Belcanto kontra dramatischer Gesang?

  • Martha Mödl und Astrid Varnay.


    Gerade diese Beispiele finde ich sehr interessant. Martha Mödl war im Laufe der Jahre altersbedingt zur Spezialistin für moderne Stücke herangereift und Astrid Varnay sprach ganz bewusst von ihrer zweiten Karriere, die fast so lange währte als die erste.
    Mit Herodias und Klytämnestra stand dann plötzlich eine ganz andere Stimme auf der Bühne - nur der Name Astrid Varnay war geblieben.
    Bei Hotter war beeindruckend, dass er sowohl Opernrollen als auch den Liedgesang beherrschte und beim Lied beginnt für mich der Gesang, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte ...

  • Liebe Gesangs-Enthusiasten!
    Unser Ursprungsthema, die Frage nach der Vereinbarkeit von Belcanto und dramatischem Gesang, wäre damit zunächst positiv beantwortet: Es gibt im Grunde keinen Widerspruch, wenn die Musik wirklich ernstgenommen wird. Es handelt sich eher um die beiden Pole des Operngesangs, die in den Kompositionen unterschiedlich gewichtet sind.
    Große Interpreten decken oft beides ab. Nur liegt der Schwerpunkt manchmal mehr bei dem einen, manchmal mehr beim anderen Pol - je nachdem, wo der Interpret seine Stärke hat.


    Mich würde in dem Zusammenhang interessieren, ob und nach welcher Richtung wir die Fragestellung vertiefen wollen. Da tun sich verschiedene Möglichkeiten auf: Wo gibt es zur Zeit Defizite, Krisen Versäumnisse? Welche Strömungen sind aktuell? Welches Klangspektrum erwarten wir (heute) von einem Sopran / Tenor / Bass etc.? (Das wandelt sich ja, teils unmerklich, teils rasant.)
    Wie stehen wir als Hörer zu Stimmlagenwechsel (z.B. Domingos Alterskarriere) oder zu Besetzungsmoden bei Kastratenpartien?
    Erfordert Liedgesang grundsätzlich andere Stimmen als Operngesang?
    Es wäre schön, wenn wir davon einiges ansprechen könnten.


    In diesem Sinne grüßt euch
    Sixtus

  • Also das mit dem Stimmfachwechsel finde ich in Ordnung. Placido Domingo sieht trotz seines Alters noch sehr gut aus, aber irgendwann werden für ihn die Liebhaberrollen auch unglaubwürdig. Die Partnerinnen auf der Bühne könnten ja vom Alter fast seine Enkelinnen sein. Und als Bariton hat er noch mehr Möglichkeiten altersgerechte Rollen wie den Boccanegra oder den Foscari zu singen. Bei den Frauen wechseln auch einige Sängerinnen wie Violetta Urmana oder Cecila Bartoli vom Sopran zum Mezzo. Was mich eher stört sind Tenöre die wie ein Bariton klingen . Ein Beispiel dafür ist Jonas Kaufmann. Ich habe jetzt vor kurzem auf Classica mir La fanciulla del West aus der Staatsoper Wien angesehen und man hat stimmlich keine großen Unterschiede zum Sänger des Jack Rance ( Bariton ) erkennen können. Genauso wie bei La Forza del destino aus München. Zum Thema Liedgesang sagen die Sänger immer, das es intimer ist als auf der Opernbühne und ich denke mal das beim Lied die Sänger ihre Stimme eher zurück nehmen können und intimer singen können, als in der Oper.

  • Zit. rodolfo39: "Zum Thema Liedgesang sagen die Sänger immer, das es intimer ist als auf der Opernbühne und ich denke mal das beim Lied die Sänger ihre Stimme eher zurück nehmen können und intimer singen können, als in der Oper."


    Und sie sagen noch etwas, - und alle tun´s: Die Ansprüche an die Stimmführung - was die Differenzierung, die Deklamation, die Abstufung im Klang und in der Dynamik anbelangt - sind ungleich höher. Und die Beanspruchung im Vortrag ist größer, - ganz einfach deshalb, weil sie allein und in exponierter Weise auf der Bühne stehen und die Stimme nicht in das Umfeld des Orchesterklangs eingebettet ist, sondern gerade mal von dem begleitet , gestützt und getragen wird, was das Klavier zum Lied beizutragen hat.

  • Manche dramatische oder hochdramatische Sängerinnen und Sänger sind bei dem Versuch, Lieder zu singen, kläglich gescheitert. Die Mödl als Liedsängerin ist eine Katastrophe. Varnay auch. Von der Jones nicht zu reden. Versuche der Nilsson sind auch grenzwertig. Kirsten Flagstad ist eine Ausnahme mit Einschränkungen. Sie hat Lieder auch als musikalische Altersversorgung praktiziert, was sie nicht sind. Wunderbar gelangen ihr hingegen die Lieder von Sibelius mit Orchester. Dabei wirken aber auch andere Bedingungen. Das Orchester ist eine Stütze, ein Rahmen, es deckt auch Probleme zu, ist gnädig zu den Sängern. Die Reihe meiner Beispiele könnte ich fortsetzen.


    Mich freut es, wenn auch heute Sänger zu Liedern greifen. Das sind nicht wenige. Sieht man sich die Biographien an, stößt man auf Lehrer, die auch berühmt waren als Liedinterpreten. Moll möchte ich ausdrücklich herausgreifen. Gerhaher, die Pregardiens oder Trekel sind hervorragende Vertreter der Gegenwart. Goerne ist gerade dabei, sich mit dem Wotan zu verheben. Es ist zu befürchten, dass das kein gutes Ende nimmt.
    Was Helmut Hofmann an Anforderungen für Liedgesang aufgezählt hat, konnten nur ganz wenige erfüllen, zumal in der Kombination von Lied und Oper. Dazu fallen mir in der höchsten Liga – leider - nur Beispiele aus der Vergangenheit ein wie Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau, der schon erwähnte Moll oder auch – wie ich eben erste mir wieder klar mache – der Tenor Werner Hollweg. Die beherrschen das Fach perfekt.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Kirsten Flagstad ist eine Ausnahme mit Einschränkungen.


    Wie man über ihre Liedkunst auch urteilen mag, sie hat sie wenigstens mit großem Erfolg auch in der Oper praktiziert. (Mein Erfolg, hier von Youtube eine Szene zu holen, hält sich jedoch in Grenzen).


    Man höre einmal ihr von "auch deine Raben hör´ ich rauschen" bis zu "Ruhe, ruhe, du Gott". Liedgesang pur, schöner als Nilsson und sogar schöner als Varnay. Dieses "U" in ruhe und das begleitende Crescendo klangen wohl nie besser.

  • In Beitrag 13 hatte ich ja angemahnt, den größten Belcanto-Komponisten der Operngeschichte, Francesco Cavalli, mit aufzunehmen. In Beitrag 14 hat Sixtus das abgelehnt, mit der Begründung, hier gehe es um Bellini und Co. Das ist sein gutes Recht. Ich habe jetzt einen Text gefunden, den der Biograph Cavallis, Olivier Lexa, für das booklet von der neuen Pluhar-Cavalli-CD geschrieben hat. Ich wiederhole das hier nicht, man kann es selbst im Cavalli-thread nachlesen. Über Belcanto zu schreiben und Cavalli nicht als den Stammvater zu kennen, ist etwa so, als wenn man über Isaak, Jakob und Josef aus dem AT schreibt, aber noch nie gehört hat, wer Abraham ist. Olivier Lexa zeigt an einigen Beispielen, wie Cavalli die ganze Operngeschichte und besonders den Belcanto beeinflusst hat. Cavalli ist sozusagen der Riese, auf dem andere Riesen wie Mozart, Händel, Rameau, Lully, Verdi, Puccini stehen. Und es stehen Zwerge darauf, die heißen Cilea, Bellini, Donizetti, Mascagni, Giordano usw.
    Bevor ich mich hier endgültig verabschiede, noch eine kleine Geschichte. Ich hatte einen Kollegen, der war Opernfreund wie ich. Allerdings war er, wie ich ihn immer genannt habe, Stimmbandfetischist. Er reiste in Europa herum und bis nach Amerika, um die Opern von berühmten Sängern zu hören. Ein sehr kostspieliges Hobby, aber ihm gefiel es. Ich reiste an Rhein und Ruhr herum, um für wenig Geld viele tolle Opern zu hören mit zum Teil überraschend guten Sängern. Zwischen diesen beiden Operntypen gibt es kaum eine Vermittlung, das zeigt dieses Thema ja hier auch. Aber ich dachte, der andere Typ muss hier auch mal vorkommen, damit ihr vielleicht eine Ahnung bekommt, was ihr vermisst.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Zustimmung auf der ganzen Linie, lieber dr. Pingel. :):):)


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent


  • Wie man über ihre Liedkunst auch urteilen mag, sie hat sie wenigstens mit großem Erfolg auch in der Oper praktiziert. (Mein Erfolg, hier von Youtube eine Szene zu holen, hält sich jedoch in Grenzen).


    Man höre einmal ihr von "auch deine Raben hör´ ich rauschen" bis zu "Ruhe, ruhe, du Gott". Liedgesang pur, schöner als Nilsson und sogar schöner als Varnay. Dieses "U" in ruhe und das begleitende Crescendo klangen wohl nie besser.


    :thumbup:



    Und für dieses Thema hier auch sehr interessant:



    Ansonsten teile ich deine Einschätzung, lieber Hami, dass die Flagstad das dramatische Wagner-Fach noch so GESUNGEN hat wie keine ihrer Nachfolgerinnen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Man höre einmal ihr von "auch deine Raben hör´ ich rauschen" bis zu "Ruhe, ruhe, du Gott". Liedgesang pur, schöner als Nilsson und sogar schöner als Varnay. Dieses "U" in ruhe und das begleitende Crescendo klangen wohl nie besser.


    Ich hatte in meinen Auslassungen ehr an die Liedsängerin Kirsten Flagstad gedacht - nicht an die Wagner-Sängerin.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich hatte in meinen Auslassungen eher an die Liedsängerin Kirsten Flagstad gedacht - nicht an die Wagner-Sängerin.


    Das war mir schon klar, lieber Rheingold, aber für meine Begeisterung für die Flagstad bin ich mit offenen Ohren in dieses vermeintliche Missverständnis gerannt.


  • Das war mir schon klar, lieber Rheingold, aber für meine Begeisterung für die Flagstad bin ich mit offenen Ohren in dieses vermeintliche Missverständnis gerannt.

    Ich habe diesen bewusst gesetzten Gegenakzent auch als solchen verstanden und begrüße ihn ausdrücklich.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Letztlich habt ihr natürlich vollkommen Recht. Es gibt keinen Widerspruch. Ich möchte es so sagen: Die Flagstad singt in meinen Ohren in der Oper womöglich mehr Lied als im Lied Lied selbst.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


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  • Cavalli ist sozusagen der Riese, auf dem andere Riesen wie Mozart, Händel, Rameau, Lully, Verdi, Puccini stehen. Und es stehen Zwerge darauf, die heißen Cilea, Bellini, Donizetti, Mascagni, Giordano usw.


    Es ist nicht schwer zu verstehen, wenn es jemanden drängt, für Cavalli auf sein Erstgeburtsrecht zu verzichten, aber wie alles, sollte auch die Begeisterung eine Obergrenze haben. (Wir Bayern wissen das schon längst).


    Die genannten Zwerge stehen einem Puccini sicher in Nichts nach und kein geringerer als Richard Wagner hat Bellini sehr bewundert. Mit Recht, und um beim Thema zu bleiben, ist die Norma ein leuchtendes Juwel der Belcanto-Oper, wobei ich mich nicht nur auf den Gesang beschränken will. Eine genialere Vereinigung inniger, wunderbarer Melodien, zeitloser Dramatik und origineller Orchesterbehandlung dürfte schwer zu finden sein.


  • Mit Recht, und um beim Thema zu bleiben, ist die Norma ein leuchtendes Juwel der Belcanto-Oper, wobei ich mich nicht nur auf den Gesang beschränken will. Eine genialere Vereinigung inniger, wunderbarer Melodien, zeitloser Dramatik und origineller Orchesterbehandlung dürfte schwer zu finden sein.


    Dürfte es! Orfeo, Ulisse und Poppea von Monteverdi, La Calisto, La Didone und Il Giasone von Cavalli!

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Erfordert Liedgesang grundsätzlich andere Stimmen als Operngesang?


    Nein. Es gibt heute eine Reihe ganz wunderbarer Opernsänger die genauso wunderbare Liedersänger sind. Da fallen mir ad hoc Pisaroni, Keenlyside, Denoke ein. Während so manche auf den Liedgesang spezialisierte Sänger auf den Opernbühnen weniger reüssieren können, wie beispielsweise Goerne oder Gerhaher.


    Gregor


  • Ja doch, aber Puccini ein Riese gegenüber Bellini?


    Gut, diesen Einwand akzeptiere ich, da für diese Unterscheidung meine Sachkenntnis nicht ausreicht!

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Da habe ich ja einiges versäumt. Gestern war ich nämlich in einem Vortrag des Münchner Musikwissenschaftlers J. M. Fischer über das Thema "Liebestod", und das musste ich erst verdauen. Passt aber nicht hierher - vielleicht ein andermal...
    Ihr habt euch inzwischen gut unterhalten, wie ich sehe.


    Mit vielem bin ich d´accord, z.B. mit Hamis Hymne auf Flagstadts Brünnhilde. Auch über den Stellenwert von Norma gibt es keinen Dissens. Ich gehe so weit, diese Oper als Scharnier zwischen Belcanto und Musikdrama zu sehen. Ähnliche gilt, glaube ich, für Verdi, dessen Werkreihe eine einzige Verbindungslinie zwischen beiden Polen der Gattung Oper darstellt, wobei sich die Gewichte immer mehr vom ersten zum zweiten Pol verschieben. Gute Verdi-Sänger sind deshalb auch als Lohengrin, Venus, Senta oder Wolfram zu gebrauchen. Dagegen glaube ich mit Rheingold, dass Goerne zwar ein exzellenter Liedersänger ist, aber sein Wotan kann nur eine unfreiwillige Karikatur werden.


    Eine Anmerkung zu Rodolfos Zustimmung zu Domingos Baritonkarriere: Es gibt Sachen, die kann sich nur ein Star erlauben. Ich bewundere seine märchenhafte Tenorlaufbahn. Aber an der Stelle, wo fast alle (mit gutem Grund) aufhören, konnte er sich erlauben, zu behaupten: ...Das kann ich und noch mehr! Natürlich kann er das. Er ist ein starker Darsteller. Und er hat eine gute Tiefe - für einen Tenor! Aber wer seinen Merrill, Bastianini, Warren, Hvorostovsky kennt, merkt beim zweiten Ton: Die Tiefe ist zwar da, aber sie ist eher indifferent und mulmig als baritonal. Aber er hat eine riesige Fangemeinde und füllt die Kassen. Vielleicht immer noch besser als Goerne (den ich sehr schätze!) als Wotan...


    So viel für heute. Viele Grüße von Sixtus

  • Eine Anmerkung zu Rodolfos Zustimmung zu Domingos Baritonkarriere: Es gibt Sachen, die kann sich nur ein Star erlauben. Ich bewundere seine märchenhafte Tenorlaufbahn. Aber an der Stelle, wo fast alle (mit gutem Grund) aufhören, konnte er sich erlauben, zu behaupten: ...Das kann ich und noch mehr! Natürlich kann er das. Er ist ein starker Darsteller. Und er hat eine gute Tiefe - für einen Tenor! Aber wer seinen Merrill, Bastianini, Warren, Hvorostovsky kennt, merkt beim zweiten Ton: Die Tiefe ist zwar da, aber sie ist eher indifferent und mulmig als baritonal. Aber er hat eine riesige Fangemeinde und füllt die Kassen.

    Nach diesen Ausführungen bin ich mir sicher, dass du ihn in keiner Bariton-Rolle live erlebt hast, weil du das Entscheidende außen vor lässt: Wie er mit seiner immer noch wunderschön timbrierten Ausnahmestimme mühelos den Raum füllt, ist das eigentliche Ereignis seiner Spätkarriere, nicht seine "starke" Darstellungskraft - da habe ich weiß Gott schon stärkere Darsteller erlebt, aber selten so eine Stimme erlebt, die dermaßen im Raum wirkt wie seine. Zudem kommt er ja vom Bariton.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"


  • Ich rufe in Erinnerung: Zu der Zeit, als die ersten Opern unseres bis heute bestehenden Kernrepertoires entstanden, also in Mozarts jungen Jahren, gab es im Grunde nur 4 Stimmlagen, wie wir sie aus dem Chorgesang kennen. (Dazu kamen Reste des Kastraten-Repertoires wie Idamante und Sesto.) Da hattest du es einfach: Entweder du hattest eine hohe, helle Stimme, dann warst du für die Liebe zuständig; oder du musstest als Alt oder Bass mit kleineren Rollen zufrieden sein.


    Die historische Reihenfolge wird hier nicht ganz klar. Um 1780 war das Kastraten-Repertoire kein "Rest", sondern noch in vollem Gange!
    Der Tenor als Protagonist ist z.B. in der Zauberflöte noch etwas ziemlich neues. Man sollte für das Verständnis bis ca. 1800 (Rossinis Tancredi von 1813 war noch bis zur Mitte des 19. Jhds. sehr beliebt) sich schon zunächst noch die typischen Rollen der Opera seria seit dem späten 17. Jhd. vergegenwärtigen. (Monteverdi ist noch etwas anders, man sollte auch nicht vergessen, dass zwischen Monteverdis Orfeo und Mozarts Idomeneo etwa 170 Jahre liegen, weit mehr als zwischen Mozart und Verdi!)


    In der Opera seria sieht es normalerweise (und die meisten Stücke folgen dem in etwa) so aus:


    Primo uomo: Alt/(Mezzo)kastrat
    Secondo uomo: Alt/(Mezzo)kastrat
    Prima donna: (Mezzo)sopran
    Seconda donna: (Mezzo)sopran


    gerne noch einige weitere Kastraten- und Frauenrollen für Nebenfiguren.


    Gegenspieler oder "väterliche Freunde": Bass, mitunter mit polternd-komischen Aspekten
    älterer Mann (fehlt häufig): Tenor (Bsp. Händels Bajazet (die Tenor-Hauptrolle war eine große Ausnahme damals), Mozarts Idomeneo, vermutlich gehört auch Don Ottavio noch in diese Tradition)


    Insgesamt dominieren die Sopran/Alt-Stimmen in für die Oper des 19. Jhds. kaum vorstellbarer Weise. (In der französischen Barockoper sind Tenöre wichtiger, so sind sie dann über Gluck wohl auch zu ihrer späteren zentralen Rolle gelangt.)


    Deswegen sind die Bass/Bariton-Protagonisten in der Buffa auch keine solche Neuerung wie der Tenor (als Held/Liebhaber) als Nachfolger des Kastraten. Die Bässe gab es schon vorher in der Seria, eben als Priester, "Kumpel" oder "Bösewicht", freilich weniger in Hauptrollen. Dass es unter den Bassisten außerordentliche Virtuosen gegeben haben muss, zeigen einige der Basspartien früher Werke Händels (Polifemo und Lucifero).
    Die späteren englischen opernhaften Oratorien Händels haben dann häufiger "natürliche" Männerstimmen, tiefe (Hercules, Saul) oder Tenöre (Jupiter, Jephta, Samson, Judas Maccabaeus, das sind im Kontext aber auch fast alles "ältere Herren", nur Judas ist eher ein "Held" und hat auch keinen Alt-Begleiter oder Gegenspieler) freilich auch immer noch einige "jugendliche Liebhaber" in Kastratenlage: Solomon, David, Cyrus, Daniel...


    D.h. es war vor der Oper des 19. Jhds. anders, aber nicht unbedingt einfacher: Tenorpartien sind insgesamt weit weniger zentral gewesen, dafür Altpartien weitaus wichtiger (und zwar nicht als Amme oder Hexe, sondern auch als "jugendliche Helden" oder fiese Antagonisten), gesungen von Kastraten oder Frauen in Hosenrollen.
    Und zumindest ein Teil der "typischen" Basspartien (Gegenspieler, "Kumpel", Priester) setzt sich relativ bruchlos in der komischen und auch ernsten Oper des 19. Jhds. fort.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ja! Mindestens als Musikdramatiker!


    Aus moderner Sicht ist die Dramatik der Puccini-Opern sicher schlagkräftiger, weil sie Gefühle ausdrucksstark und sehr direkt vermittelt. Bellini malt mit einem feineren Pinsel und überlässt das Urteil mehr dem Hörer als dem Zuschauer und zudem nur einem Hörer, der fähig ist, seine Dramatik aus den Noten her zu begreifen. Noten lesen können ist dazu allerdings keineswegs erforderlich.
    Etwas überspitzt könnte man sagen, Puccinis Wirkung ist zum Teil seiner Begabung zu verdanken, Tränen heischende Libretti mit "reißerischer" Musik zu versorgen.
    Wie man darüber denkt, ist letztlich Geschacksache und wer wie ich den klassischen Hamlet eines Laurence Olivier der modernen Version eines Mel Gibson vorzieht, bekundet damit nicht notgedrungen ein Werturteil.

  • Es gibt gute Gründe dafür, dass Puccini weit häufiger gespielt wird als Bellini. Letzter interessierte sich primär für den "Belcanto" und erst sekundär für die Stoffe, die er vertonte...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich wage hier zwar keine Prognosen, mich würde aber nicht wundern, wenn es nach der gegenwärtigen Renaissance der Barockoper auch mal wieder eine des Belcanto der 1820er-40er Jahre gäbe. Wobei dieser Stil nahezu durchweg mit einigen Werken präsent war und nie so vergessen wurde wie die Vor-Gluckschen Opern des 18. Jhds.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Es sieht fast so aus, als ob die (rhetorische) Eingangsfrage einigermaßen geklärt ist:
    Die beiden Extreme "Belcanto und dramatischer Gesang" sind nicht nur vereinbar, sondern bedingen sich in einer Oper, die zugleich ein Drama sein will, gegenseitig. Je nach Temperament und gesangstechnischer Fertigkeit beherrscht ein Sänger mehr den einen oder den anderen Pol - im Idealfall beide. Wenn dann noch die Sensibilität für den Liedgesang hinzukommt, ist das Gesangsparadies perfekt.
    Das war auch Wagners Forderung: den Belcanto mit den Besonderheiten der deutschen Sprache in Einklang zu bringen. Dieses Thema, um die Mitte des 19.Jh. entstanden, ist aber immer wieder in den Hintergrund getreten, ja vergessen worden. Besonders bei der Interpretation von Wagners Werken. Es wurde verschärft durch die vielen fremdsprachigen Sänger, die nach dem II.Weltkrieg nach Mitteleuropa kamen, weil hier die größte Rheaterdichte die Sänger anlockte - und bis heute anlockt.
    Es wäre eine Diskussion wert, in welchen Fällen die "Integration" amerikanischer, asiatischer und osteuropäischer Sänger im Umgang mit den Ansprüchen dieses "deutschen Belcanto" gelungen ist. (Beim italienischen Repertoire scheint das ja ziemlich gut gelungen zu sein, beim deutschen sehe ich da noch manche Defizite.)
    Wenn eine Diskussion darüber ohne allzu großes Ausufern auf persönliche Lieblingsterrains gelänge, wäre das erfreulich. Wenn nicht, könnten wir das Thema auch beenden. Doch das fände ich schade.
    Beispiele lassen sich leicht finden. Also fangen wir doch an!
    Das wünscht sich Sixtus.

  • mich würde aber nicht wundern, wenn es nach der gegenwärtigen Renaissance der Barockoper auch mal wieder eine des Belcanto der 1820er-40er Jahre gäbe.

    Die gibt es doch längst: die Italiener dieser Zeit, voran Rossini, aber auch mit Donizetti und Bellini im Gepäck, erschlagen förmlich nahezu sämtliche Zeitgenossen aus Deutschland (Die "Spieloper" ebenso wie die Romantische Oper zwischen "Freischütz" und "Holländer") und Frankreich (die gesamte Opéra comique und auch die Grande Opéra).

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es gibt gute Gründe dafür, dass Puccini weit häufiger gespielt wird als Bellini. Letzter interessierte sich primär für den "Belcanto" und erst sekundär für die Stoffe, die er vertonte...



    Ich sehe das etwas anders. Bellini und seine Zeitgenossen haben sich sicherlich auch für die Sujets interessiert, die sie vertonten Ich glaube, das Problem liegt woanders. Ich vergleiche den Belcanto mal mit dem klassischen Ballett. Bei beiden gibt es eine festgelegte Formensprache, und nur den ganz großen Künstlern gelingt es, die darin liegenden Emotionen zu vermitteln, ohne diese Grenzen zu überschreiten. Beim Ballett scheint mir dieser Anspruch noch schwerer zu verwirklichen - vielleicht ein Grund, warum das klassische Ballett fast allerorten auf dem Rückzug zu sein scheint.

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)


  • Ich sehe das etwas anders. Bellini und seine Zeitgenossen haben sich sicherlich auch für die Sujets interessiert, die sie vertonten Ich glaube, das Problem liegt woanders. Ich vergleiche den Belcanto mal mit dem klassischen Ballett. Bei beiden gibt es eine festgelegte Formensprache, und nur den ganz großen Künstlern gelingt es, die darin liegenden Emotionen zu vermitteln, ohne diese Grenzen zu überschreiten. Beim Ballett scheint mir dieser Anspruch noch schwerer zu verwirklichen - vielleicht ein Grund, warum das klassische Ballett fast allerorten auf dem Rückzug zu sein scheint.


    Das scheint mir sehr plausibel. Allerdings liegt z.B. die Barockoper hier klar (oder gar noch deutlicher) auf der Seite von Belcanto und klassischem Ballett (und nicht auf der Seite von Puccini oder Mascagni) und hat in den letzten ca. 30 Jahren einen außerordentlichen Siegeszug in der Popularität hingelegt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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