sich mit der christlichen Gnosis beschäftigt haben könnte. Obwohl man bei ihm durchaus derlei vermuten könnte, denn er war sein Leben lang ein Sucher, was Antworten auf die zentralen Fragen anbelangte, denen er sich gegenübergestellt sah. Er suchte insbesondere in den Schriften Schopenhauers und Gustav Theodor Fechners und war, wie durch Natalie Bauer-Lechner bezeugt ist, auch offen gegenüber Okkultismus und Spiritualismus. Nach eigenem Bekunden hat er, als er sich mit den existenziellen Grundfragen beschäftigte, die Gegenstand der Zweiten Symphonie sind, die ganze Weltliteratur durchforscht auf der Suche nach dem „erlösenden Wort“, sah sich aber dann, weil er nicht fündig wurde, gezwungen, seinen „Empfindungen und Gedanken selbst Worte zu verleihen.“


    Mahlers Lebensgefühl und Weltsicht waren, wie sein Biograph H.H, Eggebrecht in beeindruckender Weise aufgezeigt hat, von einem fundamentalen, und darin geradezu manichäistisch anmutenden Dualismus geprägt. Daraus geht, wie eine Suche nach dem rettenden Weg daraus, seine tiefe Zuneigung zum Wesen der elementaren Natur hervor. In einem Jugendbrief ist zu lesen:
    „O meine vielgeliebte Erde, wann, ach wann nimmst du den Verlassenen in deinen Schoß. Sieh, die Menschen haben ihn fortgewiesen von sich, und er flieht hinweg von ihrem kalten Busen, dem herzlosen, zu dir! O, nimm den Einsamen auf, den Ruhelosen, allewige Mutter!“
    Man meint, diesen Worten, die ja die eines noch jungen Menschen sind, in seinem Spätwerk „Lied von der Erde“ wieder zu begegnen.


    Die musikalisch-künstlerische Beschwörung und Imagination der „anderen, besseren Welt“, wie man ihr in seinem sinfonischen Schaffen immer wieder begegnet, gehört ebenso hierher wie das, was er mit dem Lied „Urlicht“ – oder mit dem nachfolgend vorzustellenden Lied „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“ – musikalisch zum Ausdruck bringt. Im Grunde handelt es sich bei der Hereinnahme des „Kindesprinzips“ in seine Sinfonik nicht um eine gnostische, sondern die genuin mittelalterliche Vorstellung von der Rettung der Seele.

  • Es sungen drei Engel einen süßen Gesang,
    Mit Freuden es selig in den Himmel klang. (Orig.: „…es im Himmel klang“)
    Sie jauchzten fröhlich auch dabei,
    Daß Petrus sei von Sünden frei.


    Und (Orig.:“Denn“)als der Herr Jesus zu Tische saß,
    Mit seinen zwölf Jüngern das Abendmahl aß,
    Da sprach der Herr Jesus: "Was stehst du denn hier? (Orig.: „Was stehst du hier“)
    Wenn ich dich anseh', so weinest du mir!"


    „Und sollt' ich nicht weinen, du gütiger Gott, (Orig.: „Ach, sollt ich denn`…“)
    Ich hab´ übertreten die zehn Gebot!
    Ich gehe und weine ja bitterlich,
    Ach komm´ und erbarme dich über mich!“


    „Hast du denn (Orig.:“ dann“) übertreten die zehen Gebot,
    So fall´ auf die Knie und bete zu Gott!
    Bete (Orig.: „Und bete“) zu Gott nur alle Zeit,
    So wirst du erlangen die himmlische Freud´!“


    Die himmlische Freud´ ist eine selige Stadt;
    Die himmlische Freud´, die kein End´ mehr hat,
    Die himmlische Freud´ war Petro bereit´t
    Durch Jesum und Allen zur Seligkeit.



    Der lyrische Text trägt im „Wunderhorn“ den Titel „Armer Kinder Bettlerlied“. Mahler hat ihn mit den angezeigten Änderungen zur Grundlage seiner Liedkomposition gemacht. Als Orchesterlied entstand sie im Sommer 1895 und wurde in die Dritte Symphonie übernommen. Publiziert wurde sie ihm Rahmen der „Lieder, Humoresken und Balladen“ in der Fassung für Singstimme und Orchester und Singstimme und Klavier im Jahre 1899. Die Fassung für Klavier wurde schon 1893 in Berlin uraufgeführt, sie existierte also schon zwei Jahre vor der für Orchester. Sie wird aus heuristischen Gründen (um die Grundstruktur der Komposition besser erfassen zu können) zur Grundlage der nachfolgenden Besprechung gemacht. Auf die Orchesterfassung wird in der Nachbesprechung Bezug genommen.


    Obgleich den beiden Lied-Fassungen die klangliche Komponente des Kinder-„Bimm-Bamms“ (und auch die Interaktion der Chor-Stimmen) fehlt, ist die Rhythmik, die von diesem in der sinfonischen Fassung so stark geprägt wird, auch hier vernehmlich, - sowohl in der Struktur der melodischen Linie, wie auch – und vor allem – in der des Orchester- und des Klaviersatzes (der dessen Grundstruktur in durchaus adäquater Weise repräsentiert). Das Lied weist einen Viervierteltakt auf, steht in F-Dur als Grundtonart und soll „Lustig im Tempo und keck im Ausdruck“ vorgetragen werden. Die klangliche Wirkung, die von ihm ausgeht, und die musikalische Aussage, die es macht, beruhen auf zwei es in seiner Faktur prägenden Eigenheiten: Dem Wechsel zwischen Phasen lebhafter Bewegtheit der Liedmusik und solchen relativer Ruhe und der kompositorischen Arbeit mit melodischen Motiven und klanglichen Figuren des Klaviersatzes, die immer wiederkehren und hierbei – unter Beibehaltung ihrer Grundstruktur – diverse Modifikationen durchlaufen. Auf diese Weise wird klanglich liedmusikalische Einfachheit suggeriert: Es ist ja doch ein Kinderlied, was hier erklingt.


    Die „Einfachheit“ ist freilich, wie das bei Mahler immer der Fall ist, eine des klanglichen Sich-Präsentierens des Liedes, keine seiner kompositorischen Faktur. Die erweist sich beim näheren Hinsehen als durchaus komplex, reflektiert die Liedmusik doch nicht nur die Tatsache, dass sich der lyrische Text aus narrativen und Elementen wörtlicher Rede zusammensetzt, sie erfasst auch die Semantik des lyrischen Textes in der Weise, dass melodische Linie und Klaviersatz den unterschiedlichen sprachlichen Gestus zum Ausdruck bringen, durch den sich die narrativen Passagen und die der wörtlichen Rede mitsamt der dahinter stehenden personalen Haltung (Schuldbekenntnis, Bitte um Erbarmen, Aufforderung zum Gebet und Verheißung der himmlischen Freude) jeweils auszeichnen.


    Liedhaft beschwingt setzt das viertaktige Vorspiel mit seinen im Diskant rhythmisiert aufsteigenden und wieder fallenden dreistimmigen Akkorden ein. Im Bass ist aber bereits die klangliche Figur zu vernehmen, die sich als den Rhythmus maßgeblich prägendes klangliches Grundelement des Klaviersatzes erweist: Eine Vierergruppe von Tönen, die sich aus drei Achteln zusammensetzt, wobei auf das erste ein Sechzehntel mitsamt einer vorgelagerten Pause folgt. Bis auf wenige Passagen, die zur Akzentuierung der melodischen Linie akkordisch angelegt sind, besteht das ganze Klaviersatz im Bass aus einer Abfolge dieser Figuren, wobei diese freilich aus Einzeltönen, Oktaven, und zwei- bis dreistimmigen Akkorden gebildet sein können.


    Auch die melodische Linie weist in den Passagen, in denen sie sich in beschwingt-lebhafter Bewegung entfaltet, diese tänzerisch wirkende Rhythmisierung durch Aufeinanderfolge von unterschiedlichen Notenwerten auf. Die Melodiezeilen, die auf den beiden ersten Versen der ersten Strophe liegen, kehren, leicht abgewandelt, weil mir kleinen Melismen versehen, bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe und, wiederum in Details modifiziert, am Anfang der vierten Strophe wieder. Auch die melodische Linie, die auf den Anfangsversen der letzten Strophe liegt, erinnert in ihrer Grundstruktur an diese tänzerisch rhythmisierte doppelte Bogenbewegung, die entweder in tiefer oder in hoher Lage ansetzt und dann in mittlerer Lage in eine kleine Dehnung mündet. Nur die dritte Strophe weicht in ihrer Melodik davon deutlich ab, - bedingt durch die in ihrem Zentrum stehende gewichtige lyrische Aussage: „Ich hab´ übertreten die zehn Gebot´“. In der sinfonischen Fassung ist diese Strophe ja auch der Alt-Stimme zugeordnet.


    Mit dieser Anmutung von Strophenlied bewirkt Mahler ein Doppeltes: Er lässt den Kinderlied-Charakter hervortreten und schafft mit der klanglichen Suggestion von liedhafter Einfachheit die Grundlage dafür, dass die Liedmusik, die die zentrale Aussage des lyrischen Textes aufgreift, über das kontrastive Abgehoben-Sein davon ein umso größeres Gewicht bekommt. Mit der dritten Strophe wird das besonders sinnfällig. Aber auch in den anderen Strophen ereignet sich in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form ein Übergang der Melodik von dem „lustigen“ und „kecken“ Grundton, wie ihn die Vortragsanweisung vorgibt, in den einer ruhigeren und von Dehnungen geprägten Entfaltung. Auch der Klaviersatz vollzieht das mit. Selbst hier aber gibt es Anklänge struktureller Ähnlichkeit in der ersten, der zweiten und der vierten Strophe: Bei den Worten „Petrus sei von Sünden frei“, „Sprach der Herr Jesus“ und „nur alle Zeit“ geht die melodische Linie zu gedehnter Bewegung auf engem Raum einer tonalen Ebene über und das Klavier begleitet das mit ebenfalls klanglich gedehnten zwei- bis dreistimmigen Akkorden.


    Klanglich wirkt das so, als käme die melodische Linie aus ihrer vorangehenden Lebhaftigkeit zur Ruhe und als kehre nun Besinnlichkeit in sie ein. Zum ersten Mal ist das gleich in der ersten Strophe bei den Worten „Sie jauchzten fröhlich auch dabei, daß Petrus sei von Sünden frei“ der Fall. Die melodische Linie steigt zunächst aus tiefer Lage über eine Undezime in hohe auf und geht dann in eine sehr ruhige, fast nur aus Dehnungen (halbe Noten) bestehende Bewegung in oberer Mittellage über. Es ist die inhaltlich gewichtige Feststellung des Frei-Seins von Sünden bei Petrus. Hier wird erstmals das zentrale Thema des Liedes angesprochen, das mit dem Sündenbekenntnis des Petrus in der dritten Strophe in den Mittelpunkt des Liedes gerückt wird und mit dem Besingen der „himmlischen Freude“ in der letzten Strophe seine theologische Sublimation erfährt. Aus diesem Grund werden am Ende der ersten Strophe die Worte „von Sünden frei“ zweimal wiederholt, das zweite Mal in einer melodisch emphatischen Weise in Gestalt einer in hoher Lage bogenförmig fallenden und wieder steigenden, mit Portati vorgetragenen melodischen Linie auf dem Wort „frei“. Das Klavier begleitet und akzentuiert dies mit Akkorden im Diskant und den rhythmisierten Figuren im Bass, - hier als Oktaven ausgebildet.


    Auch wenn „Herr Jesus“ spricht (zweite Strophe), geht die Liedmusik zu einem sich von den Versanfängen sich deutlich abhebenden Gestus über. Auch die Harmonik wandelt sich. Bewegte sie sich bislang fast ausnahmslos zwischen der Tonika F-Dur und der Dominante, so sind die melodisch gewichtigen Worte „da sprach der Herr Jesus“ in D-Dur und A-Dur harmonisiert. Die Frage „Was stehst du denn hier?“ wird zweimal, durch eine Achtelpause getrennt, auf der gleichen mit einer auftaktig ansetzenden Sprungbewegung und in einen bogenförmigen Fall mit einer Dehnung am Ende übergehenden melodischen Linie deklamiert. Hier herrscht wieder F-Dur-Harmonisierung mit Rückung zur Dominante hin. In B-Dur setzt die melodische Linie auf den nachfolgenden Worten „Wenn ich dich anseh´…“ ein. Sie soll „sanft“ und piano deklamiert werden, und es geht auch sehr viel Ruhe von ihr aus, bewegt sie sich doch ausschließlich in Schritten von Vierteln und halben Noten. Bei dem Aufstieg in hohe Lage bei den Worten „so weinest du mir“ – die in einer Fallbewegung dann wiederholt werden – liegt auf dem Wort „mir“ eine Legato-Dehnung, und die Harmonik rückt von dem vorangehenden C-Dur nach a-Moll und c-Moll, - darin die Emotionen des Bildes reflektierend.


    Ganz in Moll gebettet (d-Moll, g-Moll, a-Moll) ist die dritte Strophe. Sie soll in „bitterlichem“ Ton vorgetragen werden. Sie nimmt sowohl von ihrer Melodik und vom Klaviersatz her eine Sonderstellung im Lied ein, und auch das nachfolgende lange (achtzehntaktige) Zwischenspiel, das sich im Aufgreifen von Figuren der Melodik als Nachspiel erweist, bestätigt sie darin. Die melodische Linie wirkt in ihren Bewegungen wie von einer schweren Last bedrückt. Sie erfolgen sehr langsam in Gestalt einer Folge von Viertel- und halben Noten, in sehr tiefer Lage mit einem Oktavsprung in mittlere einsetzend. Und dort verharrt sie erst einmal, bevor sie, erst einmal um eine Sekunde wieder sinkend, sich in einer müden Geste gerade mal um wieder um eine Sekunde nach oben bewegt, um dann langsam bei dem Wort „Gott“ in einen gedehnten kleinen Sekundfall überzugehen. Das Klavier akzentuiert die Gewichtigkeit der melodischen Aussage mit gleichförmig angeschlagenen dreistimmigen Akkorden im Bass und mit nach oben aufsteigenden Sechzehntel-Ketten im Diskant, die in klanglich dissonante, mit einem Vorschlag versehene Sekunden münden.
    (Fortsetzung folgt)

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