Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • Ein neuntaktiges Zwischenspiel folgt. Das Auf und Ab in Quarten bei der Pauke und der Harfe, das die ganze Zeit über die dumpf-gleichförmige Grundlage aller Bewegungen der melodischen Linie gebildet hat, erklingt weiter, während sie erst einmal verstummt. Triller erklingen in den Klarinetten und den Violen. Oboe und Englisch-Horn lassen eine Aufwärtsbewegung von Moll-Terzen erklingen, die wie ein wehmütiger Ruf wirkt. Die Hörner antworten darauf mit ihrer rhythmisierten Dreier-Akkordfolge. War diese noch in c-Moll gehalten, so ist sie nun, wenn die Violinen und die Violen sie aufgreifen und wiederholen, in C-Dur harmonisiert. Noch einmal erklingt die Dreierfigur bei den Hörnern, nun wieder in Moll, und dann erlischt das permanente Auf und Ab von Pauken und Hörnern mit einem Mal und pianissimo artikulierte Tonrepetitionen, von der dritten Klarinette und der Harfe ausgeführt, treten an seine Stelle. Englisch-Hörner und Flöten treten hinzu, eine erwartungsvolle klangliche Spannung baut sich auf, und dann geht die Harfe zur Artikulation von fließend artikulierten triolischen Arpeggien über.


    Reines, klares F-Dur hat sich eingestellt. Und in diesen hellen klanglichen Raum tritt nun die Singstimme und gibt sich der geradezu beseligt anmutenden Deklamation einer nun erstmals in diesem Lied weiträumig phrasierten und kantabel sich entfaltenden, in tiefer Lage (einem „C“) ansetzenden und sich über eine ganze Undezime bis zu einem hohen „F“ aufschwingenden melodischen Linie hin: „Auf der Straße stand ein Lindenbaum…“. Die erste Solo-Violine folgt ihr con sordino darin, die zweite und dritte tut das zunächst auch, beide bleiben dann aber zurück, so dass sich in ihren Bewegungen ein klanglich zart anmutendes Quarten-Intervall einstellt, das die Lieblichkeit der melodischen Linie noch steigert. Bei den Worten „Da hab´ ich zum ersten Mal im Schlaf geruht“ verharrt sie in silbengetreuer Deklamation lange auf diesem hohen „F“ und senkt sich danach über einen kleinen Bogen und eine Dehnung bei dem Wort „Schlaf“ in mittlere Lage ab. Auch die zweite Silbe von „geruht“ trägt dabei eine Dehnung. Man vernimmt es in klanglich geradezu betörender Weise: Das lyrische Ich gibt sich beseligt den Erinnerungen an einen die Seele von ihrem Leid erlösenden Schlaf unter dem Lindenbaum hin.


    Der klangliche Zauber, der von dieser wie verzückt in hohe Lage aufsteigenden melodischen Linie ausgeht, setzt sich in den nachfolgenden Melodiezeilen fort, und in den kurzen Pausen dazwischen tragen Holzbläser und Streicher das Ihre dazu bei, indem sie in terzenseliger Weise Elemente der melodischen Linie wiederholen. Die bogenförmig fallende, wieder steigende und am Ende in eine Dehnung mündende melodische Linie auf den Worten „Der hat seine Blüten über mich gestreut“ wird von den ersten und den zweiten Violinen (pianissimo und con sordino) mitvollzogen, was ihre zauberhafte klangliche Eindringlichkeit geradezu unwiderstehlich werden lässt. Um dem gleichsam die Krone aufzusetzen, wiederholen die Klarinetten diese melodische Figur in Gestalt von Terzen im Nachspiel, und gegen Ende gesellen sich sogar noch die Violen dazu. Hier, an dieser Stelle, moduliert die Harmonik kurz nach f-Moll. Zwar kehrt sie am Anfang der dritten Melodiezeile („Da wußt ich nicht…“) wieder zu F-Dur zurück, aber das bleibt nicht stabil. Bei den Worten „das Leben tut“ ereignet sich eine Rückung nach b-Moll, und nach einer neuerlichen Rückkehr zum f-Moll bei der langen Dehnung, die in hoher Lage auf dem Wort „alles“ liegt, moduliert die Fallbewegung, die die melodische Linie in kleinen und großen Sekunden bei den Worten „alles wieder gut“ beschreibt, von einem F-Dur über ein g-Moll zurück zu F-Dur.


    Wie sind diese kurzen Moll-Eintrübungen der Harmonik der melodischen Linie zu erklären? Der fahrende Geselle artikuliert sich in der dritten Strophe durchweg im Präteritum, bzw. im Imperfekt. Die lyrischen Aussagen erfolgen aus der Retrospektive, und von daher muten die Anflüge von Moll-Chromatik an wie das Hereinragen der Vergangenheit mit all ihren Leid-Erfahrungen in die Gegenwart. Das b-Moll liegt ja auf der kleinen Sekundfall-Bewegung der melodischen Linie bei den Worten „das Leben tut“, - das Leben, das im dritten Lied mit der Erfahrung des glühenden Messers in der Brust voll gegenwärtig war. Die Moll-Eintrübung bei dem Wort „wieder“, die bei der Wiederholung dieser Worte erneut erklingt, ist wohl eher wie der Ausdruck von Wehmut aufzufassen, vor allem deshalb, weil im ersten Fall die zweiten Violinen unmittelbar mit dem Wort „gut“ ihre überaus liebliche bogenförmige Terzen-Figur erklingen lassen und bei der Wiederholung der Worte („ach, alles wieder gut“) im Anschluss daran die ersten Violinen eine in hoher Lage ansetzende und von dort in Terzen und Sexten in mittlere sich absenkende, wiederum klanglich höchst eingängige, ja regelrecht süß wirkende melodische Figur artikulieren, in die hinein die Singstimme dann ihr zweimaliges „alles“ auf einem „A“ in mittlerer Lage pianissimo hineinhaucht.


    Wunderbare Ruhe und Frieden strahlt die Musik der letzten Worte aus. Die Singstimme lässt von jeglicher Bewegung ab und deklamiert die einzelnen Worte und ihre Silben auf nur einem Ton, dem dann eine Pause folgt. Die tonale Ebene senkt sich dabei ganz langsam ab, und am Ende ereignet sich bei den Worten „Und Welt und Traum“ ein zweifacher Terzfall zu einem tiefen „A“, der Quarte zum Grundton. Auch im Orchester ist tiefe Ruhe eingekehrt. Nachdem die Streicher ihre so liebliche Fallbewegung aus dem doppelten „alles“ beendet haben, kommentieren nur noch die Hörner mit sich von Terzen zu Quarten erweiternden Rufen die Singstimme, und die Harfe lässt ihre permanenten Arpeggien erklingen.


    Wenn das lyrische Ich zur Ruhe des „Alles wieder gut“ gefunden hat und man nun ein klanglich rundum harmonisches Nachspiel erwartet, erlebt man eine Überraschung. Sie kommt nicht laut daher, sondern im Pianissimo, das sich gar ins vierfache Piano zurücknimmt. Aber sie vermag gerade deshalb umso mehr zu treffen und nachdenklich zu stimmen. Erst artikulieren die Klarinetten eine in die Chromatik abgleitende Tonfolge „C-D“ – „Es-H“. Und dann, nach einer fast eintaktigen Pause, erklingt bei den Flöten in hoher Lage – durch eine fermatierte Pause getrennt und langsam immer mehr verlöschend – das zentrale „Blaue-Augen“ Motiv. Und es tritt nicht in Dur-Harmonisierung auf, wehmütig-schmerzliches f-Moll prägt es ganz und gar. Erst jetzt ist dieses Lied, und damit der ganze Zyklus, an sein Ende gelangt.

  • Wie ist das Ende des vierten Liedes – und damit auch die künstlerische Aussage des ganzen Zyklus – zu interpretieren und zu verstehen? Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Literatur dazu unterschiedliche Interpretationsansätze gibt, dass man dort die Aussage der letzten Strophe des vierten Liedes als Erlösung vom Leid durch den Tod oder durch Schlaf und Traum deutet. Was dabei aber – wie mir scheint – zu wenig beachtet und berücksichtigt wird, das sind die zeitlichen Ebenen der einzelnen Gedichte, bzw. Lieder. Beim vierten ist es die der Retrospektive, und von daher ist es eigentlich unsinnig, weil vom lyrischen Text her nicht gedeckt, den Tod interpretatorisch ins Spiel zu bringen.


    Es ist auch nicht verständlich, warum das „Blaue Augen“-Motiv am Ende als das Erklingen eines „Trauermarsches“ gedeutet wird. Das lyrische Ich spricht davon, dass es damals, als es unter dem Lindenbaum „zum ersten Mal“ nach seiner ihn so erschütternden Verlust-Erfahrung „im Schlaf“ ruhte, dort, bedeckt von den Blüten des Baumes, mit einem Mal die Empfindung hatte, dass „alles wieder gut“ sei. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang die Worte „Lieb und Leid“ und „Welt und Traum“ ohne semantischen Kontext sprachlich einfach aneinander gereiht werden, verweist darauf, dass sich hier die traumhafte Imagination einer universalen Einheit und Zusammengehörigkeit aller lebensweltlichen Gegensätze und Brüche ereignet hat.


    Die Liedmusik reflektiert und suggeriert diese universale Einheit des „Alles gut“ mit einer vollkommenen, von keinerlei Chromatik gestörten klanglichen Harmonie, wobei die melodische Linie in der statischen Ruhe ihrer Bewegungen die Worte „Lieb“ und „Leid“ auf dem gleichen Ton erklingen lässt, - mit einer nur kurzen Rückung in die Subdominante bei der Konjunktion „und“, aber sofortiger Rückkehr zur Grundtonart F-Dur danach.


    Und die Wiederkehr des „Blaue Augen“- Motivs mit seinem f-Moll? Sie erfolgt unendlich leise, setzt im dreifachen Piano ein und verklingt „poco ritardando“ im vierfachen. Sie beinhaltet keine volle Wiederkehr des Leides der Vergangenheit, sie bringt nur die leise Erinnerung daran mit sich. Das lyrische Ich hat die leidvollen Erfahrungen, von denen die Lieder des Zyklus lyrisch-musikalisch sprechen, hinter sich gelassen. Dies nicht im Sinne eines Vergessens oder Verdrängens, vielmehr in der Haltung eines Annehmens all dieser leidvollen Erfahrungen im Wissen darum, dass sie der menschlichen Existenz wesenhaft zugehörig sind und dass es folglich „Wanderschaft“ als existenzielle Grundgegebenheit seines Mensch-Seins akzeptieren muss.


    Hier, in diesem letzten Lied, enthüllt sich die „Wanderschaft“ des „fahrenden Gesellen“ als eine über die Felder des menschlichen Lebens, als eine Wanderschaft von allgemeiner existenzieller Relevanz also. Sie tritt darin an die Seite von Schuberts „Winterreise“. Aber es ist ein Komponist aufkommenden Moderne, der sie an diese Seite gestellt hat. Und das lässt die Liedmusik und das, was sie zu sagen hat, deutlich vernehmen. Die Nähe zu Schubert in der zentralen Thematik schlägt sich formal im Aufgreifen der Lindenbaum-Metapher und in der Tatsache nieder, dass das vierte Lied, in dem sich dieses Aufgreifen ereignet, dasjenige ist, das am Ende mit dem Unisono von Streichern und melodischer Linie und der Häufung von Terz- und Sextparallelen im Orchestersatz am stärksten von allen in die Nähe von Schuberts Liedmusik gerät.


    Aber Mahlers Zyklus zeigt einen anderen Umgang mit dem Thema, das auch das zentrale von Schuberts „Winterreise“ ist: Die menschliche Existenz als Geworfen-Sein in die Wanderschaft. Schubert lässt die Frage nach dem Ziel und dem Sinn dieser Wanderschaft auf im Grunde bedrückende Weise offen. Das letzte seiner Lieder endet melodisch in einer Frage, die in einen liedmusikalisch offenen Schluss gebettet ist. Mahlers letztes Lied endet anders: Mit der eindeutigen, die Dinge melodisch und harmonisch in keiner Weise offen lassenden Feststellung „Alles wieder gut, alles, alles!“. Dies allerdings versehen mit einem orchestralen Kommentar: Der Wiederkehr des melodischen Motivs, mit dem der Zyklus einsetzt.


    Aber das ist kein offener Schluss, wie er einem am Ende der „Winterreise“ begegnet – und zu erschrecken vermag. Im dreifachen und vierfachen Piano, in der Moll-Harmonisierung und in dem Poco Ritardando, in dem die Flöten, von der Harfe begleitet, ihn erklingen lassen, wirkt er wie ein verklingendes Echo des Liedanfangs. Ein Echo freilich, das es in sich hat. Denn es enthält eine Antwort dort, wo Schubert sie nicht zu wissen scheint, sich ratlos gibt, geben muss, verloren in den leeren Quinten der Leiermann-Musik. Die Antwort Mahlers ist die des Komponisten seiner Zeit, des sich seinem Ende zuneigenden neunzehnten Jahrhunderts: Das Sich-Bekennen zum Geworfen-Sein des Menschen in die existenzielle Wanderschaft.
    Sein Liedschluss will sagen: Das, was sich hier ereignet hat und wovon die Lieder erzählen, das wird sich wieder und wieder ereignen. Denn es ist das Wesen des Weges, der dem Menschen existenziell auferlegt ist. Und als solches ist es zu akzeptieren.


    Und da ist noch etwas, worin sich Mahlers Liederzyklus bei all seiner thematischen Verwandtschaft mit Schuberts „Winterreise“ von dieser unterscheidet und sich als liedhistorisch späterer ausweist. Schubert nimmt den Rezipienten seiner Liedmusik mit auf die Wanderschaft, indem er ihn teilhaben lässt an den monologischen Äußerungen der Gedanken und Emotionen des Protagonisten, wie sie sich an den einzelnen Stationen dieser Wanderschaft ereignen.
    Mahlers Liedmusik hingegen ist per se und damit als solche Wanderschaft. Th. W. Adorno hat schon früh (1960) auf eine spezifische Eigenart der Orchesterlieder Mahlers aufmerksam gemacht, dass darin nämlich die „Musik sich selber vortrage, sich selbst zum Inhalt habe“. Daran knüpfte später (1999) Diether de la Motte an, indem er aufzeigte, dass die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ aus harmonischer Perspektive „wandernde Musik“ darstellen, indem sie tonal „nirgends zu Hause“ sind.
    Und so ist es ja auch: Keines von diesen Liedern endet in der Tonart, in der es einsetzte, findet also wieder zu seinem harmonischen Ausgangspunkt zurück. Sie verkörpern als solche selbst, dann aber auch in ihrer Aufeinanderfolge und schließlich in ihrer Polyphonie, so wie Mahler diese verstand, musikalische Wanderschaft.

  • Lieber Helmut, ich unterbreche deine Beiträge hier mal, damit du siehst, dass du nicht ins Leere schreibst. Mit deinem Hugo-Wolf-thread wurde ich nicht warm, weil ich außer seiner Oper "Der Corregidor" seine Musik einfach nicht mag. Aber dein Mahler-Projekt trifft bei mir ins Schwarze. Es ist keine Plauderei und es ist keine wissenschaftliche Dissertation nur für Fachleute. Es ist für Leute wie mich, die ihren Mahler gut kennen, aber begierig sind, auch mehr darüber zu erfahren. Bei den "Liedern eines fahrenden Gesellen" habe ich abgewartet, bis du sie alle besprochen hast. Eine Aufnahme brauche ich nicht dazu, ich kann alles mitsingen einschließlich des Orchesters. Ich werde mir gleich deinen Text ausdrucken und dann in Ruhe in der Badewanne lesen. Ein größeres Lob habe ich nicht zu vergeben.
    Eins möchte ich aber schon einmal anmahnen: die Orchesterlieder aus den Sinfonien musst du unbedingt dazunehmen, also "Urlicht" (2.), "Um Mitternacht" und "Es sungen drei Engel" (3.) sowie "Das himmlische Leben"(4.).
    Zu "Es sungen drei Engel" habe ich noch eine spezielle Bitte. Dieses Lied ist das Hauptthema von Regina in "Mathis der Maler" von Hindemith. Regina ist die Tochter des Bauernführers Schwalb. Das Lied kommt im ersten Bild gleich vor. Nach dem Tode ihres Vaters findet Regina Zuflucht bei Mathis, aber sie stirbt auch. In dieser Szene erklingt das Lied noch einmal. Meine Lieblingssopranistin rührt mich in dieser Szene immer wieder zu Tränen: es ist Ursula Koszut in der Kubelik-Aufnahme. Vielleicht vergleichst du einfach die beiden Fassungen.
    Mit der Bitte, dich keinesfalls von diesem Projekt abbringen zu lassen, grüße ich dich!
    Unseriöses Nachwort: nach den RT_threads, die ich mal als Titanic-threads oder Verdun-threads bezeichnen möchte, ist das hier eine Oase!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Gibt es von Mahler wirklich Orchesterlieder, die nicht auch als Klavierlieder vorliegen (abgesehen vom "Lied von der Erde")? Zumindest "Urlicht" ist auch ein Klavierlied.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich sehe grade Deine Frage, lieber Stimmenliebhaber: "Gibt es von Mahler wirklich Orchesterlieder, die nicht auch als Klavierlieder vorliegen?"
    Einfache Antwort: Nein!
    Ist oben bereits nachzulesen. Ich werde aber auf das Thema "Klavierlied-Orchesterlied bei Mahler" noch einmal in detaillierter Weise eingehen.

  • Ich sehe grade Deine Frage, lieber Stimmenliebhaber: "Gibt es von Mahler wirklich Orchesterlieder, die nicht auch als Klavierlieder vorliegen?"
    Einfache Antwort: Nein!
    Ist oben bereits nachzulesen. Ich werde aber auf das Thema "Klavierlied-Orchesterlied bei Mahler" noch einmal in detaillierter Weise eingehen.

    Das dachte ich mir doch, lieber Helmut, trotzdem wollte ich ganz sicher gehen, wel ich im Gegensatz zu dir nicht alle Mahler-Lieder kenne.


    Die von mir heißgeliebten "Lieder eines fahrenden Gesellen" werd ich mir bald mal wieder zu Gemüte führen und dann auch deine Texte dazu lesen, freue mich schon jetzt drauf und bedanke mich auch schon jetzt herzlich dafür! :thumbup:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich werde Deine Texte zwar nicht in der Badewanne lesen, lieber Helmut, aber beim nächsten Hören der Lieder, darauf freue mich jetzt schon. Auch von mir vielen Dank für Deine wertvollen Beiträge.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Dank euch Dreien, dr. pingel, Stimmenliebhaber und Bertarido! Hab´ mich über eure Worte sehr gefreut!.
    Was Deine Sorge um die Lieder „Urlicht“, „Um Mitternacht“, „Das himmlische Leben" und „Es sungen drei Engel“ anbelangt, lieber dr. pingel, so ist sie unbegründet. Die beiden letzten Lieder hatte ich ursprünglich zwar ausgeklammert, nach Deiner ersten diesbezüglichen Reklamation habe ich mich aber sofort drangemacht. Sie finden also hier Berücksichtigung. Ob angemessene? Ich hoffe es, bin mir aber nicht sicher.


    Mahlers Musik stellt für mich, je länger ich mich damit befasse, eine wachsende Herausforderung dar. Das Defizit an musikwissenschaftlichen Kenntnissen und analytischen Fähigkeiten zeigt sich bei mir immer mehr. Und dann ist da noch das andere Problem: Den klanglichen Eindruck, den man gewinnt, in angemessene Worte zu fassen. Das kenne ich zwar schon lange, bei Mahler macht es mir, eben weil der Aspekt „Klang“ bei ihm eine so große Rolle spielt, ganz besonders zu schaffen.
    Allmählich begreife ich die Bemerkung der Mahler-Kennerin Monika Tibbe:
    „Mahlers Musik macht extrem deutlich, was für andere in ähnlicher Weise gilt, daß nämlich das Verfahren der technisch-formalen Analyse unzureichend und gewissermaßen tautologisch ist: sie vollzieht nämlich im besten Fall nur das nach, was schon in den Noten steht. Was dabei fortfällt, ist wahrscheinlich das Wichtigste, nämlich der Ausdruck, der semantische Gehalt, der bei Mahler fast die Form sprengt.“


  • Mahlers Musik stellt für mich, je länger ich mich damit befasse, eine wachsende Herausforderung dar. Das Defizit an musikwissenschaftlichen Kenntnissen und analytischen Fähigkeiten zeigt sich bei mir immer mehr. Und dann ist da noch das andere Problem: Den klanglichen Eindruck, den man gewinnt, in angemessene Worte zu fassen. Das kenne ich zwar schon lange, bei Mahler macht es mir, eben weil der Aspekt „Klang“ bei ihm eine so große Rolle spielt, ganz besonders zu schaffen.


    Ich denke, dieses Problem haben wir alle, und es ist auch nicht zu lösen. Ich kenne es von meinem Lieblingskomponisten Leos Janacek. Es gibt so einen typischen Janacek-Ton, der in seinen Werken (so ab "Jenufa") signifikant ist. Ich erkenne ihn sofort, könnte ihn aber kaum beschreiben. Ich weiß bis heute auch nicht, wie so mich dieser spezifische Ton so gepackt hat, dass ich die Jenufa erstmal 50x hintereinander hören musste und dann auf die Jagd nach den restlichen Werken ging. Mit Mahler ist es ganz ähnlich. Trotzdem bringen deine Analysen ganz viel, weil sie auch so viele Augenöffner enthalten.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Die Bezugnahme auf Schuberts „Winterreise“ in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ weckte in mir die Frage nach dem Verhältnis Mahlers zu diesem seinem großen Vorgänger. Stutzig machte mich in diesem Zusammenhang die beiläufige, in Klammer gesetzte Bemerkung des Mahler-Biographen Jens Malte Fischer: „…Schubert (für den Mahler kein wirklich tiefgreifendes Verständnis gefunden zu haben scheint)…“. Stutzig deshalb, weil aus meiner – selbstredend laienhaften - Sicht einiges gegen diese Auffassung spricht.
    Paul Bekker sieht Mahler am Ende einer durch Schubert und Bruckner stark geprägten sinfonischen Tradition stehend, - in der Übernahme der „Romantik der reinsten Sinnenfreudigkeit“, die er allerdings durch den „intellektuellen Faktor“ der Sinfonik der „Neudeutschen“ ergänzt habe.
    Aber das sind ja „nur“ die musikstrukturellen Aspekte dieser Frage. Mir scheint, und die „Gesellen-Lieder“ legen das ja nahe, sogar eine tiefe innere Verwandtschaft im Lebensgefühl zwischen Schubert und Mahler zu bestehen. Es ist das eines – im Selbstverständnis notwendigerweise - in die Einsamkeit der Wanderschaft getriebenen Künstlers, der keine Erfüllung seiner Sehnsucht nach Gemeinsamkeit mit Anderen und nach Verständnis seines Seins, seines Wesens und seines Werkes zu finden vermag.
    Nicht nur der „Fahrende Geselle“ sieht sich ja doch existenziell in die Wanderschaft gestellt, auch die Soldaten in den „Wunderhorn“-Liedern müssen immerzu „marschieren“, als Totengerippe gar noch. Und im „Lied von der Erde“ finden sich in „Abschied“ die Worte: „Wohin ich geh´? Ich geh´, ich wand´re in die Berge. Ich suche Ruhe für mein einsam´ Herz“.


    Wo man hinschaut, man stößt bei Mahler immer wieder auf Schubert, eine Kennerschaft seines Werkes und, noch weitergehend, eine innere Verwandtschaft mit ihm. In einem seiner großen Briefe, jenem an Josef Steiner vom 17. Juni 1879, findet sich die Stelle:
    „Doch wenn ich des Abends hinausgehe auf die Heide und einen Lindenbaum, der dort einsam steht, ersteige, und ich sehe von dem Wipfel meines Freundes in die Welt hinaus: vor meinen Augen zieht die Donau ihren altgewohnten Gang und in ihren Wellen flackert die Glut der untergehenden Sonne; hinter mir im Dorfe klingen die Abendglocken zusammen, die ein freundlicher Lufthauch zu mir hinüber trägt, und die Zweige des Baumes schaukeln im Winde hin und her, wiegen mich ein, wie die Töchter des Erlkönigs ….“.
    Das ist schubertsches Lebensgefühl, gespeist aus dessen Liedern und zum Ausdruck gebracht mit musikalischen Bildern aus diesen.

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  • Unter diesem Titel werden insgesamt fünfzehn Lieder zusammengefasst, die im Zeitraum von 1892 bis 1901 entstanden, einzeln veröffentlicht wurden, später aber dann noch einmal in gesammelter Form unter unterschiedlichem Titel. So erschienen die Lieder „Der Schildwache Nachtlied“, „Verlor´ne Müh´“, „Wer hat dies Liedlein erdacht?“, „Das himmlische Leben“ und „Trost im Unglück“ unter dem Titel „Fünf Humoresken“ 1892, zwölf Lieder wurden in der Reihenfolge ihrer Erstveröffentlichung 1899 in Wien (bei Weinberger) unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ sowohl in der Klavier-, wie auch in der Orchesterfassung publiziert, und die Lieder „Revelge“ und „Der Tamboursg´sell“ erschienen 1905 (Leipzig) unter dem Titel „Lieder aus letzter Zeit“.


    Mahler komponierte diese Lieder sowohl in einer Fassung für Singstimme und Klavier, wie auch in der für Singstimme und Orchester, wobei die letztere die für ihn eigentlich letztgültige war. Dies nicht nur deshalb, weil für ihn das Orchester das dem Musikleben seiner Zeit einzig angemessene „Instrument“ war, sondern auch aus einem den Liedern gleichsam immanenten Grund: Sie wurden - als hochgradig musikalisierte Klavierlieder - vom ihm im Grunde in statu nascendi als Orchesterlieder kompositorisch gedacht und realisiert. Das heißt aber nicht, dass die Klavierfassungen sozusagen „Klavierauszüge“ darstellten. Sie sind eigenständige und vollgültige musikalische Werke. Auf diesen Sachverhalt haben ihre Herausgeber (Renate Hilmar-Voit und Thomas Hampson), in argumentativ überzeugender Weise hingewiesen.
    Den nachfolgenden Liedbetrachtungen liegt die Fassung für Singstimme und Klavier zugrunde. Der Verfasser hat zwar selbstverständlich auch die Orchester-Fassung in das einbezogen, was er zur Faktur der Lieder und ihrer jeweiligen musikalischen Aussage ausführt, er hat aber dabei die – gewiss subjektive – Erfahrung gemacht, dass er beides, also das grundsätzliche Zusammenspiel von melodischer Linie der Singstimme und Begleitung und die daraus hervorgehende künstlerisch-musikalische Aussage besser, weil in gleichsam in auf das Elementare reduzierte Form erfassen kann. Es ist allerdings beabsichtigt, von Fall zu Fall auf den Aspekt des kompositorisch-musikalischen Plus einzugehen, das die Orchesterfassung mit sich bringt.


    Warum Mahler zu den Gedichten aus „Des Knaben Wunderhorn“ griff, um sie zur Grundlage von Liedkomposition zu machen, dazu wurde das Wesentliche schon oben, im ersten „Kapitel“ dieses Threads („Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit“) ausgeführt. Seine These, dass es sich hierbei eher um „Natur und Leben“, statt um – literarische – „Kunst“ handele, und dass er, weil es ihm in seinem kompositorischen Schaffen um das In-Musik-Fassen von menschlichem Leben in seinen elementaren naturhaften und gesellschaftlichen Bezügen gehe, auf diese wesenhaft ursprüngliche, aus eben diesem elementaren Leben hervorgegangene lyrisch-sprachliche Äußerung als Quelle angewiesen sei, - das dürfte der Schlüssel für die Antwort auf die Frage nach den Motiven für die Genese dieser Lieder sein.


    Die Themen und die Inhalte der Texte, nach denen er griff, sind diesbezüglich höchst aufschlussreich. Da ist die Gruppe des mit musikalisch-tänzerischen Mitteln aufgegriffenen vordergründig arglosen Lebens („Trost im Unglück“, „Verlor´ne Müh´“, „Rheinlegendchen“, „Wer hat dies Liedlein erdacht“), daneben steht die Liedgruppe mit Themen, in denen es um die ethisch-moralischen und die religiösen Dimensionen des menschlichen Lebens geht („Des Antonius von Padua Fischpredigt“, „Das irdische Leben“, „Lob des hohen Verstandes“, „Urlicht“), und schließlich – und für Mahler ein großes Anliegen – die Lieder, in denen er den Menschen in seinem Ausgeliefert-Sein an die Grundlagen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedingungen seiner Existenz-Sicherung zum Gegenstand seiner Liedkomposition macht. Eigenartigerweise – und wohl biographisch bedingt - fokussiert er sich dabei auf das Thema „Militärisches Leben“ („Lied des Verfolgten im Turm“, „Der Schildwache Nachtlied“, „Revelge“, „Wo die schönen Trompeten blasen“, „Der Tamboursg´sell“).


    Mahlers liedkompositorischer Griff nach den Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ ist in bemerkenswert hohem Maße menschlich-persönlich motiviert. Er findet darin die für ihn im Hinblick auf sein künstlerisches Schaffen maßgeblichen Aussagen über das menschliche Leben als In-der-Welt-Sein, und diese in einer gleichsam elementaren lyrischen Sprache, die ihm Raum lässt für das Einbringen seiner eigenen künstlerischen Aussagen, - textlichen Änderungen und Ergänzungen bis hin zur eigenen Musik. Mahlers Liedkomposition beginnt im Falle der Wunderhorn-Lieder im Grunde schon beim Text. Das Lied stellt dann am Ende eine Art musikalische „Naturpoesie“ dar, dessen liedsprachliche Wahrhaftigkeit im Sinne von Lebensnähe der künstlerischen Aussage im Grunde ein Produkt künstlerischer Vermittlung von Unmittelbarkeit darstellt. Der „dialektische Brechungscharakter“ (Siegfried Mauser), den Mahlers Liedsprache in den Wunderhorn-Vertonungen aufweist, ist gleichsam das musikalische Symptom dieses Sachverhalts, - der ihn, das nebenbei, in die Nähe der romantischen Poetik rückt.


    In diesem Ansatz wurzelt letzten Endes der Synkretismus, den man zu Recht bei Mahlers Liedkomposition wie bei seiner Musik ganz allgemein konstatiert hat: Das kompositorische Sich-Bedienen aus allen möglichen Bereichen der Musik, - von der klassischen Musik über die Volksmusik, die Militärmusik bis hin zum Gassenhauer. Auch dass er sich des Begriffs „Humoreske“ als Kennzeichnung seiner Lieder bedient, hat damit zu tun. Der Begriff ist dabei in dem Sinne zu verstehen, wie Jean Paul ihn benutzt hat. Es geht dabei um die bewusste Zerstörung einer Erwartungshaltung um der Wahrheit der künstlerischen Aussage willen. In höchst treffender Weise hat Th. W. Adorno Mahlers die spezifische Eigenart von Mahlers Liedkomposition mit den Worten charakterisiert:
    „Frei wie nur einer, der selber von Kultur nicht ganz verschluckt ist, greift er auf musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben darin sich brechen.“

  • "Ich kann und mag nicht fröhlich sein!
    Wenn alle Leute schlafen,
    So muß ich wachen,
    ja, wachen!
    Muß traurig sein! "


    "Lieb´ Knabe, du mußt nicht traurig sein!
    Will deiner warten,
    Im Rosengarten!
    Im grünen Klee. "


    "Zum grünen Klee, da geh´ ich nicht!
    Zum Waffengarten!
    Voll Helleparten!
    Bin ich gestellt. "


    "Stehst du im Feld, so helf´ dir Gott!
    An Gottes Segen
    Ist alles gelegen!
    Wer ´s glauben tut! "


    "Wer´s glauben tut, ist weit davon!
    Er ist ein König!
    Er ist ein Kaiser!
    Er führt den Krieg! "
    Halt! Wer da! Rund!
    Bleib´mir vom Leib!“


    Wer sang es hier? Wer sang zur Stund´?
    Verlor´ne Feldwacht
    Sang es um Mitternacht!
    Mitternacht!
    Feldwacht!


    Anmerkung: Auch bei diesen Vertonungen auf Gedichte aus „Des Knaben Wunderhorn“ wird so verfahren wie bei der ersten Gruppe: Es wird Textfassung abgedruckt, die den Liedern zugrundeliegt und bei der Besprechung auf Mahlers Eingriffe in den Originaltext hingewiesen.


    Mahler vertonte diesen Wunderhorn-Text im Jahre 1892. Die Fassung für Klavier ist datiert mit „28. Jänner 1892 Hamburg“, die Orchesterfassung entstand in den Monaten Februar/März 1892. Natalie Bauer-Lechner berichtet, dass Mahler mit diesem Lied die Idee eines Opernprojekts verband, aus dem allerdings dann bekanntlich nichts geworden ist. Das Wunderhorn-Gedicht besteht aus sechs Strophen. Die ersten vier hat Mahler ohne wesentliche Änderungen übernommen. Er fügte allerdings eine ganze Menge Ausrufezeichen ein, wohl um dem, was der Soldat sagt, mehr Nachdruck und Gewicht zu verleihen, - was in der Musik ja dann auch zu vernehmen ist. Die beiden letzten Strophen hat Mahler abgeändert, indem er Verse auswechselte. Sie lauten im Original:


    „Wer´s glauben tut, ist weit davon.
    Er ist ein König,
    Er ist ein Kaiser,
    Er führt den Krieg.“


    Halt! Wer da? Rund! Wer sang zur Stund?
    Verlorne Feldwacht
    Sang es um Mitternacht:
    Bleib mir vom Leib!


    Von seinem Gehalt her handelt es sich beim lyrischen Text um ein Zwiegespräch zwischen einem Nachtwache haltenden Soldaten und einer Frau, das reiner Imagination entspringt, also als Ausdruck der Gedanken und Gefühle verstanden werden will, die sich in der mitternächtlichen Situation einer „verlorenen Feldwacht“ einstellen. Mit den Worten „Wer sang es hier?“ wird der Soldat aus seiner imaginären Welt, in der ihm ein friedvolles Leben im „Rosengarten“ vorgegaukelt wird, in die reale zurückgeholt, - in die des „Waffengartens“.


    Mahler stellt seine Liedmusik ganz auf die klangliche Konkretion dieses Gegensatzes der beiden Welten ab. In ihrer Struktur und ihrem klanglichen Charakter heben sich die Melodik und der Klaviersatz, wie sie den beiden Dialogpartnern zugeordnet sind, in ausgeprägt kontrastiver Weise voneinander ab. In der Orchesterfassung ist das zwar klanglich noch mächtiger ausgebildet, aber Mahler ist es auch in der Klavierlied-Fassung auf beeindruckende Weise gelungen, die militärisch grobe Welt, in der der Soldat lebt, der gartenhaft idyllischen, die von dem imaginären weiblichen Wesen entworfen wird, in unvermitteltem Kontrast gegenüberzustellen.


    Militärischen Geist atmet die Musik der ersten Strophe. Und das gilt für alle anderen auch, in denen der Soldat sich artikuliert. Das Klavier schlägt einen flott wirkenden, weil triolisch rhythmisierten Marschrhythmus auf der Grundlage eines Viervierteltaktes an. Beim ersten Vers geschieht das mit dreistimmigen Akkorden im Diskant, vom zweiten Vers an kommen aufsteigende Sechzehntel zum Einsatz, die in einen zweistimmigen Akkord münden und die Anmutung eines Trommelwirbels aufweisen. Im Bass erklingen quintolische Sechzehntel-Figuren. Das geht dann über in eine triolisch rhythmisierte Akkordfolge im Diskant in Kombination mit triolischen Achtel-Sechzehntelfiguren im Bass, wodurch der Marschrhythmus noch markanter akzentuiert wird. Vor dem Bekenntnis „Muß traurig sein“ schlägt das Klavier staccato sogar ein aus aufsteigenden Achteln gebildetes Trompetensignal an, das in einen achtstimmigen Akkord mündet, der dann im Diskant in ein bogenförmiges Auf und Ab von Sechzehnteln übergeht. Die militärische Lebenswelt des Soldaten wird also im Klaviersatz auf höchst kunstvolle und vielfältige Weise klanglich evoziert.


    In energischem Ton tritt der Soldat auf, - allerdings in einem, der alsbald eine Brechung erfährt. Die melodische Linie, die auf dem ersten Vers liegt, ist durch eine Pause unterbrochen. Sie setzt sich aus zwei Zeilen zusammen, die zwar aus einem Anstieg in Terzen bestehen, aber während die erste Zeile mit einer Rückung von C-Dur in die Dominante verbunden ist, endet die zweite um eine Sekund angehoben in a-Moll. Diese Geselle kann in seiner militärischen Lebenswelt nicht mehr fröhlich sein. Er „mag“ auch gar nicht mehr, - schlimmer: Am Ende der Strophe bekennt er gar, dass er traurig sein „muss“. Das geschieht deklamatorisch auf einem in expressiver Weise trist wirkenden Oktavfall, der mit einer Rückung nach e-Moll verbunden ist. In a-Moll ist die melodische Linie harmonisiert, die auf dem zweiten und dem dritten Vers liegt. Sie verharrt zunächst in tiefer Lage, dann aber werden die Worte „schlafen“ und „wachen“ mittels einer Dehnung in mittlerer Lage mit einem besonderen Akzent versehen, das Wort „wachen“ sogar noch in verstärkter Weise, weil der gedehnte Quartfall, der auf ihm liegt, wiederholt wird und die Harmonik überdies eine klanglich ausdrucksstarke Rückung von a-Moll nach G-Dur erfährt. Der Oktavfall auf den Worten „muss traurig sein“ erklingt erst nach einer fast zweitaktigen Pause, in der das Klavier piano das Trompetensignal anschlägt. Auch der Soldat, der mit einem energischen Fortissimo einsetzte, hat sich nun ins Piano zurückgezogen. Dass er traurig sein „muss“, deutet auf eine schwere seelische Krise hin. Und die Musik bringt dies ja auch zum Ausdruck.


    Flüchtig und pianissimo angeschlagene Triolen leiten zur zweiten Strophe über. Hier nimmt die Liedmusik nun einen ganz anderen Ton an. „leise und innig“ soll die melodische Linie deklamiert werden, und für das Klavier, das nun immerzu im Diskant Triolen erklingen lässt, die in einen lang gehaltenen Einzelton oder einen bitonalen Akkord münden, gilt die Anweisung „Immer sehr zart bleiben“. Der Viervierteltakt mit seinem Marschrhythmus ist verlassen, die melodische Linie darf sich auf der Grundlage und im Raum eines Sechsvierteltaktes entfalten. Und das tut sie in einem eindringlich wiegenden Gestus, - einer immerzu sich wiederholenden triolischen Kombination aus Sprung- und Sekundfall, wobei das Intervall des Sprunges wechselt. Was diese Bewegung der melodischen Linie in ihrem einschmeichelnd zärtlich wirkenden Charakter noch steigert, ist die Tatsache, dass ihr ein rhythmisches Schwanken innewohnt, weil der anfängliche Sechsachteltakt in einen von drei Vierteln umschlägt, die von Takt zu Takt in einen Wechsel mit vier Vierteln treten.


    Eine Steigerung der Eindringlichkeit geht, neben diesen Faktoren, auch noch von der Harmonik aus. Die melodische Linie setzt in C-Dur ein, aber mit den Worten „will deiner warten“ ereignet sich eine Rückung nach H-Dur, das dann bei dem Wort „Rosengarten“ nach E-Dur moduliert, und am Ende dieses Verses landet die melodische Linie zwar auf dem Grundton „C“, den begleitet das Klavier aber mit einem f-Moll-Akkord. Das freilich nur vorübergehend, denn die nachfolgenden Triolen, die zur dritten Strophe überleiten, nehmen als Ausgangspunkt ihrer Modulationen wieder das C-Dur, pendeln aber immer wieder zu einem harmonisch verminderten Akkord hinüber und münden am Ende auch in einen solchen in sechsstimmig arpeggierter Gestalt. Die Musik weiß schon, dass die so lieb gemeinten Worte dieses geheimnisvollen Wesens bei dem Adressaten nicht wirklich ankommen werden.
    (Fortsetzung folgt)

  • Dabei greift der Soldat sogar auf, was er vernommen zu haben glaubt, indem er in der dritten Strophe mit den Worten „Zum grünen Klee, da geh ich nicht“ einsetzt. Das macht er auf den gleichen, durch eine Pause getrennten Melodiezeilen, die am Anfang des Liedes erklangen. Und wieder geschieht das fortissimo, von Klavier wieder mit triolisch rhythmisierten Marsch-Akkorden begleitet. Wie am Liedanfang verbleibt die melodische Linie auch zunächst in tiefer Lage, steigt aber dann, mit Portati versehen, in gewichtigen Schritten in höhere Lage auf, von wo sie auf den beiden letzten Silben von „Helleparten“ einen lang gedehnten und mit einer Rückung von C-Dur nach E-Dur verbundenen Sextfall beschreibt. Der Soldat setzt nun mehr und mehr sein – in fatalistischer Haltung hingenommenes – Eingebunden-Sein in die Zwänge und Pflichten seiner militärischen Lebenswelt den Verlockungen eines Lebens im „grünen Klee“ entgegen. Dabei steigert er sich in immer größere melodische Expressivität. Der Trompetenruf, der in der ersten Strophe noch wortlos erklang, wird nun in seiner melodischen Struktur vom Soldaten benutzt, um eben dieses zwangsweise Gefesselt-Sein an diese Welt zum Ausdruck zu bringen: Mit der Wiederholung der Worte „bin ich gestellt“. Und wieder ereignet sich eine Rückung von E-Dur nach c-Moll, während das hohe „E“, das auf der Silbe „-stellt“ liegt, mehr als drei Takte gehalten wird, - das aber im Pianissimo verklingend. Man meint zu hören: Dieser Soldat ist „gestellt“, - wider seinen Willen.


    Noch einmal spricht das imaginäre weibliche Wesen zu ihm und bringt dabei „Gottes Segen“ ins Spiel. Das geschieht auf der gleichen melodischen Linie wie in den vorangehenden Strophen. Auch Klaviersatz und Harmonik sind identisch. In der Reaktion des Soldaten darauf (5. Strophe) steigert sich dessen abwehrende Haltung, die im Grunde ja eine gegen seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte ist, weiter. Zwar liegen die anfänglichen Worte wieder auf den gleichen beiden Melodiezeilen, mit denen alle Soldaten-Strophen einsetzen, aber das Klavier lässt anschließend die triolische Fallbewegung dieses Mal nicht in Einzeltönen, sondern in Gestalt von fortissimo angeschlagenen dreistimmigen Akkorden erklingen. Die Worte „Er ist ein König, er ist ein Kaiser“ wirken in ihrer Melodik mit ihrer sich von einer Quarte zu einer Sexte ausweitenden gleichen Sprungbewegung wie eine deklamatorisch harte Feststellung von Fakten. Das Klavier begleitet dies wieder mit seinen marschmäßig rhythmisierten triolischen Figuren, die es immer wieder mit Tremoli durchsetzt.


    Und den Höhepunkt dieses deklamatorischen Gestus bildet dann die mit dem Terz- und Sekundanstieg auf den Worten „Er führt den Krieg“ eingeleitete Frage: „Halt! Wer da?“. Sie wird in silbengetreuer Deklamation auf nur einem Ton (einem hohen „Fis“) vorgebracht, dies allerdings mit einer jeweils langen Dehnung auf den Worten „halt“ und „da“. Die Harmonisierung ist dabei von dem anfänglichen D-Dur nach d-Moll gerückt. Die nachfolgende, nur aus dem einzigen Wort „Rund“ bestehende Antwort wird auf einem hohen „E“ deklamiert, das, nun in A-Dur harmonisiert, über vier volle Takte gehalten wird, - forte-Fortissimo einsetzend, dann aber am Ende langsam verklingend. Das Klavier begleitet das mit staccato angeschlagenen wellenförmigen Sechzehntel-Figuren, die zwischen den Akkorden wie Trommelwirbel klingen. Und wie eine klangliche Inszenierung von Militärmusik wirkt auch das fünftaktige Zwischenspiel, bevor der Soldat den Ruf „Bleib mir vom Leib“ ertönen lässt, - wieder auf der Trompetenstoß-Melodik deklamiert.


    Zwei arpeggierte e-Moll-Akkorde schlägt das Klavier nun an. Sie gehen in eine im dreifachen Piano artikulierte Kette von in e-Moll aufsteigenden Sechzehnteln und Achteln über, andeutend, dass nun wieder ein neuer Ton in das Lied kommt. Nach einer fermatierten Viertelpause setzt das Klavier pianissimo mit den aus Sekundschritten bestehenden triolischen Figuren ein, die bislang immer vor den Mädchen-Strophen erklangen. Diese Figuren übernimmt nun auch die mit den Worten „Wer sang es hier“ „sehr zart“ einsetzende Singstimme. Bei den Worten „Wer sang zur Stund“ steigt die melodische Linie in überaus zart und lieblich anmutender Weise in nur drei Schritten über das Intervall einer None bis zu einem hohen „G“ auf. Sie soll, so Mahlers Anweisung, „so leise ertönen, daß die rechte Hand des Klavierspielers trotz des zartesten Anschlags deutlich hervortritt“. Das ist auch unbedingt erforderlich, denn diese rechte Hand lässt perlend aus hoher Lage fallende Achtel-Figuren erklingen. Mit einer Rückung von As-Dur nach G-Dur verbunden ist die aus einem Sekundanstieg in hoher Lage über eine Septe in die Tiefe fallende und darin die lyrischen Worte „verlor´ne Feldwacht“ auf beeindruckende Weise sinnlich konkretisierende nachfolgende Melodiezeile.


    Der Schluss des Liedes macht begreiflich, warum Mahler hier die Änderungen am Wunderhorn-Text vorgenommen hat. Er begegnet dem Hörer als faszinierende musikalische Evokation der mit den Worten „Mitternacht“ und „Feldwacht“ beschworenen nächtlichen Szene, in der sich das Geschehen des Lieds ereignet. Drei Mal deklamiert die Singstimme das Wort „Mitternacht“. Beim ersten Mal in Gestalt einer sehr langen, mit einem Aufstieg über eine Dezime eingeleiteten und in einen Terzfall mündenden Dehnung in hoher Lage. Die mit dem Fall verbundene harmonische Rückung setzt den die ganze Harmonik des Liedschlusses maßgeblich prägenden Akzent. Hier ist es eine Rückung in den Moll-Bereich (c-Moll). Das zweite und dritte Mal wird das Wort „Mitternacht“ silbengetreu auf einem Quartfall mit Dehnung am Anfang und am Ende deklamiert. Hier nun ereignet sich eine Rückung vom Moll- in den Dur-Bereich (f-Moll – C-Dur).


    Das Klavier begleitet das mit der immer gleichen, ebenfalls mit einer harmonischen Rückung verbundenen klanglichen Figur: Einer Triole, die in einen gehaltenen bitonalen Akkord mündet. Voraus geht aber jeweils eine solche Figur mit einem bitonalen Sextakkord als Abschluss. Auf wunderbare Weise wird hier mitternächtlich stehen gebliebene Zeit klanglich suggeriert. Und der mit einem arpeggierten Moll-Akkord endlos lang gedehnte, aus hoher Lage erfolgende Oktavfall bei dem Wort „Feldwacht“ wirkt am Ende wie das zu Klang Geworden-Sein der großen Einsamkeit des die mitternächtliche Wache haltenden Soldaten. Hier moduliert das Klavier während dieses so lang gedehnten hohen Tones „G“ auf der ersten Silbe des Wortes mit seinen triolischen Figuren wieder zwischen Moll- und Dur-Harmonik, bevor alles in einem über zwei Takte gehaltenen Akkord ausklingt.
    Es ist ein e-Moll-Akkord, - und damit ein harmonisch vielsagend offener Ausklang dieses so großen Liedes.

  • Zunächst eine Vorbemerkung:
    Die Nachbetrachtungen, die ich für gewöhnlich zu allen Lied-Vorstellungen anstelle, erfolgen in diesem und im Falle aller nachfolgenden Lieder dieser „Wunderhorn“-Gruppe auf der Grundlage der Orchesterlied-Fassung. Dahinter steht die Absicht, die liedkompositorischen Spezifika derselben, in denen sie sich von der Klavierlied-Fassung unterscheidet und abhebt, zu erfassen und dabei der Frage nachzugehen, ob sich darin ein musikalisch-künstlerisches Aussage-Plus festmachen lässt. Dabei soll allerdings, um diesen Thread nicht reflexiv zu überfrachten, nicht systematisch, sondern eher nach dem Prinzip des exemplarischen Zugriffs verfahren werden.


    Dieses Lied generiert sich in seiner musikalischen Substanz aus der Konfrontation zweier Welten: Der realen, kriegerisch-aktionistischen, in der das harte „Muss“ der Pflicht und des Gehorsams gilt, und der anderen, in nächtlicher Imagination entworfenen, die sich aus der Vision des „Rosengartens“, des zärtlich-liebevollen Verkehrs der Menschen miteinander speist. „Waffengarten“ und „Rosengarten“ treten als sprachliche Antagonismen einander gegenüber, und Mahlers Liedmusik lässt dies auf höchst beeindruckende Weise sinnlich erfahrbar werden. In der Orchesterfassung ist diese Erfahrung deutlich intensiver und unmittelbar berührender, als das bei der für Singstimme und Klavier der Fall ist. Die Paukenschläge am Anfang suggerieren die Härte dieser militärischen Welt, der Signalruf der Trompete nach den Worten „Ja wachen“ akzentuiert das, die kleine Trompete hat ja derweilen schön längst die Singstimme begleitet, und die permanente Abfolge von quintolischen Sechzehntel-Figuren in den Bläser- und Streicher-Gruppen macht die aktionistische Unruhe vernehmlich, die diese Welt des Soldaten so tiefgreifend beherrscht, dass sie ihn auch während der nächtlichen Wache nicht loslässt. Der tiefen Seelenqual, die in dem Oktavfall der Melodik bei den Worten „Muss traurig sein“ zum Ausdruck kommt, vermögen die ersten und zweiten Violinen mit ihrer von der Terz zur Sexte sich erweiternden Begleitung ungleich stärkeren Nachdruck zu verleihen, als dies das Klavier kann.


    Wunderbar dann die Überleitung zur zweiten Strophe im viertaktigen Zwischenspiel. Eingeleitet und begleitet vom Quintfall in den Kontrabässen und den Figuren der Harfe lassen Englisch-Horn und Klarinette eine triolische Figur erklingen, die in ihrem kurzen Innehalten wie eine Befreiung aus der harten klanglichen Zwängen wirkt, in der sich gerade die Singstimme noch artikulierte. Auch das vermag das Klavier nicht in dieser Weise zu leisten. Die Liedmusik leitet über in die von eben diesen Zwängen befreite Welt des visionären Traums. Und diese Figuren begleiten dann ja auch die melodische Linie der Singstimme. Deren suggestive Wirkung, die von ihren weichen, immer wieder in tiefe Lage ausgreifende und in die Ausgangslage zurückkehrende Bewegung ausgeht, erfährt eine große Steigerung dadurch, dass sie die ersten und zweiten Violinen darin weitgehend begleiten, die Violen aber eine partiell gegenläufige melodische Linie artikulieren. Blechbläser und Pauke schweigen derweilen. Es ist eine klangliche Gegenwelt, die sich hier eine Strophe lang entfaltet, und das Orchester lässt sie viel stärker, intensiver und vielfältiger sinnlich erfahrbar werden, als das Klavier dies mit seinen klanglichen Möglichkeiten vermag. Bemerkenswert aber: Auch die Fassung für Klavier vermittelt diese Kontrast-Erfahrung. Das leistet sie zwar in einer auf das klanglich Elementare reduzierten Weise, damit ist aber kein wirklicher Verlust an relevanten Faktoren der musikalischen Aussage des Liedes verbunden.


    Was die musikalische Aussage des Liedes anbelangt, so ist allerdings festzustellen, dass die Klavierlied-Fassung, was das entsprechende Ausdruckspotential anbelangt, gegenüber der für Orchester ein Defizit aufweist. Sie bringt sie durchaus zum Ausdruck, es gehen ihr aber, ganz einfach, weil das Klavier allein sie nicht zu erbringen vermag, klangliche Faktoren ab, die die ganze dimensionale Breite und Tiefe dieser Aussage zu erschließen vermögen. Besonders deutlich wird das beim Schluss des Liedes, der Liedmusik auf die letzte Strophe also: „Wer sang es hier, wer sang zur Stund`…“. Das langsame, bis in die Unhörbarkeit erfolgende Sich-Zurückziehen der Liedmusik vermag das Orchester ungleich eindringlicher zum Ausdruck zu bringen, als dem Klavier das möglich ist. Eindringlicher, weil es auf der Grundlage eines klanglichen Terrains erfolgt, auf dem die einzelnen Instrumentengruppen mehr und mehr verlöschen. Wobei, und das ist ja das Bedeutsame daran, auch die Instrumente beteiligt sind, die vorangehend zur klanglichen Deskription der militärischen Welt beitrugen. Die Trompete fehlt zwar, aber die Pauke gibt noch pianissimo vereinzelte dumpfe Töne von sich. Flöten und Klarinetten lassen von ihren triolischen Figuren ab und gehen gemeinsam mit den Hörnern und Oboen zu lang gehaltenen bitonalen Akkorden über. Nur die Solo-Violine lässt pianissimo noch vereinzelte triolische Figuren erklingen.


    Hier verklingt die ganze militärische Welt auf beeindruckende Weise, wobei sie das mit ihrer in der Person des Mädchens imaginierten Gegenwelt tut. Kann man dieses Lied aus diesem Grund als eines aufnehmen und verstehen, das nicht nur diese kriegerisch-militärische Welt musikalisch thematisiert, sondern sich darüber hinaus auch noch gegen sie wendet? Die Orchester-Fassung legt das nahe, deutlicher als die für Klavier. Warum?
    Mahler lässt in der ganzen letzten Strophe die Harfe klanglich deutlich in Erscheinung treten, in Gestalt von Arpeggien auf der Grundlage von markanten Einzeltönen im Bassbereich. Die Harfe wird aber von ihm in seinen Liedkompositionen – und darüber hinaus auch in der Sinfonik – zum musikalisch-klanglichen Ausdruck des Jenseitigen, Engelhaften, Transzendenten, rational nicht Fassbaren eingesetzt.

  • Sie:
    „Büble wir!
    Büble wir wollen auße gehe!
    Wollen wir? Wollen wir?
    Unsere Lämmer besehe?
    Komm! Komm! Komm, lieb´s Büberle
    komm, ich bitt´!“
    Er:
    „Närrisches Dinterle,
    ich geh´ dir halt nit!“
    Sie:
    „Willst vielleicht –
    Willst vielleicht a bissel nasche?
    Willst vielleicht! Willst vielleicht?
    Hol´ dir was aus meiner Tasch´!
    Hol´ dir was! Hol´ dir was!
    Hol, lieb´s Büberle,
    hol´´, ich bitt´!“
    Er:
    „Närrisches Dinterle,
    ich nasch´ dir halt nit!“
    Sie:
    „Gelt, ich soll -
    Gelt? Ich soll mein Herz dir schenke?
    Gelt? Ich soll?
    Immer willst an mich gedenke!
    Immer! Immer! Immer!
    Nimm´s! Nimm´s, lieb´ s Büberle!
    Nimm´s, ich bitt´!“
    Er:
    „Närrisches Dinterle,
    ich mag es halt nit!
    Nit!“



    Heiter, in Ländler-Rhythmisierung mit dem Volksliedton spielend, kommt dieses Lied daher. Es soll allerdings „gemächlich“ vorgetragen werden. Und das hat seinen guten Grund, spielt sich doch unter der Oberfläche dieser koketten Begegnung zwischen dem Mädchen und dem „Büble“ eine kleine „Tragödie“ ab: Die zutiefst deprimierende Erfahrung dieser Frau, dass all ihre Werbung und Lockung beim anderen Menschen nicht fruchtet, weil dieser nicht „mag“ und ihr das in geradezu schroffer, weil unverblümter und direkter Weise ins Gesicht sagt. In der Musik schlägt sich dies in vielfältiger Weise in der Melodik, im Klaviersatz und vor allem in der Harmonik nieder. So sehr dieses Lied in seiner Melodik die Anmutung von Volksliedhaftigkeit aufweist, in der Harmonik ist dies in keiner Weise der Fall: Mahler nutzt das komplexe Wechselspiel der Tongeschlechter in geradezu brillanter Weise, um das, was sich im Dialog der Beiden und in ihrem Inneren ereignet, musikalisch zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.


    Schon das siebentaktige Vorspiel reflektiert in seiner Struktur das, was sich im folgenden in der musikalischen Aussage des Liedes ereignen wird. In den ersten drei Takten erklingt im Diskant ein hohes „E“ im Wert von drei Vierteln, im Bass hingegen die Oktave dazu im Wert eines punktierten Viertels. Das eine wird auf dem letzten Achtel des Dreiachtel-Taktes angeschlagen, das zweite hingegen auf dem ersten. Es ist keineswegs spekulativ, in dieser rhythmischen Diskrepanz ein Abbild des Verhältnisses der beiden Protagonisten zu vernehmen, die ganz einfach nicht zusammenkommen können. Und in die nachfolgenden vier Sechzehntel-Figuren, die in der Grundtonart E-Dur gehalten sind und sich tonal schrittweise absenken, drängt sich bei der zweiten ein e-Moll hinein. Das wird sich in der Harmonisierung der melodischen Linie immer weder ereignen, und zwar nicht nur in der simplen Aufteilung auf diejenige, die jeweils dem lyrischen Text der beiden zugeordnet ist.


    Von zwei melodischen, bzw. klanglichen Motiven erfährt das Lied eine starke, seinen musikalischen Charakter formende Prägung: Es ist das im Vorspiel erklingende Motiv aus zwar aufsteigenden, aber als figuratives Gebilde doch fallenden und sich dabei in einem Viertel ausruhenden Sechzehnteln, und es ist die melodische Sprungbewegung, mit der das Lied einsetzt, - der zweischrittige Oktavsprung also, mit dem das Mädchen die Ansprache an das „Büble“ einleitet. Das erste Motiv erklingt im Klaviersatz noch weitere zwei Mal, allerdings in modifizierter Gestalt. Es wirkt wie eine klangliche Hinführung des Hörers zur Szene, in der sich die Begegnung der beiden ereignet. Das melodische Ansprache-Motiv begegnet einem neun Mal, und in dem schroffen Anstieg, den die melodische Linie hier nimmt, suggeriert es klanglich die Intensität, mit der das Mädchen auf sein Gegenüber eindringt. Es steigert sich darin ja immer mehr, bis es am Ende von dieser melodischen Figur völlig ablässt und mit dem dreifachen „nimm´s“ in einen geradezu kläglich wirkenden Gestus des Bittens und Bettelns verfällt. In gleicher Weise steigert sich die Abwehr des „Bübles“, deutlich vernehmbar in der Struktur der melodischen Linie, die seinen Worten zugrunde liegt.


    Die Annäherung des Mädchens an den Jungen wird in den sprachlichen Mitteln, die er dafür einsetzt, von Mahler in höchst kunstvoller Weise in Musik gesetzt. Am Anfang ist noch Zögerlichkeit, vielleicht auch Vorsicht oder gar Scheu vernehmlich, - in der Tatsache, dass nach den Worten „Büble, wir“ erst einmal eine zweitaktige Pause in die melodische Linie kommt. Diese Zögerlichkeit drückt sich schon in der Struktur der Vokallinie aus, die auf dem „Büble, wir“ liegt. Zwar setzt sie mit einem forschen zweischrittigen Oktavsprung ein, dann aber folgen eine Sechzehntel-Pause und ein kleiner Sekundfall, der mit einer harmonischen Rückung von A-Dur nach C-Dur verbunden ist. Und die melodische Linie, auf der die folgenden Worte deklamiert werden, setzt in a-Moll ein und senkt sich in dem in Sekunden erfolgenden Auf und Ab langsam nach unten. Erst beim zweiten „auße gehe“, das in mittlerer Lage deklamiert wird, hat die Harmonik die Grundtonart A-Dur erreicht. Bei den Worten „wollen wir?“, die wiederholt werden, ereignet sich wieder dieser zweischrittige Anstieg der melodischen Linie über eine Oktave, dieses Mal aber eine Terz höher ansetzend und ohne den nachfolgenden kleinen Sekundfall. Vielmehr geht er in eine wellenförmig ansteigende melodische Linie über, die die klangliche Anmutung einer Verlockung aufweist.


    Auf das in E-Dur harmonisierte, mit einem Vorschlag auf einem Ton deklamierte und wiederum Verlockung ausdrückende „Komm! Komm! Komm!“ erfolgt erstmals die Reaktion des jungen Mannes, die sich schon mit dem Forte, in dem sie einsetzt, schroff vom Piano des Mädchens absetzt. Sie tut es aber auch in der Struktur der melodischen Linie. Während die Worte „komm, ich bitt´“ piano auf einem Sextfall mit nachfolgenden Sekundanstieg der melodischen Linie deklamiert werden, beschreibt diese bei der Antwort des „Büble“ eine in vorwiegend Sekundschritten ansteigende und wieder fallende Bogenbewegung, die bei „ich geh´ dir halt nit“ in eine klanglich abweisend hart wirkende Kombination aus Oktavsprung und Sextfall mündet, die das Klavier im Diskant überdies noch mitvollzieht.


    Bei den im nachfolgenden Zwischenspiel aus mittlerer in tiefe Lage fallenden Sechzehnteln tritt von einem Takt zum anderen ein Pianissimo ins Fortissimo, und danach deklamiert die Singstimme die Worte „willst vielleicht“, denen wieder eine Pause folgt. Um dem „vielleicht“ Ausdruck zu verleihen, setzt die melodische Linie dieses Mal den Oktavsprung um eine weitere Terz fort und geht dann in die schon bekannte, in a-Moll harmonisierte wellenartige Fallbewegung in Sekundschritten über. Aber das Mädchen setzt seine Fragenfort und steigert sie in ihrer Eindringlichkeit. Bei der Wiederholung des „willst vielleicht?“ setzt der Oktavsprung nun um eine Quinte höher an, endet also auf einem hohen „G“ und ist überdies nun auch nicht mehr in dem verhaltenen a-Moll, sondern in einem entschiedener wirkenden C-Dur harmonisiert. Das Klavier verstärkt wieder die Dringlichkeit der Frage, indem es im Diskant die Sprungbewegungen mitvollzieht. Das ist auch bei dem doppelten „hol dir was“ der Fall, wobei hier dadurch ein Steigerungseffekt in den Appell kommt, dass bei der Wiederholung aus dem Sextfall ein Oktavfall wird, der mit einer harmonischen Rückung von C-Dur nach E-Dur verbunden ist.


    Da das Mädchen immer noch nicht locker lassen will und bei den Worten „hol, hol, hol, lieb´s Büberle“ gar in einen weinerlichen, schon kläglichen Ton des Bittens verfällt, weil es die Worte auf einer ganz langsam fallenden und von E-Dur nach a-Moll umschlagenden melodischen Linie deklamiert, setzt das „Büberle“ nun einen noch schrofferen Abwehr-Ton dagegen. Drei Mal beschreibt nun die melodische Linie bei den Worten „Närrisches Dinterle, ich nasch dir halt nit“ eine in der Struktur ähnliche Fallbewegung aus Achteln und Sechzehnteln, die mit diesem Wiederholungseffekt Entschiedenheit suggeriert. Und nach dem Oktavsprung, den die melodische Linie am Ende nun erneut macht, geht sie in eine sich über fast drei Takte erstreckende Dehnung auf der Wiederholung des Wortes „nit“ über. Das Klavier begleitet dies mit einer wie endlos wirkenden Kette von im Auf und Ab aus hoher Lage langsam in die Tiefe sinkenden Sechzehnteln.


    Und noch einmal setzt das Mädchen melodisch in der Weise ein, die es nun schon zweimal praktiziert hat. Bei den Worten „immer willst an mich gedenken“ nimmt die melodische Linie eine andere Struktur an. Sie beschreibt, nachdem sie bei den Worten „gelt, ich soll?“ erneut mit ihrem zweimaligen Oktavsprung eingesetzt hat, am Ende eine in große Höhe ausgreifende Bewegung von Sechzehnteln, wobei die Harmonik nach e-Moll moduliert. Ein weinerlicher Ton kommt hier in die Vokallinie, und der setzt sich bei dem dreifachen „immer?“ in Gestalt eines in d-Moll und a-Moll gebeteten Sekundfalls in hoher Lage fort. Auch das Klavier geht hierbei zu einer akkordischen Sekundfall-Figur im Diskant über.


    Erneut deklamiert das Mädchen die nachfolgenden Worte „nimm´s, lieb´s Büberle“ auf der schon bekannten, sich langsam absenkenden und von E-Dur nach a-Moll modulierenden melodischen Linie. Hier allerdings begleitet das Klavier diese Bewegung mit Oktaven im Diskant und verleiht der weinerlichen Bitte dadurch noch größere Eindringlichkeit. Das „Büberle“ weist sie wieder mit der gleichen, aus drei Fallbewegungen bestehenden melodischen Linie zurück. Dieses Mal deklamiert er aber die lange Dehnung auf dem wiederholten „nit“ fortissimo auf einem extrem hohen „Gis“, und die Harmonik vollzieht dabei eine geradezu kühne Rückung von E-Dur über Fis- nach Gis-Dur.


    Die Sache ist entschieden. Und das Klavier bestätigt das mit einer fortissimo in Diskant und Bass auseinander laufenden Kette von Terzen, die in einen fünfstimmigen Akkord in der Grundtonart A-Dur münden.

  • Den nachträglichen Gedanken zu diesem Lied liegt wieder, wie in allen nachfolgenden Fällen, die Orchesterfassung zugrunde. Immer wieder einmal weist diese gegenüber der Klavierlied-Fassung mehr oder weniger umfangreiche Unterschiede im Text auf. Wieweit dies für die musikalische Aussage jeweils relevant ist, wird jeweils zu überdenken sein. Hier gibt es zwei kleinere Änderungen. Aus dem dreimaligen „Komm“ der Klavierfassung macht Mahler ein „Gelt! Komm! Komm!“ und aus den Worten „ich geh´ dir halt nit“ wird „ich mag dich halt nit“. Die Liedmusik ist jeweils die gleiche, aber vor allem im zweiten Fall wollte Mahler wohl die Abwehrhaltung des Burschen gegenüber dem Mädchen von Anfang an auch textlich stärker hervorheben und damit die Korrespondenz von Text und Musik betonen. Für ihn gilt nun einmal der uneingeschränkte Primat der Musik. Wenn diese, wie das bei der – in der Grundstruktur ja gleich bleibenden - melodischen Figur auf den Worten des Burschen der Fall ist, ein Nicht-Mögen der Person des Mädchens zum Ausdruck bringt, was ja auch das nachfolgende Orchester-Zwischenspiel mit seinen lebhaft fallenden Sechzehntel-Figuren bei den Flöten, den Oboen, den Klarinetten und der Violinen kommentierend bestätigt, dann muss eben der Text entsprechend abgeändert werden.


    Der Geist des Liedes, die volksliedhafte dialogisch-szenische Humoreske, wird in der Orchesterfassung mit kammermusikalischer Klanglichkeit zum Ausdruck gebracht. Blechbläser treten nicht in Aktion, - mit Ausnahme der Hörner, die sich aber mit auffälliger Zurückhaltung artikulieren. Bemerkenswert auch: Flöten, Klarinetten, Oboen und Fagotte treten in der Begleitung der Singstimme gerne getrennt voneinander auf, finden eher in den Zwischenspielen einmal zusammen, und ein wirkliches Orchester-Tutti im Fortissimo ereignet sich erst am Ende des Liedes. Im fünftaktigen Nachspiel nämlich, in dem das Orchester in fast schon klanglich schroff anmutender Weise das „Ich mag es halt nit“ der Singstimme akzentuiert und einen rabiaten Schlusspunkt unter die vergeblichen Versuche des Mädchens setzt, ihr „Büble“ für sich zu gewinnen.


    Hier zeigt sich wieder, wie mit den klanglichen Mitteln des Orchesters über die Klavierlied-Fassung hinaus Dimensionen der musikalischen Aussage nicht nur akzentuiert, sondern auch zusätzlich erschlossen werden können. Und das gilt natürlich für das ganze Lied. Grundsätzlich kommt der tänzerische, den Charakter der Humoreske betonende Ländler-Rhythmus deutlicher zum Ausdruck, vor allem durch die Sechzehntel-Figuren der Streicher und die Art und Weise, wie diese die melodische Linie der Singstimme mal pizzicato, mal coll´arco begleiten. Das lässt die Haltung, in der die beiden Dialogpartner einander gegenübertreten, deutlich konkreter werden. Und damit wird nicht nur der Szenerie, in der sich der Dialog zwischen den Beiden ereignet mehr Plastizität verliehen, die im Grunde ja keineswegs humoristische, sondern durchaus existenziell gravierende Lebenserfahrung, von der das Lied spricht, gewinnt auf diese Weise noch mehr musikalischen Nachdruck.


    Der Orchestersatz vermag mit seinen klanglichen Mitteln die Aussage der melodischen Linie stärker zu akzentuieren und in den Zwischenspielen aussagereicher zu kommentieren. Schon die vielsagende rhythmische Diskrepanz, mit der das Vorspiel einsetzt, kommt, weil die Töne jeweils länger gehalten werden können, im Dialog zwischen der Oboe und dem Horn markanter zum Ausdruck. Und das gilt auch für das nachfolgende, eine so wichtige Rolle einnehmende Sechzehntel-Motiv, dessen wesenhaft fallender Charakter ungleich stärker sinnlich vernehmbar wird, wenn er sich als Übernahme-Ereignis von den Oboen über die Klarinetten hin zu den Streichern vollzieht.


    Vor allem die emotionale Dimension, die Mahler der Struktur der melodischen Linie im Falle des Mädchens verliehen hat, dieses Changieren zwischen Locken, Bitten und Drängen, das am Ende in ein klägliches, ja jämmerliches Bedrängen ausartet, gewinnt durch die begleitende und kommentierende Orchester-Liedmusik eine hochexpressive klangliche Eindrücklichkeit. Wenn, um auf ein besonders markantes Beispiel dafür zu verweisen, die Singstimme das dreimalige „Immer“ auf dem mit einem Crescendo einsetzenden und in ein Decrescendo übergehenden Sekundfall deklamiert, dann vollziehen die Oboen diese Fallbewegung in Gestalt von Sexten mit, und die ersten und zweiten Violinen folgen der melodischen Linie ebenfalls mit einem legato artikulierten Sekundfall, der allerdings, um die Expressivität der jammervollen Klage noch zu verstärken, aus einer anfänglichen Sechzehntel-Figur mit ebenfalls fallender Tendenz hervorgeht. Der so innig-sehnsuchtsvolle Wunsch, der in die Worte „immer willst an mich gedenken“ gelegt wird, erhält hier im Orchestersatz eine klangliche Intensität, die das Schmerzliche, das damit einhergeht, in einer Weise zum Ausdruck zu bringen vermag, wie das dem Klaviersatz nicht möglich ist.

  • Husar:
    Wohlan! Die Zeit ist kommen!
    Mein Pferd, das muß gesattelt sein!
    Ich hab 'mir´s vorgenommen,
    geritten muß es sein!


    Geh´ du nur hin!
    Ich hab mein Teil!
    Ich lieb´ dich nur aus Narretei!
    Ohn´ dich kann ich wohl leben, ja leben!
    Ohn´ dich kann ich wohl sein!


    So setz´ ich mich auf´s Pferdchen,
    und trink´ ein Gläschen kühlen Wein!
    Und schwör´s bei meinem Bärtchen,
    dir ewig treu zu sein!


    Mädchen:
    Du glaubst, du bist der Schönste
    wohl auf der ganzen weiten Welt,
    und auch der Angenehmste!
    Ist aber weit, weit gefehlt!


    In Meines Vaters Garten
    wächst eine Blume drin:
    so lang´ will ich noch warten,
    bis die noch größer ist.


    Und geh du nur hin!
    Ich hab´ mein Teil!
    Ich lieb´ dich nur aus Narretei!
    Ohn´ dich kann ich wohl leben,
    ohn´ dich kann ich wohl sein!


    Beide:
    Du glaubst, ich werd´ dich nehmen!
    Das hab´ ich lang' noch nicht im Sinn!
    Ich muß mich deiner schämen,
    wenn ich in Gesellschaft bin!



    Dem Lied ist zwar die Grundtonart A-Dur vorgegeben, zu einem seiner typischen klanglichen Merkmale zählt aber die auffällige Instabilität der Harmonik. Hier ist nichts von Bestand, und es ereignen sich permanent kurzschrittige Modulationen und Wechsel im Tongeschlecht. Es treffen zwei wesensverschiedene Menschen aufeinander, und das schlägt sich in allen Bereichen der Liedmusik nieder, wodurch die Strophen sich deutlich voneinander abheben. Bei der ersten lautet die Anweisung: „Verwegen (durchaus mit prägnantestem Rhythmus)“, und schon das dreizehntaktige Vorspiel kommt dem Hörer als Inbegriff prägnanter Rhythmik entgegen. Staccato angeschlagene Terzen vollziehen ein rhythmisch akzentuiertes Auf und Ab, und Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Ketten rauschen im Diskant und im Bass in die Höhe und die Tiefe. Das alles ist musikalische Evokation eines flotten Husarenlebens, das sich galoppierend die Welt erobert.


    Und so tritt dieser Husar dann auch auf. Bei den Worten „Wohlan die Zeit ist kommen“ steigt die melodische Linie in Terz- und Quartsprüngen über das Intervall einer Undezime in hohe Lage empor. Zwar ist sie hier noch in fis-Moll harmonisiert, das ändert sich aber bei den raschen Schritten, in denen der nächste Vers deklamiert wird. Und mit welch aktionistischem Gehabe dieser Husar daherkommt, das lässt die melodische Linie vernehmen, die auf den beiden folgenden Versen liegt. Bei den Worten „Ich hab mir´s vorgenommen“ schwingt sie sich mit einem Anlauf zu einem hohen „Fis“ empor und senkt sich von dort aus in einem gedehnten Bogen um zwei Sekunden ab. Und nach einer mehr als eintaktigen Pause, in der das Klavier wieder das aus dem Vorspiel schon bekannte Galoppier-Motiv aus Staccato-Achteln erklingen lässt, wird das „geritten muß es sein“ fortissimo auf einer rasch von eben diesem „Fis“ aus fallenden melodischen Linie deklamiert, die aber am Ende zu dem Wort „sein“ hin einen energischen Quartsprung beschreibt. Das Klavier akzentuiert dies mit seinen hoch und wieder runter laufenden Sechzehntel-Ketten, die wie Peitschenhiebe wirken. Das geschieht allerdings in e-Moll.


    In dieser Tonart ist auch die melodische Linie harmonisiert, die auf den Worten „Geh du nur hin, ich hab mein Teil“ liegt. Es sind zwei durch eine Pause getrennte Doppelsprünge in Terzen, die recht schroff wirken, wozu dieses Tongeschlecht einen wesentlichen klanglichen Beitrag liefert. Und die nun wieder in Sprüngen erfolgende Deklamation der Worte „ich lieb dich nur aus Narretei“, die, um die Abweisung zu steigern, bis zu einem hohen „Fis“ aufsteigt, ist in Moll harmonisiert, - fis-Moll nämlich. Wie Hohn wirkt danach die Rückung in helles H-Dur bei den Worten „ohn´ dich kann ich wohl leben“. Dies auch deshalb, weil die melodische Linie bei dem Wort „leben“ einen kecken Quintsprung zu dem selben „Fis“ macht, das nun aber in H-Dur erklingt. Auch die Behauptung „ohn´ dich kann ich wohl sein“, die auf einer Sechzehntel-Fallbewegung deklamiert wird und deshalb die Anmutung von leichtem Dahingesprochen-Sein aufweist, ist in E- und in H-Dur harmonisiert.


    Wenn der Husar am Ende dieser Strophe schwört, dem Mädchen „ewig treu zu sein“, dann tut er das, wiederum in E- und H-Dur-Harmonik, mit gewichtig (Portati) in Sekunden nach oben steigenden melodischen Schritten, mit einer Dehnung auf dem Wort „treu“ und einem Terzfall am Ende. Das kann nur spöttisch gemeint sein, nicht ernst zu nehmen durch das Mädchen. Die Musik verrät es. Diese melodische Linie ist in ihrer Struktur derjenigen sehr ähnlich, die auf den Worten „So setz ich mich auf´s Pferdchen“ liegt. Die aber erklingt in fis-Moll.


    Die Antwort des Mädchens, die nach einem achttaktigen, den schwungvollen Husarenton des Vorspiels aufgreifenden und fortsetzenden Zwischenspiel erfolgt, hebt sich in Melodik und Klaviersatz deutlich von der ersten Strophe ab, zumindest anfänglich. Mahlers Anweisung lautet: „Etwas mäßiger, aber ohne das Tempo merklich zu verändern“, und speziell für den Vortrag der melodischen Linie: „in weinerlichem Tone“. Die melodische Linie weist, da sie nicht von Pausen unterbrochen wird, eine stärkere innere Bindung auf, wirkt dadurch weniger schroff und entfaltet eine gewisse klangliche Eingängigkeit dadurch, dass sich einzelne Bewegungen wiederholen. Die Harmonik ist frei von Moll-Einschüben und moduliert zwischen D- und G-Dur. Eine gewisse Steigerung im Sinne sentimentaler Weinerlichkeit kommt mit dem fünften Vers in sie („In meines Vaters Garten…“, Anweisung: „immer weinerlicher“). Ganz langsam steigt sie in mittlere tonale Lage empor und moduliert dabei zwischen A- und E-Dur. Mit dem siebten Vers („So lang will ich noch warten“) wiederholen sich dann die Figuren wieder, um Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen. Die Harmonik ist dabei zu D-Dur zurückgekehrt. Das Klavier hat sich bis dahin ganz der kantabel fließenden Melodik angepasst und folgt ihren Bewegungen mit weitgehend gebundenen Akkorden.


    Wenn das Mädchen das „Geh du nur hin“ des Husars übernimmt, verfällt sie auch in denselben melodischen Gestus, das heißt, die melodische Linie verliert ihren kantablen Fluss und wird von Pausen unterbrochen. Die einzelnen Melodiezeilen haben aber beim Mädchen eine andere Struktur. Sie sind nicht nach oben gerichtet, sondern bogenförmig angelegt und muten deshalb weniger energisch, als vielmehr verhalten-wehleidig an. Am Ende aber geht die melodische Linie in eine fortissimo zu deklamierende Aufwärtsbewegung über, die in einen trotzig wirkenden Fall von Sechzehnteln mündet. Bevor die Singstimme zur Deklamation der Melodik der dritten Strophe einsetzt, lässt das Klavier eine Melodie erklingen, die sich nahezu ausschließlich in Terzen entfaltet und so beschwingt-lieblich daherkommt, dass man sie eigentlich nur als Verspottung dessen aufnehmen kann, was das Mädchen gerade dem Husaren entgegenhielt. Schließlich mündet diese Melodie am Ende in die schon bekannten Sechzehntel-Peitschenhiebe.


    Der Husar setzt nun mit der gleichen Melodik ein, die auf den ersten drei Versen der ersten Strophe liegt, - dieses Mal aber ohne jegliche Eintrübung durch Moll-Harmonik, sondern in D- und A-Dur gebettet. Das Klavier verleiht den Worten nun auch weitaus mehr Nachdruck, indem es die Bewegung der melodischen Linie mit Akkorden begleitet. Bei der Aussage „ich muß mich deiner schämen“ weist die entsprechende melodische Figur eine stärkere Untergliederung in Achtel auf, als dies bei der ersten Strophe der Fall ist. Der soll auf diese Weise mehr Nachdruck verliehen werden. Und daran beteiligt sich auch das Klavier, indem es sie fast zwei Takte lang mit aus Triolen hervorgehenden oktavischen Sprüngen kommentiert, die wie ein Trompetensignal wirken. Und als wäre dem nicht genug, wiederholt der Husar die Aussage noch einmal, ergänzt durch den Zusatz „wenn ich in Gesellschaft bin“. Das geschieht auf einer sich zunächst in mittlerer Lage bewegenden melodischen Linie, der das Klavier mit bitonalen Akkorden folgt. Am Ende aber geht sie in die gleiche, aus einem Anstieg in hohe Lage hervorgehenden Fall von Sechzehnteln über, in dem das Mädchen schon die Worte „ohn´ dich kann ich nicht sein“ deklamiert hatte.


    Dieser Husar schüttet Hohn und Spott über das Mädchen. Und das Klavier kommentiert dies im Nachspiel mit hart angeschlagenen Akkordfolgen, die wie Trompetenstöße anmuten. Fortissimo artikulierte Sechzehntel-Quartolen und –Triolen folgen nach. Ein Ausklingen des Liedes ist das nicht. Was sollte in diesem so seltsamen Dialog auch ausklingen?

  • Ich möchte nur kurz unterbrechen. Nach der Lektüre der Analyse zu den "Liedern eines fahrenden Gesellen", wozu ich kein Hörbeispiel brauchte, habe ich gedacht: Was sind solche Beiträge wichtig und wertvoll für die Funktion des Forums als aktuelles und dauernd gültiges Kompendium, das man immer zur Hand hat, ohne in einem dicken Lexikon nachschlagen zu müssen.
    P.S. Ich weiß nicht mehr, wann ich diese Lieder kennengelernt habe, aber in meinem Wiener Semester 1965/65 habe ich sie bei Wanderungen im Wienerwald (besonders auf dem Kahlenberg) zum ersten Mal auswendig gekonnt. Seitdem hat sich jede Landschaft, in der ich gewandert bin, diese Lieder anhören müssen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Das Motiv für die Wahl dieses Wunderhorn-Gedichts lag wohl – wie im vorangehenden Fall – im Reiz, mit musikalischen Mitteln einen Dialog zu gestalten und die dabei beteiligten Personen zu charakterisieren. Hier sind es ein „Husar“ und ein „Mädchen“, und daraus geht eine klare Dreigliedrigkeit des Liedes hervor: Beiden ist je eine Strophe zugeordnet, und die dritte gestalten sie beide gemeinsam. Diese Anweisung hat Mahler dann aber bei der Orchesterfassung des Liedes gestrichen. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Aber eigentlich wiederspricht es ja dem dieser Komposition zugrunde liegenden Konzept, zwei Personen mit unterschiedlicher Einstellung dem anderen gegenüber aufeinandertreffen und sie am Ende dann gemeinsam einen Text deklamieren zu lassen. Mahler hat diese Lieder als „Humoresken“ bezeichnet und eingestuft. Genau dieser Charakter ist bei diesem Lied besser gewahrt, wenn die letzte Strophe vom „Husaren“ gesungen wird, - zumal die melodische Linie und der Klaviersatz viel besser zu ihm passen, - finden sich darin doch viele Elemente der ersten Strophe.


    Der Charakter der Humoreske, der in diesem Fall – darin über Jean Pauls Konzept hinausgehend – in die Sphäre des Absurden ausgreift, ist zwar auch in der Klavierfassung durchaus zu vernehmen, in der für Orchester kommt er aber allererst voll zum Ausdruck, drängt sich einem regelrecht auf und erschließt sich dabei in all seinen Dimensionen. Schon das Vorspiel macht dies im Zusammenspiel der verschiedenen Instrumentengruppen und in der dabei sich ereignenden Konfrontation ihres klanglichen Potentials auf höchst beeindruckende Weise vernehmlich. Die Lebenswelt des „Husaren“ erfährt eine hochgradige klanglich-sinnliche Konkretion. Die Musik lärmt, sie poltert, verweist damit auf den Charakter des männlichen Protagonisten, und dazwischen evoziert sie mit militärischen Klängen und Jagdmotiven die Welt, aus der er kommt. Die Klarinetten, die Fagotte und die Streicher lassen abstürzende Sechzehntel-Figuren erklingen, die Pauke und die kleine Trompete klopfen dumpf und drängen sich hell dazwischen, die Trompeten lassen ein schmetterndes Terzensignal erklingen, die Streicher gehen aus der anfänglichen Sturzbewegung in einen schubweise erfolgenden Aufwärtsdrang über, die Oboen und die Klarinetten fallen mit einem Jagdsignal ein, und bevor die Singstimme dann endlich einsetzt, geht es bei den Streichern erst noch einmal in rasanter Weise abwärts und wieder nach oben.


    Und über die extrem kontrastreiche, das klangliche Potential der Instrumente voll ausreizenden klanglichen Evokation einer spezifischen Lebenswelt – wie sie für Mahlers Sinfonik so typisch ist – hinaus, bewirkt diese Liedmusik noch ein Weiteres: Sie entlarvt denjenigen in seinem Charakter, der sich nun als Erster melodisch zu Wort meldet. Denn die anfänglich in Quarten und Terzen gleichsam nach oben schießende melodische Linie, auf der er die Worte „Wohlan die Zeit ist kommen“ deklamiert, ist die, mit der die Streicher nach ihren Sechzehntel-Fallfiguren zu Beginn des Vorspiels dann in eine aufwärts gerichtete Bewegung übergehen. Der „Husar“ bekundet mit diesem seinem melodischen Auftritt, woher er kommt und wohin er gehört, - und hat sich damit gleich von Anfang an als komisch-lächerliche Figur präsentiert.


    Die Orchestermusik vermag auch klanglich reichhaltiger, vielfältiger und damit umfassender die Funktion der Charakterisierung der beiden Personen zu erfüllen, als dies dem Klavier möglich ist. Wenn der Husar seine melodische Linie deklamiert, begleiten ihn dabei immer wieder die Flöten mit nach unten schießenden Zweiunddreißigstel-Figuren und die Oboen und die Klarinetten mit solchen, die nach oben schießen. Die Hörner ergehen sich in einem terzenbetonten Jagdmotiv, die Trompeten schmettern eine triolische Figur, die Pauke fährt mit dumpfen Tönen dazwischen und selbst die Triangel und die kleine Trompete tragen das Ihre dazu bei, den militaristischen Husarengeist dieses Protagonisten zu entlarven.


    Ganz anders, und in fast schon klanglich extremem Kontrast dazu stehend, der Charakter des Mädchens, wie ihn das Orchester mit seinem klanglichen Mitteln beschreibt. Die Streicher, die sich gerade noch in Begleitung der sich deklamatorisch schroff auf und ab bewegenden melodischen Linie des Husaren in ebenfalls rasant nach unten und nach oben schießenden Zweiunddreißigstel-Figuren ergingen, begleiten nun die sich weich und kantabel entfaltende melodische Linie des Mädchens und unterstützen sie in der leichten Emphase, in die sie sich bei bei den Worten „in meines Vaters Garten ist eine Blume drin“ steigert. Pauke und Trompete schweigen, Hörner und Holzbläser beschränken sich auf eine Unterstützung der Streicher in ihrem Bemühen, dem, was das Mädchen melodisch weich und markant zugleich dem Husaren entgegen setzt, den entsprechenden klanglichen Nachdruck zu verleihen. Und bei dem trotzigen „ich lieb´ dich nur aus Narretei“ setzen dann mit einem Mal die Oboen, die Klarinetten, die Fagotte und die Hörner die angemessenen Akzente, und auch Pauke und kleine Trompete melden sich wieder zu Wort.


    Seltsam nur das Nachspiel zu all dem. Die Trompeten intonieren mezzoforte eine terzenbetont-volksmussikalische Ländler-Melodie, in die die Flöten, die Oboen und die Klarinetten mit lustig anspringenden und dann in eine Fallbewegung übergehenden Terzen einfallen. Und das ganze endet in den wie Peitschenhiebe anmutenden steigenden und fallenden Zweiunddreißigstel-Figuren, die man von der Husaren-Passage des Liedes kennt. Man ist geneigt, das als musikalische Geste aufzunehmen und zu verstehen, die auch das, was das Mädchen dem Husaren entgegen zu setzen hatte, nachträglich ins Humoristisch-Komische zieht. Und so hat Mahler das ja auch gewollt, - mit dieser seiner „Humoreske“.

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  • Mein Beitrag wird ebenfalls kurz, schmerzlos und überflüssig.


    Ich lese oberflächlich mit und freue mich auf längere Ferien zum genauen Nachvollzug. Denn die Werke besitze ich längst alle und zum Teil mehrfach.


    Vielen Dank, Helmut!


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Von wegen "überflüssig"! Objektiv betrachtet mag das ja so sein, lieber Wolfgang, aus der subjektiven Perspektive, der meinigen nämlich, ist es aber alles andere als das!
    Es ist, wenn ich mir dieses Bekenntnis erlauben darf, ganz einfach eine schöne und wohltuende Erfahrung, auf Anerkennung und sogar Dank zu stoßen für das, was man hier zum Thema Kunstlied allgemein, und zur Liedmusik Gustav Mahlers im besonderen zu sagen und auszuführen hat.

  • Dort oben am Berg
    in dem hohen Haus!
    Da gucket ein fein´s lieb´s Mädel heraus.
    Es Ist nicht dort daheime!
    Es ist des Wirts sein Töchterlein!
    Es wohnt auf grüner Heide!


    Mein Herze ist wund!
    Komm, Schätzle, mach´s g´sund!
    Dein´ schwarzbraune Äuglein,
    die hab´n mich verwund´t.


    Dein rosiger Mund
    macht Herzen gesund.
    Macht Jugend verständig,
    macht Tote lebendig,
    macht Kranke gesund.


    Wer hat denn das schön schöne Liedlein erdacht?
    Es haben´s drei Gäns´ über´s Wasser gebracht.
    Zwei graue und eine weiße!
    Und wer das Liedlein nicht singen kann,
    dem wollen sie es pfeifen.



    „Mit heiterem Behagen“ soll dieses Lied vorgetragen werden, dem ein Dreiachteltakt zugrunde liegt und das in der Fassung für Klavier F-Dur als Grundtonart aufweist. Der Text, auf den Mahler es komponiert hat, stellt eine Montage dar. Aus dem Wunderhorn-Gedicht, dem die Herausgeber diesen Titel gegeben haben, hat er die zweite Strophe herausgenommen und durch Verse aus einem anderen Gedicht ersetzt. Überdies hat er auch noch in die Texte selbst eingegriffen. So lautet der ersten Vers im Original: „Dort oben in dem hohen Haus“. Man meint zu hören, dass Mahler von dem Diminutiv „Liedlein“ inspiriert wurde und größtes Vergnügen dabei empfand, ihn konkretisierend zu Musik werden zu lassen.


    Die melodische Linie der Singstimme entfaltet sich heiter und beschwingt, ohne dass sie dabei irgendwelche Brechungen oder harmonische Eintrübungen erfährt. Das, was geradezu ein kompositorisches Markenzeichen Mahler ist und einem in den Wunderhorn-Liedern oft begegnet, dass nämlich durch eine glatte und glänzende musikalische Oberfläche mit einem Mal Abgründe durchschimmern oder dass sie gar an ihnen zerbricht, das ereignet sich in diesem Lied an keiner Stelle. Stattdessen schwingt sich die melodische Linie – recht ungewöhnlich für ein Klavier-, aber auch ein Orchesterlied – gleich zwei Mal zu einer schier endlosen, sprachlich nur von einem Diphthong, bzw. einem Vokal getragenen melismatischen Kantilene auf.


    Wenn man die Melodik dieses Liedes charakterisieren sollte, so könnte man sagen: Sie ist wesenhaft verspielt. Das dreizehntaktige Vorspiel gibt ihr diesen Ton ja vor. Hier scheint sich alles im Kreis zu drehen. Nicht nur, dass eine bestimmte Sechzehntel-Figur immerzu wiederholt wird und die einzige Veränderung darin besteht, dass die Harmonik dabei zwischen Tonika, Dominante und Subdominante hin und her pendelt, die Figur selbst weist die Anmutung eines Sich-um-sich-selbst-Drehens auf: Indem die Fallbewegung der Sechzehntel sich wendet und zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Die melodische Linie der Singstimme greift diese Figur beim ersten Vers auf, bei dem Wort „hohen Haus“ kehrt sie sogar exakt wieder. Und als könne sich die Singstimme von ihr nicht lösen, setzt sie bei den Worten „in dem Haus“ noch einmal zu ihr an, bricht dann aber ab, um es dem Klavier zu überlassen, sie noch einmal zu artikulieren.


    Dieser Neigung der Singstimme, eine bestimmte melodische Bewegung zu wiederholen, als würde sie gleichsam spielerisch mit ihr umgehen, begegnet man in der Melodik des Liedes immer wieder. Die Sprung- und Fallbewegung bei den Worten „da gucket ein fein´s“ wiederholt sich beim Rest des Verses. Der Unterschied besteht nur in der Rückung von der Subdominante in die Tonika. Und bei den weiteren Versen der ersten Strophe setzt sich das fort. Die melodische Figur auf den Worten „Es ist nicht dort daheime“, die übrigens der ähnelt, die das ganze Vorspiel dominiert, wird wiederholt, ebenso der Sextsprung auf den Worten „Es ist des…“. Und weil die Singstimme ganz offensichtlich in die vom Vorspiel vorgegebene Sechzehntel-Figur verliebt zu sein scheint, lässt sie sie wie verzückt neun Mal auf der ersten Silbe des Wortes „Heide“ erklingen und steigert sich dann bei den beiden letzten Takten dieser melismatischen Kantilene in einen großen, eine ganz Oktave einnehmenden Bogen aus Sechzehnteln hinein.


    Die zweie Strophe lebt zwar von anderen melodischen Motiven, aber auch hier wendet Mahler das Prinzip der Wiederholung an und nutzt es, um eine Steigerung in die Expressivität der Liedmusik zu bringen. Pendelte in der ersten Strophe die Harmonik in einem engen Rahmen im wesentlichen um die Grundtonart F-Dur herum, so ereignen sich bei der zweiten in der mit A-Dur einsetzenden Harmonisierung der melodischen Linie weiter ausgreifende Modulationen. Die große Eingängigkeit, die die Melodik hier entfaltet, rührt daher, dass die melodische Figur, die auf einem Vers liegt, beim nachfolgenden in leicht modifizierter Form wiederholt wird, und dies verbunden mit einer harmonischen Rückung.


    Die bogenförmige, aus zwei Sechzehntel-Sekundsprüngen bestehende Bewegung bei den Worten „Mein Herze ist wund“ wiederholt sich in strukturell ähnlicher Form bei „Komm, Schätzle, mach´s gesund“, wobei die Harmonik von A- nach D-Dur rückt. Bei den beiden nächsten Versen ist die strukturelle Ähnlichkeit in der Melodik zwar weniger stark ausgeprägt, dennoch gibt es sie: In der Wiederholung der Sechzehntel-Figur, die auf den Worten „dein´ schwarzbraune“ liegt, bei „hab´n mich verwund´t“. Hier ereignet sich eine harmonische Rückung von C- nach F-Dur. Auch innerhalb der melodischen Linie auf den Worten „Dein rosiger Mund macht Herzen gesund“ finden sich Korrespondenzen in den beiden Sechzehntel-Figuren, von denen die zweite einen umgekehrten Bogen beschreibt. Hier ist die harmonische Rückung regelrecht kühn. Sie setzt nämlich mit Des-Dur ein und rückt nach „Ges“.


    Mit dem Vers „Macht Jugend verständig“ und den beiden nachfolgenden Versen kommt durch die permanente und vom Klavier im Diskant mitvollzogene Wiederholung der immer gleichen melodischen Figur dadurch eine höchst beeindruckender Steigerungseffekt in die Liedmusik, dass mit jedem Schritt die tonale Ebene angehoben und die Harmonik entsprechend gerückt wird, - bis zum Höhepunkt auf dem Wort „gesund“, mit dem die harmonische Modulation wieder bei der Grundtonart F-Dur angelangt ist. Dieses kompositorisch durchaus kunstvoll-raffinierte Verfahren wendet Mahler dann gleich noch einmal an: Bei den beiden letzten Versen nämlich. – hier allerdings ohne den Eskalationseffekt der permanenten harmonischen Rückung. Das wäre auch zu viel des Guten, denn diese Passage des Liedes mündet ja dann in die zweite, nun zehntaktige melismatische Kantilene auf dem Wort „ja“. Auch hier wiederholt sich in der melodischen Linie und im Klavierdiskant die gleiche Figur immerzu, bis alles am Ende in einem gewaltigen, bis zu einem hohen „A“ emporsteigenden Bogen ausklingt. Wie im ersten Fall nimmt sich die Singstimme bei der absteigenden Linie des Bogens vom Forte ins Piano zurück.


    Ein wunderbar heiteres Lied ist das, und es vermag in der Art und Weise, wie die Melodik gleichsam mit sich selber spielt, für den Hörer im Rahmen der Wunderhorn-Lieder zu einem Ort des unbeschwerten Genusses von Liedmusik zu werden.

  • Kommt dieses Lied nicht auch rein instrumental in einer der frühen Sinfonien vor? Ich hab so was im Ohr, kann es aber nicht genau in eine Sinfonie platzieren. Aber das wird für die Mahler-Experten hier ja kein Problem sein.
    Das Kreisförmige dieses Lieder ist mir auch schon aufgefallen, aber ich denke, das war eher in einem der Sätze der Sinfonie, die mir partout gerade nicht einfällt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zu Deiner Frage, lieber dr. pingel: "Kommt dieses Lied nicht auch rein instrumental in einer der frühen Sinfonien vor?"


    Das ist - nach meiner Kenntnis - nicht der Fall.
    Immer dann, wenn Mahler ein Lied oder Motive daraus in eine seiner Sinfonien übernommen hat, werde ich bei der Vorstellung darauf hinweisen (wie z.B. schon bei den "Liedern eines fahrenden Gesellen"). Was ich allerdings nicht hier leisten kann - höchstens andeutungsweise - das ist, in hinreichend detaillierter Weise darzustellen, welche Funktion es dann jeweils im sinfonischen Kontext und in der musikalischen Aussage des Werkes hat.

  • Der dem Lied zugrunde liegende Text stellt – wieder einmal – eine Montage dar. Und – wieder einmal – lässt sich daraus nicht nur ablesen, wie Mahler mit den Texten der „Wunderhorn“-Sammlung liedkompositorisch umgegangen ist, auch die dahinterstehenden Motive erschließen sich. Dass das „Wunderhorn“ für ihn eine Art Steinbruch war, aus dem er sich gleichsam urtümliche Volkston-Brocken holte, um sie künstlerisch zu bearbeiten, wissen wir ja aus schriftlichen Quellenzeugnissen. Bemerkenswert aber ist das Motiv, von dem er sich bei der Auswahl und beim Bearbeiten leiten ließ.


    Nicht nur in diesem Fall wird deutlich: Er sucht in den „Wunderhorn“-Texten den lyrisch-sprachlich unmittelbaren, also für ihn nicht artifiziell gestalteten und damit entfremdeten Ausdruck elementar menschlichen Lebens im Sinne einer lyrischen Bekundung der fundamentalen Merkmale menschlicher Existenz. Dieses musikalisch zum Ausdruck zu bringen, scheint mir ohnehin das zentrale Anliegen von Mahlers gesamtem kompositorischem Schaffen zu sein. Auffällig ist aber bei all seinem Bemühen, die Dimension von Leid, Schmerz, Tod und Trauer voll und ganz in seine Musik einzubeziehen und diese im Raum der Lebenswelt der unteren Gesellschaftsschicht zu konkretisieren, dass er das Gewöhnliche, das Ordinäre und die ungehemmte Sinnlichkeit dabei nicht nur meidet, sondern all das ganz offensichtlich gezielt eliminiert.


    Hier, in diesem Fall macht er aus des Wirts „Töchterlein“, das – ganz konsequent – im „Wunderhorn“ ein „wacker Mädel“ genannt wird, ein stilisiertes „fein´s lieb´s Mädel“, und die Zwischenstrophe des Original-Textes eliminiert er ganz und gar und ersetzt sie mit einer Strophe aus einem anderen Gedicht der Sammlung. Der Grund dafür ist ein schöner Beleg für seine grundlegenden liedkompositorischen Motive. Diese Strophe war ihm in ihrer Aussage über den Menschen wohl schlicht zu ordinär:
    „Und wer das Mädel haben will,
    Muß tausend Taler finden,
    Und muß sich auch verschwören,
    Nie mehr zu Wein zu gehn,
    Des Vaters Gut verzehren.“


    Die Verse, die er stattdessen an dieser Stelle eingeschoben hat, sind dem „Wunderhorn“-Gedicht „Wer´s Lieben erdacht“ entnommen. Und zwar aus Strophe 1:
    „Deine schwarzbraune Aeugelein
    Verführen ja mich.“
    Und aus Strophe 3:
    „Mein Herz ist verwundt,
    Komm, Schätzel; mach´s gsund;“
    „Dein purpurrother Mund
    Macht Herzen gesund.
    Macht Jugend verständig,
    Macht Todte lebendig,
    Macht Kranke gesund.“


    Adorno hat ja recht, wenn er, das Wesen von Mahlers kompositorischer Grund-Intention charakterisierend anmerkt: „Frei wie nur einer, der selber von Kultur nicht ganz verschluckt ist, greift er auf musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben darin sich brechen.“
    Er lässt dabei aber außer Betracht, dass Mahler eben nicht alle Scherben des Menschenlebens von der Landstraße aufgreift. Er wählt aus und greift mit Vorliebe zu denen, in denen sich das Edle, das Hohe im Erleben und Erleiden der Höhen und Tiefen menschlicher Existenz niedergeschlagen hat, auf dass er es gegen die musikalische Sonne halten kann und darin brechen lässt.


    Und das gilt nicht nur dort, wo, wie in seinen Soldaten-Liedern zum Beispiel, das musikalische Thema ein hochgradig ernstes, das leidvolle Zum-Tode-Sein des menschlichen Existenz berührendes ist, es gilt auch für das, was er als „Humoreske“ tituliert. Bei diesem Lied hat man es ja mit dem letzten Vertreter dieser liedmusikalischen Gattung zu tun. Der Humoresken-Charakter ist bei ihm besonders eindrucksvoll ausgeprägt, und in der Orchesterfassung noch markanter als in der für Singstimme und Klavier. Die zentrale melodische Figur, die ihren Humoresken-Charakter in ihrem so eindringlich leiernden Gestus bekundet, gewinnt deutlich höhere klangliche Eindringlichkeit, wenn sie im Vorspiel von den Klarinetten unter Begleitung der Fagotte, die sie ebenfalls in ihrem ersten Teil permanent artikulieren, in die Streicher wandert und diese dann die melodische Linie der Singstimme begleiten, wenn sie ihrerseits diese Figur übernimmt.


    Die melodische Kontrastfigur, die mit den Sext- und Quintsprüngen auf den Worten „da gucket ein fein´s lieb´s Mädel heraus“, wird in ihrem volksliedhaften Charakter ebenfalls dadurch hervorgehoben, dass die ersten und zweiten Violinen, die Violen und die Celli diese sprunghaften Bewegungen mitvollziehen. Und die Oboen verleihen dieser ländlichen Szenerie noch einen zusätzlichen Akzent, indem sie „hervortretend“ (wie die Anweisung lautet) eine sich auf und ab bewegende Achtel-Sechzehntel-Figur dazu beitragen.


    Aber all das, was Mahler diesem Wunderhorn-Text hinzugefügt hat, diese Bilder vom wunden Herzen, das von diesem „Schätzle“ wieder gesund gemacht wird, vom „rosigen Mund“, der Jugend „verständig“ Tote lebendig und Kranke gesund zu machen vermag, wird ad absurdum geführt, wenn die melodische Linie bei den Worten „Und wer dieses Liedel (nicht „Liedlein“, wie in der Klavierfassung) nicht singen kann“ wieder in ihren leiernden Ton verfällt, der am Ende in die Karikatur einer ariosen Koloratur mündet. Und auch dieser die „Humoreske“ konstituierende melodische Effekt wird gesteigert dadurch, dass die ersten Violinen die Leierbewegung mitvollziehen und danach das ganze Orchester in die Schlusskantilene einfällt.

  • Kommt dieses Lied nicht auch rein instrumental in einer der frühen Sinfonien vor? Ich hab so was im Ohr, kann es aber nicht genau in eine Sinfonie platzieren. Aber das wird für die Mahler-Experten hier ja kein Problem sein.
    Das Kreisförmige dieses Lieder ist mir auch schon aufgefallen, aber ich denke, das war eher in einem der Sätze der Sinfonie, die mir partout gerade nicht einfällt.

    Bei dieser musikalischen Boshaftigkeit Mahlers, lieber Dr. Pingel, welche den Text regelrecht destruiert, hätte das wohl nur in die giftige "Burleske" der 9. gepaßt. :D


    Die symphonischen Wunderhornlied-Verabreitungen sind eigentlich schnell aufzuzählen:


    1. Symphonie


    1. Satz "Ging heut morgen übers Feld..."


    3. Satz Die "Lindenbaum-Episode"


    2. Symphonie


    3. Satz Des Antonius von Padua Fischpredigt

    3. Symphonie


    3. Satz (mit dem Posthornsolo) Ablösung im Sommer "Kuckuck hat sich zu Tode gefallen..."


    Schöne Grüße
    Holger

  • Als ich gestern die Bemerkung von dr. pingel las: „Ich hab so was im Ohr, kann es aber nicht genau in eine Sinfonie platzieren.“, nahm ich sie zunächst einfach nur als spaßige Metapher. Aber schon abends wurde ich nachdenklich. Ich fragte mich: Wie kann es sein, dass er die Melodik dieses Liedes in einer Mahler-Sinfonie gehört zu haben glaubt, wo es sie doch dort gar nicht gibt? Könnte das etwas mit der spezifischen Art der Melodik Mahlers und damit zu tun haben, wie er sie kompositorisch einsetzt und handhabt?


    Und nun denke ich: Ja, das ist wohl so. Mahlers Melodik ist von der Art, dass sie sich einem im Kopf einzunisten vermag, - ähnlich wie die von Schubert übrigens.
    Schaut man sich an, wie er seine melodischen Linien gerne anlegt, dann fällt auf, dass er – eben weil die Volkslied-Melodik für ihn so etwas wie ein Vorbild ist – das große Intervall, die Terz die Quarte und sie Sexte vor allem, bevorzugt, und dem kleinen Intervall, dem Halbtonschritt also, gerne aus dem Weg geht. Man kann es in diesem Lied an fast jeder beliebigen Stelle vernehmen: Bei den Sext- und Quintsprüngen von „Da gucket ein fein´s, lieb´s Mädel heraus“ etwa, bei den Sexten von „Es ist des Wirts sein Töchterlein“ oder bei dem gerade exemplarischen Volkslied-Gestus von „Wer hat denn das schön schöne Liedlein erdacht?“
    So etwas prägt sich auf der Stelle ein und lässt einen tatsächlich nicht mehr los.


    Aber da ist noch etwas anderes, was ebenfalls in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Rolle spielt und wobei es sich um einen Sachverhalt handelt, der typisch für Mahlers Kompositionsweise sowohl in seinen Liedern wie auch in seiner Sinfonik ist. Es geht dabei um die Art und Weise, wie er mit melodischen Motiven kompositorisch umgeht. Er neigt dazu, sie zu wiederholen, - wie sich das in diesem Lied permanent ereignet. Das ist aber nur die eine Seite der Sache. Die andere Technik, die er ebenso konsequent und beharrlich pflegt, ist das, was Adorno – in Anlehnung an die Methode der „variierten Wiederholung“ bei Berlioz – „Mahlers Variantentechnik“ genannt hat. Mahlers melodische Figuren in den Liedern und seine musikalischen Themen in den Sinfonien werden – wie Kurt Blaukopf dies einmal treffend charakterisiert hat - von ihm wie klangliche „Physiognomien von Gestalten behandelt, die in einem instrumentalen Roman auftreten.“


    Wenn ich die Symptomatik bei dr. pingel, dieses „Ich hab so was im Ohr“, diagnostizieren sollte, würde ich kühn behaupten: Es handelt sich um ein typisches Mahler-Leiden! Er ist ein Opfer von dessen Technik, eingängige melodische und allgemein musikalische Motive zu kreieren und sie mittels Wiederholung und Variation so in die Struktur eines musikalischen Werkes einzubringen, dass sie sich dem Hörer tief einprägen und er immer wieder einmal der festen Überzeugung ist, er habe sie schon einmal irgendwo gehört.
    Aber völlig sicher bin ich mir: dr. pingel ist in diesem Falle gerne Opfer und leidet mit Vergnügen.

  • Ein Nachtrag noch zum Vorangehenden:
    So sehr uns diese „Wunderhorn“-Lieder Mahlers heute anzusprechen vermögen, - zu seinen Lebzeiten sind sie wohl in seinem Umfeld auf Skepsis gestoßen. Eine Bemerkung Natalie Bauer-Lechners in einem Brief an eine Freundin liegt diese Vermutung nahe. Sie verteidigt darin Mahlers – hier noch zu besprechende – Vertonung des Wunderhorn-Textes „Revelge“. Seinen Zugriff auf die Wunderhorn-Sammlung rechtfertigt sie zunächst mit einer Bezugnahme auf Goethes berühmte Äußerung: „…dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann“. Dann fährt sie fort:
    „Das würde Dir auch begreiflich machen, was Ihr so oft beanstandet habt, daß sich G. immer nur diese oft kaum mehr als angedeuteten Texte der Volkslieder erwählt: weil er da erst ganze Welten herausholen konnte, wo ihm die vollendeten Texte, ja der vollendetste, doch nur eine Beschränkung gewesen wäre.“


    Im Grunde gibt sie damit ja Mahler eigene Grundhaltung wieder. Bemerkenswert aber, dass sie sich genötigt sieht, diese Haltung zu erklären und ihre Berechtigung aufzuzeigen. Mit „wahre Welten“ greift sie übrigens einen Begriff auf, den Mahler selbst zur Verteidigung seines spezifischen Konzept von „Symphonie“ verwendet hat, - eines Konzepts, in dem nach seinen Vorstellungen die sogenannte „Programmmusik“ und die „absolute Musik“ zu einer Einheit finden können. Und indem sie dies tut, rückt sie das Lied „Revelge“ in die Nähe einer sinfonischen Schöpfung.

  • "Mutter, ach Mutter, es hungert mich,
    gib mir Brot, sonst sterbe ich! "
    „Warte nur, warte nur, mein liebes Kind!
    Morgen wollen wir ernten geschwind.“


    Und als das Korn geerntet war,
    rief das Kind noch immerdar:
    „Mutter, ach Mutter, es hungert mich,
    gib mir Brot, sonst sterbe ich. "
    „Warte nur, warte nur, mein liebes Kind!
    Morgen wollen wir dreschen geschwind!“


    Und als das Korn gedroschen war,
    rief das Kind noch immerdar:
    „Mutter, ach Mutter, es hungert mich,
    gib mir Brot, sonst sterbe ich. "
    „Warte nur, warte nur, mein liebes Kind!
    Morgen wollen wir backen geschwind.“


    Und als das Brot gebacken war,
    lag das Kind auf der Totenbahr´!



    Das Wunderhorn-Gedicht, das diesem Lied zugrundeliegt, trägt den Titel „Verspätung“. Dass Mahler ihn geändert hat, ist wohl nicht nur in seiner geradezu sarkastisch-banal wirkenden Unangemessenheit begründet, es verweist auch auf die Aussage-Intention des Liedes. Es ist die schicksalhafte Eingebundenheit des Menschen in den Lauf der Welt, aus der er sich nicht zu lösen, nicht zu befreien vermag. Musikalisch evoziert wird sie durch die fließenden, sich aufblähenden und wieder in sich zusammenfallenden Sechzehntel-Ketten, mit denen das Lied im Vorspiel einsetzt, und die im weiteren Verlauf zu einem seinen klanglichen Charakter maßgeblich prägenden Faktor werden. Der andere, mit diesem aber in einem engen Zusammenhang stehende Faktor ist der hohe Expressivität entfaltende Gegensatz zwischen dem Hilferuf des Kindes und den beruhigen und trösten wollenden Worten der Mutter. Die klangliche Dialektik, die sich in der Wiederholung der strukturell gleich bleibenden melodischen Einheiten wie in immer neuen Anläufen aufbaut, ist die Quelle der musikalischen Aussage dieses zweifellos großen und berührenden Liedes.


    Es-Moll ist die Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt zugrunde, und das Vorspiel, das mit seinen mechanisch leierenden Sechzehntel-Figuren geradezu bedrückend wirkt, soll, wie auch das ganze Lied, „unheimlich bewegt“ vorgetragen werden. Die Anweisung für den Vortrag der Melodiezeile, in der das Kind erstmals einen Hilferuf artikuliert, lautet: „Mit beängstigtem Ausdruck“. Die melodische Linie, die bei der zweimaligen Wiederholung dieses Hilferufs auf bemerkenswerte Weise variiert wird, bringt aber mehr zum Ausdruck als Beängstigt-Sein: Erschöpfung und große Not. Das geschieht in dem anfänglich in kleinen und großen Sekundschritten auf und ab sich ereignenden langsamen Absinken, das am Ende aber in eine aus einem kleinen Wiederanstieg hervorgehende Dehnung auf dem Wort „mich“ mündet. Kraftlosigkeit und Erschöpfung werden auf diese Weise musikalisch suggeriert.


    Und dann folgt dieser klanglich hochexpressive und darin berührende Hilferuf. Er besteht hier aus einem Oktavsprung, der mit einem Crescendo von Piano zu Forte in einen kleinen Sekundsprung übergeht, der klanglich schmerzlich anmutet, weil er mit der Rückung in die Chromatik verminderter B-Harmonik verbunden ist. Diese melodische Figur wiederholt sich noch einmal, nun aber mit einer Art Anlauf in Gestalt eines vorgeschalteten kleinen Sekundfalls, was eine Steigerung der Expressivität mit sich bringt. Die im Zwischenspiel nun nachfolgende chromatische Fallbewegung von Terzen, Sexten, Quinten und Quarten im Diskant mutet wie ein schmerzerfüllter Klageruf an und erinnert klanglich ein wenig an die melodische Bewegung im ersten Teil des Hilferufs.


    Das vertrösten wollende „Warte nur…“ der Mutter hebt sich melodisch und harmonisch deutlich vom Hilferuf des Kindes ab. Die Harmonik rückt in den Dur-Bereich (B-Dur), und die melodische Linie beschreibt zweimal eine beruhigend wirkende Abwärtsbewegung in Terzen, bevor sie, um die liebevolle Ansprache zu betonen, bei „mein liebes Kind“ zu einer Bogenbewegung in mittlerer Lage übergeht. Bemerkenswert ist dabei aber: Die lange Dehnung, die auf dem Wort „Kind“ liegt, ist in es-Moll harmonisiert. Da kommt – so kann man das deuten – für einen Augenblick wohl Unsicherheit bei der Mutter auf, ob sie dem gerecht werden kann, was da an elementarer Forderung an sie herantritt. Bei der Ankündigung „Morgen wollen wir ernten geschwind“ geht die melodische Linie dann zwar in eine energische und großschrittige (Quarte und Terz) Aufwärtsbewegung über und ist nun wieder in B-Dur harmonisiert. Sie sinkt aber alsbald wieder ab und mündet auf der letzten Silbe von „geschwind“ wieder in ein es-Moll. Bemerkenswert ist auch, dass das Klavier diese Worte der Mutter durchweg mit eben jenen fließenden Sechzehnteln begleitet, die in diesem Lied in quasi leitmotivischer Weise den schicksalhaften Weltenlauf klanglich suggerieren.


    Es gibt einen Erzähler in diesem Lied. Es ist derjenige, der am Ende die schreckliche Mitteilung vom Tod des Kindes macht. Hier ist sein erster Auftritt, eingeleitet mit einer Zwischenmusik, die in ihrer Terzen- und Sextenbetontheit einen eigenartig wehmütigen und zugleich epischen Ton in das Lied bringt. Sie erklingt in abgewandelter Form vor jedem Auftritt des Erzählers, im letzten Fall freilich in auffälliger Weise in das Sechzehntel-Schicksalsmotiv mündend.
    Hier wird ganz deutlich, dass Mahlerdarauf abzielt, dem singulären Fall des Hungertodes eines Kindes eine epische, in die existenzielle Ebene ausgreifende Dimension zu verleihen, - was ja die eigentliche Größe dieser Liedkomposition ausmacht. Innerlich unbeteiligt, nur aus der Distanz berichtend, wirkt dieser Erzähler allerdings nicht. Die melodische Linie setzt bei seinen Worten in ihrer wellenartigen und auf dem Wort „war“ erst einmal innehaltenden Aufwärtsbewegung zwar in B-Dur ein, dann aber kommt mit der Rückung nach as-Moll und es-Moll eine deutlich ausgeprägte Anmutung von Schmerzlichkeit in sie.


    Die große anrührende Wirkung, die von diesem Lied ausgeht, gründet ganz wesentlich in der Art und Weise, wie Mahler kompositorisch mit den Textwiederholungen umgeht. Er nutzt sie zu einer subtilen, aber eben deshalb umso wirkungsvolleren Steigerung der musikalischen Expressivität. Die melodische Linie, die auf den Textpassagen der Mutter liegt, bleibt durchgängig gleich. Diese Mutter reagiert in einer gleichsam stereotypen Weise auf die Hilferufe des Kindes. Da diese aber immer drängender werden, entwickelt sich ein starker Kontrast zwischen der klanglichen Anmutung, die von den jeweiligen Melodiezeilen, ihrer Harmonisierung und dem ihnen zugeordneten Klaviersatz ausgeht. Die Mutter erscheint auf diesem Hintergrund auf erschreckende Weise unberührt von dem, was ihr vom Kind entgegenkommt. Ist das Gleichgültigkeit, - oder eher Selbstschutz? Jedenfalls wirkt der immer gleiche beruhigende Ton im Verlauf des Liedes mehr und mehr befremdlich.


    Die Modifikationen, die Mahler an der Melodik des sich wiederholenden Hilferufs des Kindes vorgenommen hat, lassen diesen immer drängender und kläglicher erklingen. Beim zweiten Ruf ist die erste Hälfte der melodischen Linie mit der des ersten identisch, der Oktavsprung mündet nun aber nicht in einen kleinen Sekundsprung, sondern geht in eine verminderte Sekundfallbewegung über. In die Melodik kommt hier ein Unterton von weinerlicher Klage. Höchst bemerkenswert ist, was sich beim dritten Ruf ereignet. Nun hat sich auch der erste Teil der Melodiezeile geändert. Die Sprung- und Fallbewegungen, die die melodische Linie hier macht, erinnern an die Melodik der beruhigenden Worte der Mutter. Hat das Kind diesen Ton übernommen, um bei der Mutter vielleicht eher Gehör zu finden? Man kann das so verstehen. Beim zweiten Teil ist jedenfalls die Expressivität des Anrufs so auf die Spitze getrieben, dass man die tiefe Not vernimmt, aus der er kommt. Aus den Oktavsprüngen werden solche im Intervall einer Dezime, wobei dies beim zweiten Sprung eine verminderte ist, wie auch der nachfolgende Sekundfall zu dem Wort „ich“ hin zu einem kleinen wird. Auch das Klavier entfaltet hier mit seinen aus tiefer Basslage in den Diskant aufsteigenden und wieder fallenden von chromatischen Akkorden begleiteten Sechzehnteln eine ungleich stärkere Expressivität, als dies bei den Hilferufen zuvor der Fall war. Umso erschreckender nun der wie aus innerer Unberührtheit zu kommen scheinende stereotype Gesang der Mutter.


    Auch die melodische Linie des Erzählers weist bemerkenswerte Modifikationen auf, -vernehmen lassend, dass er kein sachlicher Berichterstatter ist, sondern einbezogen in das Geschehen und von ihm berührt. Bei seinem zweiten Auftritt ist die melodische Linie um eine Terz angehoben, und im zweiten Teil steigt sie in höhere Lage auf und verharrt dort mit einem doppelten kleinen Sekundfall auf der letzten Silbe des Wortes „immerdar“. Beim dritten und letzten Auftritt bricht die Betroffenheit in hochgradig expressiver Weise hervor. Im ersten Teil senkt sich die melodische Linie in einer wellenartigen Bewegung langsam um eine Quarte ab und hält bei dem Wort „war“ erst einmal inne. Nachdem das Klavier diese Bewegung in Gestalt von Moll-Terzen nachvollzogen hat, schreit der Erzähler auf wie das Kind, das um Nahrung flehte. Zwei Dezimensprünge folgen hintereinander. Und als wäre der damit erreichten tonalen Höhe noch nicht genug, folgt dem ersten Sprung noch ein Anstieg um eine kleine Sekunde nach. Bei dem Wort „Totenbahr´“ ist der Höhepunkt des schmerzlichen Ausdrucks erreicht. Der Dezimensprung erfolgt in gedehnter Form, und danach steigt die melodische Linie mit einem Terzsprung bis zu einem hohen „Ges“ auf, das lange gehalten wird. Dieser Schluss wirkt klanglich auch deshalb so schmerzend, weil der Terzsprung der melodischen Linie mit einer Rückung in verminderte Harmonik verbunden ist.


    Das Klavier begleitet das mit einem wahren Fortissimo-Wirbel von steigenden und fallenden Sechzehnteln in Bass und Diskant und geht dann mit einem Crescendo zur Artikulation des Schicksals-Motivs über, das am Ende ins Stocken übergeht und im dreifachen Piano ausklingt.

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