Hannover-Initiative gegen das "Regie-Theater"

  • Darf ich daran erinnern, dass mein Gedanke, gelegentlich ein neutraleres Thema aufzurufen, von Dr. Pingel aufgenommen und zeitlich forciert wurde?


    Ich habe die Aufforderung angenommen und um Mitternacht den Thread "Die menschliche Stimme - Fingerabdruck der Seele" angestoßen. Wen es interessiert - und wer vom hiesigen Thema nichts mehr wissen will (wie inzwischen auch ich), ist herzlich eingeladen zu einem Disput über Stimme, Gesang und Sänger (oder, politisch korrekt: Sängerinnen und Sänger!).


    Für Streithähne: Auch bei diesem Thema lässt sich sicher mancher Ausflug in politische Gefilde nicht ganz vermeiden. Aber meine Bitte wäre: ohne Tretminen!


    Beste Grüße von Sixtus

  • Fällt Dir, lieber hasiewicz, ein besserer Begriff ein?


    Lieber MSchenk,


    Wie wäre es denn mit "werktreu"? Mir schwebte erst "traditionell" vor, aber auch RT hat ja schon eine Tradition. Von daher wäre mein Vorschlag: "werktreue Inszenierung" vs. "frei gestaltende Inszenierung".


    Beste Grüße

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Von daher wäre mein Vorschlag: "werktreue Inszenierung" vs. "frei gestaltende Inszenierung".


    Das ist ja dann wieder Entweder-Oder, als ob es nur Extreme gäbe. "Werktreu" wäre strikte Befolgung des Buchstabens aller Regieanweisungen und jede noch so kleine Abweichung wäre demnach eine "frei gestaltete Inszenierung", völlig unabhängig davon, wie "frei" man in der Abweichung von der "Werktreue" ist. Das zementiert und fördert die Extrempositionen und das finde ich verheerend.


    Joachim Herz hat immer gesagt "Ich halte den Begriff der 'Werktreue' für ein Phantom!" und er plädierte stattdessen für eine "Werkgerechtigkeit", die dem Werk dadurch gerecht wird, dass sie dem immer größer werdenden Abstand zur Uraufführung und dem damit sich verändernden Publikum dadurch Rechnung trägt, dass eine Abweichung vom Buchstaben eines Werkes im Sinne der Vergegenwärtigung des Geistes eines Werkes möglich und manchmal sogar geradezu notwendig sei, weil sich z.B. die Sehgewohnheiten gerade in den letzten dreißig Jahren stark verändert haben und wir in einer anderen Zeit leben als die Komponisten und Autoren damals.


    Insofern halte ich ehrlich gesagt gar nichts von deinem Definitionsvorschlag, weil sie alle Zwischentöne, alle Grautöne zwischen dem Schwarz-Weiß der Extreme, völlig unberücksichtigt lässt und alle moderaten Inszenierungsvarianten zwischen den Extremen mit dem einen Extrem gleichsetzt: "frei gestaltete Inszenierung" ist dann sowohl Musiktheater im Sinne von Felsenstein und Herz als auch heutiges "Regietheater light" als auch heutiges Regietheater extrem. Das wird meines Erachtens dem Problem gar nicht gerecht.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Auch ich halte das Wort "werkgerecht" für treffender, womit es dann nicht als Verlangen nach buchstabengerechter Umsetzung der detaillierten Regieanweisungen gedeutet werden kann. Das habe ich aber auch nie bei dem Wort "werktreu" so gesehen, wie es ja immer von der Gegenseite behauptet wird. "Werkgerecht" schließt aber für mich aus, dem Werk eine neue Handlung zu unterlegen, es aus dem vom Komponisten gedachten örtlichen und zeitlichen Umfeld zu nehmen oder es zur Pop-Show zu degradieren. Es schließt auch aus, ein historisch vorgesehenes Umfeld des Werkes es in langweiligen modernen Alltagsklamotten zu zeigen und allerhand wegzulassen bzw. hinzu zu erfinden.
    Wenn man denn noch ehrlich wäre und frei bearbeitete Werke auch als solche deutlich kennzeichnen würde, wäre schon mal viel erreicht. Dann brauchte sich kein Zuschauer mehr darüber zu ärgern, wenn er nicht das Werk gezeigt bekommt, das er erwartet. Aber da das nicht der Fall ist, muss man inzwischen gegenüber jeder Inszenierung misstrauisch zu sein, wenn man sich vorher nicht an Bildern, Ausschnitten und Berichten informiert hat.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Lieber Gerhard!


    Bilder, Ausschnitte und Berichte reichen einigen Schreiberlingen hier als Information nicht. Man soll sich selber ein Bild der Aufführung in der Oper machen, sich schwarz ärgern und sein Geld zurück verlangen! Oder wie ich es tun würde, vorsichtshalber mit einer Tasche voll fauler Eier in die Vorstellung gehen! Aber mir reichen doch schon Bilder, Ausschnitte und Berichte, um mir eine Meinung zu bilden. :yes:

    W.S.

  • Ein Begriff wie "werkgerecht" ist ja schön und gut, wir könnten uns wahrscheinlich alle (?) darauf einigen, dass eine Opernaufführung werkgerecht sein soll. Das Problem sind nur die Merkmale dieses Begriffs, die sehr unterschiedlich verstanden werden. Für mich ist beispielsweise die Beibehaltung des "vom Komponisten gedachten örtlichen und zeitlichen Umfelds" (Gerhard) ebensowenig eine Voraussetzung für Werkgerechtigkeit wie die Verwendung zeittypischer Kostüme. Und auch eine Uminterpretation der Handlung muss Werkgerechtigkeit nicht notwendig ausschließen; hier ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob diese Umdeutung sinnvoll und im Rahmen des Interpretationsspielraums gerechtfertigt ist.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Für mich ist beispielsweise die Beibehaltung des "vom Komponisten gedachten örtlichen und zeitlichen Umfelds" (Gerhard) ebensowenig eine Voraussetzung für Werkgerechtigkeit wie die Verwendung zeittypischer Kostüme. Und auch eine Uminterpretation der Handlung muss Werkgerechtigkeit nicht notwendig ausschließen [...]


    Zumindest für den Fall Richard Wagner lässt sich dies widerlegen, da wir dessen eigenen Aussagen bezüglich Werktreue haben, auf die er ganz vehement pochte und offenbar sogar kleinste Abweichungen kritisierte. Interessanterweise sah es Franz Liszt ganz genauso, wie im Folgenden hervorgehen wird:



    Die Hervorhebungen in fett finden sich auch im Originaltext.


    Fazit: Richard Wagner selbst sah die Beibehaltung seines von ihm gedachten "örtlichen und zeitlichen Umfelds" als notwendige Voraussetzung für die Wiedergabe seiner Werke und bezeichnete die Missachtung seiner Vorgaben als "haarsträubend". Eine "Uminterpretierung der Handlung" hätte er sicherlich noch weniger goutiert.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Fazit: Richard Wagner selbst sah die Beibehaltung seines von ihm gedachten "örtlichen und zeitlichen Umfelds" als notwendige Voraussetzung für die Wiedergabe seiner Werke und bezeichnete die Missachtung seiner Vorgaben als "haarsträubend".

    Bei Wagner, lieber Joseph, liegen die Dinge allerdings weit komplizierter. Erst einmal gibt es etliche Arbeitsphasen, wo Wagner wirklich konträre Konzepte in Erwägung gerzogen hat. Zum anderen steht in dem zitierten Text nicht viel Konkretes. "Forderungen gegen Gewohntes" - da muss man natürlich erst einmal wissen, um welche "Gewohnheiten" es da geht. Und grundsätzlich gibt es bei Wagner den Widerspruch zwischen seinem "strategischen" Denken als Kulturmanager in eigener Sache, seine Aufführungspraxis zu kanonisieren, die durchaus im Widerspruch steht mit seinen radikal futuristischen und historistischen Auffassungen, die er ganz grundsätzlich in Bezug auf die Aufführungsmöglichkeiten von Opern vertritt. Das alles ist bei Wagner ein ziemlich dichtes Gestrüpp, durch das man sich erst einmal durcharbeiten muss.


    Der Begriff "Werkgerechtigkeit" gefällt mir auch deutlich besser als "Werktreue" - wo eigentlich Partitur- und Libretto-Treue gemeint ist. Die Schwierigkeit beginnt aber genau da, wenn man versucht zu zeigen, was denn eigentlich das Werk ist, dem man gerecht werden will. Philosophen nennen das die Frage nach dem ontologischen Status. Je nachdem, wie sie ausfällt, ändert sich auch radikal die Auffassung des Verhältnisses von Werk und Aufführung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zumindest für den Fall Richard Wagner lässt sich dies widerlegen, da wir dessen eigenen Aussagen bezüglich Werktreue haben, auf die er ganz vehement pochte und offenbar sogar kleinste Abweichungen kritisierte.


    Eine Widerlegung sehe ich da nicht. Dass Wagner eine bestimmte Vorstellung von der richtigen Aufführung seiner Musikdramen hatte, heisst doch nicht, dass wir diese teilen und übernehmen müssen. Wagners Begriff von Werktreue muss nicht unserer sein. Das wäre nur dann der Fall, wenn man es zur obersten Maxime einer Opernaufführung erheben wollte, das Werk genau so aufzuführen, wie es der Komponist gewollt hat. Und eine solche Maxime würde ich rundheraus ablehnen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Zitat

    Zitat von Bertarido: Das wäre nur dann der Fall, wenn man es zur obersten Maxime einer Opernaufführung erheben wollte, das Werk genau so aufzuführen, wie es der Komponist gewollt hat. Und eine solche Maxime würde ich rundheraus ablehnen.

    Lieber Bertarido,


    ich nicht und sehr viele andere auch nicht. Und es muss ja nicht heißen, dass die Werke nun verunstaltet werden müssen, nuzr weil einige eine werkgerechte Inszenierung nach den Vorstellungen des Schöpfers ablehnen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

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  • Eine Widerlegung sehe ich da nicht. Dass Wagner eine bestimmte Vorstellung von der richtigen Aufführung seiner Musikdramen hatte, heisst doch nicht, dass wir diese teilen und übernehmen müssen. Wagners Begriff von Werktreue muss nicht unserer sein. Das wäre nur dann der Fall, wenn man es zur obersten Maxime einer Opernaufführung erheben wollte, das Werk genau so aufzuführen, wie es der Komponist gewollt hat. Und eine solche Maxime würde ich rundheraus ablehnen.

    ... oder mit Friedrich Nietzsche:


    "Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund auftut." ;)

  • Wagners Begriff von Werktreue muss nicht unserer sein.

    Einen solchen Begriff hatte er schlicht nicht, lieber Bertarido. :D Wenn man ihn wörtlich nimmt, dann müßte man das Werk gleich nach der Uraufführung verbrennen und ein Neues schaffen. Wagner selbst als Regisseur ist übrigens alles andere als "werktreu" mit Opern umgegangen, die er nicht selbst komponiert hat. Da hat er fleißig "aktualisiert".


    In solchen Diskussionen wird die eigentlich grundlegende Frage bezeichnend nicht gestellt. Bevor man zwischen "werktreuen", "werkgerechten", "freien" usw. Inszenierungen unterscheidet, wäre erst einmal zu klären, ob ein Gebilde wie die Oper überhaupt alle Kritierien eines fertigen und geschlossenen Werkes erfüllt. Das nämlich ist - anders als bei einer Beethoven-Symphonie - bereits sehr fraglich. Die Rezeption - hier vermittelt durch die Vorstellung von "Werktreue" einer Aufführung - kann eben auch solchen Gebilden quasi posthum Werkcharakter verleihen, den sie bei ihrer Entstehung gar nicht hatten.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bevor man zwischen "werktreuen", "werkgerechten", "freien" usw. Inszenierungen unterscheidet, wäre erst einmal zu klären, ob ein Gebilde wie die Oper überhaupt alle Kritierien eines fertigen und geschlossenen Werkes erfüllt. Das nämlich ist - anders als bei einer Beethoven-Symphonie - bereits sehr fraglich.

    Und eben das sehen Gegner des Regisseurtheaters anders, wenn es heißt, die »für die Originalhandlung wesentlichen Teile müssen erkennbar sein« und es dürfen »die von den Autoren (Librettist und Komponist) in eine zeitliche und örtliche Umgebung eingebetteten Werke nicht an willkürliche Orte und in willkürliche Zeiten verlegt werden«. Diese Argumentation (naja, eigentlich sind es Behauptungen und noch keine Argumente) habe ich allein seit Jahresbeginn 2016 von Gerhard schon weit über zwei Dutzend Mal lesen dürfen. Was sind denn die Kriterien eines »fertigen und geschlossenen Werkes«? Gibt es da unterschiedliche Ansichten? Gibt es für das, was Gerhard immer wieder schreibt, auch eine theoretische Untermauerung, über die man diskutieren könnte?

  • Liebe Moderatoren,


    beim Aufräumen meiner Abonnements haber ich noch verschiedene Threads gefunden, die wohl in das (nicht mehr ganz) neue REGIETHEATERFORM verschoben werden können, wie z.B. dieser hier :hello:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.