Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • "Und natürlich vermisse ich das frühe Lied "Im Lenz",

    Dies mit Recht, lieber Rheingold. Ich werde deshalb auch darauf später noch - allerdings nur kurz - eingehen. Aber dr.pingel hat ja auch schon eine Vermissten-Meldung gemacht, was zur Folge hatte, dass ich vier Tage lang an "Es sungen drei Engel einen süßen Gesang" saß, und jetzt gleich den ersten Satz zu "Das himmlische Leben" zu Papier bringe. Dieses Lied wird auch wieder vier Tage in Anspruch nehmen, - dann erst kann ich an "Im Lenz" gehen.
    Aber das alles mache ich ja gerne, und insofern bedanke ich mich für eure "Reklamationen". Bei "es sungen drei Engel" sind mir wieder eine Menge Lichter aufgegangen, was Mahlers Liedkomposition und sein Werk ganz allgemein anbelangt.

  • Auch bei diesem Lied kann man wieder das für diese frühe, noch nicht von der Begegnung mit der Wunderhorn-Lyrik inspirierte und geprägte Liedkomposition typische Nebeneinander von traditionellen liedsprachlichen Elementen und solchen vernehmen, die sich als Ansätze zur Entwicklung einer ganz und gar eigenen Liedsprache zu erkennen geben. Wie stark der Einfluss der musikalischen Tradition bei Mahler hier – und auch später – ist, das zeigt die Verwendung einer melodischen Figur, die seit eh und je als Ausdruck von Leid und Schmerz verwendet wurde: Der Passus duriusculus in der melodischen Linie auf dem Wort „Liebesklagen“, - eine triolisch in Terzen erfolgendes Sprung, der nach einem Septsprung in eine in klanglich „harten“ kleinen Sekunden erfolgende Fallbewegung übergeht. Auch später hat Mahler diese Figur noch eingesetzt, etwa im Lied „Das irdische Leben“ oder im fünften der „Kindertotenlieder“. Als traditionell mutet auch der über weite Passagen funktionell an die melodische Linie gebundene Klaviersatz an: In seiner aus Akkord-Repetitionen im Bass bestehenden und der melodischen Linie im Diskant akkordisch folgenden Struktur nämlich.


    Aber da ist noch einiges Andere in diesem Lied, das den späteren Mahler ahnungsweise vernehmen lässt. Es ereignet sich auf verschiedenen Ebenen der kompositorischen Faktur: Auf der des Klangs, der des Aufgreifens der textlichen Semantik in der melodischen Linie und auf der ihrer Harmonisierung, - wobei hier natürlich innere Zusammenhänge bestehen. Ein liedkompositorisch großer, und sehr wohl aus dem konzeptionell melodischen Denken Mahlers hervorgehender Wurf ist die Entwicklung der Melodik des Liedes aus einer einzigen, klanglich in höchst eingängiger Weise aus dem kleinen und dem großen Sekundfall sich generierenden melodischen Keimzelle, - und dies in permanenter Modifikation derselben. Das ist einer der Faktoren, die das Lied auf so beeindruckende Weise zu einem sich einschmeicheln wollenden klanglichen Gebilde machen.


    Aber er ist ja doch kein vordergründig dem Lied eingepflanzter oder aufgesetzter. Er ist lyrisch-sprachlich motiviert. Das lyrische Ich spricht aus retrospektivscher Distanz von der Liebe, und von daher kommt ein leichter Unterton von wehmütigem Sehnen nach neuerlicher Erfüllung in seine Worte. Die „Lieder“ und die „Liebe“ stehen in einem sich wechselweise befruchtenden und belebenden dialogischen Verhältnis zueinander, und der melodische Sekundfall, der im Passus duriusculus gleichsam seinen Höhepunkt erfährt, ist Ausdruck des Sich-Sehnens des lyrischen Ichs nach dem Du, in dem den „Liedern“ nur die Funktion einer emotionalen Vergegenwärtigung des Du zukommt, - zweifellos aber ein vom Ich als wichtig und bedeutsam erfahrenes Potential, das dem Lied innewohnt.


    In all ihrer so klanglich einschmeichelnden Struktur reflektiert also die Melodik die Semantik des lyrischen Textes voll und ganz. Das wird besonders auffällig in der Passage des Liedes, die in der Struktur der Melodik und des Klaviersatzes, wie auch in der Harmonik vom Grundton, wie er sich aus den Varianten der ersten beiden Melodiezeilen entfaltet, so stark abweicht, dass man beinahe von einem Ausbruch daraus sprechen könnte. Gemeint ist die Liedmusik der dritten Strophe. Der lyrisch-sprachliche Auslöser dafür ist die Vergegenwärtigung der Möglichkeit, dass „die Gedanken“ des lyrischen Ichs „sich der Liebe entschlagen“ könnten. Die Tatsache, dass Mahler dies mit einer Melodik aufgreift, in die mit einem Mal starke, über große Intervalle ausgreifende Bewegung kommt, der ein deklamatorisches Auf und Ab und schließlich der erwähnte Passus duriusculus folgen, zeigt, wie stark er in seiner Liedkomposition schon in dieser frühen Phase darauf ausgerichtet ist, der Semantik des lyrischen Textes in all ihren Ebenen und Dimensionen adäquaten musikalischen Ausdruck zu verleihen.


    Ein für ihn in diesem Zusammenhang wichtiger Faktor ist – wie dieses Lied ebenfalls erkennen lässt – auch der Klaviersatz in seiner Struktur und der ihn prägenden Harmonik. Auch wenn er in seiner engen Anbindung an die Melodik noch traditionellen Mustern folgt, so zeigt er doch bereits in seiner ausgeprägt akkordischen, sich in Repetitionen entfaltenden Gestalt und in seiner Tendenz zu mehr oder weniger umfangreichen Zwischenspielen ein klangliches Gewicht, das auf die im Ansatz orchestrale liedkompositorische Denkweise Mahlers verweist. Und integraler Bestandteil derselben ist eine an Modulationen reiche, und darin den kühnen Ausgriff im Raum des Quintenzirkels nicht scheuende Harmonik. Bemerkenswert ist ja doch, dass die Harmonik in diesem im Grunde kleinen Lied von f-Moll über b-Moll, C-Dur, As-Dur, h-Moll, g-Moll, B-Dur bis schließlich über Es-Dur nach g-Moll moduliert. Der klangliche Zauber, der von ihm ausgeht, gründet nicht zuletzt in den immer wieder sich ereignenden Rückungen im Tongeschlecht, vor allen der aus dem Moll-Bereich in den des Durs.

  • Ringel, ringel Reih'n!
    Wer fröhlich ist, der schlinge sich ein!
    Wer Sorgen hat, der lass' sie daheim!
    Wer ein liebes Liebchen küßt,
    Wie glücklich der ist!
    Ei, Hänschen, du hast ja keins!
    So suche dir eins!
    Ein liebes Liebchen, das ist was Fein´s..
    Juchhe! Juchhe!


    Ringel, ringel Reih'n!
    Ei, Gretchen, was stehst denn so allein?
    Guckst doch hinüber zum Hänselein?
    Und ist doch der Mai so grün?
    Und die Lüfte, sie zieh'n!
    Ei, seht doch den dummen Hans!
    Wie er rennet zum Tanz!
    Er suchte ein Liebchen. Juchhe!
    Er fand´s! Juchhe!
    Ringel, ringel Reih´n!



    Mahler lebt hier seine Liebe zum Volkslied aus, lyrisch und musikalisch. In der ersten Niederschrift lautete die Vortragsanweisung „Im gemächlichen Ländlertempo“, in der Endfassung ist das Wort „Ländler“ durch „Walzer“ ersetzt. Aber um einen „Ländler“ handelt es sich tatsächlich. Dass Mahler zu diesem im süddeutschen Raum weit verbreiteten Volkstanz besondere Zuneigung empfand, zeigt die Tatsache, dass er ihn nicht nur mehreren seiner Liedkompositionen zugrundegelegt hat, sondern auch in die zweiten Sätze der Ersten, der Zweiten und der Neunten Symphonie als rhythmisierenden Faktor einfließen ließ. Der von den ersten und zweiten Violinen und den Violen artikulierte, in eine Dehnung mündende Oktavsprung am Beginn des Scherzos der Ersten Symphonie ist ein Zitat aus diesem Lied.


    Wie es sich für ein Volkslied gehört, pendelt die Harmonik frohgemut zwischen der Tonika Es-Dur und der Dominante „B“ hin und her. Das ist aber nicht durchgehend so, - was bei diesem Komponisten ja auch verwunderlich wäre. Zweimal ereignet sich eine Rückung nach As-Dur, und zwar nicht in der Funktion als Subdominante, sondern als Tonika. Jeweils mit dem vierten Vers der beiden Strophen wechselt die Harmonik nach As-Dur hinüber und moduliert jeweils über drei Verse zwischen dieser Tonart, Es-Dur und B-Dur, mit einer kurzen Rückung sogar nach Des-Dur.


    Noch zwei weitere Strukturelemente weisen darauf hin, dass das Volkslied mit seiner spezifischen Melodik und Harmonik Mahler nur gleichsam als kompositorisches Leitbild diente, nicht aber als Kopiervorlage. Nicht volksliedgemäß ist die große Zahl der Klavier-Zwischenspiele. Es sind insgesamt vier, davon zwei in der Länge von sieben Takten. Und noch ein weiteres Strukturelement begegnet einem als Produkt kompositorischer Raffinesse. Mehrfach ereignen sich – und zwar in den Passagen der Rückung nach As-Dur – rhythmische Störungen im ansonsten gleichmäßigen Fluss des Dreivierteltakts: Einheiten mit drei metrischen Akzenten folgen solche mit nur zweien. Besonders markant ist dies bei den Versen sechs und sieben der beiden Strophen ausgebildet, weil dort die Rückung nach Des-Dur stattfindet (bei den Worten: „So suche dir eins“ und „Wie er rennet zum Tanz“).


    Gleichwohl ist die klangliche Anmutung von Volksliedhaftigkeit bei diesem Lied sehr stark ausgeprägt. Der Strophen-Charakter ist - unbeschadet der Modifikationen in der zweiten
    Strophe – im wesentlichen gewahrt, die melodische Linie der Singstimme ist strukturell einfach angelegt und mit sich wiederholenden Kehrreim- und Jubelruf-Elementen durchsetzt, und der Klaviersatz bleibt nicht nur eng an sie gebunden, er wiederholt sogar Elemente ihrer Struktur in echohafter Weise. Die melodische Linie und der ihr in ihren Bewegungen folgende Klaviersatz strahlen beschwingte Heiterkeit und Frohsinn aus. Immer wieder ereignen sich Sprünge über große Intervalle, die dann zwar in eine lebhafte Abwärtsbewegung übergehen, aber nicht um dort zur Ruhe zu kommen, sondern vielmehr in eine bogenförmig aufwärts gerichtete oder wiederum von Sprüngen geprägte Aufwärtsfigur zu münden.


    In dieser Struktur reflektiert sie den appellativen Geist des lyrischen Textes mit seiner Aufforderung, sich in den Tanz „einzuschlingen“, auf geradezu in Bann schlagende Weise. Repräsentativ dafür sind etwa der Oktavsprung, mit dem sie bei den Worten „wer fröhlich ist“ einsetzt oder der Aufschwung, den sie nimmt, nachdem sie sich bei dem Wort „Sorgen“ vorübergehend in tiefe Lage begeben hat. Auf den Quartfall hin zu einem tiefen „B“ bei diesem Wort folgt sofort eine Aufwärtsbewegung über eine ganze Oktave, die in eine tänzerisch beschwingt wirkende Figur aus wiederum in einer Oktave übereinender geschichteten Doppelfallbewegungen mündet. Und das Klavier macht das alles in einem von Terzen geprägten, musikantisch wirkenden Gestus mit. Darin wird es so sehr beflügelt, dass in der Pause für die Singstimme am Ende des dritten Verses der ersten Strophe in einen fortissimo und „keck“ zum Ausdruck gebrachten Jubel ausbricht, in dem es die melodische Linie, angereichert mit Trillern und reichlichen Sprungbewegungen fortsetzt und in ihrer Expressivität steigert. Und das wiederholt sich ja noch einmal in der zweiten Strophe.


    Der klangliche Reichtum des Liedes gründet wesentlich darin, dass beide Strophen noch eine Passage aufweisen, in der sich die Melodik aus dem appellativen Gestus der Aufforderung zum Tanz etwas zurücknimmt in den der Besinnlichkeit. Das geschieht allerdings in einer höchst reizvollen Kombination mit kurzen, ein Accelerando und einen rhythmischen Wandel mit sich bringenden melodischen Einschüben. Sie wirken in der Spontaneität, mit der sich hier gleichsam ein rezitativischer Geist in eine kantabel geführte melodische Linie hineindrängt – und das gleich zweimal – wie der ungezügelte Ausbruch von Lebensfreude. Und insofern ist es ganz konsequent und verständlich, dass dieser zweite Teil der Strophen mit dem zweifachen, einen Sextsprung beinhaltenden Jubelruf „Juchhe“ endet. In der zweiten Strophe wird daraus sogar ein vierfacher.


    Mit einem wie endlos wirkenden, permanent sich in einem melodischen Quartfall und -sprung ereignenden „Ringel Reih´n“ endet klingt das Lied aus. Es verliert sich darin, - deshalb auch eine Pause vor dem letzten, pianissimo deklamierten „Reih´n“. Das lyrische Ich lässt sich von seinen Ländler-Imaginationen davontragen.

  • Die Urfassung dieses Liedes entstand unter dem Titel „Maitanz im Grünen“ am 5.März 1880. Es wurde dann – nach minimalen Korrekturen an seiner Faktur – unter diesem neuen Titel in die 1892 publizierten „Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier“ aufgenommen, - als einzige der drei ganz frühen Liedkompositionen. Die Änderungen, die Mahler vorgenommen hat, beziehen sich nahezu ausschließlich auf den Text: „Hänsel“ und „Gretel“ werden zu „Hänschen“ und „Gretchen“ (wahrscheinlich wollte Mahler Grimms Märchen aus dem Wege gehen), und aus „Ein schönes liebes Liebchen“ wird das Adjektiv „schönes“ herausgenommen. Der einzige wirklich substanzielle – aber auch nicht wirklich relevante – Eingriff in die Faktur besteht aus der Hinzufügung eines weiteren „Juch-he“ zu der Dreiergruppe vor dem abschließenden „Ringel Reihn“-Refrain. Ansonsten sind melodische Linie der Singstimme und Klaviersatz identisch.


    Diese Liedkomposition, für die Mahler ja eigens einen Text verfasst hat, ist wohl als frühe Manifestation seiner Suche, ja Sehnsucht nach dem künstlerisch wahren Ton zu vernehmen und zu verstehen. Diese Suche ist bei ihm von existenzieller Relevanz: Das Trauma des verlorenen Paradieses ist ihr eigentlicher Quell. Er meinte, diesen urtümlich wahren, weil noch nicht der Entfremdung durch die Moderne zum Opfer gefallenen Ton im Volkslied zu finden, und von daher wird seine geradezu leidenschaftliche Hinwendung zu den Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ erst verständlich. Und über das Finden-Wollen ging er zuweilen sogar noch hinaus, indem er ihn selbst – textlich und musikalisch – selbst generierte, wie das hier der Fall ist.


    Es handelt sich freilich in allen Fällen dieses Generierens von Volksliedton im Sinne wahrer lyrisch-musikalischer Ur-Sprache um ein hochgradig artifizielles Produkt, also im Grunde um eine künstlerische Beschwörung dieses Tons. Schon bei diesem Lied ist das – und das macht seinen Reiz für denjenigen aus, der auf der Suche nach dem Wesen und der Eigenart von Mahlers Liedsprache ist – auf gleichsam exemplarische Weise zu erleben. Was hier die Anmutung von Volksliedhaftigkeit auslöst, wurde aufgezeigt: Strophenliedcharakter, Wiederholung melodischer Figuren, Refrain-Effekte, Ausblendung von Chromatik in der Harmonik und Begrenzung der Modulation, Anbindung des Klaviersatzes an die deklamatorische Struktur der Melodik.


    Aber diese volksliedhaften Elemente entfalten sich auf einem artifiziellen Hintergrund. Er ist so subtil in seiner Struktur, dass er sich nicht vordrängt, sich nur dem analytischen Blick in den Notentext erschließt. Er begegnet einem dabei – und das macht u.a. die Größe von Mahlers Liedkomposition aus – wie eine Akzentuierung dieses Volksliedtons, die ihre artifizielle Herkunft zu verbergen weiß. Auch auf sie wurde in der Vorstellung des Liedes verwiesen. Es sind die, auf dem Oktavsprung basierenden, leitmotivischen Zwischenspiele, es ist die harmonische Rückung von „Es“ nach „As“ im Sinne einer neuen Tonika, der sich völlig verbergende partielle Taktwechsel und das höchst kunstvolle, dem Volkslied völlig fremde Verklingen-Lassen der melodischen Linie auf dem tiefen „Es“ des „Ringel Reih´n“.


    Und da ist noch etwas, das in seiner musikalischen Substanz hochgradig artifiziell ist und eben dieses doch zu verbergen weiß: Die mehrfach sich ereignende Konfrontation von kantabel phrasierter Melodik mit einer, die sich rhetorisch-deklamatorisch gibt. Zu erleben erstmals – und sich dann gleich noch einmal, und in der dritten Strophe wiederum, wiederholend - bei den Worten: „Wer ein liebes Liebchen küßt, wie glücklich der ist!“
    Für derlei kompositorische Elemente habe ich schon mehrfach das Wort „kompositorische Raffinesse“ verwendet. Es ist, worauf schon hingewiesen wurde, im Grunde wegen seiner Konnotationen problematisch und deshalb eigentlich nicht angebracht. Aber es liegt einem immer wieder auf der Zunge, - weil die Subtilität von Mahlers Liedkomposition es so naheliegend macht.

  • Ich hatte eigentlich nicht vor, auf die drei ersten Liedkompositionen Mahlers aus dem Jahr 1880 näher einzugehen. Dazu bewog mich nicht zuletzt dessen eigene Einschätzung derselben. Natalie Bauer-Lechner gegenüber bekannte er, Bezug nehmend auf diese, am 21.Juni 1896:
    „Ganz unzureichend waren meine damaligen Lieder, für die meine Phantasie noch zu wild und maßlos war, zumal es eigentlich am schwierigsten ist und die größte Kunst und das meiste Können erfordert, in eine kleine Form großen Inhalt zu gießen.“

    Aber nun habe ich ja gerade eines dieser ganz frühen Lieder hier vorgestellt und besprochen. Und mir scheint: Auf dieses trifft das, was Mahler da kritisiert, in gar keiner Weise zu. Es wäre also vielleicht interessant, nachzuprüfen, ob es für die beiden anderen Gültigkeit beanspruchen darf.
    Und überdies habe ich auch noch Rheingolds oben in Beitrag 29 still vor sich hingesprochene – und gerade deshalb bei mir hängen gebliebene – Klage im Ohr: "Und natürlich vermisse ich das frühe Lied "Im Lenz".
    Also habe ich mich entschlossen, nun doch auf dieses Lied morgen näher einzugehen, bevor ich, meinem Vorhaben folgend, das nächste Lied des ersten Hefts mit dem Titel „Serenade“ hier vorstelle.
    (Vielleicht mache ich damit ja Rheingold1876 - und möglicherweise auch noch anderen, die Mahlers Lieder lieben - eine Freude)

  • Sag´ an, du Träumer am lichten Tag.
    Was willst du heut´ mit dem Bangen?
    Du wandelst so stumm durch Lenz und Hag,
    Als wärst du von Blindheit befangen.


    „Ich bin nicht blind und sehe doch nicht,
    Mir ist nicht dunkel und ist nicht licht.
    Könnt´ lachen und könnte weinen,
    Doch sagen könnt´ ich es keinem.“


    O sieht dich die Sonne so freundlich an,
    Was sollen dir Schmerz und Reue?
    Wirf ab deine Last, du trauriger Mann,
    Und freu´ dich an Sonne und Bläue.


    "Mich freut keine Sonne, mich freut kein Blau
    Und hab´ doch den Frühling so gerne.
    Ach, die allein ich am liebsten erschau,
    Die weilt schon lang in der Ferne.“



    Mahler komponierte dieses Lied am 19.Februar 1880. Der - selbst verfasste - Text, den er ihm zugrundelegte, stellt einen Dialog zwischen zwei lyrischen Ichs dar, der sich in der Erfahrung des Frühlings ereignet und zwei in ihrer Haltung der Situation des frühlingshaften Aufbruchs gegenüber gegensätzliche Positionen zum Ausdruck bringt. Im Zentrum steht das Ich, das den Frühling zwar „gerne hat“, aber so sehr in introvertierter Depression gefangen ist, dass Sonne und Licht es nicht erreichen können. All die Zureden, die vom anderen Ich kommen und auf die Freude verweisen, die der Frühling mit sich bringt, verfangen bei ihm nicht. Und der Grund für dieses depressive In-sich-versunken-Sein enthüllt sich andeutungsweise in den beiden letzten Versen: Das Leiden unter der Ferne des geliebten Menschen.


    Dieses frühe Lied lässt eine ganze Reihe von kompositorischen Merkmalen erkennen, die für die spätere Liedkomposition Mahler bezeichnend und typisch werden:
    ---Die Vorliebe für den lyrischen, bzw. epischen Dialog;
    ---die Neigung zur Durchkomposition von strophisch gegliederten Texten;
    ---das orchestrale Konzept, sich niederschlagend in einem komplexen, klanglich dominanten Klaviersatz, der aber nicht in dialogischer Distanz zu melodischen Linie der Singstimme steht, sondern diese auf integrative Weise interpretiert und Dimensionen ihrer Aussage erschließt;
    ---im Zusammenhang damit die große Relevanz der Harmonik als bedeutsamer Faktor der musikalischen Aussage, und
    ---die Intention, die melodische Linie bei all ihrer Bindung an die Semantik des lyrischen Textes, auf kantable, möglichst weit ausgreifende und die innere Bindung der Schritte wahrende Phrasierung anzulegen.


    Der Gegensatz in der menschlichen Grundhaltung, wie ihn der lyrische Text zum Ausdruck bringt, wird von der Liedmusik mit einem starken Kontrast zwischen den dem jeweiligen lyrischen Ich zugeordneten Strophen reflektiert. Er umfasst alle Ebenen und Faktoren der Liedmusik, - von der Struktur der melodischen Linie über den Klaviersatz, die Harmonik bis sogar hin zum Tempo. Ein wenig fühlt man sich dabei an Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ erinnert, nur dass Mahler im Einsatz der klanglichen Mittel noch kräftiger zulangt und sich hinsichtlich der liedkompositorischen Expressivität weit von der Behutsamkeit eines Franz Schubert entfernt. Aber dieser hatte ja auch ein anderes Thema und einen weniger expressiven lyrischen Text vor sich.


    Mit einer hochgradig expressiven, nach oben schießenden Zweiunddreißigstel-Kette im Diskant, die in repetierende Akkorde mündet, setzt das Lied ein. Dieses Repetieren von Einzeltönen, Akkorden oder alterierenden Figuren ist ein von Mahler hier immer wieder im Klaviersatz eingesetztes Mittel, um das subjektive Bedrängt-Sein, aber auch das Drängen zum Ausdruck zu bringen, mit dem das eine lyrische Ich an das andere herantritt. Die Singstimme setzt in relativ hoher Lage ein, drängt aber sofort noch weiter nach oben, um dem Wort „lichten Tag“ mit einem kleinen melodischen Bogen Nachdruck zu verleihen. Auch die Frageworte „Was willst du ?“erhalten einen Akzent, dieses Mal mit einer gestuften melodischen Fall- und Steigbewegung. Der Vorwurf, „Du wandelst so stumm“ kommt in melodisch hoch expressiver Weise in Gestalt eines Sprungs der melodischen Linie in hohe Lage zum Ausdruck. Und das ereignet sich noch einmal bei den Worten „Als wärst du von Blindheit befangen.“ Die kleinen Melodiezeilen, die aneinander anbinden, folgen in raschem Tempo aufeinander, - Ausdruck einer vom Frühling innerlich beflügelten Haltung dieses lyrischen Ichs. Das Klavier lässt die Grundfigur der melodischen Linie, diesen bogenhaft angelegten, nach oben ausgreifenden Sprung, noch mehrere Male nachklingen.


    Ein relativ lange repetierender Einzelton leitet zur zweiten Strophe über. Die Singstimme setzt in deutlich langsamerem Tempo ein und verbleibt bei der ruhigen, fast bedächtig anmutenden Deklamation der Worte „ich bin nicht blind“ auf nur einer tonalen Ebene. Erst bei „und sehe doch nicht“ geht sie zu einem bogenförmigen Sich-Abheben davon über. Es ist aber nur ein kleines Intervall, das da genommen wird. Dieses Ich wirkt müde, depressiv, kraftlos, und die Liedmusik reflektiert dies nicht nur mit dieser sich kaum von der tonalen Ebene lösen könnenden melodischen Linie, sondern auch mit einer Moll-Harmonisierung derselben und einem Klaviersatz, dem alle stürmische Bewegtheit, wie er sie in der ersten Strophe aufweist, abgeht: Akkorde folgen aufeinander, von repetierenden Tonfolgen miteinander verbunden. Auch bei dem folgenden Vers behält die melodische Linie diese innere Schwere des Verharrens auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene mit nachfolgender kleiner Bogenbewegung bei.


    Kurze Zwischenspiele, ganz und gar in Moll gehalten, schieben sich immer wieder zwischen die Melodiezeilen: Sie sind von Fallbewegungen geprägt und drücken seelischen Schmerz aus. Überaus ausdrucksstark die aus der Deklamation der Worte „Könnt´ lachen“ auf tiefer tonale Ebene hervorgehende und in einen Bogen mündende Sprungbewegung zu den Worten „könnte weinen“ hin. Und als wäre des schmerzlichen Ausdrucks noch nicht genug, wiederholt sich diese melodische Figur noch einmal bei dem letzten Vers dieser Strophe, - und dieses Mal ist der in Moll gebettete melodische Bogen auf den Worten „könnt´ ich es keinem“ noch weiter gespannt und deshalb noch expressiver.


    Fast schon erschreckend wirkt, weil im Forte erfolgend, das Hervorbrechen des Klaviers mit seiner Zweiunddreißigstel-Kette im Diskant aus den müde fallenden und schmerzlich wirkenden Figuren, die es gerade noch piano hat erklingen lassen. Damit wird die Wiederkehr des Tones eingeleitet, der die erste Strophe prägt. Und es ist ja wieder das vom Erlebnis des Frühlings beschwingte und seelisch ganz und gar unbeschwerte lyrische Ich, das sich da melodisch zu Wort meldet. Nun wiederholt sich alles noch einmal, was man in den ersten beiden Strophen erlebte, - freilich in modifizierter, in gar keiner Weise strophenliedmäßig identischer Form. Mahler macht es sich nicht einfach: Er will der Semantik des lyrischen Textes gerecht werden. Und diesbezüglich eröffnen sich darin zwei neue Ebenen. Da ist einerseits die des drängenden Appells, wie er in den Worten „Wirf ab deine Last, du trauriger Mann“ aufklingt. Und da ist das Bekenntnis des seelischen Urgrunds in der Haltung des anderen lyrischen Ichs, wie ihn die beiden letzten Verse artikulieren.


    Beides wird von Mahlers Liedmusik in adäquater, ihm vollkommen gerecht werdender Weise aufgegriffen. Der Appell in Gestalt einer sich in zwei Sprüngen aus tiefer in hohe Lage aufschwingenden, vom Klavier mit wie hämmernd wirkenden Akkorden begleiteten und ganz und gar in das Dur der Tonika gebetteten Harmonisierung. Ein regelrechter aus hoher in tiefe Lage herabfallender klanglicher Wirbel von Sechzehntel-Figuren erklingt am Ende dieser dritten Strophe, und man erlebt ihn wie eine klangliche Bekräftigung der Haltung dieses lyrischen Ichs.


    Aber es ist nicht die, um die es hier eigentlich geht. Das ist die es anderen Ichs. Mahler hat ihm – möglicherweise aus Gründen einer stärkeren Identifikation mit ihm – in dem, was es von sich selbst sagt, das größere musikalische Gewicht verliehen.


    Die Worte „Mich freut keine Sonne“ werden wieder auf nur einer tonalen Ebene deklamiert, und die ist auch noch in tiefer Lage verortet. Dieses lyrische Ich tief bedrückt, das Leben ist ihm abhanden gekommen. Zu der Aussage „mich freut kein Blau“ kann sich die melodische Linie gerade mal um eine kleine Sekunde von dieser tonalen Ebene nach oben erheben, um aber dann dort wieder zu verharren. Moll-Harmonik umgibt sie wieder. Erst bei dem Bekenntnis „Und hab´ doch den Frühling so gern“ steigt sie mit einem Sprung in höhere Lage auf, um dort, nun in Dur harmonisiert, eine kleine Bogenbewegung zu beschreiben. Auch bei den beiden letzten Versen verbleibt sie zunächst wieder in silbengetreuer Deklamation auf einer tonalen Ebene, nun aber in mittlerer Lage.


    Dann aber, wenn es um den Quell all der Betrübnis geht, die Ferne der geliebten Frau, kommt erstmals eine etwas größere Emphase in sie. Die Worte „liebsten erschau“ erhalten durch einen Sprung in hohe Lage, verbunden mit einer harmonischen Rückung, einen Akzent. Und noch stärker ausgeprägt ist die Emphase bei den Worten „in der Ferne“. Hier beschreibt die melodische Linie eine weit gespannte und stark gedehnte Bogenbewegung in hoher Lage auf dem Wort „Ferne“, die in ihrer Moll-Harmonisierung überaus wehmütig wirkt.
    Das Klavier setzt im Nachspiel diese Fallbewegung mit Moll-Terzen fort, geht aber am Ende in eine mit einer harmonischen Rückung in die Dur-Tonika verbundenen Aufwärtsbewegung von Einzeltönen über, die dann in den Schlussakkord münden.
    Das ist ein Lied-Ende, das wie ein Aufklingen von Hoffnung anmutet, - Hoffnung darauf, dass dieses lyrische Ich eine Erlösung aus seiner tiefen Bedrückung erfahren könnte.
    Es ist wohl eine höchst persönliche, das eigene Ich in seinen seelischen Tiefendimensionen zum Ausdruck bringende Liedkomposition, die man da vernimmt.

  • Tirso de Molina: „Serenade“ (aus: „Don Juan“)


    Ist´s dein Wille, süße Maid,
    meinem heißen Liebesstreben
    erst im Tode Raum zu geben,
    o, da wart´ ich lange Zeit.


    Soll ich deine Gunst genießen
    Erst nach meinem Erdengange,
    währt mein Leben allzulange!
    Mag es gleich im Nu zerfließen!


    Ist´s dein Wille, süße Maid,
    meinem heißen Liebesstreben
    erst im Tode Raum zu geben,
    o, das ist gar lange Zeit,
    gar zu lange Zeit!



    Gustav Mahler: „Serenade“

    Um Sehnsucht nach Liebeserfüllung geht es in dieser „Serenade“ , - kein heftig begehrendes Sehnen ist das, sondern ein still klagendes, nur behutsam aus der Verhaltenheit heraustretendes. Der Serenadenton drückt sich in einem fließenden (Vortragsanweisung: „Leicht fliessend“) Dreivierteltakt aus und in einem strukturell einfachen, die Singstimme begleitenden und ihr in ihrer Bewegungen folgenden Klaviersatz aus, der immer wieder einmal lautenhafte Klänge in Gestalt von arpeggierten Akkorden einfließen lässt. Und schließlich ist auch die Harmonik serenadengemäß. Sie bewegt sich in ihren Modulationen vorwiegend zwischen Tonika, Dominante und Subdominante und geht nur dort zu von der Grundtonart C-Dur weiter entfernten Tonarten über, wo der lyrische Text den Grundton der verhaltenen Klage verlässt und emotional expressiver wird.


    Mahler hat – und das macht den klanglichen Reiz und die Größe dieser Liedkomposition aus – die Ambivalenz des lyrischen Textes, die darin besteht, dass sich in die sprach sachliche Frage immer wieder sehnsuchtsvolle Emotionen hineindrängen, mit seiner Liedmusik in vollkommener und klanglich beeindruckender Weise eingefangen.


    Das Lied ist durchkomponiert, weist aber dadurch eine leichte Anmutung von strophischer Volksliedhaftigkeit auf, dass die melodische Linie der ersten drei Verse der dritten Strophe mit der der ersten identisch ist. Beim Klaviersatz ist das allerdings nicht der Fall. Man meint, im dreitaktigen Vorspiel, in das die Singstimme auftaktig eintritt, die Grundhaltung des lyrischen Ichs zu vernehmen, wie sie sich in der nachfolgenden melodischen Linie niederschlägt: Ein Achtel-Sprung aus einer Terz heraus, der, mit einer harmonischen Rückung verbunden, in eine tiefer liegende gedehnte Terz mündet. So ist auch die melodische Linie der Singstimme in ihrer Grundstruktur angelegt. Sie stellt sich als die Aufeinanderfolge von sich steigernden, weil in ansteigender tonaler Ebene erfolgenden Aufwärtsbewegungen dar, die am Ende in eine Fallbewegung übergehen. Den Fragen, die das lyrische Ich an die Geliebte richtet, wohnt ein fordernder Geist inne, der sich freilich nicht voll ausleben kann – oder darf? – und schließlich in Verzagtheit zurückfällt.


    In der dominanten, weil sich ja wiederholenden Melodik der ersten Strophe ist das deutlich zu vernehmen. Die Vokallinie steigt von Vers zu Vers in immer höhere Lage auf, bleibt dort aber nicht, sondern geht aus einer Fallbewegung in einen neuerlichen Aufstieg über. Bei „Maid“ wird ein „G“ in mittlerer Lage erreicht, bei „heißen Liebesstreben“ erfolgt eine Aufgipfelung auf einem „C“, und bei „Tode“ ereignet sich ein Aufstieg um eine Sekunde mehr zu einem „D“ in oberer Lage. Typisch ist der Steigerungseffekt bei der Wiederholung des Verses „O, da wart´ ich lange Zeit“. Im ersten Fall bei den Worten „da wart´“ ereignet sich ein Sextsprung zu einem hohen „E“, dem ein Fall der melodischen Linie in vier Schritten zu einem gedehnten „G“, also der Ausgangslage, nachfolgt. Bei der Wiederholung steigt die Vokallinie aber über eine ganze Oktave zu einem hohen „F“ auf. Und ganz bezeichnend für die Haltung des lyrischen Ichs ist nun, dass sich danach nicht nur wieder eine Fallbewegung in Sekunden ereignet, sondern diese überdies mit einer Rückung von der Subdominante in die Dominante verbunden ist. Die Vokallinie endet auf einem in G-Dur harmonisierten gedehnten „D“ (bei „Zeit“). Das ist ein gleichsam offener Schluss der Melodik dieser Strophe, in dem sich die Zurückhaltung des lyrischen Ichs dem Du gegenüber musikalisch niederschlägt.


    Während in der ersten Strophe die Harmonik den unmittelbaren Raum um die Tonika nicht verlässt, mit der bemerkenswerten Ausnahme einer kurzen Rückung nach d-Moll bei dem Wort „Liebesstreben“, ereignen sich in der zweiten mehrere Modulationen, die nach B-Dur und Es-Dur ausgreifen, und auch die Rückung in das Tongeschlecht Moll (bei „währt mein Leben allzulange“) hat hier größeres klangliches Gewicht. Das lyrische Ich verleiht hier der Bitte, von der Geliebten erhört zu werden stärkeren Nachdruck, indem es sich sogar bereit erklärt, sein Leben rascher hingehen zu lassen, wenn ihm erst nach dem Tod Erfüllung gewährt werden sollte.


    Das Pathos, das mit der zweiten Strophe in den lyrischen Text kommt, schlägt sich in der Struktur der melodischen Linie und in ihrer Harmonisierung in Gestalt größerer modulatorischer Unruhe nieder. Die Liedmusik entfaltet eine gesteigerte Expressivität. Zwar setzt die melodische Linie mit einer ähnlichen Bewegung ein wie am Liedanfang, und sie entfaltet sich auch wieder nach dem Prinzip des permanenten Anlaufs zum Aufstieg in höhere Lagen, am Ende aber, bei der Wiederholung der Worte „Mag es gleich im Nu zerfließen“ steigert sie sich in einen Grad an Expressivität, den sie bislang gemieden hat. Zwei Mal steigt sie (bei den Worten „mag es gleich“) über ein sich dabei ausweitendes Intervall in hohe Lage auf, wobei dies mit einem Crescendo hin zum Forte geschieht und überdies der hohe Ton mit einem Portato deklamiert wird: Im ersten Fall ist es ein hohes „Es“, im zweiten erfolgt der Anstieg über eine Oktave gar hin bis zu einem hohen „F“. Dabei ereignet sich auch noch eine bemerkenswerte Akzentverlagerung. Erst liegt der höchste Ton auf dem Wort „gleich“, dann aber auf „Nu“.


    Dieser Ausbruch der Melodik in gesteigerte, dabei freilich das Extrem meidende Expressivität ereignet sich am Ende des Liedes noch einmal. Hier weicht die melodische Linie bei den beiden letzten Versen von der der ersten Strophe, die sie ja ansonsten zuvor reproduziert hat, in Gestalt von zwei wieder bis zu einem hohen „F“ ausgreifenden Bogenbewegungen ab. Bei den Worten „O, das ist gar lange Zeit“ entfaltet der Aufstieg über eine Sexte eine relativ starke Expressivität, zumal er mit einer Rückung nach Des-Dur verbunden ist und der Sekundanstieg danach in eine Pause mündet. Das gilt auch noch für den Anfang der Bogenbewegung, die auf den Worten „gar lange Zeit“ liegt. Hier erfolgt die Sprungbewegung zu dem hohen „F“ aus dem Anlauf eines kleinen Sekundsprungs heraus, und für seine Deklamation ist wieder ein Portato vorgeschrieben.


    Aber danach tritt in den Sekundfall ein Crescendo, und die Harmonik rückt von der Subdominante in die Tonika. Das mutet an, als habe sich das lyrische Ich stark zurückgenommen und sich mit der Situation abgefunden, in der es sich der Geliebten gegenüber befindet.

  • Wie Mahler dazu kam, zwei Texte aus dem von Tirso de Molina 1619 verfassten Werk “El burlador de Sevilla o convidado de piedra” (Titel der deutschen Ausgabe: „Don Juan oder der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast“) zur Grundlage von zweien seiner frühen Liedkompositionen zu machen, vermochte ich nicht herauszufinden. Man könnte sich damit begnügen, dies als Indiz für seine – zweifellos große – literarische Bildung zu nehmen, aber eine der zentralen Fragen beim Sich-Einlassen auf die analytische Betrachtung einer Liedkomposition ist ja doch immer: Was mag den Komponisten bei diesem Text angesprochen und zur Vertonung inspiriert haben? Man bleibt bei der Suche nach einer Antwort darauf zwar stark im Bereich der Spekulation, aber nicht ganz und gar, - wenn man den Menschen, der da liedkompositorisch am Werk ist, und die Intentionen, von denen er sich dabei leiten lässt, ein wenig näher kennengelernt hat.


    Und diesbezüglich bin ich mehr und mehr zu der Auffassung gelangt, dass Mahler bei seiner Liedkomposition vorzugsweise zu Texten greift, die eine monologische Ansprache – so wie das hier der Fall ist – beinhalten, ein Sich-selbst-Aussprechen eines lyrischen Ichs darstellen, dialogische Anlage aufweisen oder sprachlich stark episch, bzw. narrativ ausgerichtet sind. Lyrik im genuinen Sinn, also sprachlich-metaphorische Evokation, spricht ihn nicht an, fordert ihn zur Vertonung nicht heraus. Er hielt es ja geradezu für „Barbarei“, „vollendet schöne Gedichte“ – und damit meinte er eben Lyrik im genuinen Sinne – „in Musik zu setzen“. Wenig bekannt, aber, wie mir scheint, höchst bezeichnend ist, dass er sich ein einziges Mal an einem Heine-Gedicht liedkompositorisch versucht hat, - an den Versen „Im wunderschönen Monat Mai“ nämlich. Und er blieb stecken dabei. Nur ein Fragment ist überliefert.


    Schon seine frühen Liedkompositionen, so wie diese hier, lassen diese liedkompositorische Intention Mahlers und die damit einher gehende Wahl der Texte erkennen. Und das macht sie – einmal abgesehen von ihrer so sehr beeindruckenden melodisch-klanglichen Schönheit – für den Betrachter seines liedkompositorischen Schaffens so wertvoll und aufschlussreich. Dieser Text von Tirso de Molina (der von Ludwig Braunfels übersetzt ist) vermochte Mahler anzusprechen und zur Liedkomposition zu motivieren, weil sein sprachlicher Gestus ein rhetorischer ist, nicht ein genuin lyrischer. Und seine Liedmusik darauf reflektiert in ihrer Struktur diesen Ansprache-Gestus. Sie erschöpft sich freilich nicht darin, sondern lotet mit ihren klanglichen Mitteln die emotional-affektive Ebene dieses Ansprechens eines Du aus, bei dem es ja doch um ein leidenschaftliches Liebesbekenntnis und ein Begehren des Anderen geht.


    Das ist Mahlers Intention in allen seinen Liedkompositionen, - auch in jenen ungleich gewichtigeren, in denen es um lyrisch-sprachlichen Ausdruck menschlichen Lebens in seinen fundamental-existenziellen und seinen lebensweltlichen Belangen geht. Bei diesem lyrischen Text hier geht es nur um ein serenadenhaftes, teilweise geradezu pathetisch übersteigertes Liebesbekenntnis. Aber Mahler – und das ist bezeichnend für ihn – lässt sich von solchem lyrisch-sprachlichen Pathos wie es sich in Worten wie „süße Maid“ „heißem Liebestreben“ und „nur im Tode Raum zu geben“ artikuliert, nicht zu musikalischem Pathos verlocken, - er bleibt durchweg im Ton des liedmusikalischen Sprechens.


    Dies äußert sich darin, dass er die Liedmusik im melodischen Bereich und in der Harmonik aus nur zwei Motiven entwickelt und sich entfalten lässt. Das eine Motiv, das die melodisch-harmonische Basis darstellt, klingt schon im Vorspiel auf: Der Terzsprung aus einem bitonalen Akkord, der in einen Quartfall mündet und mit einer harmonischen Rückung aus der Tonika in die Dominante verbunden ist. Aus diesem Motiv entfaltet sich das Lied wie aus einer Keimzelle, und die Zwischenspiele variieren es mit modulatorischen Ausgriffen in den Moll-Bereich.


    Das andere Motiv ist ein melodisch strukturelles, auf die Steigerung der Expressivität ausgerichtetes. Die melodische Linie vollzieht in immer neuen Varianten die strukturell gleiche Bewegung: Die einer Vergrößerung des Intervalls, in dem die Sprungbewegung erfolgt, die der nachfolgend fallenden Bewegung vorausgeht. Was sich melodisch bei den Worten „Erst im Tode Raum zu geben, O, da wart´ ich lange Zeit, O. da wart´ ich lange Zeit“ ereignet, stellt erweist sich als das strukturelle Grundmuster der Melodik des ganzen Liedes.
    Und es ist ein in seinem klanglichen Potential zweifellos ausdrucksstarkes.

  • Das Mädchen trat aus dem Fischerhaus,
    die Netze warf sie ins Meer hinaus!
    Und wenn kein Fisch in das Netzt ihr ging,
    die Fischerin doch die Herzen fing!
    Die Herzen! Die Herzen!


    Die Winde streifen so kühl umher,
    erzählen leis´ eine alte Mär!
    Die See erglühet im Abendrot,
    die Fischerin fühlt nicht Liebesnot
    im Herzen, im Herzen!


    (aus: "Don Juan" von Tirso de Molina)



    Bei diesem Lied handelt es sich um eine Strophenlied-Komposition. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „träumerisch“ vorgetragen werden. Auch wenn der Klaviersatz leichte Modifikationen im Sinne einer stärkeren Hervorhebung des Harfencharakters aufweist, so ist doch die melodische Linie in den Strophen identisch. Für das Klavier gibt Mahler die Anweisung vor:“Der Klang einer Harfe nachzuahmen“. Und in der Tat sind alle Akkorde, auch die vielen bitonalen, mit ganz wenigen Ausnahmen arpeggiert. Der Klaviersatz ist in seiner Struktur einfach gehalten, und im Zusammenspiel mit der melodischen Linie der Singstimme stellt sich die Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit der Liedmusik ein.


    Was will sie sagen? Was ist es, was da als „Phantasie“ liedmusikalisch evoziert wird? Die lyrischen Bilder erzählen von einer jungen Fischerin, die neben den realen Netzen, die sie im Meer auswarf, auch über solche verfügte, mit denen man Herzen zu fangen vermag. Sie wird dabei als ein Wesen charakterisiert, das bei diesem „Herzen-Fangen“ – und wohl auch wieder „-Verlieren“ – keine „Liebesnot“ fühlt. Ist diese Geschichte, denn um eine solche handelt es sich ja, angesichts der narrativen Struktur des lyrischen Textes, als eine Schöpfung der Phantasie zu verstehen, in der diese „Fischerin“ in die Nähe der mythischen Gestalt der den Mann verführenden und dann fallen lassenden Frau rückt? Oder muss man sie eher lesen als die von einem Wesen, das das glückhafte Leben eines Menschen führt, dem eine Überfülle an Liebe zuteilwird?


    Was sagt die Liedmusik? In ihrem Volksliedton, den Mahler so liebt und immer wieder angestrebt hat, suggeriert sie zunächst einmal der elementaren Natur nahes Leben. Aber da ist etwas in ihrer Klanglichkeit, das stutzig macht: Es ist das permanente Pendeln zwischen Dur und Moll, bei dem das Tongeschlecht Moll letztendlich die Oberhand behält. Nicht Des-Dur ist die Gundtonart, sondern die Parallele b-Moll erweist sich letzten Ende als solche, und die Harmonik des Liedes mutet so an, als seien die kurzen Passagen, in denen ein F-Dur oder ein Des-Dur aufklingt, klangliche Räume, in denen die melodische Linie sich nicht halten kann, weil es sie immer wieder zu es-Moll oder b-Moll hinzieht.


    Schon in das in F-Dur gehaltene dreitaktige Vorspiel schleicht sich ja bei den aufsteigenden arpeggierten Sexten Chroma ein. Und die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, ist zwar von mit zwei Achteln einsetzenden und sich dann in Vierteln fortsetzenden Aufwärtsbewegungen geprägt, aber sie weist eine durchgehende b-Moll-Harmonisierung auf, die erst bei den Worten „ins Meer hinaus“ fast flüchtig hin zur Parallele Des-Dur rückt.


    Dieses Verhaftet-Sein der melodischen Linie im Tongeschlecht Moll erfährt noch dadurch eine Intensivierung, dass bei die Wiederholung der Worte „Die Netze warf sie ins Meer hinaus“ die kurze Rückung in den Dur-Bereich durch die neuerlich Wiederkehr der b-Moll-Harmonik geradezu annulliert wird. Die Vokallinie bewegt sich zunächst in bedächtigen Schritten in tiefer Lage, bevor sie mit einem kurzen Aufblitzen von F-Dur bei „Meer hinaus“ eine Quintsprung- und –fallbewegung beschreibt. Dann aber, wenn die Worte „ins Meer hinaus“ noch einmal wiederholt werden, beschreibt sie einen Quintsprung zu einem tiefen „F“ und kann sich, ganz in b-Moll gebettet und in ein Ritardando verfallend, von diesem Ton gar nicht mehr lösen.


    Die melodische Linie des dritten Verses setzt erst ein, nachdem die der ersten beiden Verse mit einer fermatierten Viertelpause verklungen ist. Sie verbleibt aber, immer noch in Moll harmonisiert, in tiefer Lage, senkt sich bei den Worten „in das Netz ihr ging“ sogar noch weiter ab. Dann aber, mit dem vierten Vers („Die Fischerin doch die Herzen fing“), kommt wieder die Aufwärtstendenz in sie, und die Harmonik rückt erneut nach Des-Dur, nun sogar für die ganze Melodiezeile. Bemerkenswert ist aber, dass sie bei den Worten „die Herzen fing“ eine nach unten gerichtete bogenförmige Bewegung beschreibt, die dann, wenn zwei Mal die Worte „die Herzen“ deklamiert werden, in eine Kombination aus Terz- und Sekundfall übergeht, die wie ein Klageruf anmutet, weil sie mit einer Rückung nach b-Moll verbunden ist.


    Vielleicht lässt sich aus dieser Struktur der melodischen Linie und insbesondere ihrer Harmonisierung eine Antwort auf die oben aufgeworfene Frage herleiten, - als Vermutung natürlich nur. Schaut man sich an, an welchen Stellen die wenigen Rückungen in den Dur-Bereich erfolgen, dann sind es diejenigen Passagen des lyrischen Textes, die die Fischerin als aktiv handelnde – die Netze auswerfende und die Herzen fangende – Person darstellen, und jene, die sie charakterisieren („Die Fischerin fühlt nicht Liebesnot“).


    Wenn aber all das, was sich lyrisch um ihre Lebenswelt und insbesondere um die zentrale Metapher „Herz“ dreht, in Moll gebettet ist, dann möchte man das Lied so vernehmen, dass Mahler – was ihm ja in seiner kompositorischen Grundhaltung entspricht – eine verlorene Zeit naturhaft-ungebrochenen menschlichen Seins und Lebens besingt, - und dabei in den Gestus der Wehmut verfällt.

  • Die Feststellung, es handele sich bei diesem Lied um eine Strophenlied-Komposition, ist zwar sachlich zutreffend, sie verdient aber eine Ergänzung im Sinne eines Kommentars und einer Einschränkung im Bereich des Klaviersatzes. Mahler hat wohl – darin ganz seiner liedkompositorischen Intention folgend zu diesem lyrischen Text gegriffen, weil es darin um eine Figur aus einer naturnah-ländlichen Lebenswelt geht. Und ein volksliedhafter, in der strophischen Anlage und der strukturellen Einfachheit von Melodik und Klaviersatz sich niederschlagender liedkompositorischer Geist musste dem am ehesten angemessen erschienen sein. Aber man muss es eigentlich andersherum formulieren: Er wollte sich kompositorisch in diesem Geist ergehen und griff deshalb zu diesem Text.


    Gleichwohl: Er sieht sich der lyrischen Aussage verpflichtet, wie sie Inhalt der beiden Strophen ist. Und diesbezüglich müssen beide für ihn einen so gewichtigen Unterschied aufgewiesen haben, dass er sich zu einer zwar leichten, aber doch klanglich relevanten Modifikation des Klaviersatzes veranlasst sah. Während die ersten drei Verse in beiden Strophen narrativ-deskriptiven Inhalts sind, treffen die beiden letzten eine Aussage über das Wesen der Fischerin. Und diesbezüglich ergänzt die zweite Strophe die erste um einen lyrisch höchst relevanten Aspekt: Dieser Mensch fühlt „nicht Liebesnot im Herzen“.


    Das nun muss Mahler als ein so wichtiger Aspekt erschienen sein, dass er zu einer Abweichung von dem ansonsten so sehr angestrebten Strophenlied-Konzept genötigt sah, - was bemerkenswert ist, weil es seine liedkompositorische Nähe zur Semantik des lyrischen Textes dokumentiert. Er musste der – mit der der ersten Strophe identischen – melodischen Linie auf den Worten „Die Fischerin fühlt nicht Liebesnot im Herzen, im Herzen“ einen stärkeren musikalischen Akzent verleihen. Und aus diesem Grund erweitert er den arpeggierten Klaviersatz um tiefe Oktaven und akzentuiert auf diese Weise die Worte „Fischerin“ (auf der ersten Silbe), „fühlt“, „Liebesnot“ (auf der letzten Silbe) und „Herzen“ (auf der ersten Silbe“. Überdies verleiht er auf diese Weise auch der Wiederholung der Worte „im Herzen“ ein deutlich stärkeres klangliches Gewicht.

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  • Mit dem Lied „Phantasie“ ist die letzte der acht Liedkompositionen Mahlers vorgestellt und besprochen, die im Zeitraum 1880-1887 entstanden. Die nächste Gruppe bilden die in den Jahren 1887-1890 komponierten neun „Lieder und Gesänge“ auf Texte aus „Des Knaben Wunderhorn“. Hier hat Mahler – wie zu zeigen sein wird – nun fast schon voll und ganz zu der ihm eigenen Liedsprache gefunden, was bei dieser ersten Gruppe noch nicht ganz der Fall ist. Man pflegt sie in der Mahler-Literatur ja für gewöhnlich mit dem Kommentar zu versehen: „Noch stark an die Traditionen des deutschen romantischen Liedes anknüpfend“. Das ist zwar nicht ganz unzutreffend, wird aber, wie aufzuzeigen versucht wurde, dem genuinen Anteil an „Mahler-Liedmusik“, den diese Lieder bereits aufweisen, nicht voll gerecht. Ich würde vielleicht nur ein einziges von diesen frühen Liedern als noch wirklich ganz und gar traditionell einstufen: Es ist das – aus diesem Grund hier als einziges nicht besprochene - „Winterlied“, das Mahler auf den 27. Februar 1880 datiert hat. Aber ich gestehe gerne: Es vermag klanglich in Bann zu schlagen, - mit dem klanglichen Einfangen von Spinnstuben-Atmosphäre und der vom Klavier mit Sexten-Figuren umspielten und gesteigerten Emphase, die die Melodik am Ende entfaltet. Vielleicht gehe ja später doch noch einmal darauf ein. Es wäre ja ansonsten das einzige Lied Mahlers, das hier keine Würdigung gefunden hätte. Geht eigentlich nicht!


    Erleichtert bin ich, dass ich von meinem anfänglichen Vorsatz abging, auch das Lied „Im Lenz“ nicht hier einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Das wäre – wie ich nun einsehe – eine große Dummheit gewesen. Vor dieser hat mich Rheingold 1876 mit einem – in angenehm feiner Weise vorgebrachten – Hinweis darauf bewahrt. Ich habe ihm zu danken dafür. Wie übrigens auch dr.pingel, die beiden sinfonischen Lieder betreffend, die ich ebenfalls ausklammern wollte. Seine diesbezügliche Reklamation hat mir eine Menge Einsichten in das Mahler-Lied gebracht. Doch dazu später mehr.


    Ganz gerecht bin ich dem Lied „Im Lenz“ freilich nicht geworden, wie ich nun im Rückblick feststelle. Vergessen habe ich (obwohl Rheingold das ansprach), darauf hinzuweisen, dass die melodische Linie, die auf den Worten „Ich bin nicht blind und sehe doch nicht“ liegt, derjenigen auf den Worten „O Wunder, was nun da begann“ aus dem „Klagenden Lied“ entspricht, und dabei auf die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Kompositionen Mahlers einzugehen. Nicht ganz gerecht geworden bin ich auch dem harmonischen Aspekt dieses Liedes, insbesondere was den Schluss anbelangt. Den bildet ein As-Dur-Akkord. Der ist zwar ein harmonischer, aber kein inhaltlicher Lied-Schluss. Denn das As-Dur ist die Tonart des „traurigen Mannes“, und Mahler will wohl damit liedmusikalisch andeuten, dass es dem – in C-Dur und F-Dur sich harmonisch artikulierenden - munteren Gesellen der ersten Strophe nicht gelungen ist, den Anderen aus seinem Liebesleid in die helle Welt des Frühlings zu holen.


    Es wäre da noch mehr zu nennen, was mir im Rückblick an Defiziten begegnet. So habe ich beim letzten, gerade besprochenen Lied zwar Mahlers Anweisung zitiert „Der Klang einer Harfe nachzuahmen“, aber nicht hinreichend deutlich gemacht, dass die Liedmusik hier – sowohl im Klaviersatz, wie auch in der Struktur der melodischen Linie – von Mahler darauf angelegt wurde, die Assoziation „urtümlicher Barden-Gesang“ auszulösen. Was die mir selbst gestellte Frage anbelangt, warum Mahler wohl zu diesen Texten aus dem „Don Juan“ von Tirso de Molina gegriffen haben könnte, so bin da inzwischen ein wenig schlauer geworden. Man hat dieses Werk damals wieder auf die Bühne zu bringen und diesen Dramatiker gleichsam wiederzubeleben versucht. Und im Zusammenhang damit scheint Mahler an die von ihm liedkompositorisch verwendeten Verse geraten zu sein.

  • Es kam ein Herr zum Schlösseli
    Auf einem schönen Röss´li,
    Kukukuk! Kukukuk!
    Da lugt die Frau zum Fenster aus
    Und sagt: „Der Mann ist nicht zu Haus,
    und niemand heim als meine Kind,
    und´s Mädchen ist auf der Wäschewind!“
    Der Herr aus seinem Rösseli
    sagt zu der Frau im Schlösseli:
    Kukukuk! Kukukuk!
    „Sind´s gute Kind´, sind´s böse Kind´ ?
    Ach, liebe Frau, ach sagt geschwind.“
    Kukukuk! Kukukuk!
    („In meiner Tasch´ für folgsam Kind´,
    (da hab´ ich manche Angebind´!“)
    Kukukuk! Kukukuk!
    Die Frau, die sagt: „Sehr böse Kind´!
    Sie folgen Muttern nicht geschwind,
    sind böse, sind böse!
    Die Frau, die sagt:“Sind böse Kind´!
    Sie folgen, sie folgen der Mutter nicht geschwind!“
    Da sagt der Herr: „So reit´ ich heim,
    dergleichen Kinder brauch´ ich kein´!“
    Kukukuk! Kukukuk!
    Und reit´ auf seinem Rösseli
    Weit, weit weg vom Schlösseli!
    Kukukuk! Kukukuk!


    (Anmerkung: Dies ist das erste von den insgesamt neun Liedern dieser Gruppe auf Texte aus „Des Knaben Wunderhorn“. Mahler hat in alle mehr oder weniger stark eingegriffen. Deshalb soll hier jeweils die Version abgedruckt werden, die der Liedkomposition zugrunde liegt. Die Änderungen, die Mahler am Originaltext vorgenommen hat, werden bei der Vorstellung der Lieder jeweils vermerkt.)

    Diesem Lied, das in der Grundtonart D-Dur steht, einen Viervierteltakt aufweist und mit der Anweisung „Lustig“ versehen ist, liegt ein Text aus „Ds Knaben Wunderhorn“ zugrunde, in den Mahler allerdings sehr stark eingegriffen hat. Dies nicht nur in Gestalt von Text-Wiederholungen, sondern auch mit eigenen Einfügungen. Das sind der Refrain „Kukukuk“ und die Verse „„In meiner Tasch´ für folgsam Kind´, / da hab´ ich manche Angebind´!“. Die Gründe für diese Eingriffe sind einerseits in der Struktur der strophischen Gliederung zu finden, sie sind aber vor allem inhaltlicher Natur. So soll der Refrain wohl die Anmutung von Volkslied verstärken, und die hinzugefügten eigenen Verse dienen ganz offensichtlich der Charakterisierung des „Herrn“ und der Herausstellung seiner Motive.


    Es ist ein heiteres, regelrecht beschwingt daherkommendes Lied, das, was seinen musikalischen Gehalt anbelangt, keinen großen Anspruch erheben will. Aus diesem Grund geht man bei der Betrachtung der Lieder des zweiten Heftes der „Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit“, bei dem dieses Lied am Anfang steht, relativ rasch zum zweiten über („Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald“). Man wird ihm aber damit nicht ganz gerecht. Es stellt, schaut man genauer hin, eine durchaus kunstvolle Komposition dar.


    Im Grunde ist es aus nur zwei melodischen Grundfiguren entwickelt, die variiert und miteinander kombiniert werden. Man kann sie gleich am Anfang in ihrer Grundgestalt vernehmen: Es sind die Melodiezeilen, die auf den Worten liegen: „Es kam ein Herr zum Schlösseli / Auf einem schönen Röss´li,“ und „Da lugt die Frau zum Fenster aus / Und sagt: „Der Mann ist nicht zu Haus“. Und selbst diese weisen in ihrer Grundstruktur eine gewisse Ähnlichkeit auf, denn die melodische Linie steigt bei beiden zunächst einmal in Sekundschritten an, wobei sie bei der zweiten allerdings eine stärkere Zielstrebigkeit entwickelt, damit eine höhere Lage erreicht und nach einer kurzen Fallbewegung mit einem Oktavsprung (bei „ist nicht zu Haus“) erneut nach oben strebt. Das Klavier folgt beiden melodischen Bewegungen exakt der Deklamation entsprechend mit Achteln im Diskant, bei der zweiten Melodiezeile mit Terzen. Die Harmonik pendelt dabei zwischen Tonika und Dominante hin und her, - alles in allem also eine liedkompositorische Faktur, die auf volksliedhafte Schlichtheit angelegt ist.


    Dazu gehört auch die Fallbewegung, die auf dem Refrain „Kukukuk“ liegt, das zweimal deklamiert wird, wobei auch hier das Klavier diesen deklamatorischen Schritten exakt folgt. Nach der zweiten Melodiezeile treten an die Stelle von „Kukukuk“ die Worte „und niemand“. Hier hat Mahler wieder in den lyrischen Text eingegriffen, denn dort lauten die beiden ersten Verse der zweiten Strophe: „Und niemand heim als Kinder / Und´s Mädchen auf der Winden“. Die Notwendigkeit für diese Änderung der Wunderhorn-Vorlage ergab sich ganz offensichtlich aus der – die Anmutung von Strophenliedhaftigkeit bewirkenden – intendierten Identität der melodischen Linie mit der auf den Worten „Die Frau, die sagt:“Sind böse Kind´! Sie folgen, sie folgen der Mutter nicht geschwind!“


    Die melodische Linie, die auf den Versen acht bis dreizehn („Der Herr auf seinem Rösseli…“) liegt, ähnelt in ihrer Struktur dem zweiten Melodiezeilen-Modell mit seinem Aufstieg in hohe Lage. Nun allerdings ist sie in e-Moll harmonisiert, wobei die Harmonik bei den Worten „Schlösseli“ kurz nach Fis-Dur moduliert, bei „böse Kind“ zu a-Moll übergeht und beim Refrain „Kukukuk“ in D-Dur endet. Er wird hier ja zwei Mal deklamiert, und Mahler hat ihn daher in seiner melodischen Struktur auf interessante Weise modifiziert. Im ersten Fall bewegt sich die melodische Linie in Sprüngen über kleine Intervalle (Terz, Sekunde) in tiefer Lage, im zweiten hingegen entfaltet diese Ruf starke Expressivität, weil die melodische Linie hoch ansetzt, darin sich sogar noch um eine Terz steigert und das erste Fall-Intervall sich von der Quarte zur Sexte weitet. Was ist geschehen? Der Herr nähert sich der Frau mit vorsichtiger Zurückhaltung, - daher das Moll und das gedämpfte „Kukuk“. Dann aber, nach der Aufforderung „Liebe Frau, ach sagt geschwind“, nimmt das „Kukuk“ einen ausgeprägt appellativen klanglichen Charakter an.


    Schon die kurze Pause nach dem Wort „Wäschewind“ deutet strophische Gliederung an. Nun aber, vor der (von Mahler stammenden) Versgruppe 14 – 16 („in meiner Tasch´ für folgsam Kind´…“) lässt das Klavier noch einmal das dreitaktige Vorspiel mit seiner Kombination aus Achtel- und Sechzehntelfiguren erklingen. Die melodische Linie, auf der diese Versgruppe deklamiert wird, weicht in ihrer Struktur in nur wenigen Varianten vom Typ I ab, und die nächste Vers-Dreiergruppe (17 – 19, „Die Frau, die sagt…“) ähnelt in ihrer Melodik dem Typus II. Hier weicht der Klaviersatz aber bei der Doppel-Fallbewegung auf den Worten „sind böse“ von dem bei den Worten „und niemand“ deutlich ab. Das Wort „böse“ animiert das Klavier zu einer Abfolge von vier- und zweistimmigen Achtel-Akkorden. Und auch bei den Wiederholungen, die Mahler hier wieder in die Gedichtvorlage einfügt, ist der Klaviersatz stärker akkordisch geprägt. Bei den restlichen Versen des Liedes, einsetzend mit den Worten „Da sagt der Herr: „so reit´ ich heim“ erklingt wieder die Moll-Variante, die man von der Versgruppe 8 bis 13 her kennt, nur dass der Klaviersatz auch hier klanglich mächtiger wirkt, weil er, wiederum der melodischen Linie im Diskant folgend, dies nun mit dreistimmigen Akkorden tut..


    Das Lied geht also gegen Ende zu stärkerer klanglicher Expressivität über. Das letzte „Kukukuk“, es ist wieder das mit den großen, hoch ansetzenden Intervallen, vollzieht das Klavier in enger Anbindung an die Struktur der melodischen Linie in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mit. Und von relativ großer klanglicher Mächtigkeit ist auch das viertaktige Nachspiel, in dem das Klavier das Vorspiel wiederholt, - nun aber fortissimo und mit Achtel- und Sechzehntelfiguren.

  • Die Art und Weise, wie Mahler im Akt der Komposition mit dem Wunderhorn-Text umging, ist höchst aufschlussreich im Hinblick auf seine liedkompositorische Grundhaltung. Für ihn ist der lyrische Text nicht als solcher Gegenstand der Liedkomposition im Sinne seiner lyrischen Aussage und in der lyrisch-sprachlichen Gestalt, in der sie sich konstituiert, - von den prosodischen Gegebenheiten bis hin zur Metaphorik. Er will nicht Lyrik in Liedmusik umsetzen – um das Wort „vertonen“ zu vermeiden -, für ihn ist der Text Anlass und Impulsgeber zur Komposition von Liedmusik, und er liefert dafür gerade mal die Basis im Sinne seines Inhalts und die Form im Sinne seiner prosodischen Gestalt. Und da es ihm primär um den Inhalt geht, nimmt er sich auch heraus, in die sprachliche Gestalt einzugreifen und sie in Sinne der vom ihm intendierten liedmusikalischen Aussage zu modifizieren, - bis hin zur textlichen Erweiterung und zur Akzentuierung, Erweiterung und Neuausrichtung der originalen lyrischen Aussage.


    Es ist höchst bezeichnend, dass seine Anfänge in Sachen Liedkomposition – die ersten drei Lieder also, von denen zwei hier vorgestellt wurden - auf der Grundlage eigener Texte erfolgten, und nicht – wie das sozusagen der „Regelfall“ bei den Liedkomponisten ist – in der Auseinandersetzung mit großen Werken der Lyrik-Geschichte oder mit solchen von Zeitgenossen. Sein nächstes großes Werk, in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den ersten drei Lieder-Heften entstanden, sind schließlich die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ auf der Grundlage eigener Texte. Und in die „Wunderhorn-Texte“ hat er – nicht nur in den Heften zwei und drei der „Lieder und Gesänge“ von 1892, sondern auch in den später edierten „Humoresken und Balladen“ in vielen Fällen so massiv eingegriffen, dass er sie im Grunde zu eigenen Texten gemacht hat. Er hat sie ja liedkompositorisch letzten Ende erklärtermaßen so verstanden und behandelt. Mahler ist diesbezüglich tatsächlich ein liedhistorisch singulärer Fall.


    Um dieses in exemplarischer Weise aufzuzeigen, sei hier einmal ausnahmsweise der originale Text aus „Des Knaben Wunderhorn“ abgedruckt. Mahlers Eingriff im Sinne einer Neu-Ausrichtung der lyrischen Aussage fängt schon mit dem Titel an. Der lautet nämlich dort: „Um die Kinder still und artig zu machen“. Mahler will den häuslich-erzieherischen Aspekt, den er im Original aufweist, in einen pädagogisch-moralischen umwandeln, indem er das Adjektiv „artig“ mit dem seinem Gegensatz konfrontiert: Dem Wort „schlimm“.


    Es kam ein Herr zum Schlößly
    Auf einem schönen Rößly,
    Da lugt die Frau zum Fenster aus
    Und sagt: »Der Mann ist nicht zu Haus


    Und niemand heim als Kinder
    Unds Mädchen auf der Winden.«
    Der Herr auf seinem Rößly,
    Sagt zu der Frau im Schlößly:


    »Sinds gute Kind, sinds böse Kind?
    Ach liebe Frau, ach sagt geschwind.«
    Die Frau, die sagt: »Sehr böse Kind,
    Sie folgen Muttern nicht geschwind.«


    Da sagt der Herr: »So reit ich heim,
    Dergleichen Kinder brauch ich kein.«
    Und reit auf seinem Rößly,
    Weit, weit entweg vom Schlößly.


    Diese Verse sprachen Mahler in drei, für ihn bei der Liedkomposition maßgeblichen Aspekten an: Sie liefern, auch wenn es darin um ein „Schlößly“ geht, eine ländlich-volkstümliche Szenerie, sie tun dies in dialogischer Gestalt, und sie weisen einen das menschliche Leben in seinen existenziell relevanten Dimensionen betreffenden Gehalt auf. Das sind die Aspekte, die bei fast all seinen Zugriffen auf die „Wunderhorn“-Sammlung letzten Endes maßgeblich waren, wobei die dialogische Grundstruktur auch eine monologische sein konnte.


    Auch bei den Eingriffen in den Text lassen sich – wie in exemplarischer Weise bei diesem ersten Lied schon ersichtlich – gleichsam Prinzipien ausmachen. Es sind im wesentlichen zwei, die dem Hörer und analytischen Betrachter seiner „Wunderhorn“-Kompositionen immer wieder begegnen:
    ---Der das menschliche Leben in seinen allgemeinen existenziell relevanten Dimensionen betreffende Aspekt des lyrischen Textes wird mittels Änderungen, Ergänzungen und der Eliminierung nicht unmittelbar zugehöriger oder diesen gar störender Textteile akzentuiert, - hier u.a. in Gestalt einer Hinzufügung von zwei Versen;
    ---der im Grunde szenisch angelegten, darin sich sowohl episch-narrativ als auch sprachlich monologisch wie dialogisch entfaltenden Liedmusik wird durch entsprechende Einfügungen eine hinreichende Textbasis geschaffen, - hier in Gestalt des „Kukukuk“-Refrains.


    Mit dieser Einfügung in den lyrischen Text schuf sich Mahler die Grundlage für gleich drei kompositorische Effekte: Er konnte den Volksliedcharakter klanglich hervorheben, den szenischen Aspekt des lyrischen Textes erweitern und verstärken, und – wohl Ausweis besonderer kompositorischer Kunstfertigkeit – er vermochte mit melodischen Mitten dialogische Gemeinsamkeit herzustellen. Die Quart- und Terzfall-Figuren des Kukukuk-Refrains sind dieselben, in denen sich die „Schlösseli-Frau“ bei den Worten „und niemand“, „und´s Mädchen“, „sind böse“ und „sie folgen“ melodisch artikuliert.


    Hier ist zu sehen:
    Mahler denkt im Umgang mit dem lyrischen Text in gleichsam kompromissloser Weise primär - ja geradezu ausschließlich - musikalisch. Der Germanist Hans Mayer hat ihm das – in einer ihm darin nicht gerecht werdenden Weise – höchst kritisch vorgehalten, wenn er u.a. feststellte, der lyrische Text diene bei ihm ausschließlich als „Vorwand für musikalische Bauformen“ und in diesem Zusammenhang gar das Wort „Missbrauch“ in den Mund nahm. Er hat ihn darin am Modell des in der Tradition von Schubert und Schumann stehenden Liedkomponisten gemessen, - und darin seine davon ganz und gar abweichende liedkompositorische Intention verkannt.

  • Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald,
    ich hört´ die Vöglein singen;
    sie sangen so jung, sie sangen so alt,
    die kleinen Waldvögelein im grünen Wald!
    Wie gern hört´ ich sie singen!


    Nun sing, nun sing, Frau Nachtigall!
    Sing du´s bei meinem Feinsliebchen:
    Komm schier, komm schier wenn´s finster ist,
    wenn niemand auf der Gasse ist,
    komm zu mir, dann komm zu mir!
    Herein will ich dich lassen, ja lassen.


    Der Tag verging, die Nacht brach an,
    er kam zu Feinsliebchen gegangen.
    Er klopft so leis´ wohl an den Ring:
    „Ei schläfst du oder wachst, mein Kind?
    Ich hab´ so lang gestanden!“


    Es schaut der Mond durch´s Fensterlein
    zum holden, süßen Lieben,
    die Nachtigall sang die ganze Nacht.
    Du schlafselig Mägdelein, nimm dich in Acht!
    Wo ist dein Herzliebster geblieben?



    Bei diesem Lied hat Mahler in geradezu massiver Weise in die Textvorlage eingegriffen. Die ersten drei Strophen hat er – abgesehen von den üblichen Wiederholungen – unverändert übernommen. Die Strophen vier und fünf hat er aus dem Wunderhorn-Gedicht hingegen ausgeschieden und durch eigene Verse ersetzt (ab. „Es schaut der Mond…“). Der Grund ist offensichtlich. Der Umschlag der zarten lyrischen Bilder in regelrecht deftige, wie er sich im Original in der letzten Strophe ereignet (Wo ich so lang geblieben bin, das darf ich dir wohl sagen: Beim Bier und auch beim roten Wein…“) passte in gar keiner Weise in sein liedkompositorisches Konzept. Denn das lebt ganz und gar von den lieblichen Bildern einer in Natur-Metaphorik eingebetteten Liebesbegegnung, die allerdings – etwas überraschend – in die Warnung „nimm dich in acht“ münden. Da dieser Text ja von Mahler selbst stammt, könnte man dahinter das Wissen um die elementare Gefährdung einer solch idyllischen Welt vermuten. Auf jeden Fall lässt diese letzte Strophe des Liedes erkennen, wie tief Mahler dieser Welt des „Wunderhorns“ verbunden war und wie weit gehend er sie sich bis in ihre lyrische Sprache hinein anverwandelt hat.


    „Träumerisch, durchaus zart“ soll das Lied vorgetragen werden, und schon die erste Melodiezeile, die die beiden ersten Verse umfasst, gibt allen Anlass dazu. Es ist wahrer klanglicher Zauber, den sie entfaltet. Im zweimaligen Terzenanstieg eines C-Dur-Dreiklangs steigt die melodische Linie aus tiefer Lage über das Intervall von dreizehn Tonstufen zu einem hohen „E“ empor, geht danach in eine wellenförmige Bewegung über und senkt sich schließlich bei dem Wort „singen“ in einem doppelten Terzfall auf den Grundton ab. Das Klavier folgt diesen Bewegungen mit zunächst großräumigen bitonalen Akkorden, die dann aber – bei der melodischen Wellenbewegung – in Terzen übergehen und darin zum Inbegriff klanglicher Lieblichkeit werden. Da diese Melodiezeile am Anfang aller Strophen – mit Ausnahme der dritten – wiederkehrt, wird sie zu einem den Charakter des ganzen Liedes prägenden klanglich Faktor und zur Quelle des Zaubers, der von ihm ausgeht.


    Nach dieser Melodiezeile erklingt im Klavierdiskant zum ersten Mal eine pentolische Figur aus bogenförmig nach oben strebenden Sechzehnteln, die man als tonmalerische Evokation von Vogelgesang aufnimmt. Das Klavier artikuliert sie in ähnlicher Form gleich noch einmal, nachdem die Singstimme die Worte „Sie sangen so jung, sie sangen so alt“ auf zwei ebenfalls lieblich anmutenden, über eine Dezime nach oben steigenden melodischen Linien deklamiert hat, die in G-Dur harmonisiert sind. Und am Ende der Strophe vernimmt man diese Figur erneut, dieses Mal über vier Takte sich erstreckend und am Ende in tiefe Lage abfallend. Bei den beiden letzten Versen setzt die Singstimme in tiefer Lage ein. Die melodische Linie bewegt sich um nicht mehr als eine Sekunde und eine Terz nach oben und unten um eine tiefes „E“, und sie ist – überraschend – in a-Moll harmonisiert.


    Darin mag vielleicht eine wehmütige Erinnerung an diese Waldvögelein zum Ausdruck kommen, denn es ist ja im Imperfekt von ihrem Singen die Rede. Bei den Worten „im grünen Wald“ steigt denn auch die melodische Linie in den den klanglichen Charakter der Melodik so stark prägenden Terzschritten nach oben, und auch der letzte Vers wird auf einer zunächst sich nach oben richtenden melodischen Linie deklamiert, die sich erst am Ende zur Terz über dem Grundton absenkt. Das lyrische Ich ist bei diesen letzten Worten der Strophe aus der Erinnerung wieder in die Gegenwart zurückgekehrt, und in der Harmonik schlägt sich dies in der Wiederkehr der Grundtonart C-Dur nieder, - in einer Rückung über die Subdominante F-Dur allerdings, die den Worten „wie gern“ einen besonderen Akzent verleiht.


    Die dritte Strophe ist in ihrem Grundton vom narrativen Gestus des lyrischen Textes geprägt, ohne dass dabei freilich ein Bruch in das Lied käme. Die Anmutung von Lieblichkeit bleibt der melodischen Linie durchaus erhalten, bei der direkten Ansprache an das „Feinsliebchen“ bewegt sie sich aber in leicht rhythmisierter Form in mittlerer tonaler Lage, wobei dieser Übergang in den stärker deklamatorisch geprägten Gestus verstärkt wird durch eine Rückung der Harmonik nach As- und Des-Dur. Aber schon bei dem Wort „gestanden“ kehrt der zärtlich-liebliche Ton in Gestalt eines in einen Sekundfall mündenden Undezimen-Sprungs zurück. Bei der Wiederkehr dieser Worte wird daraus ein Nonensprung.


    Geradezu einschmeichelnd ist die melodische Figur, mit der die Singstimme bei den Worten „Der Tag verging“ einsetzt. Sie prägt den ersten Teil der Strophe klanglich sehr stark, nicht nur weil sie bei den Worten „er klopft so leis´“ wiederkehrt, sondern auch, weil die melodische Bewegung auf den Worten „die Nacht brach herein“ dieselbe Grundstruktur aufweist, aber mit ihrer weiter ausgreifenden Sprungbewegung wie die Steigerung der Expressivität dieser Figur wirkt: Ein auftaktiges „C“, das mit einem Sextsprung in ruhiger Bewegung zu einem „A“ emporsteigt, um danach in einen Sekundfall überzugehen.


    Das ist eine vollendete klanglich-melodische Konkretion der Worte „Die Nacht verging“, - auch deshalb, weil am Ende das F-Dur, mit dem die Melodik dieser Strophe einsetzt, ganz kurz in ein b-Moll rückt, und damit dieser Figur die klangliche Anmutung von Zärtlichkeit verleiht, was sich besonders bei den Worten „er klopft so leis´“ als ein höchst treffender melodischer Akzent erweist. Eine derartige Rückung nach Moll ereignet sich noch einmal bei den Worten „wohl an den Ring“, die ja auf der gleichen melodischen Figur deklamiert werden wie „die Nacht brach an“.


    Es muss nicht mit noch weiteren Details belegt werden: Man begegnet hier einem typischen Mahler-Lied, in dem Volkslied-Anmutung mit höchst kunstvollen kompositorischen Mitteln generiert wird.

  • Dieses Lied ist einer meiner großen Favoriten (auch eines der beliebtesten und meisteingespielten der "frühen") und durchaus auf dem Niveau der späteren "Wunderhorn"-Liedersammlung.
    Es schafft eine ganz einzigartige Atmosphäre. (Die so auch nicht wieder aufgegriffen wird, während mein anderer Favorit, "Zu Straßburg auf der Schanz" vom "Tamboursg'sell" quasi verdoppelt und übertroffen wird.)


    Der weitreichende Anstieg des Anfangs entspricht für mich sowohl einem tiefen Atemholen beim Waldspaziergang (obwohl ein gehender/marschierender Duktus fehlt) als auch der mit allen Sinnen spürbaren "Weite" der Natur. Was mich ein wenig verwirrt, ist schon in der zweiten Strophe das Umschwenken auf eine "Abendstimmung" (während ich die erste Strophe und ihre Gestaltung eher mit Morgen oder hellem Mittag verbinde, obwohl von keiner konkreten Tageszeit die Rede ist). Die anschließende "Fensterln"-Szene ist auch sehr anmutig, mit leiser Melancholie, die vielleicht einen Schatten auf die Zukunft des Liebesverhältnisses werfen mag. Die letzte Strophe zeigt dann entgültig die Uneindeutigkeit der Geste des melodischen Aufschwungs vom Anfang, der natürlich nicht fest mit den von mir gerade genannten Assoziationen der Waldstimmung verknüpft ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich empfehle, sich dieses zauberhafte Lied auf der CD anzuhören, in der Daniele Gatti die 4. dirigiert (Cover in meinem thread "Rasiermesser") und Ruth Ziesak noch einige Lieder singt, unter anderem dieses. Besonderheit: der Klavierpart wurde für Orchester bearbeitet, sehr ma(h)lerisch.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zit. dr. pingel: „der Klavierpart wurde für Orchester bearbeitet, sehr ma(h)lerisch.“


    Dazu nur eine Anmerkung: Mahler selbst hat kein einziges dieser ersten Gruppe von neun Liedern auf „Wunderhorn“-Texte selbst orchestriert. Die Gründe dafür kennt man nicht, er selbst hat sich dazu – soweit ich weiß – nicht geäußert. Es existieren allerdings Orchestrierungen, u.a. von Luciano Berio (1986/87) und Harold Byrns (sechs Lieder umfassend). Diejenigen von Berio werden allgemein als „im Geiste Mahlers komponiert“ eingeschätzt.


    Zit. Johannes Roehl: „Was mich ein wenig verwirrt, ist schon in der zweiten Strophe das Umschwenken auf eine "Abendstimmung".

    Diese Bemerkung verstehe ich - mit Verlaub - nicht ganz. Die erste und die zweite Strophe sind in der Struktur der melodischen Linie völlig, im Klaviersatz bis auf kleine Modifikationen identisch.


  • Zit. Johannes Roehl: „Was mich ein wenig verwirrt, ist schon in der zweiten Strophe das Umschwenken auf eine "Abendstimmung".

    Diese Bemerkung verstehe ich - mit Verlaub - nicht ganz. Die erste und die zweite Strophe sind in der Struktur der melodischen Linie völlig, im Klaviersatz bis auf kleine Modifikationen identisch.


    Ja klar. Mit Abendstimmung meinte ich den Text. Entschuldigung, das war wohl ziemlich unklar formuliert. Deswegen bin ich ja verwirrt, da für der Waldspaziergang bzw. was auch immer die erste Strophe evoziert, am hellen Tag stattfindet.


    Ich empfinde die Orchestrierungen als große Bereicherung (so wie ich auch Mahlers Orchesterfassungen den Klavierfassungen vorziehe), auch wenn ich von Thomas Hampson nicht allzu begeistert bin, würde ich dessen CD mit Berio empfehlen. Ich weiß nicht, ob noch jemand die Berio-Orchestrierungen komplett aufgenommen hat. Einige davon gibt es aber auch mit anderen Sängern. Die Füller auf der Gatti/Ziesak-Platte wurden von Colin Matthews orchestriert.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Ich empfinde die Orchestrierungen als große Bereicherung (so wie ich auch Mahlers Orchesterfassungen den Klavierfassungen vorziehe), auch wenn ich von Thomas Hampson nicht allzu begeistert bin, würde ich dessen CD mit Berio empfehlen. Ich weiß nicht, ob noch jemand die Berio-Orchestrierungen komplett aufgenommen hat. Einige davon gibt es aber auch mit anderen Sängern. Die Füller auf der Gatti/Ziesak-Platte wurden von Colin Matthews orchestriert.


    Das geht mir genauso, etwa wenn man "Nicht wiedersehn" oder "Liebst du um Schönheit" sich ansieht, das Orchester bietet einfach mehr Farben. Es gibt eine interessante Parallele für mich, das ist die Bearbeitung des "Tagebuchs eines Verschollenen"von Janacek mit Philip Langridge unter Claudio Abbado, die beide leider schon gestorben sind.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zit.: „Deswegen bin ich ja verwirrt, da der Waldspaziergang bzw. was auch immer die erste Strophe evoziert, am hellen Tag stattfindet.“


    Ach so, jetzt verstehe ich! (war mal wieder etwas schwer von Begriff). Es ist in der Tat auf den ersten Blick ein wenig verwunderlich, dass Mahler für beide Strophen die gleiche Liedmusik benutzt.
    Vielleicht ist das mit seinem vom Ansatz her szenischen liedkompositorischen Denken her zu erklären. Die erste Strophe stellt gleichsam die lyrische Exposition zu dem „Geschehen“ dar, das im Mittepunkt des Liedes steht: Die nächtliche Begegnung der beiden Liebenden. Lyrisch-sprachlich steht die erste Strophe im Imperfekt, stellt also so etwas wie die Vergegenwärtigung einer vergangenen Erfahrung von Natur dar, die vom Gesang der „Waldvögelein“ geprägt ist.
    Diese Erinnerung löst beim lyrischen Ich die Assoziation „Nachtigall-Gesang“ aus, den es sich nun für sein „Feinsliebchen“ wünscht. Erste und zweite Strophe stehen also in einem assoziativen Kontext. Atmosphäre und zentrale sinnliche Erfahrung vergangener Natur-Erfahrung werden vom lyrischen Ich imaginativ auf die bevorstehende Szene der Begegnung mit seinem „Feinsliebchen“ übertragen. Die Waldvögelein werden dabei zu der – der nächtlichen Situation zugehörigen – Nachtigall, die so für die Geliebte singen soll, wie das die Waldvögelein ehemals für es selbst taten. Die sprachliche Brücke zwischen erster und zweiter Strophe besagt dies ja: „Nun sing, nun sing, Frau Nachtigall!“.


    Mahler ging es – und geht es generell – nicht um die Vertonung eines lyrischen Textes im Sinne eines Aufgreifens seiner Aussagen, wie sie sich im einzelnen Vers jeweils lyrisch-sprachlich konkretisieren. Er denkt liedkompositorisch tatsächlich primär szenisch. Von daher musste es ihm wohl durchaus angemessen erscheinen, die erste und die zweite Strophe über die gleiche Liedmusik miteinander zu verbinden.

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  • Mahlers Lieder vermögen, so wie dieses hier, zu faszinieren, klanglich in Bann zu schlagen, - und das gilt für die meisten von ihnen. Aber sie werfen auch jede Menge Fragen auf, was ihr Verständnis anbelangt und die kompositorische Intention, die ihnen zugrundeliegt. Ich gestehe, dass ich bis heute in vielen Fällen keine schlüssige Antwort auf derlei Fragen gefunden habe. So ist mir nach wie vor rätselhaft, worauf die musikalische Aussage des gerade vorgestellten Liedes „Um schlimme Kinder artig zu machen“ letzten Endes hinausläuft. Übernimmt Mahler in gänzlich ungebrochener Weise die Auffassung des „Wunderhorn“-Gedichts, dass Kinder, die ihrer Mutter nicht aufs Wort folgen „böse Kind´“ sind? Wäre es für einen modernen Komponisten nicht geradezu geboten gewesen, an diesen Text mit musikalischem Humor, wenn nicht gar mit Ironie in Gestalt einer gebrochenen Melodik und Harmonik heranzugehen? Davon ist aber in der Liedmusik nichts zu vernehmen.


    Wenn ich in einer Nachbetrachtung zu dem gerade vorgestellten Lied einleitend einen Rückgriff auf das vorangehende mache, dann ist das kein Abweichen vom Thema: Es geht um den gleichen Sachverhalt: Mahlers Umgang mit dem Text der „Wunderhorn“-Gedichte und die ihm zugrunde liegenden liedkompositorischen Intentionen. Hier machen sich die diesbezüglichen Fragen an dem Sachverhalt fest, dass er zwei Strophen des Originals eliminiert und durch eigenen Text ersetzt hat. Es handelt sich um vierte und die fünfte Strophe des „Wunderhorn“-Gedichts:


    „Daß du so lang gestanden hast,
    Ich hab noch nicht geschlafen;
    Ich dacht als frei in meinem Sinn,
    Wo ist mein Herzallerliebster hin,
    Wo mag er so lang bleiben?“


    „Wo ich so lang geblieben bin,
    Das darf ich dir wohl sagen:
    Beim Bier und auch beim roten Wein,
    Bei einem schwarzbraunen Mädelein,
    Hätt deiner bald vergessen.“


    Für den Hörer von Mahlers Liedkomposition ist völlig klar: Diese Verse würden die mit klanglich bezaubernder, geradezu in nachtigallenhafter Schönheit sich ergehender Liedmusik, mit der Mahler die retrospektivisch-imaginative Szenerie des „Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald“ und die nächtliche Begegnung der beiden Liebenden liedkompositorisch eingefangen hat, in geradezu schroffer Weise verstören. Was für den Hörer und genussvollen Rezipienten dieser Liedmusik in keiner Weise eine Frage ist und sein kann, wird es aber für denjenigen, der Gustav Mahler in seiner liedkompositorischen Grundhaltung und den daraus resultierenden Intentionen verstehen will.


    Man hat an Mahlers sinfonischer Musik, als diese in ihrem Wesen charakterisierend und sie in ihrer musikhistorischen Bedeutung konstituierend, herausgehoben, dass sie die Vielfalt der realweltlichen Gegebenheiten bis hin zu deren alltäglichen Dimensionen nicht nur in sich aufgenommen hat, sondern sogar daraus ihre musikalische Aussage, ihren kompositorischen Sinn bezieht. Die Gespaltenheit der Welt, wie er sie erfahren hat, die Hässlichkeit der realen Lebenswelt einerseits und die der „anderen Welt“, wie er das nannte, die von „Natur“ und idealer „Schönheit“, ist nicht nur Impulsgeber für seine Komposition von sinfonischer Musik, sie findet Eingang in diese, ist ihr zentraler Inhalt.


    Warum aber, und das ist meine Frage, die sich mir auf dem Hintergrund dieses Sachverhalts stellt, nimmt Mahler in diesem Lied nicht die lebensweltliche Realität frühneuzeitlichen dörflich-ländlichen Lebens, wie sich in diesen Wunderhorn“-Versen einschließlich der beiden letzten Strophen sprachlich niedergeschlagen hat, in sein Lied auf? Gibt es vielleicht doch, so sehr sein liedkompositorisches Schaffen mit seinem sinfonischen verkoppelt und verbunden ist, einen Unterschied zwischen beidem? Könnte es sein, dass er in seiner Liedmusik, anders als in seiner Sinfonik, mehr seiner Neigung zur musikalischen Evokation der „anderen Welt“ folgt - bei aller Bezugnahme auf lebensweltliche Realität, wie sie in den „Wunderhorn“-Texten, aber auch in Rückerts „Kindertotenliedern“ präsent ist? Denn diese Bezugnahme ist ja ganz ohne Zweifel gegeben, auf markante Weise in Liedern wie „Der Schildwache Nachtlied“, „Das irdische Leben“, „Wo die schönen Trompeten blasen“ oder „Revelge“. Aber im Unterschied zu seiner Sinfonik scheint er in seiner Liedmusik den klanglich harten, schroffen und zuweilen gar schmerzlichen Kontrast gemieden zu haben. Nur in wenigen Liedern begegnet man ihm, wie in „Revelge“ etwa.


    Ansonsten aber setzt er dem „irdischen Leben“ gar gerne das „himmlische Leben“ zur Seite und streicht mal eben, wenn die Banalität und die moralische Hässlichkeit des realen Lebens allzu groß und störend ist, wie hier bei dem Gesellen, der seinem „Feinsliebchen“ wünscht, dass ihm die Nachtigall singe, die letzten Strophen weg, in denen dieser bekennt, dass er, während sie ihn vermisste und begehrte, beim Bier und beim „roten Wein“ saß, - und überdies auch bei einem „schwarzbraunen Mädelein“. Mahler passten diese Verse ganz offensichtlich nicht in die liedkompositorische Intention, die er hier verfolgte: Die musikalische Evokation einer heilen, schönen und die Möglichkeit zärtlicher und liebeerfüllter Zweisamkeit beinhaltenden Welt. Wissend natürlich, dass dies eine verlorene ist. Wissend ebenfalls, dass es sich um eine musikalische Beschwörung handelt, was er da kompositorisch unternimmt. Und wissend schließlich, dass er dem durchaus realistischen lyrischen Text eine Art idealisierende Veredelung verpasst, indem er den Inhalt der beiden eliminierten Strophen mit der vagen, ganz und gar allgemein gehaltenen Warnung aufgreift: Mägdelein, nimm dich in Acht!“ Und die im Grunde nichtssagende, weil abstrakte Frage dranhängt: „Wo ist dein Herzliebster geblieben?“


    Dass Mahler es in diesem Lied nicht wirklich ernst meint mit der Möglichkeit des Zerbrechens liebeerfüllter Zweisamkeit, das bringt seine Liedmusik ganz eindeutig zum Ausdruck. Es gibt an ihrem Ende zwar eine tatsächlich neue melodische Figur, die auf der Frage „Wo ist dein Herzliebster geblieben?“ nämlich. Aber statt hier nun mit der Struktur und der Harmonisierung der melodischen Linie einen Bruch in die Liedmusik zu bringen – wie etwa Schumann bei seinem „Hüte sich, sei wach und munter“ – fährt diese in ihrer klanglichen Idyllik fort. Die in Zweiunddreißigtstel- und Sechzehntelfiguren kurz in mittlere Lage aufsteigende melodische Linie senkt sich danach geruhsam wieder ab. Und von chromatischer Harmonisierung kann keine Rede sein. Die Harmonik ergeht sich in C- und G-Dur.

  • "Heute marschieren wir!
    Juchhe, juchhe, im grünen Mai!
    Morgen marschieren wir
    zu dem hohen Tor hinaus,
    zum hohen Tor hinaus! Aus! "


    "Reis'st du denn schon fort?
    Je, je! Mein Liebster!
    Kommst niemals wieder heim?
    Je! Je! Mein Liebster? "


    "Heute marschieren wir,
    Juchhe, juchhe, im grünen Mai!
    Ei, du schwarzbraun´s Mägdelein,
    unsre Lieb´ ist noch nicht aus,
    die Lieb´ ist Noch nicht aus, aus!


    Trink du ein Gläschen Wein
    zur Gesundheit dein und mein!
    Siehst du diesen Strauß am Hut?
    Jetzo heißt´s marschieren gut!
    Nimm das Tüchlein aus der Tasch ',
    deine Tränlein mit abwasch '!


    Heute marschieren wir!
    Juchhe, juchhe, im grünen Mai!
    Morgen marschieren wir,
    Juchhe, im grünen Mai! "


    "Ich will in´s Kloster geh'n,
    weil mein Schatz davon geht!
    Wo geht´s denn hin, mein Schatz?
    Gehst du fort, heut schon fort?


    Und kommst nimmer wieder?
    Ach! Wie wird´s traurig sein
    hier in dem Städtchen!
    Wie bald vergisst du mein!
    Ich! Armes Mädchen! "


    "Morgen marschieren wir,
    Juchhe, juchhe, im grünen Mai!
    Tröst´ dich, mein lieber Schatz,
    im Mai blüh'n gar viel Blümelein!
    Die Lieb´ ist noch nicht aus!
    Aus! Aus! Aus! Aus! "



    Mahler ist hier liedkompositorisch erstmals bei einem seiner großen Themen angelangt: Dem Soldatenleben. Und bezeichenderweise bringt er dabei auch eines seiner bevorzugten kompositorischen Ausdrucksmitte. Zum Einsatz: Den harten, weil unvermittelten klanglichen Kontrast. Und noch etwas ist bemerkenswert: Das Lied lässt vernehmen, wie stark sich Mahlers kompositorisches Schaffen aus der Volksmusik seiner böhmischen Heimat speist.


    In „keckem Marschtempo“ (Anweisung) setzt das Lied ein. Ein Zweivierteltakt liegt zugrunde. Die Grundtonart ist C-Dur, das aber am Ende der Worte „Heute marschieren wir“ kurz nach der Parallele a- Moll rückt. Die melodische Linie auf diesen Worten ist leicht rhythmisiert, mit einer kleinen Dehnung auf der ersten Silbe von „heute“ und der zweiten auf „marschieren“, was den forschen Ton, der hier angeschlagen wird, noch verstärkt. Bei den Worten „Juchhe, juchhe, im grünen Mai“ geht die melodische Linie in wellenförmig beschwingte Sechzehntel-Figuren über, und das ereignet sich in dieser Strophe, die sich ja mit leichten Modifikationen noch drei Mal wiederholt, noch einmal bei den Worten „zum Tor hinaus“. Das „Aus“, das auf dem gleichen Ton und mit einem Portato versehen unmittelbar hinter der zweiten Silbe von „hinaus“ deklamiert wird, wirkt in seiner Deplaziertheit an diesem Ort wie der geradezu schmerzhaft anmutende Ausdruck von Schroffheit dem Mädchen gegenüber, das in der folgenden Strophe einen kläglichen („mit Parodie“, so die Anweisung) Auftritt hat.


    Das Lied ist dialogisch angelegt. Zwei Mal artikuliert sich das weibliche Wesen, das einmal als „schwarzbraun´s Mägdelein“ angesprochen wird, ein anderes Mal als „lieber Schatz“, und immer werden seine Gedanken und Empfindungen „kläglich“ vorgebracht. Mahler nutzt nicht nur die melodische Linie der Singstimme, ihre Harmonisierung und den Klaviersatz, um die beiden Personen zu charakterisieren, er setzt auch das Mittel des klanglichen Kontrasts ein, das Aneinander-Vorbreireden der Beiden, um die Unmöglichkeit eines echte Dialogs auf geradezu schroffe Weise sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Die mit den Worten „Reis´st du denn schon fort?“ einsetzende melodische Linie setzt zwar in A-Dur-Harmonisierung ein, diese geht aber dann in kläglich wirkendes fis-Moll über.


    Die Vokallinie weist – im Unterschied zu der des Mannes – viele eingelagerte auf- und absteigende Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelfiguren auf, die die starke innere Erregung des Mädchens zum Ausdruck bringen. Und wenn nun die melodische Linie bei den Worten „Je, je! Mein Liebster“ in Gestalt eines in eine Fallbewegung übergehenden Bogens in hoher Lage einen kläglich-liebevollen Ton annimmt und der Sekundfall auf dem Wort „Liebster“ auch noch zwei Portati trägt, um die Hinwendung zum Du eindringlich werden zu lassen, bricht der Mann mit seinem „Heute marschieren wir“ ohne jede Pause und in C-Dur mitten in das schmerzliche fis-Moll hinein. Und dieses Mal setzt er hinter die bogenförmige Fallbewegung auf den Worten „Die Lieb´ ist noch nicht aus“ wieder sein Portato-„Aus!“, das nun das vorangehende „aus“ semantisch für sich vereinnahmt. Schroffer geht das alles gar nicht mehr.


    Mit einer Rückung nach As-Dur ist der tröstende Zuspruch verbunden, der mit den Worten „Trink du ein Gläschen Wein“ einsetzt. Die melodische Linie wirkt hier in der Art, wie sie sich entfaltet, übertrieben eindringlich. Nachdem sie in tiefer Lage angesetzt hat, vom Klavier mit bogenförmigen, staccato angeschlagenen Achtelfiguren begleitet, beschreibt sie auf den nachfolgenden drei Versen eine in ihrer Struktur sich wiederholende, in hoher Lage ansetzende Fallbewegung, bevor sie mit den Worten „Nimm das Tüchlein aus der Tasch´“ wieder in tiefe Lage zurückkehrt. Auf den Worten „aus der Tasch´“ und „mit abwasch´“ liegt die gleiche melodische Figur, was dem, was der Mann hier tröstend vorbringt, die Anmutung von Verlogenheit verleiht. Und tatsächlich geht er ohne Pause wieder in das Fortsissimo seines „Heute marschieren wir“ über.


    Ganz in f-Moll gebettet und „kläglich (mit Parodie-Tremolo)“ vorzutragen ist die melodische Linie auf den Worten der vierten Strophe, in der das Mädchen klagend verkündet, dass es – angeblich – ins Kloster gehen wolle, weil sein „Schatz davongeht“. Auch her sind wieder viele z.T. wellenförmige Sechzehntel-Figuren in die Vokallinie eingelagert, die mit einem Tremolo zu deklamieren sind. Die übertriebene Klanglichkeit steigert sich noch in der dreimaligen, in ihrer Struktur gleichen Fallbewegung auf den Worten „Gehst du fort, heut schon fort? Und kommst nimmer wieder?“. Kurz moduliert die Harmonik nach B-Dur bei den Worten „hier in dem Städtchen“, dann aber fällt sie wieder ins Moll zurück, du die Worte „ich armes Mädchen“ werden auf einer übertrieben kläglich wirkenden Fallbewegung deklamiert.


    Und noch einmal verfällt der Geselle in sein forsch unbekümmertes „Heute marschieren wir“. Die melodische Linie setzt wieder mit ihrer C-Dur-Standard-Figur ein, die in ihrer markanten Klanglichkeit den Geist des Liedes prägt. Dieses Mal wird sie aber vom Klavier mit nach oben laufenden Sechzehntel-Triolen begleitet. Und nicht nur dieses unterscheidet die letzte Strophe von den vorangehenden mit dem gleichen Einstiegsmotiv. Die melodische Linie stellt hier eine – geradezu kurios anmutende – Montage aus Elementen der vorangehenden Strophen dar, - sinnfälliges Indiz dafür, dass dieser Geselle im Grunde ein Schwätzer ist, der mit seinem forschen Aufbruchs-Gehabe vielleicht in den Tod gehen wird.


    Und wie sehr Mahler ihn in seinem fragwürdigen Charakter demaskiert, das lässt der Schluss noch einmal in einer ihn geradezu veralbernden Weise vernehmen. Drei Mal nach seinem ersten stößt der Geselle fortissimo noch sein „Aus“ heraus. Zunächst folgt eine Viertelpause auf das erste. Das dritte „Aus“ folgt aber dann unmittelbar auf das zweite, - und das auch noch um eine ganze Oktave tiefer. Das wirkt – von einem guten Interpreten wiedergegeben, als sei dieser wunderliche Mensch stolpernd in das dritte „Aus“ hineingestürzt.

  • Einleitend meinte ich in der Vorstellung des Liedes: „Mahler ist hier liedkompositorisch erstmals bei einem seiner großen Themen angelangt: Dem Soldatenleben.“ Das darf man, so denke ich, wohl so sehen. Zwar machen die Lieder, die die Lebenswelt des – frühneuzeitlichen – „Soldaten“ („Grenadiers“, „Musketiers“, und wie immer die konkrete Bezeichnung lauten mag) beinhalten, zahlenmäßig nicht die Mehrheit der „Wunderhorn“-Lieder aus, sie stellen jedoch die liedkompositorisch gewichtigsten dar. Bei diesem hier mag das zwar noch nicht der Fall sein, wohl aber bei Liedern wie „Der Tamboursg´sell“, „Der Schildwache Nachtlied“, „Wo die schönen Trompeten blasen“ und – vor allem! - „Revelge“.


    Dass Mahler in so umfangreicher – und liedkompositorisch folgenreicher - Weise unter diesem thematischen Aspekt auf die „Wunderhorn“-Sammlung zugegriffen hat, ist wohl auf zwei Gründe zurückzuführen. Die Welt des Militärs war Teil seiner frühen Kindheitseindrücke, und damit prägend. In der Nähe des böhmischen Dorfes Kalischt, seinem Geburtsort, befand sich eine Kaserne. Marschierende Soldaten, Trommelwirbel und Trompetensignale müssen sich ihm tief eingeprägt haben. Das aber dürfte als Motiv für die liedkompositorische Hinwendung zu diesem Thema wohl nur von sekundärer Bedeutung gewesen sein, - allenfalls in der Weise von Belang, dass er – im Sinne von musikalischen Vokabeln – militärische Klänge (Trompetensignale, Trommelwirbel u.a.) in seine Kompositionen einfließen ließ.


    Das Hauptmotiv war wohl ein anderes. Soldatenleben war für ihn ein wesentliches Kapitel seiner grundlegenden kompositorischen Intention: Wesensmerkmale menschlichen In-der-Welt-Seins in gleichsam elementarer Gestalt in seine Musik hereinzuholen und zu deren Gegenstand zu machen. Elementar in diesem Sinne war für ihn die Lebenswelt, wie sie sich in den „Wunderhorn“-Gedichten niedergeschlagen hat. Und „Soldat-Sein“ oder zu dieser Tätigkeit gezwungen und genötigt worden zu sein, ist nun einmal wesentlicher Teil der Lebenswelt des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, aus der die „Wunderhorn“-Gedichte im wesentlichen hervorgegangen sind.


    Mahler hat mit seinen Liedern dieser Lebenswelt zum ersten Mal künstlerisch-musikalischen Ausdruck verliehen, - einer „Woyzeck-Welt“, wenn man so will. Natürlich muss man seine diesbezüglichen Lieder nicht so hören, wie Richard Specht sie in seiner Einführung dazu (in der kleinen Partiturausgabe) charakterisiert hat. Da hat Th. W. Adorno mit seiner Kritik sehr wohl recht, wenn er kritisch anmerkt:
    „Richard Specht ( …) schreckt nicht vor der Behauptung zurück: >in früheren Jahrhunderten mag man in Marktflecken, unter Soldaten, Hirten und Landleuten so gesungen haben<. (…) ohne daß ihn an solchem Unsinn die >einzigartige Instrumentation< irremachte: >hier ist eine Delikatesse, eine Vielfalt der Farbtönung erreicht, die erst unserer Zeit, nach Wagner und Berlioz, erreichbar geworden ist< (…), während doch jene Künste nicht nur die Wiedergabe auf Messen und Märkte ausschließen, die es ohnehin nicht mehr gibt, sondern dem Begriff des Volksliedes ins Gesicht schlagen.“


    Mahlers „Soldaten-Lieder“ stellen eine liedkompositorisch hochgradig artifizielle musikalische Evokation der Lebenswelt und des Denkens und Fühlens der jeweiligen Protagonisten dar, wie es sie zuvor in der Musikgeschichte nicht gegeben hat. Was Adorno in seiner Kritik an Richard Specht aber vielleicht nicht genügend berücksichtigt hat – und was diesen zu seiner Charakterisierung dieser Lieder gleichsam verleitete - , das ist die vokabulare Technik, in der Mahler dabei verfährt. Vokabular in dem Sinn, dass er permanent melodische Figuren in seine Liedmusik integriert, die dem Volkslied jener Zeit nachempfunden sind, aus der er seine Protagonisten nimmt, - und dies überdies noch mit klanglichen Zitaten aus der Militär-Musik anreichert.


    Was nun dieses Lied „Aus! Aus!“ betrifft, so begegnet es einem als typisches und wahrlich kompositorisch gelungenes Beispiel für Mahlers Kunst, einen dialogisch angelegten lyrischen Text zur Charakterisierung der beiden Dialogpartner zu nutzen und sich dabei nicht mit simpler Personencharakteristik zu begnügen, sondern auch die jeweils verhaltensbedingenden historisch-soziologischen und gesellschaftlich-gruppenspezifischen Faktoren herauszuarbeiten. Hier ist es der naive, selbstbewusst-burschikose Hau-Drauf, der mit einem „Juche, Juche“ in den Krieg zieht, ohne auch nur bedenken zu können, dass ihn das das Leben kosten könnte, und dabei eine ihm zugewandte junge Frau zurücklässt und auf billige Weise vertröstet. Mahler hat ihn auf geradezu parodistische Weise liedmusikalisch porträtiert, - mit einer burschikosen Melodik, die in ihrem energischen Vorwärtsdrängen am Ende auf überaus effektvolle Weise in ein rhythmisch purzelndes „Aus, Aus“ mündet.


    Soweit so gut und – im Sinne des menschlich und gesellschaftlich Typischen - treffend. Verwunderung aber löst für mich aus, dass Mahler das „verlassene Mägdlein“ in der Weise liedmusikalisch karikiert, wie er das mit tremolierender Melodik de facto tut, - und mit der Vortragsanweisung „kläglich (mit Parodie)“ ausdrücklich reklamiert. Gräbt er sich , so frage ich mich, damit nicht eigentlich selbst das Wasser ab, was das kritische Porträt dieses burschikosen Gesellen anbelangt? Wäre es nicht sinnvoller – und der musikalischen Aussage dienlicher – gewesen, das Mädchen sich melodisch als einen wirklich leidenden Menschen artikulieren zu lassen?
    Und wenn in diesem Zusammenhang dieses noch ganz persönlich anmerken darf: Ich habe dieses Lied – aus eben diesen Gründen – immer schon als etwas zu vordergründig-effekthascherisch empfunden, - und damit als keines von den wirklich großen „Wunderhorn“-Liedern Mahlers.

  • Mädchen:
    Hast gesagt, du willst mich nehmen,
    sobald der Sommer kommt!
    Der Sommer ist gekommen, ja kommen,
    du hast mich nicht genommen, ja nommen!
    Geh´, Büble, geh´! Geh´ nehm´ mich!
    Büble, geh´!, nehm´ mich!
    Gelt, ja? Gelt, ja? Gelt, ja, du nimmst mich noch?


    Büble:
    Wie soll ich dich denn nehmen,
    dieweil ich doch schon hab´?
    Und wenn ich halt an dich gedenk´,
    und wenn ich halt an dich gedenk´,
    so mein´, so mein´, so mein´ ich alleweile:
    Ich wär´ schon bei dir!



    Anspruchslos, mit der Anmutung stark ausgeprägter Volksliedhaftigkeit kommt dieses Lied daher. Die Melodik neigt dazu, in syllabisch exakter Deklamation auf einer tonalen Ebene zu verharren und Sprünge über größere Intervalle, vor allem aufwärts gerichtete, zu meiden. Die Harmonik wiederum moduliert ausschließlich zwischen der Tonika A-Dur, der Dominante und der Subdominante, chromatische Eintrübungen gibt es nicht. Der Volksliedcharakter ist also sozusagen in Reinkultur ausgeprägt.


    Aber dieses Lied ist von Gustav Mahler, und so darf man davon ausgehen, dass sich hinter dieser klanglichen Fassade kompositorische Kunstfertigkeit verbirgt. Sucht man danach, so wird man alsbald fündig. Das Lied ist als Dialog zwischen einem „Mädchen“ und einem „Büble“ angelegt. In der ersten Strophe fleht das Mädchen das Büble in gänzlich ungenierter Weise an“ „Geh, nehm´ mich!“. Und die Frage ist nun, wie der Bursche (in der zweiten Strophe) darauf reagiert. Für Mahler ist das genau die Situation, die ihn kompositorisch herausfordert, weil sie ihm die Möglichkeit bietet, mit eine entsprechend strukturierten Melodik und einem ihr zugeordneten Klaviersatz musikalisch interpretierend in den lyrischen Text einzugreifen. Das muss hier freilich in höchst subtiler Weise geschehen, denn die Anmutung von kompositorischer Einfachheit darf dabei nicht gefährdet werden. Das „Büble“ (das im Wunderhorn-Gedicht „Buble“ heißt) behauptet zwar, er „habe“ ja schon, könne das Mädchen also nicht „nehmen“, es drückt sich aber, dies näher erklären wollend, recht gewunden aus: In sprachlich konditionaler und konjunktivischer Weise.


    Nun haben die Herausgeber des „Wunderhorns“ dem lyrischen Text den Titel „Starke Einbildungskraft“ gegeben. Hier setzt Mahler in der Komposition der zweiten Strophe an. Achtet man darauf, wie er den Burschen singen lässt, dann meint man zu hören: Der will keine wirkliche Bindung an das Mädchen. Er redet ihr stattdessen ein, er „habe“ sie ja schon, weil er mittels seiner „Einbildungskraft“ in der Lage sei, sie sich im Denken an sie zu vergegenwärtigen.


    Die melodische Linie der Singstimme ist auch in der zweiten Strophe von der Tendenz geprägt, auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verharren. Auch in ihrer Harmonisierung kann man keinen grundsätzlichen Unterschied zu ersten Strophe feststellen. Beim ersten und beim zweiten Vers ist die Vokallinie mit der der ersten Strophe identisch. Beim dritten Vers setzt sie zwar auch mit einer Sprungbewegung ein und verbleibt zunächst einmal auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage. Bei den Worten „an dich gedenk“ steigt sie aber in höhere Lage auf als in der ersten Strophe.


    Dieses „Büble“ will seiner Aussage starken Nachdruck verleihen, und diese Intention wirkt sich auch im folgenden auf die Struktur der melodischen Linie aus. Das Prinzip der deklamatorischen Tonrepetition wird stärker praktiziert, so dass die Abweichungen davon dann mehr Expressivität entfalten Das dreifache „so mein´ ich“ wird zunächst auf einer doppelten Fallbewegung deklamiert, dann auf einem Terzfall und schließlich geht die melodische Linie wieder zu dem Prinzip der Tonrepetition über, bevor sie bei der Silbe „-weile“ in eine Kombination aus Fall- und Sprungbewegung übergeht, die, auch weil hier ein Portato vorgeschrieben ist, wie ein melodischer Fingerzeig auf die Bedeutung und das Gewicht dessen wirkt, was nachfolgt: Die Imagination des „bei-dem-Mädchen-Seins.
    Sie steht freilich sprachlich im Konjunktiv.

  • Vielleicht, so denke ich nach einem neuerlichen Mich-Einlassen auf dieses Lied, habe ich es doch nicht ganz richtig verstanden und bei seiner obigen Vorstellung teilweise falsch interpretiert. Ich meinte: „Der Bursche will keine wirkliche Bindung an das Mädchen. Er redet ihr stattdessen ein, er „habe“ sie ja schon, weil er mittels seiner „Einbildungskraft“ in der Lage sei, sie sich im Denken an sie zu vergegenwärtigen“. Diesbezüglich könnte ich mich aber geirrt haben, und dies deshalb, weil ich nicht sorgfältig genug hingehört und – deshalb dieser Nachtrag – die Subtilität von Mahlers Liedsprache nicht voll erfasst habe.


    Gewiss, es handelt sich hier um einen liedkompositorisch weniger gewichtigen, sich auf gleichsam arglose, wenig tiefgründige Weise im Volkslied-Gestus lustvoll ergehenden, daraus aber auch seine Liebenswürdigkeit schöpfenden Bestandteil der „Wunderhorn“-Vertonungen Mahlers. Aber man sollte in einem Thread, in dem es darum geht, den Charakter und das Konzept von dessen Liedkomposition zu erfassen und darzustellen, auch die Details und Feinheiten der jeweiligen kompositorischen Faktur beachten und dabei ihre Relevanz im Sinne der musikalischen Aussage bedenken. Mahler ist schließlich kein naiver, er ist ein hochgradig reflektierter Liedkomponist.


    Und diesbezüglich bin ich auf zwei Merkmale der Faktur gestoßen, die mir nahelegen, meine obige Interpretation des Liedes zu korrigieren, - was das liedmusikalische Porträt des „Büble“ anbelangt. Mahler wollte diese Figur doch wohl so verstanden wissen, dass sie es ernst meint mit ihrer Antwort auf die so unverblümt und direkt vorgebrachte Frage des „Mädchens“: „Willst mich nehmen?“. Man neigt dazu – mir geht es jedenfalls so, und es könnte sein, dass ich darin ein typisch moderner Rezipient bin –, aus dem Lied eine Art von Zurückschrecken des „Büble“ vor der es regelrecht bedrängenden Aufforderung „Geh´, nehm mich!“ herauszuhören. Aber dafür gibt es eigentlich keine Grundlage in der kompositorischen Faktur.


    Im Gegenteil! Was man leicht überhört, ist die Tatsache, dass die klangliche Figur, die beim Vorspiel im Diskant aufklingt, diese Kombination aus Quintsprung und Terzfall, den Klaviersatz auch prägt, der die melodische Linie auf den ersten Worten des Mädchens begleitet: „Hast gesagt, du willst mich nehmen…“. Genau diese melodische Figur macht aber auch das Nachspiel in dieses klanglich prägender Weise aus, - und das gleich zweimal und jeweils mit einem kurzen Sechzehntel-Tremolo versehen.


    Muss man das nicht so verstehen, dass Anfang und Ende des Liedes eine liedkompositorisch ungebrochene Gefühlswelt im Dialog zwischen den beiden Figuren signalisieren? Und dies im Sinne des Mädchens, wie das Klavier es in seiner Begleitung der melodischen Linie vernehmen lässt? Schließlich versieht es ja die Begleitung der melodischen Linie auf den Worten des Burschen „Wie soll ich dich denn nehmen“ – die identisch ist mit der, auf die das Mädchen am Liedanfang einsetzt – nun nicht nur wie dort mit Einzeltönen, sondern mit den Worten Gewicht verleihenden staccato angeschlagenen bitonalen Akkorden.
    Nein, Mahler hat diesen Dialog nicht auf liedkompositorisch moderne Weise ironisch oder humoristisch gebrochen, - er hat ihn ganz ernst genommen.

  • Zu Straßburg auf der Schanz´,
    Da ging mein Trauern an!
    Das Alphorn hört 'ich drüben wohl anstimmen,
    Ins Vaterland mußt´ ich hinüberschwimmen,
    Das ging ja nicht an, das ging ja nicht an!


    Ein´ Stund´ in der Nacht
    Sie haben mich gebracht;
    Sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus!
    Ach Gott! Sie fischten mich im Strome aus!,
    Mit mir ist es aus, mit mir ist es aus!


    Frühmorgens um zehn Uhr
    Stellt man mich vor´s Regiment!
    Ich soll da bitten um Pardon, um Pardon!
    Und ich bekomm´ doch meinen Lohn, und ich bekomm´ doch meinen Lohn!
    Das weiß ich schon, das weiß ich schon!


    Ihr Brüder all´ zumal, ihr Brüder all´ zumal,
    Heut´ seht ihr mich zum letzten Mal; heut´ seht ihr mich zum letzten Mal!
    Der Hirtenbub´ ist nur schuld daran!
    Das Alphorn hat mir´s angetan, das hat mir´s angetan!
    Das klag´ ich an, das Klag´ ich an!



    Das ist die wohl bedeutendste Komposition unter diesen „Liedern und Gesängen aus der Jugendzeit“, diejenige die – neben vielleicht noch „Nicht wiedersehen“ – am tiefsten anzurühren vermag und darin wie ein Vorgriff auf die Gruppe der großen Wunderhorn-Vertonungen von 1890 wirkt. Sie ist überdies die einzige dieser Gruppe, die als Klavierlied von vornherein zur Orchestrierung vorgesehen war. Es existiert auch ein fünfzehntaktiger Entwurf dazu, der aber aus nicht bekannten Gründen nicht weitergeführt wurde. Der Klaviersatz weist jedenfalls eine Struktur auf, die erkennen lässt, dass Mahler bei der Komposition des Liedes von vornherein gleichsam orchestral gedacht hat.


    Der tiefe Eindruck, den dieses Lied beim Hörer zu hinterlassen vermag, rührt einerseits von seinem traurigen Inhalt her, von einem Alphornruf ausgelöstes Heimweh führt in den Tod wegen Desertion, er gründet aber daneben (und zusammen damit) in der Art und Weise, wie die Liedmusik den lyrischen Text in seiner Struktur und seiner Semantik aufgreift und klanglich zur Wirkung kommen lässt. Sowohl in ihrer strophischen Gliederung, wie auch in der Struktur von Melodik und Klaviersatz wirkt diese Komposition wie die vollkommene Transformation von lyrischem Text in Liedmusik.


    Begegnete einem die von Mahler als faszinierend empfundene Soldatenwelt in „Aus! Aus!“ eher von ihrer vordergründig-lustigen Seite – obgleich der Ernst der Sache hintergründig zugegen ist - , so geht es hier, wie auch in den später folgenden Liedern mit dieser Thematik, um die existenziell relevante, - um Leben und Tod. Unter diesen Umständen ist der Trauermarsch der einzige Rhythmus, der dem, was Gegenstand dieses Liedes ist, gerecht zu werden vermag. Es gibt allerdings noch einen anderen thematischen Aspekt, dem vom lyrischen Text her große Bedeutung zukommt: Das ist das Thema „Heimweh“ und die aus der „Heimat“ herüber kommenden Alphornklänge, die es auslösen. Auch dies greift die Liedmusik auf, und aus der Polarität dieser beiden thematischen Aspekte bezieht sie ihre so sehr in Bann schlagende Klanglichkeit.


    Gleich am Anfang, im fünftaktigen Vorspiel, klingt ein Motiv auf, das man durchaus als Alphorn-Ruf vernehmen und verstehen kann. „Wie eine Schalmei“ hat Mahler dazu als Vortragsanweisung angemerkt. Es ist der dreifache, appellativ wirkende, in eine Dehnung mündende Quartsprung. Und er prägt das ganze Vorspiel, - nicht nur deshalb, weil er am Ende als „F- C“ in umgekehrter Weise wieder ertönt, die in Staccato-Triolen emporsteigenden Achtel und die nachfolgend in Terzen fallenden Sechzehntel atmen klanglich ebenfalls den Geist eines Ruf-Signals.
    Die melodische Linie auf den Worten „Zu Straßburg auf der Schanz´, da ging mein Trauern an“ wirkt in ihrer f-Moll-Harmonisierung und ihrem leicht rhythmisierten deklamatorischen Verharren auf nur einer tonalen Ebene, die sie erst fast am Ende in einem Sekund-Quartfall verlässt, wie ein überaus müder, von Ergebung in das eigene Schicksal geprägter Klageruf, der all dem, was im Lied nun nachfolgt, seinen Stempel aufdrückt. Eine mehr als eintaktige Pause folgt für die Singstimme, und in dieser erklingt erneut drei Mal der Quartsprung-Alphornruf, auf dem das Vorspiel endete. Das Klavier geht danach zur Artikulation von triolischen Arpeggien über, in denen die Singstimme mit der Deklamation der nächsten Melodiezeile einsetzt.


    Und hier nun ereignet sich klanglich Faszinierendes. Es entfaltet sich eine die Verse zwei und drei umfassende überaus liebliche und mit leichter Wehmut erfüllte melodische Kantilene, aber das ereignet sich nicht unmittelbar, sondern wie aus einem nicht enden wollenden Auftakt heraus. Die Worte „Das Alphorn hört´ ich“ werden ausschließlich auf einem tiefen „C“ deklamiert, und dieser zögerliche Einsatz wirkt, als scheue sich das lyrische Ich, sich diese es so sehr treffende Erfahrung des aus dem Vaterland kommenden Alphornrufs in Erinnerung zu rufen. Dann aber überlässt es sich doch der ganz und gar in F-Dur und die Dominante dazu gebetteten und wie beseligt wirkenden melodische Linie. Das aber kann nur von kurzer Dauer sein, denn zu dieser Erinnerung gehört auch das Scheitern. Die Melodik dieser ersten Strophe endet mit einem Umschlag der so schmiegsamen und weichen Kantilene in das hart deklamatorische, immer wieder auf einem tiefen „C“ landende und nun in f-Moll harmonisierte „Das ging ja nicht an“. Und wie um das klanglich zu untermalen, was daraus nun wird, erklingt im Klavierbass eine Figur, die, weil mit einem Tremolo versehen, wie Trommelwirbel anmutet.


    In der zweiten Strophe behält die melodische Linie der Singstimme zunächst den narrativen Gestus bei, den sie am Ende der ersten angeschlagen hat. Das Klavier begleitet sie dabei mit marschmäßig rhythmisierten Akkorden, in die immer wieder Trommelwirbel-Tremoli eingelagert sind. Sie erklingen auch in der Pause zwischen der zweiten und der dritten Strophe weiter. Während die melodische Linie bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe noch, dem narrativen Gestus der lyrischen Sprache entsprechend, in silbengetreuer Deklamation auf der jeweils eingenommenen tonalen Ebene verbleibt, geht sie mit den Worten „ach Gott“ zu einem expressiven Gestus über. Sie beschreibt nun aufsteigende und wieder fallende Bewegungen, die vorübergehend sogar in Dur (Es und As) harmonisiert sind, weil das Faktische des Geschehens zum Ausdruck gebracht werden soll. Die wiederholten „Mir mir ist es aus“ werden dann freilich auf einer fallenden, in b-Moll harmonisierten und darin kläglich anmutenden melodischen Linie deklamiert.


    Jede Strophe hat in diesem Lied ihren ganz eigenen, die lyrische Aussage reflektierenden klanglichen Charakter. „Streng im Takt soll die Vokallinie der dritten Strophe vorgetragen werden. Sie geht wieder zu diesem narrativ wirkenden Gestus des Verharrens auf der tonalen Ebene über, und das Klavier begleitet dies mit Akkordfolgen, die den Marschrhythmus betonen und dabei Tremoli erklingen lassen. Bei den Worten „Und ich bekomm doch meinen Lohn“, die wiederholt werden, sinkt sie „schaudernd“ (Anweisung) in tiefe Lage ab. Die Worte „das weiß ich schon“ werden auf einer in mittlerer Lage ansetzenden und dann fallenden melodischen Linie deklamiert, wie man sie von den Worten „Mir mir ist es aus“ her kennt. Die Harmonik, die beim dritten Vers vorübergehend in den Dur-Bereich getreten war, geht mit dem vierten wieder ins Moll über und moduliert darin von b- über c- nach f-Moll. Mehrere Modulationen im Moll-Bereich (es-, b- und f-Moll) durchläuft auch das Zwischenspiel vor der letzten Strophe, in dem Marschrhythmus artikulierende Akkorde langsam in die Stille eines vierfachen Pianos sinken.


    Bei der Ansprache an die „Brüder“, die Inhalt der letzten Strophe ist, wirkt die melodische Linie in dem lieblichen Ton, den sie hier – auch bedingt durch das B-Dur, in dem sie harmonisiert ist – annimmt, als habe das lyrische Ich sich aus der Befangenheit in seiner hoffnungslosen Situation gelöst. Mit den Worten „Heut seht ihr mich zum letzten Mal“ steigt sie in so hohe Lage auf, dass der Sänger Kopfstimme einsetzen muss. Das Klavier begleitet sie hier so, dass es im Diskant ihren Bewegungen folgt, im Bass hingegen arpeggierte Achtelfolgen erklingen lässt. All das verleiht der Liedmusik große Eindringlichkeit.


    Auch bei den Worten „Das Alphorn hat mir´s angetan“ bleibt die aus hoher Lage fallende, dann aber wieder aufsteigende melodische Linie in dem wie befreit wirkenden Ton, mit dem sie in diese Strophe eingetreten ist. Die Harmonik moduliert dabei zwischen Es- B- und F-Dur. Aber schon bei der Sextsprung-Bewegung, die, am Ende in eine Dehnung in hoher Lage mündend, auf dem Wort „angetan“ liegt, deutet sich an, dass es bei diesem Ton nicht bleiben wird. Und der Triolenwirbel, den das Klavier danach in tiefer Lage anschlägt und im folgenden auch beibehält, macht deutlich, dass sich das lyrische Ich wieder seiner ausweglosen Lage bewusst wird. Der schwere Fall, den die melodische Linie, nun in b-Moll harmonisiert, bei den Worten „Das klag ich an“ beschreibt, begegnet einem wie die Wiederkehr dessen, was man bei der Klage „Mit mir ist es aus“ vernommen hat. Auch hier endet die Fallbewegung auf einem zweimal deklamierten tiefen „F“, nur setzt sie höher an als dort und geht, mit einem Decrescendo vom Forte ins Piano über, was ihr hohe Expressivität verleiht.


    Dieser arme Geselle blickt dem Tod ins Auge. Und der Kommentar, den das Klavier dazu in Gestalt einer rhythmisierten, bogenförmig ansteigenden und wieder fallenden b-Moll-Akkordfolge gibt, wirkt in seiner lakonischen Kürze geradezu bedrückend. Auch deshalb, weil er in drei im vierfachen Piano erklingende und darin abreißende Trommelwirbel mündet.

  • Ich habe das Lied zuerst in Berios Orchestrierung kennengelernt und da ist spielt eine Klarinette das Signal am Beginn und da Mahler explizit "Schalmei" hineinschreibt, soll das wohl auch die Alphornmelodie sein. Als ich "Zu Straßburg auf der Schanz" neulich wieder angehört habe, dachte ich jedoch zuerst, ich hätte das "Alphorn" (Schalmei) jahrelang verkehrt interpretiert. Denn musikalisch ist das näher an einem militärischen "Zapfenstreich"-Signal als an einem Kuhreihen (oder was man noch auf Alphörnern spielt), wobei solche Naturinstrumente natürlich sehr ähnliche typische Melodien haben.
    Wie genial in dieser Einleitungsstrophe Mahler das Signal mit dem beginnenden Marsch, der dann von der sehnsüchtigen Kantilene unterbrochen wird (und diese im Grunde auch wieder unterbricht) kombiniert hat Helmut schon sehr schön dargelegt.


    Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen. Die zweite und dritte Strophe bilden nach dieser Einleitung einen mehr oder weniger regelmäßigen Marsch. Der mit "Ihr Brüder allzumal" beginnende Abschnitt wäre bei einem Marsch der Beginn des "Trios" (man vgl. bekannte Märsche oder auch Chopins Trauermarsch). Selbst die Phrase "heut seht ihr mich zum letzten Mal" könnte noch als lyrischer Trioteil eines instrumentalen Marsches durchgehen. Aber dann wird das abgebogen in eine Wiederkehr des Alphornsignals und die verzweifelte Anklage des Deserteurs. Der reguläre Marsch wird abgebrochen und der Abschluss kondensiert dann in fünf Takten mit der Abschlussphrase der "Marschmusik", was bei einem instrumentalen Marsch eine komplette Reprise der Musik etwa der Strophe 2 gewesen wäre.
    Das Abbrechen passt natürlich auch symbolisch zum Liedinhalt und musikalisch wäre noch eine komplette Strophe auf die Marschmusik redundant gewesen und das Lied zu lang geworden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zit. Johannes Roehl: „Denn musikalisch ist das näher an einem militärischen "Zapfenstreich"-Signal als an einem Kuhreihen (oder was man noch auf Alphörnern spielt), wobei solche Naturinstrumente natürlich sehr ähnliche typische Melodien haben.


    Vielen Dank für diesen kommentierenden Beitrag zu diesem Lied. Der Hinweis auf die Art und Weise, wie Mahler hier den Marsch-Rhythmus einsetzt, erschließt ein kompositorisches Element, das, wie ich jetzt sehe, in meiner Besprechung desselben nicht angemessen beachtet und herausgestellt wurde.
    Die oben zitierte Bemerkung lese ich mit Interesse. An dieser klanglichen Figur des Liedes habe ich auch gedanklich herumlaboriert. Die ursprüngliche Fassung des Teils meiner Besprechung, die sich auf das Vorspiel bezog, lautete ganz anders, als das hier zu lesen ist. Ich änderte sie ab, weil ich mit Mahlers Anweisung „Wie eine Schalmei“ im Verständnis der Quartsprung-Figur nicht so recht klar kam. Hier die ursprüngliche Fassung der entsprechenden Passage:


    „Gleich am Anfang, im fünftaktigen Vorspiel, klingt auf, was man als Alphorn-Ruf verstehen möchte. „Wie eine Schalmei“ hat Mahler dazu als Vortragsanweisung angemerkt. Das Seltsame ist freilich: Das, was das Klavier, ganz und gar in F-Dur gehalten, im Diskant artikuliert, weist so gar nicht die Anmutung von schalmeienhafter Klanglichkeit auf. Das ist vielleicht der Ruf eines Alphorns, - aber einer, dem ein trompetenhaft militärischer Beiklang innewohnt. Es ist der dreifache, appellativ wirkende, in eine Dehnung mündende Quartsprung, mit dem das Vorspiel beginnt, der eigentlich noch nicht einmal so klingen will, als hätte ihn ein Alphorn – oder gar eine Schalmei – hervorgebracht. Und er prägt ja das ganze Vorspiel, - nicht nur deshalb, weil er am Ende als „F- C“ in umgekehrter Weise wieder ertönt, die in Staccato-Triolen emporsteigenden Achtel und die nachfolgend in Terzen fallenden Sechzehntel atmen klanglich ebenfalls den Geist eines militärischen Ruf-Signals.
    Wie soll man das verstehen? Vielleicht so, dass dieser Soldat von seiner militärischen Lebenswelt so stark geprägt ist, dass der Ruf, der aus der anderen Welt zu ihm kommt, auch wenn dies die Heimat ist, eine Einfärbung durch diese erfährt?
    Dann wäre das eine durch ihre militärische Lebenswelt arg vergewaltigte Seele, die sich im folgenden melodisch-musikalisch artikuliert.“


    Nicht zuletzt wegen des interpretatorisch arg spekulativen Schlusses habe ich diese Passage meiner Vorstellung des Liedes abgeändert. Aber nach wie vor bleibt mir Mahlers Kommentar zu dem zentralen klanglichen Motiv des Vorspiels und - in seinem Quartsprung-Charakter - des ganzen Liedes überhaupt ein wenig rätselhaft.

  • Ohne die Perspektive des lyrischen Ichs einzunehmen, hatte ich einen ähnlichen Gedanken (der mir aber auch zu unausgegoren schien, um ihn hinzuschreiben ;)). Nicht unbedingt für den Soldaten, aber zumindest für *Mahler* haben sich in diesem Lied das Militärsignal (das dem Deserteur zum letzten Morgenrot bläst) und das eigentlich harmlose Gedudel des Hirtenbubs unauflöslich vermischt!


    Den abgebrochenen Marsch finde ich deswegen auch interessant, weil man ja beim ersten Hören nicht weiß, wie lange das Lied evtl. noch weiter geht. Es gibt andere Mahler-Lieder, bei denen beinahe rondoartig eine "Militärstrophe" und eine "Idyllstrophe" abwechseln (Lied des Gefangenen im Turm, Der Schildwache Nachtlied) oder eben auch A-B-A-Formen mit einem stark kontrastierenden Mittelteil (z.B. Von der Schönheit). Der Hörer, der zwei Strophen in ziemlich regulärem Marschtritt gehört hat, könnte durchaus eine weitere in Dur als "Trio" und dann eine vollständige Rekapitulation der Marschstrophe erwarten.
    Dass man nach einer Moll -> Dur Entwicklung mit der abschließenden instrumentalen Phrase (ohne komplette Reprise der Moll-Strophe) einen Bogen schlägt, gibt es schon in Schuberts "Trockne Blumen" (evtl. schon vorher), es ist ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel. Mahler macht das ganz ähnlich in "Die zwei blauen Augen".


    Im vorliegenden Lied führt Mahler aber nicht einmal das Trio bzw. eine Strophe in Dur vollständig aus, sondern durchbricht das Schema quasi, bevor es überhaupt etabliert ist! (Insofern gebe ich auch zu, dass ich vielleicht etwas überinterpretiere, allerdings sind zwei reguläre Marschstrophen da und der Gestus bei "Ihr Brüder allzumal" passt für mich perfekt für ein "Trio") Ich finde das ähnlich genial, raffiniert und wirkungsvoll wie die Kombination von Schalmeienmotiv, Marsch und der sehnsüchtigen Phrase ab "Das Alphorn..." in der ersten Strophe.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Der Text trägt im „Wunderhorn“ den Titel „Der Schweizer“. Mahler hat die ersten vier Strophen davon unverändert übernommen, nur noch – wie er das ja häufig tut – mittels Wiederholungen und Ausrufezeichen die Aussage einzelner Verse verstärkt. Nicht einbezogen in das Lied hat er die beiden folgenden Strophen:


    „Ihr Brüder alle drei,
    Was ich euch bitt, erschießt mich gleich;
    Verschont mein junges Leben nicht,
    Schießt zu, daß das Blut rausspritzt,
    Das bitt ich euch.


    O Himmelskönig, Herr!
    Nimm du meine arme Seele dahin,
    Nimm sie zu dir in den Himmel ein,
    Laß sie ewig bei dir sein,
    Und vergiß nicht mein!“


    Die Gründe, weshalb er diese Strophen ausschied, sind wohl klar zu fassen: Die zweite (und letzte) eröffnet eine Dimension in der lyrischen Aussage, die der von ihm intendierten, ganz auf Wesensmerkmale des In-der-Welt-Seins ausgerichteten, darauf beschränkten und konzentrierten liedmusikalischen Aussage zuwiderlief. Und die vorangehende störte ihn mit der Drastik ihrer Bilder in seiner menschlich-kompositorischen Grundhaltung. Es wurde ja schon einmal deutlich, beim Lied „Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald“ nämlich, dass er dazu neigt, das allzu Gewöhnliche und gar Ordinäre des menschlichen Alltagslebens, wie es sehr wohl Bestandteil der „Wunderhorn“-Texte ist, einer es stilisierenden Veredelung zu unterziehen, indem er es in gleichsam abstrahierender, von der Drastik der Realität befreiender Weise auf die Ebene des Allgemein-Menschlichen hebt.


    Das ist ja Wesensmerkmal seiner Musik ganz allgemein, seiner Lieder sowohl, als auch seiner Sinfonik. Sie will – und das ist das musikhistorisch Neue und Bedeutsame an ihr - die Welt musikalisch benennen, wie realiter ist, - mit all ihren Schönheiten und Hässlichkeiten, ihren Freuden und ihren Leiden. Aber sie will darin Kunst bleiben. - Kunst in dem Sinne, dass sie das das Schöne und das Hässliche zwar musikalisch denkt und benennt, ohne aber selbst dabei in einem vordergründig effektiven Sinne klanglich schön, hässlich oder gar gewöhnlich und ordinär zu sein.


    Es ist doch im Grunde erstaunlich, wenn nicht gar verwunderlich, dass sich die Liedmusik auf einen Text, in dessen Zentrum die Aussage „mit mir ist es aus“ steht und dahinter die Gewissheit, eine Hinrichtung wegen Desertion erleiden zu müssen, in derart bestechender und in Bann schlagender melodisch-klanglicher Schönheit ergeht. Aber das ist keine vordergründige, sich in schieren Effekten auslebende und erschöpfende Schönheit. Es ist eine aus der Wehmut des Abschied-Nehmens kommende und daraus ihre so große Ausdruckskraft gewinnende. Man vernimmt und erfährt die Musik dieses Liedes als das unmittelbare, nicht durch hinzutretende Motive intentional ausgerichtete Sich-Aussprechen eines Menschen, der sich in eine existenzielle Grenzsituation geworfen sieht. Sie begegnet einem aus diesem Grund in all ihrer melodischen Vielfalt als eine künstlerisch wahre.


    Mahlers Liedsprache ist – wie man es hier in diesem Lied wieder einmal auf höchst beeindruckende Weise erfahren und erkennen kann – eine die lyrische Sprache in ihrem rhetorischen Gestus unmittelbar aufgreifende und in musikalische Expression verwandelnde. Sie lässt das lyrische Ich sich in all den Stationen, die es in der emotionalen und reflexiven Auseinandersetzung mit der Situation, in der es sich befindet, in melodisch gleichsam unmittelbarer, weil den sprachlichen Gestus direkt aufgreifender Weise ausdrücken. Wenn sich dieser arme und verlorene Geselle seiner Situation reflexiv bewusst wird, also feststellt „Und ich bekomm doch meinen Lohn, das weiß ich schon“, dann nimmt die melodische Linie einen konstatierend-rhetorischen Gestus an: Sie verharrt in syllabisch exakter Deklamation zunächst auf nur einer tonalen Ebene und geht dann in eine Fallbewegung in Sekunden über. Weil aber dieses Den-Lohn-Bekommen eine bedrückende Gewissheit ist, wird diese melodische Figur um eine Sekund angehoben noch einmal wiederholt und geht dann bei den Worten „Das weiß ich schon“ in eine aus einer Kombination von Sekund- und Quartfall bestehende Bewegung über, die schmerzliche Betroffenheit ausdrückt und ebenfalls diesen Gestus der Faktizität aufweist, wie es die Repetition eines Tones beinhaltet: Hier bei den Worten „ich schon“.


    Der Klaviersatz und die Harmonik werden dabei in diesen sprachorientierten Gestus der melodischen Linie im Sinne einer Akzentuierung ihrer musikalischen Aussage einbezogen. Beim Verharren der melodischen Linie auf einer tonalen Ebene begleitet das Klavier mit einem tremolierend gehaltenen Akkord, die nachfolgende Fallbewegung vollzieht es in Gestalt von bitonalen Sexten mit. Und dem konstatierenden „Das weiß ich schon“ verleiht es wiederum mit einem akkordischen Tremolo und nachschlagenden Tonrepetitionen den erforderlichen Nachdruck. Die Harmonik moduliert in dieser Passage des Liedes von b-Moll über c-Moll nach f-Moll, und auch dieses Nicht-Verbleiben in nur einer harmonischen Moll-Tonart ist musikalischer Ausdruck der tiefen inneren Erregung dieses todgeweihten Soldaten.
    Aber wenn er dann aus seiner bewusstseinsmäßig konstatierten Situation emotional heraustritt und seine „Brüder“ anzusprechen beginnt, kommt weite Phrasierung und ein großer melodischer Gestus in die Liedmusik, gebettet nun in B-Dur- und F-Dur-Harmonik und begleitet vom Klavier mit den Marschrhythmus akzentuierenden und mit Rommel-Vorschlag versehenen Akkord-Folgen.

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