Die Zeit der „Humoresken“ ist um. In Mahlers Liedmusik ist die es wahren Lebens, oder, wie Adorno das so treffend nannte, die des „schlechten Weltlaufs“ ist angebrochen. Und der, der sich hier darin versucht, ihre Gestalt zu beschreiben und ihr Wesen zu erfassen, muss erstmals eingestehen, - und er müsste das (was explizit nicht der Fall sein wird) nachfolgend noch mehrfach tun : Es war ein Fehler, sich ihr über die Klavierlied-Fassung zu nähern. Konnte man bei den vorangehenden Liedern noch von einem Plus an musikalischer Expressivität sprechen, die mit der Orchesterfassung in die Liedmusik kommt, so ist das bei diesem Lied erstmals – und in eindeutiger und beeindruckender Weise – nicht der Fall. Die Orchesterfassung ist, was ihre musikalische Aussage anbelangt, der für Singstimme und Klavier nicht nur überlegen, man ist sich sicher, wenn man beide hintereinander hört: Das Lied kommt in dem, was es zu sagen hat, allererst in der Orchesterfassung zu sich selbst.
Damit soll nicht gesagt sein, dass man diese liedmusikalische Aussage in der Klavierfassung nicht vernimmt. Die obige Vorstellung und Kommentierung beruht ja darauf. Man vermag das, was Mahler mit diesem Lied musikalisch sagen wollte, auch der Fassung für Singstimme und Klavier zu entnehmen, das Orchester erschließt aber mit seinen klanglichen Möglichkeiten Dimensionen, die dem Klavier von seinem klanglichen Ausdruckmöglichkeiten her verschlossen bleiben müssen. Mahler hat sich ja selbst zu dem geäußert, was das Lied zum Ausdruck bringen will. Er maß ihm als musikalisches Kunstwerk große Bedeutung zu und hatte ursprünglich vor, es als zweiten Satz in seine Vierte Symphonie einzubringen, gleichsam als Kontrapunkt zu deren Finale, dem „Himmlischen Leben“. Daraus wurde dann zwar nichts, dass er aber dieses Lied aber ganz eindeutig als Parabel des menschlichen Lebens in seiner existenziellen Wesenhaftigkeit verstand, ist diesen seinen Worten zu entnehmen:
„Das Nötigste, dessen Geist und Leben zum Wachstum bedürfen“ werde immer wieder hinausgeschoben, „bis es – wie bei dem toten Kind – zu spät ist. Und ich glaube, dass das in den unheimlichen, wie im Sturm dahinsausenden Tönen der Begleitung, dem qualvollen Angstruf des Kindes und der langsamen, eintönigen Erwiderung der Mutter – des Geschickes, das sich mit der Erfüllung unseres Schreies nach Brot ja nicht zu beeilen braucht – charakteristisch und furchtbar zum Ausdruck kommt.“
Mahler hat in diesem Kommentar das Stichwort dafür geliefert, warum dieses Lied, auch wenn es zunächst als Klavierlied konzipiert wurde, von vornherein als Orchesterlied gedacht und kompositorisch konzipiert war. Diese „unheimlichen, wie im Sturm dahinsausenden Töne der Begleitung“, die ja ein die liedmusikalische Aussage wesenhaft konstituierender Faktor sind, insofern sie die Schicksalhaftigkeit des Geschehens, das existenziell Relevante daran, klanglich imaginieren, vermag nur das Orchester in dem bei diesem Lied so überaus kontrastreichen Zusammenspiel seiner Instrumentengruppen zu generieren.
Nun soll – und kann – aber nicht das ganze Lied unter diesem Aspekt noch einmal in Augenschein genommen werden. Ein kurzer exemplarischer Zugriff auf einzelne Passagen sollte genügen. Das so eigentümliche klanglich irisierende Leiern, mit dem das Lied im Vorspiel einsetzt und in dem sich eben dieses unabwendbare Ausgeliefert-Sein des menschlichen Lebens an übergeordnete Mächte musikalisch ausdrückt, gewinnt seine so überaus große Eindringlichkeit allererst im Zusammenspiel von Holzbläsern und Streichern, die in permanentem Wechsel Fallbewegungen, Sekundanstiege und bitonale Intervalle artikulieren. Diese wie mechanisch anmutende Abfolge von klanglichen Einzelfiguren gewinnt erst dadurch ihre geradezu bedrückende Wirkung, dass sie in den verschiedenen Gruppen des Orchesters in dialogischer Weise zum Ausdruck gebracht wird.
Die chromatische Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten des Kindes („Mutter, ach Mutter…“) wird vom Englisch-Horn und dem Fagott mitvollzogen und gewinnt auf diese Weise in ihrem bittenden Klageton hohe Eindringlichkeit. Die Violinen setzten derweilen weiter die Artikulation ihrer Sechzehntel-Figuren fort, erzeugen damit eine untergründige Unruhe und gehen dann, wenn das Kind zu seinem „gib mir Brot“ übergeht, mit einem Mal zu ihren nach oben schießenden und wieder fallenden Sechzehntel-Ketten über, die der Bitte des Kindes Nachdruck verleihen. Auch die zweiten Violinen, die Violen, die Fagotte und die Hörner fallen an dieser Stelle in die Liedmusik ein, und mit ihren nach oben gerichteten klanglichen Figuren wird der melodische Oktavsprung mit nachfolgender kleiner Sekunde und Dehnung auf den Worten „sonst sterbe ich“ allererst zu einem wirklich Schrei um Hilfe. Die nachfolgenden, fallenden und zu der melodischen Linie auf den Worten der Mutter überleitenden Figuren der Oboen und Klarinetten muten an wie eine in ein Weinen übergehendes Fortsetzen der Bitte und eine Hinführung zu dem wie ritualisiert wirkenden Ton, den die Mutter nun anschlägt.
Dass man es in den dreizehn Takten, die sich an den über die melodische Linie des Kinder-Hilferufs aufgreifenden Fortissimo-Ausbruch der melodischen Linie bei dem Wort „Totenbahr´“ mit einer geradezu kühnen, alle traditionellen Formen sprengenden Liedmusik zu tun hat, wird allererst in der Orchesterlied-Fassung voll und ganz sinnfällig. Von der Trompete eingeleitet und von den Hörnern mit in die Verminderung fallenden Doppelterzen getragen, brechen die Holzbläser und die Streicher in einen wahrlich turbulenten klanglichen Sturm aus, der danach dann aber in einer geradezu erschreckenden Weise langsam klanglich erstirbt, bis am Ende nur noch ein mit dem Schwammschlegel erzeugtes Pianissimo-Geräusch des Beckens übrig bleibt.
Ein Kind ist Hungers gestorben. Die Liedmusik lässt in ihrem Kommentar dazu nach- und mitvollziehen, was sich da gerade Schreckliches ereignet hat. Und das kann sie nur mit all den Orchester-Instrumenten, die ihr in der entsprechenden kompositorischen Fassung dafür zur Verfügung stehen.